Auf der Suche nach der Schatulle von Daris

Es gibt 509 Antworten in diesem Thema, welches 123.396 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (16. April 2018 um 04:25) ist von TiKa444.

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    Der Herzog sah sich um und dachte anscheinend nach.
    "Folgt mir!", gab er von sich und führte die Gruppe weg von der Straße. Das Wetter besserte sich nicht und bevor der Regen einsetzte, wollte er sich vermutlich nicht mehr auf der offenen Straße befinden, wo ihn jeder erkennen würde. Aras lotste die Gruppe auf einen Trampelpfad, der in den Wald führte.
    "Und wo gehen wir hin?", fragte Thyra skeptisch nach, welche sich immer wieder umsah.
    "Hier in der Nähe gibt es ein Gasthaus", antwortete der Herzog. "Dort finden wir erst einmal Unterschlupf vor dem Gewitter und können uns einen Plan zurechtlegen wie wir weiter vorgehen."
    Alle gaben sich damit einverstanden, auch wenn Theical fragte:
    "Aber wird man Euch dort nicht erkennen? Ist das Risiko dessen nicht viel zu hoch?"
    "Ob man uns hier auf der Straße bereits entdeckt hat oder eben erst dort ... Im Gasthaus wird ein einer von euch ein Zimmer anmieten und ich halte mich derweil bedeckt."
    Viele Möglichkeiten blieben ihnen nicht, das wollte Aras sehr wahrscheinlich damit sagen. Daphne freute sich darauf in sicheren Wänden zu hausen, denn der Abend ließ nicht mehr lange auf sich warten, abgesehen davon, sehnte sie sich nach einer Wanne.
    Nach einem kurzem Marsch über eine leicht bewachsene Straße, kamen sie beim ebenso ruhigen Gasthof an. Alle sahen sich an und jeder hatte einen ähnlichen Gedanken.
    Warum war es dort so ruhig?
    Keine Musik spielte aus dem Inneren, kein Gerede war zu hören.
    Jaris hielt Thyra schützend etwas zurück und näherte sich als erstes dem finsteren Gebäude. Aras und Theical folgten dem Soldaten, der seine Hand am Knauf seines Schwertes ließ.
    Umgehend viel den drei Männern der Zettel an der Tür auf und Aras riss ihn von dieser.
    "Das Gasthaus wurde aufgegeben!", stellte der Herzog fest und lugte umgehend durch ein Fenster.
    "Wer gibt denn einfach so ein Gasthaus auf?", hakte Thyra nach und Daphne stemmte ihre Hände in die Hüfte.
    "Heißt wohl, wir können uns die Zimmer aussuchen, was?!"
    Jaris traute der Stille nicht. Es konnte auch sein, dass andere auf die gleiche Idee gekommen waren.
    Theical betätigte den Türgriff, aber es war verriegelt.
    "Das könnte genauso gut eine Falle sein", kommentierte Engel von der Seite, was Daphne mit den Augen rollen ließ.
    "Dann lasst uns reingehen, damit wir es herausfinden können", antwortete die Schurkin und holte geschwind ihr Werkzeug hervor, um das Schloss zu knacken.
    Jaris zog vorsichthalber sein Schwert und auch die anderen gingen in eine Abwehrhaltung über.
    "Wenn gleich jemand auf uns zugestürmt kommt, dann sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt", moserte die ehemalige Geliebte des Herzogs weiter.
    Die Tür öffnete sich nach wenigen Sekunden und Daphne stieß sie weit auf. Alle hielten die Luft an.
    "Oh nein, bei Calypsos nackten Brüsten!", schrie die Schurkin urplötzlich, so dass alle zusammenzuckten. "So viele Leute ..."
    Natürlich waren ihre Worte sarkastischer Natur und das Haus war leer. Nur ein paar Mäuse verkrochen sich in ihre Löcher.
    Thyra begann umgehend zu lachen. Das Bild war einfach zu amüsant. Alle standen wie Schwerverbrecher in der Tür des Gasthauses und glaubten an alle möglichen Verschwörungen. Selbst Theical konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, während Jaris noch kampfbereit durchatmete.
    "Ihr seid doch nicht mehr ganz dicht!", beschwerte sich Engel, der kurzzeitig die Gesichtfarbe entglitten war.
    "Ich stamme von einem Seefahrervolk ab", rechtfertigte sich Daphne derweil. "An unsere Küste werden unzählige Geisterschiffe gespült und noch nie ist mir ein Klabautermann ins Gesicht gesprungen, wenn meine Brüder und ich sie erkundet haben. Wenn jemand hier wäre, hätte er schon tausendfach Gelegenheit gehabt uns zu umzingeln. Warum sollte dieser jemand warten, bis wir ihn im Haus festsetzen können?"
    "Trotzdem sollten wir vorsichtig sein", meinte Jaris und senkte seine Klinge. Alle gingen in die Räumlichkeiten, wobei Daphne das Badehaus, hinter dem Hauptgebäude, nicht verborgen blieb. Drei Tage hatte sie sich nicht mehr anständig gewaschen und allmählich überkam sie das Gefühl zu riechen wie ein verwesender Iltis. Überrascht mussten alle feststellen, dass die Besitzer überstürzt aufgebrochen waren, regelrecht geflüchtet, denn die Gruppe fand noch flaschenweise guten Wein im Keller und Bettzeug in den Zimmern. Sie schienen nichts mitgenommen zu haben.
    Nachdem sie jeden Winkel abgesucht, alles durchwühlt hatten und jeder sich ein Zimmer genommen hatte, nahm sich Daphne eine Weinflasche, einen Becher, Kerzen und verließ das Haus.
    "Wo wollt Ihr hin?", fragte Theical, als er sah, dass sie selbst ihre Tasche bei sich trug.
    "Ich gehe jetzt baden! Ich bin den ganzen Tag gelaufen, hab mich in der staubigen Hütte umgesehen und abgesehen davon, liebe ich Wasser. Aber liegt vermutlich daran, dass ich im Meer geboren wurde."
    "Ihr meint, dass Ihr am Meer geboren wurdet", korrogierte sie der Aras.
    "Nein, im Meer. Mir sind die Unterschiede beider Wörter durchaus bewusst, Herzog."
    "Soll ich mitkommen?", fragte Thyra. "Dann müsst Ihr nicht alleine gehen?!"
    Dankend lehnte die Schurkin ab. Sie mochte die Jägerin unheimlich gerne, aber das Herumwandern mit mehreren Personen war noch neu für die junge Frau. Zuvor war sie immerhin auch immer allein zurechtgekommen.
    Daphne lächelte in die Gruppe, die bestimmt vorhatte das weitere Vorgehen zu besprechen, aber sie hatte keine Lust im Dunklen nach Feuerholz zu suchen und eine Diskussion, in dieser Konstellation, konnte nur Stunden dauern. Sie konnte die Dunkelheit nicht ausstehen und wollte mit allem fertig sein, ehe die Nacht alles umhüllte. Außerdem sah die ganze Gruppe aus, als konnten sie ein Bad gut gebrauchen. Sie machte lediglich den Anfang.

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    Theical sah Daphne nach, dann zuckte er die Schultern und begann stattdessen den Lagerraum des Schankraums zu durchsuchen. So überstürzt wie die Eigentümer offenbar verschwunden waren, gab es sicher noch etwas Essbares für sie alle. Davon abgesehen konnte er sich schon jetzt vorstellen, dass ein Pläneschmieden mit allen an einem Tisch die Nerven strapazieren würde. Einzige Lösung, um das alles zu ertragen: Alkohol und Essen. Wobei er sich mit ersterem vielleicht zurückhalten sollte.
    Tatsächlich fand er in dem kleinen dunklen Raum noch einige abgehangene Würste und sogar Brot und Käse. Für jemanden wie ihn, der nie viel hatte, ein reiches Angebot. Er nahm, was er tragen konnte und trug es zu den anderen in den großen Raum. Dort hatten die anderen schon zwei Tische zusammengestellt, damit sie alle Platz fanden und Thyra war gerade dabei einige Kerzen anzuzünden, damit sie während des Gesprächs auch etwas sahen.
    "Ich habe etwas zu Essen im Lager gefunden", kündigte Theical an und platzierte das Gut in der Mitte des Tisches. "Es ist sogar noch recht viel."
    "Und trinken können wir auch, bis wir umfallen"
    , meinte Jaris. Er stellte zwei volle Weinflaschen neben die anderen Sachen und positionierte noch ein paar Becher.
    "Diese Leute müssen wirklich sehr schnell abgereist sein", meinte Thyra. "Wenn sie nicht einmal alles an Nahrung mitgenommen haben." Ihr Blick glitt sorgenvoll durch den Schankraum.
    "Das gibt uns schon einmal einen Vorgeschmack darauf, was uns wahrscheinlich erwartet." Theical sah den Herzog nachdenklich an. Dieser hatte sich bereits an den Tisch gesetzt und starrte grübelnd Löcher in die Luft. Wie es ihm wohl ging? Immerhin schien es seinem Reich noch schlechter zu gehen, als sie angenommen hatten.
    "Sollte mit Zacharas' Sturz nicht alles besser werden?", fragte Jaris. Auch er hatte den Fürsten eine Weile beobachtet, sah aber nun zu Engel, sie es sich in einer Ecke gemütlich gemacht hatte. Die Frau runzelte die Stirn und blickte grimmig zurück. Sie sagte kein Wort, aber das brauchte sie auch nicht. Es war zu erkennen, dass sie mit der Situation ebenfalls überrumpelt wurde. Es gab zwar bereits Gerüchte, dass es nun noch schlimmer sei, als zu Zacharas' Zeiten, aber das übertraf ein wenig die Vorstellung, die Theical zu der ganzen Sache hatte.
    "Es ist Euer Reich", wandte sich Theical schließlich an den Herzog. Er setzte sich ebenfalls an den Tisch. "Was sollen wir jetzt machen?" Er sah von einem zum anderen. "Hat irgendwer eine Idee?"

  • Grübeln...
    Nachdenken...
    Der Herzog war in sich gekehrt, bereute schon fast den Vorschlag mit dem Gasthaus. Er selbst hätte nicht damit gerechnet, dass es verlassen sei. Es war abgelegen, war ihm deswegen immer willkommen für einen Umdrunk. Er war hier mehr als bekannt. Gefürchtet und geliebt!
    Er verstand es nicht, was hier geschehen war. Glaubten die Leute etwa wirklich, er sei nicht mehr, und gaben deshalb das Gasthaus auf? Wurden sie etwa überfallen? Dafür war es aber noch recht gut in Schuss. Nichts war zerstört, kein Bett entzwei, keine Flaschen zerdeppert und das Essen nicht verschimmelt. Lange konnte es noch nicht her sein...
    "Herzog!", sprach Theical und rüttelte an seinem Arm. Aras schreckte leicht auf und fixierte seinen Blick auf den kleinen Mann neben sich.
    "Zacharas, das Gasthaus gehört zu Eurem Reich..."
    Nickend stimmte er zu. "Dort drüben", er zeigte zu Engel rüber, "war immer mein Stammplatz."
    Sie schaute an sich herab, schwenkte von links nach rechts, blickte zurück und stand dann auf. Mit Grummeln rutschte sie zwei Plätze weiter und setzte sich wieder hin.
    "Soll das heißen, Ihr wart hier schon öfters?", fragte Thyra verwundert mit verzogener Schnute. Die Skepsis war ihr anzusehen.
    "Regelmäßig, will ich mal behaupten."
    "Habt Ihr uns deshalb hierhin geführt?", fragte Theical weiter. "Habt Ihr vielleicht einen Plan, wie es weitergehen soll?"
    "Ich..?", fragte Aras mit Deut auf sich selbst nach.
    Kopfnicken kam ihm entgegen.
    "Eigentlich möchte ich mit euch allen zusammen einen Plan machen. Immerhin sind wir alle betroffen."
    "Das klingt gut", erwiderte Theical. "Aber Ihr müsst doch auch bereits für Euch selbst in Voraus einen Plan ausgearbeitet haben. Ich meine: Ihr seid der Lord van Júmen. Wir kennen Euch nur so, als Pläneschmieder und Denker..."
    "Das meint Ihr ernst, Herr Sarret?"
    "Sonst hätte ich es wohl nicht geäußert", entgegnete er. "Thyra und Jaris werden mir bestimmt auch zustimmen dabei. Nicht wahr?"
    "Wir...ähm..." "Zustimmen...was?"
    "Danke vielmals für den Versuch mich aufzumuntern, Theical", unterbrach Aras die geistig stagnierende Meute. "Und ich habe tatsächlich einen Plan. Nur wird der Euch nicht gefallen."
    "Wusste ich's doch!" Laut klatschte der kleine Mann in die Hände. "Aber wie schlimm ist die denn, dass Ihr meint, sie würde mir nicht gefallen?"
    "Nunja, ich brauche ein Buch."
    Gesichtsgrätsche! Ganz perplex starrte Theical ihn an, kraulte sich das Kinn und machte dicke Backen. "Wie bitte?! Könnt Ihr das wiederholen?!"
    "Ich brauche ein Buch."
    "Wollt Ihr mich veralbern?!" Unverzüglich stand er auf, ging zu Thyra an den Tresen und zeigte neben sie. Sie überreichte ihm ein Buch, ein Kochbuch. Mit voller Wucht klatschte er dieses dann vor Aras auf den Tisch und sprach: "Hier habt Ihr eines!"
    Augenrollend erwiderte der Lord entnervt: "Nicht irgendein Buch. Das Buch!"
    "Und was für eins soll das sein?", fragte Jaris neugierig.
    "Mein erstes Buch, das ich je bekommen habe..."
    "Wollt Ihr uns veralbern?!", rief Thyra durch den ganzen Saal und ließ beinahe die Weinflasche fallen. "Seid Ihr noch ganz bei Trost?"
    "Was wollt Ihr damit?", fragte Theic genauer. "Und wo soll ich das überhaupt herbekommen?"
    "Aus meinem Schlafzimmer natürlich. In der Ymilburg, im obersten Stock, am hintersten Fenster. Ganz unscheinbar unter dem Bett. Ein schmales Buch mit dem Titel: 'Das Leben im Kloster'."

    Dann kam die Stille...
    Gefolgt von lautem Gelächter aus Engels Mund...
    Die lachte so laut, krümmte sich so heftig, dass sie beinahe von der Bank gerutscht wäre. Theical und Thyra war dabei aber nicht nach Lachen. Ihre Gesichter zeigten eher Unverständnis und Abneigung. Und Jaris war auch vollkommen perplex und deutete leicht dem Lord an, dass er nicht mehr ganz kunsper war.
    Doch Aras meinte es wirklich ernst. "Ich möchte, dass Ihr, Theical Sarret, dies mit Daphne zusammen macht. Es ist mir sehr wichtig!"

  • Dunstige Regenwolken hingen über der Stadt. Das Licht drang nur gedämpft hindurch und fiel jämmerlich schwach auf die grauen Gebäude und schwarzen Mauern. Konnte es eine deprimierendere Aussicht geben? Derselben Meinung waren offenbar auch die Bürger, denn anders als andere Städte dieser Größe, die selbst in dieser Entfernung lebendig und bewegt wirkten, lag Ymilburg wie tot da. Kurz fragte er sich, ob sie nicht genau wie das Gasthaus verlassen war? Er stellte sich die menschenleeren Gassen vor und die vielen unberührten Häuser. Keine Fußabdrücke würden sich im Schlamm abzeichnen, kein Stimmengewirr die Luft verdichten. Die Vorstellung verflüchtigte sich, als sich das Tor öffnete und eine Handvoll Reiter hinauspreschen. Auch aus diesem Abstand konnte man erkennen, dass es Soldaten waren. Jaris spannte sich an, bei dem Gedanken, dass sie auf dem Weg zum Gasthaus waren, doch dann bogen sie auf eine Straße ab, die von ihnen wegführte und entfernten sich. Immerhin bewies das, dass noch Leben in der Stadt war. Dennoch beruhigte ihn das nicht wirklich. Eine Stadt wie Ymilburg brauchte Bauern, die ihre Erträge zum Verkauf auf den Markt brachten. An gewöhnlichen Tagen würden die Reihen der Karren mit Getreide, Früchten und Obst Meilenweit reichen. Viehzüchter würden ihre Tiere der Reihe nach durch das offen stehende Tor treiben und zwei, drei bedauernswerte Mitglieder der Stadtwache wären verzweifelt bemüht wenigstens den Anschein von Ordnung aufrecht zu erhalten. Jetzt dagegen wirkte Ymilburg wie eine Stadt mitten in der Belagerung. Nur ohne die gegnerische Armee. Die Bewohner würden angewiesen worden sein in ihren Häusern zu bleiben, während Soldaten knapp bemessene Essensrationen verteilten und dabei vermutlich die Hälfte in die eigenen Taschen steckten. Ohne dass sich der Knoten, der sich in seinem Magen gebildet hatte, seit sie in die Nähe der Stadt gekommen waren, gelöst hätte, stand er auf und machte sich auf dem Rückweg zum Gasthaus. Einmal angekommen trat er sofort in die Gaststube, in der sich die anderen bereits versammelt hatten.
    "Ihr werdet in der Nacht über die Mauern klettern müssen", richtete er das Wort an Theical und Daphne, wobei er nicht umhin kam dem kleineren Mann einen mitleidigen Blick zu zuwerfen. Seinen Großeltern würde es unter den Umständen bestimmt nicht besser gehen, als während Zacharas Herrschaft. Theic runzelte besorgt die Stirn, ob wegen Jaris Ausdruck in den Augen oder seiner Worte. Vermutlich ein wenig von beidem.
    "Wieso können wir uns nicht einfach zwischen den anderen verbergen, die in die Stadt wollen", fragte er.
    "Weil es keine anderen gibt", antwortete der Söldner mit unheilvoller Stimme. Die Worte schwangen einen Moment lang im ansonsten stillem Raum nach.

    Wer zu lesen versteht, besitzt den Schlüssel zu großen Taten, zu unerträumten Möglichkeiten.

    Aldous Huxley

    • Offizieller Beitrag

    Daphne vernahm die Worte des Soldaten und umgehend begann ihr Verstand zu arbeiten. Sie sollte etwas stehlen, keine sonderlich neue Aufgabe für die Schurkin, aber die Begebenheiten der Stadt machten es alles andere als einfach. Ein verschlossenes Tor und das Gut, was sie holen sollte, befand sich auch noch im Gemach des Herzogs. Sie musste alles ausschöpfen, was sie zur Verfügung hatte, dessen war sie sich bewusst. Über die Mauer klettern war keine Option, denn auf der einen Seite war die Stadt von einem Berg geschützt und auf der anderen Seite versperrte ein See den direkten Zugang zur Mauer. Sie mussten anders in die Stadt kommen, aber wie?
    Daphne stand auf und begann nachdenklich im Raum auf und ab zu laufen.
    "Na schön", murmelte sie dabei und wandte sich dann Zacharas zu. "Ich brauche einen Plan!"
    "Den brauchen wir alle", erwiderte der Herzog wenig beeindruckt.
    "Nein, ich meine von Eurer Burg. Ich brauche eine genaue Darstellung eines jeden Raumes von jedem Stockwerk. Von der Küche, bis hin zum Keller, einfach alles. Und wehe Ihr vergesst etwas, dann ..."
    "Es ist mein Heim, wer sollte es besser kennen als ich?!", erwiderte Aras trocken und schaute sich nach etwas Papier und einer Schreibfeder um.
    "Was hast du vor?", wandte sich Engel aus ihrer Ecke an Daphne, welche die Frau nur mit erhobener Braue anschaute.
    "Das werde ich Euch ganz sicher nicht verraten. Das Risiko, dass Ihr in einem unbeobachteten Moment verschwindet, ist mir zu groß und ich hänge an meinem Leben."
    "Das ist doch ...", schimpfte Engel, aber niemand widersprach der Schurkin oder ergriff Partei für die ehemalige Hofdame. Selbst Zacharas schaute nur zwischen den beiden Frauen hin und her, tat aber so, als sei er mit dem Plan beschäftigt.
    Wieder versank Daphne in Gedanken und betrachtete dann Theical mit musternden Blick. Sie beide sollten das Buch holen, also musste sich die Schurkin etwas für sie beide einfallen lassen. Haare raufend vielen ihr nicht viele Möglichkeiten ein, bis sie am Nacken ihre Kette spürte. Ihr Blick erhellte sich und grinsend betrachtete sie Theic.
    "Warum grinst du so?", fragte er skeptisch, aber Daphne bekam bloß noch größere Augen, als sich ein Plan in ihrem Verstand zusammensetzte. Doch bevor sie Theical einweihen wollte, wandte sie sich Thyra zu.
    "Sag mal", setzte Daphne an. "Du kannst nicht zufällig Körbe flechten, oder?"
    Thyra grinste.
    "Natürlich, aber für was brauchen wir welche? In der Speisekammer sind doch einige."
    "Nein, nein ... Ich brauche einen bestimmten Korb, größer und nicht so kreisrund."
    Jetzt war es Thyra, die unter einem breiten Lächeln ihre Brauen hob. Daphne nahm die Jägerin beiseite und flüsterte ihr zu, worauf sie hinauswollte. Der Korb brauchte zwei Gurte und etwas zum Verschließen. Thyra konnte nicht anders und lachte laut los, als sie verstand, warum die anderen Körbe nicht in Frage kamen. Tränen eroberten das Gesicht der Jägerin, die sich fast in Rage lachte und auch Daphne ließ sich davon anstecken.
    "Ich weiß nicht", flüsterte Theical Jaris unterdessen zu. "Aber ich hab ein mulmiges Gefühl in der Magengegend."
    "Wenn Frauen so lachen ist das nie gut", frotzelte der Soldat, was seinem Freund nur bedingt weiterhalf.
    "Keine Sorge, ich kümmere mich darum", antwortete Thyra unter Atemnot und riss sich verzweifelt zusammen.
    "Und was soll der Rest machen?", wandte Jaris ein. "Mit einem Korb ist es nicht getan, oder?"
    Daphne schüttelte ihren Kopf und ihr Blick wurde wieder ernster.
    "Wir brauchen mehere Hemden, eine Hose und ein Kleid. Aber nicht irgendwelche zerlumpten Fetzen, sondern sie müssen nach etwas aussehen. Uns wird nichts anderes übrigbleiben, als sie aus den Samtvorhägen zu nähen oder was wir sonst finden. Mein Kleid nehme ich selbst in die Hand, aber alles andere müssen wir gemeinsam machen."
    "Wir sollen nähen?", wiederholte Jaris noch einmal. "Nicht, dass ich etwas dagegen habe, aber ich glaube nicht, dass ich sonderlich gut als Schneider bin."
    "Das bekommen wir alles hin", erwiderte Daphne zuversichtlich und fuhr wieder zu Theical herum. "Du wirst ein Bad nehmen müssen. Du musst dich von oben bis unten säubern und das bis hin zu den Fingernägeln. Nirgends darf auch nur etwas Schmutz zurückbleiben."
    "Das heißt, wir müssen arbeiten, während er sich in der Wanne entspannt?", entglitt es Engel.
    "Es gehört zum Plan", erklärte Daphne sachlich. Alle sahen nach den Tagen in der Wüste nicht taufrisch aus, aber da Daphne und Theical die Ehre zu Teil wurde, das Buch zu holen, dessen Zweck für die Schurkin zweitrangig war, hatte der Taschendieb das Vorecht ein Bad zu nehmen. Daphne konnte nur hoffen, dass das Buch dem Herzog weiterhalf, aber da sie dafür bezahlt werden würde, hatte sie keinen Grund sich zu wehren oder zu schimpfen. Zacharas wollte das Buch - er sollte es bekommen, aber dann musste man der Schurkin schon überlassen, wie sie dies bewerkstelligen wollte.
    Alle sollten Stoffe und Nähzeug suchen, während Daphne sich mit Thyra zurückzog, damit diese Maß für den Korb nehmen konnte.

  • Thyra kicherte noch immer. Sie hatten einen alten Handaebeitskorb gefunden und darin befanden sich nicht nur Nadeln und Garn, sondern auch ein Maßband. Als Daphne auch nicht die Arme hob, damit die Jägerin besser Maß nehmen konnte, brach sie schon wieder lauthals in Gelächter aus.
    "Dieser Plan ist so bescheuert, dass er schon wieder funktionieren könnte", japste sie.
    Daphne grinste bloß breit und forderte sie auf endlich schnell zu machen. Thyra gab ihr bestes und als sie alles hatte was sie brauchte, stürmte sie zurück in den Schankraum, wo die Männer schon sämtliche Gardinen abgehängt hatten.
    "Jaris? Ich brauche zwei Breite Ledergurte von etwa einem Meter Länge. Kannst du sowas auftreiben? Ich bin im Wald Weide suchen."
    Sie wollte schon aus der Tür stürmen, aber der Söldner hielt sie zurück.
    "Alleine?"
    Sie lächelte immer nich gut gelaunt. "Ich hab doch Fenrir und Iorweth."
    Jaris schien nicht wohl bei der Sache zu sein, aber ehe er weitere Einwände erheben konnte war Thyra schon zur Tür raus.

    Nach einigem Suchen hatte sie tatsächlich genug Weide zusammen um einen Korb nach Daphnes Anweisungen zu flechten.
    Sie gaben alle ein schräges Bild ab. Daphne und die Männer nähend in einem leersteheden Schankraum, Thyra, die eifrig den Korb flocht und Engel, die schmollte und sich weigerte zu helfen, weil niemand sie eingeweiht hatte.
    "Komm mal her Daphne. Wir müssen probieren ob er schon passt."

    Writers aren't exactly people ... they're a whole bunch of people trying to be one person.
    - F. Scott Fitzgerald

    • Offizieller Beitrag

    Immer noch nicht so recht wissend, was Daphne plante, ging Theical ihrer Aufforderung dennoch nach. Er hatte zwar eine ungefähre Ahnung, auf was sie hinauswollte, aber er konnte sich noch nicht vorstellen, dass das allein schon reichen würde. Selbst wenn sie es so in die Stadt schaffen sollten, bis in die Burg und erst recht in das Schlafgemach des Herzogs reichte das sicherlich nicht.
    Er schruppte sich Haut und Füße mit einer Bürste.
    Wenn er fertig war, musste er unbedingt noch einmal mit Daphne reden. Sie brauchten für jeden möglichen Fall einen Plan, wenn nicht sogar noch einen zweiten. In der Stadt waren sie völlig auf sich allein gestellt und da durfte nichts schiefgehen. Im Graute jetzt schon vor dem Moment, wenn sie in der Stadt standen und alles nach hinten losging, was nach hinten losgehen konnte.
    Er drehte sich um und nahm das heiße Wasser vom Feuer neben der Wanne und goss neu auf.
    Was wollte Zacharas überhaupt mit dem Buch? Er hoffte wirklich, dass es den Aufwand wert war. Nicht, dass es eben so ein Reinfall war wie die Schatulle von Daris: dass er und Daphne ihr Leben aufs Spiel setzten und es sich letztendlich um irgendeine Nichtigkeit handelte.
    Er säuberte die Finger und kürzte die Nägel. Er konnte gar nicht mehr sagen, wann er das letzte Mal derart sauber gewesen war. Als der Enkel eines einfachen Schmiedes war das wohl Jahre her.
    Jetzt war es fast schon schade zurück in die alten Klamotten steigen zu müssen. Notdürftig schüttelte er diese aus, als er aus der Wanne stieg, schlüpfte hinein und kehrte dann zurück zu den anderen.
    Diese saßen im Schankraum. Jaris, der verzweifelt und völlig überfordert mit einem Haufen Stoff kämpfte und Zacharas, der immer noch an den Plänen zeichnete und offenbar eben über einer Stelle grübelte. Engel saß noch immer in der Ecke und beobachtete alle mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Belustigung. Von ihr war wohl keine Hilfe zu erwarten.
    „Wo ist Daphne?“, fragte Theical und sah Jaris an. Der Söldner hob den Blick von seiner Arbeit und deutete die Treppen nach oben.
    „Thyra wollte irgendwas probieren.“ Er wirkte nicht sonderlich begeistert, dass man ihn mit dem Nähen alleingelassen hatte.
    Theical nickte und wollte die Treppen nach oben in den nächsten Stock nehmen, als Zacharas ihm in den Weg trat. Der Herzog reichte ihm einen kleinen Stapel ordentlich durchnummerierter Papiere. Offensichtlich der Grundriss der Burg, den Daphne haben wollte.
    „Ich habe es mir überlegt“, begann Zacharas. „Ich werde euch doch helfen.“
    Theical nahm das Papier an sich.
    „Tja, Jaris scheint Hilfe zu brauchen“, er deutete auf den verzweifelt dreinblickenden Mann. „So ein blödes Buch können wir auch noch ohne Eure Hilfe stehlen. Ihr seid nur im Weg und wenn Euch jemand erkennt, haben wir schon verloren, bevor es anfängt.“ Selbst überrascht, woher die Worte auf einmal kamen, krampfte Theical die Hand um das Papier und lief eilig an Zacharas vorbei ins zweite Stockwerk.
    Thrya trat so eben aus der Tür zu Daphnes Zimmer, immer noch fröhlich am Grinsen. Den Korb hatte sie unter den Arm geklemmt und als Theical an ihr vorbeilief, brach sie erneut in Lachen aus. Irgendwas sagte ihm, dass ihm der Plan in etlichen Details nicht gefallen würde. Aber im Grunde blieb ihm nichts übrig, als sich auf Daphne zu verlassen. Er hatte nicht sonderlich viel Erfahrung darin, in Häuser einzubrechen und dort etwas zu stehlen, geschweige denn in eine Burg. Er war lediglich ein einfacher Taschendieb und Trickbetrüger. Letzteres noch eher.
    „Das wird ein Spaß“, japste Thyra, als sie die Treppen nach unten lief. „Ich wünschte, ich könnte dabei sein.“ Theical versuchte ihre Freude über die Sache zu ignorieren und klopfte stattdessen an Daphnes Tür. Wenn er mit ihr reden wollte, dann war jetzt der beste Zeitpunkt. Alle anderen waren beschäftigt und würden ihnen beim Pläneschmieden nicht dazwischenfunken.
    „Daphne, ich muss mit dir reden“, murmelte er, als er das Zimmer betrat. Die quirlige Schurkin saß auf dem Bett, kam aber sofort auf ihn zugerannt und zog ihn hinein, als sie ihn erkannte. Sie musterte ihn aufmerksam von oben bis unten und rümpfte kurz die Nase, als sie sah, dass er seine alten Sache wieder übergezogen hatte. Aber da es im Moment noch keine Alternativen dazu gab, verlor sie darüber kein Wort.
    „Super! Jetzt siehst du schon eher aus wie ein Mensch“, rief sie sattdessen aus und drückte ihn auf einen Stuhl, ehe er überhaupt reagieren konnte. Sie wühlte in ihrem Gepäck und holte dann eine Schere heraus. „Fehlen nur noch die Haare und der Bart!“
    Kurz überlegte Theical, ob er nicht doch fliehen sollte. Letztendlich blieb er aber sitzen. Dass sie ihm die Haare schnitt, konnte nicht schlimmer sein, als wenn er es mit einem alten Dolch versuchte.
    „Aber schneide mir ja nicht in die Ohren“, forderte er immer noch etwas skeptisch.
    Daphne grinste breit. „Ich werde es versuchen.“ Sie verzog den Mund etwas und schien einen Moment zu überlegen und zu fachsimpeln, was sie wohl schneiden sollte, dann setzte sie an und entfernte das ganze verfilzte Zeug.
    „Glaubst du wirklich, dass dein Plan funktioniert?“, fragte Theical währenddessen. Dass Daphne begann voller Euphorie an seien Haaren herumzuschneiden kümmerte ihn reichlich wenig, im Gegensatz zu dem, was vor ihnen lag. „So kommen wir vielleicht in die Stadt, aber nicht bis in die Burg.“ Er entfaltete die Papiere mit den Plänen von Zacharas und betrachtete sie eingehend. Er spürte, wie auch Daphne über seine Schulter hinweg einige Blicke auf die Karte warf.
    „Wir müssen irgendeinen Schwachpunkt finden, uns eine glaubwürdige Sache zurechtlegen und dann zuschlagen“, meinte Daphne. „Ich hatte die Idee für den ersten Teil, jetzt bist du dran.“
    Theical runzelte die Stirn. Wie brach man in ein Schloss ein? Er hatte doch keine Ahnung. Aber er wollte auch nicht alles Daphne überlassen, denn mit dem Finger auf jemanden zeigen und sich beschweren, dass es nicht funktioniert hatte, konnte jeder. Und das wollte er nicht. Er studierte die Pläne nachdenklich und suchte nach Schwachstellen, nach Dingen, die sich für sie als brauchbar erweisen konnten. Er versuchte sich vorzustellen, wo Wachen sein könnten, aber ihm wurde schon jetzt klar, dass sie das nicht von weitem festlegen konnten. Wenn sie den ersten Teil überstanden hatten und in der Stadt waren, mussten sie sich dort dringend einen Überblick verschaffen. Aber für die grobe Planung reichte auch die Vorstellung.
    „Wie wäre es damit?“ Er zeigte auf ein Gebäude, das mit Stall beschriftet war und auf der Innenseite der Mauer lag, die die Burg umrundete. Ein größerer Platz lag davor und sicherlich würde man den Stall und auch den Platz gut bewachen. „Wenn man … “, begann er zu sprechen.

    Es dauerte eine gute Stunde, bis sie sich einig waren und nach etlichen Diskussionen zu einem gemeinsamen Ergebnis gekommen waren. Sie hatten nun ihren Plan, oder um genau zu sein, mehrere. Aber es bedurfte einiger Zeit an Vorbereitung. Sie würden mindestens einen Tag brauchen. Und am Morgen des zweiten Tages sollte es losgehen.

  • "Übrigens", begann Engel überraschend sich mal zu äußern, "finde ich es sehr verletzend, wie ihr mich betrachtet."
    "Daran seid ja wohl ihr selbst am meisten schuld!", erwiderte Thyra ihr schnippisch, während sie weiter die Weidenzweige verflocht.
    Dann erhob sich Engel und schlenderte auf Aras zu, der sich mit etwas Stoff und Zwirn beschäftigte. Mit einer schwungvollen Drehung nahm sie neben ihm Platz und versuchte gequält seine Hand zu erhaschen.
    Er drehte sich weg, so leicht ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen. "Ich bin am Nähen, siehst du das nicht?"
    "Zacharas", säuselte sie und begann zu schmollen. "Willst du mir nicht vielleicht verraten, was du mit dem Buch vorhast?"
    "Es bringt dir doch eh nichts, Engel!"
    "Gut, ich gebe zu, ich gab mich in letzter Zeit nicht wirklich vertrauensvoll..."
    "Nicht wirklich vertrauensvoll?!", stellte Thyra ihre Aussage infrage. "Ich verstehe bis heute nicht, was Aras an Euch nur findet oder mal gefunden hat!"
    Mürrisch und beleidigt blickte Engel sie an. "Ihr seid nur eifersüchtig, weil Zacharas mich trotz aller Strapazen immer noch lieben kann..."
    "Um ehrlich zu sein", unterbrach Aras sie sofort, "zweifle ich langsam an diesen Gefühlen."
    "Auf einmal liebst du mich nicht mehr, ja? Du hast einen unehelichen Sohn! Du liebst mich und wirst es auch immer."
    "So ungern ich Aras wieder sämtliche Arbeit abnehmen will", warf nun Jaris ein, "bitte ich euch dennoch darum, diese Diskussion in einem separaten Raum weiterzuführen."
    "Gut!", sprach Aras und riss sich hoch. "Dann lass uns kurz im Bad verschwinden."
    Unerwartet kam Engel dem nach, was sogar den Lord kurz skeptisch werden ließ.
    "Berichtet den anderen ruhig, wo wir sind", sagte Aras zu Jaris und Thyra mit breitem Grinsen. "Sie dürfen sich ruhig ihre Gedanken dazu machen."

    Gemeinsam im Bad verschwunden, nahm Engel am Wannenrand Platz, während der Lord sich breitbeinig vor die Tür stellte. Blickkontakt nahmen sie auf, was Engel spontan ausnutzte. Schöne Augen machte sie ihm, spielte mit ihren Lippen und benahm sich auch sonst ungewöhnlich entspannt. Es fiel ihm nicht leicht, dabei einen kühlen Kopf zu bewahren, obwohl er wusste, dass es nur gespielt war. Zulange verschmähte sie ihn, quälte sie ihn mit Ignoranz.
    Er erinnerte sich zurück an den Tag, als sie der Truppe zustieß. Sie ging auf ihn los, sah ihn als Feind und weniger als Freund. Er wollte es damals nicht akzeptieren und konnte es nun immer noch nicht. Doch musste er stark bleiben und nicht ihrem Charme verfallen.
    Tief durchatmen und in sich kehren. "Gib mir einen Kuss und ich verrate es dir."
    "Darauf falle ich nicht rein!" Hochnäsig wandte sie sich von ihm ab. "Du weißt doch eh nichts."
    "Wenn du dir so sicher bist, warum fragst du dann erst?"
    "Einen Kuss ist mir das nicht wert! Einen Fausthieb schon eher!"
    "Nur werde ich es dir in diesem Fall nicht verraten."
    "Denkst du wirklich, ich bin so naiv, Zacharas?"
    "Das habe ich nie über dich gedacht. Du musst es so sehen, Engel. Was ist gegen einen kurzen Kuss einzuwenden, wenn du dafür geheime Informationen erhältst? Davon abgesehen hatten wir uns bereits vor etlichen Jahren geküsst und damals warst du auch nicht abgeneigt."
    "Damals war ich nur eine Magd und du ein Prinz."
    Er stimmte ihr vollkommen zu. "Und jetzt bist du eine Kriegerin und ich ein Landstreicher."
    Abfällig beäugte sie ihn. "Du bist jetzt wie damals nicht in der Lage, einer Frau die Stirn zu bieten. Also warum sollte ich dir erst deinen Willen geben, wenn du sowieso früher oder später einknicken wirst?"
    "Tja", meinte er nur. "Du kannst mir auch ohne zu wollen einen Kuss geben. Oder hast du Angst, ich könnte doch handgreiflich werden?"
    "Angst? Ich?" Da lachte sie spöttisch. "Vor dir hat niemand mehr Angst, Zacharas! Du bist schon längst ein Schatten seiner selbst. Die finsteren Tage deiner Tyrannei haben ein Ende..."
    "Das kann mir dein Gatte bestimmt auch bezeugen, während er auf meinem Thron sitzt und die Stadt herunterwirtschaftet."
    Sie kochte vor Wut und ballte die Fäuste. Doch zuschlagen tat sie nicht. Aras provozierte sie und mochte es vielleicht zu bereuen. Aber sie einfach gehen lassen, ohne angemessene Entlohnung von ihr zu erhalten, kam nicht in Frage.
    "Gut, ich verrate dir einen Teil des Buchinhalts vorab. Aber den Rest erfährst du nur, wenn du mich küsst."
    "Und schon gibst du auf", sprach sie und begann zu schmunzeln. Bestätigt fühlte sie sich offensichtlich.
    "Das hat nichts mit Aufgeben zu tun, geliebte Engel. Ich will dir nur einen Anreiz geben, mehr verlangen zu wollen."
    "Erspare dir die Mühe..."
    "Meine ersten Zaubersprüche enthält es!" "Und wie man sie erlernt und anwendet. Und eine detaillierte Karte der Stadt und der Minen. Und ein Gedicht an dich. Und vieles mehr."
    Verwirrt starrte sie ihn an. "Das ist alles? Nur ein paar Zaubersprüche? Nutzlos für die anderen..?"
    "Also nutzlos würde ich sie nicht behaupten", unterbrach er sie ermahnend. "Jeder ist in der Lage, Magie zu erlernen."
    "Dummes Geschwätz, was du von dir gibst! Selbst wenn es so wäre, was solle es der Gruppe nützen?"
    "Überlege doch mal, Liebste. Können deine Leute Magie wirken?"
    Dann überlegte sie eingehend. Sie begriff, worauf er hinauswollte. Und das gefiel ihr gar nicht. War dies sein geheimer Plan?
    Der Spontanität verfallen packte sie sein Handgelenk, riss den Arm zu sich und küsste ihn leicht angewidert auf den Handrücken. "Nun zufrieden?!"
    Grübelnd verdrehte er die Augen, schmunzelte leicht und erinnerte sich erneut an diesen flüchtigen Kuss. Und er kam zu dem Entschluss, dass es sich nicht lohnte.
    "Ich habe mir mehr erwartet, Engel. Mein Kopf ist leer, ich weiß nicht mehr."
    "Du Bastard!", fauchte sie und schlug ihm sofort die Hand hinweg. Abfällig betrachtete sie ihn, ballte die Faust und schlug ihm nun ins Gesicht. Schlecht für ihn, dass er unmittelbar vor der Tür stand und nun dagegen fiel. Mit viel Getöse und Gepolter stolperte er zurück, fing sich an der Tür ab und knickte langsam ein. Engels Schlag war ziemlich heftig für eine Frau...und spontan dazu!

    Stur verließ sie das Badezimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Eine Weile blieb Aras am Boden und ordnete seine Gedanken neu. Ihm war klar, dass Engel so schnell nicht aufgeben würde. Sie würde es wieder versuchen, ihn schwach zu machen, oder bei Gelegenheit zu fliehen. Auch ohne seine Worte wusste sie bereits genug.

    Er rappelte sich wieder auf, zupfte die Kutte zurecht, striegelte sein Haar mit den Händen glatt und verließ ebenfalls das Badezimmer. Selbstgefällig hockte Engel wieder auf ihrer Bank und glotzte ihn böswillig an. Jaris und Thyra entgegneten ihm ein verhaltenes Gesicht. Wie es sich wohl hier angehört hatte, als das Gespräch kurz und leidvoll eskalierte?

    "Ich bin gleich wieder für euch alle da", gab er räuspernd von sich, verschwand die Treppe hinauf und klopfte bei Theic und Daphne. Nachdem sie ihn hereingebeten hatten, fing er sofort an zu erzählen: "Kleine Planänderung! Ich möchte, dass ihr in der Burg etwas Unruhe schafft. Mein Buch und das Finsternispulver in meinem Schlafzimmer werden euch dabei behilflich sein."

    • Offizieller Beitrag

    Theical und Daphne saßen da und schauten verwirrt zur Tür. Zacharas van Júmen betrat das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Noch immer sagten die anderen beiden nichts, nicht einmal, als er sich auf das Bett neben Daphnes setzte und die beiden ansah, als forderte er eine Antwort auf seine Planänderung.
    Langsam neigte sich Theical zu Daphne hinüber und flüsterte ihr zu:
    "Sein Gesicht ist ganz rot!"
    Daphne blinzelte einmal benommen und nickte geistesabwesend.
    "Ich glaub, das wird blau werden!"
    Wieder ein Nicken von Daphne.
    Aras räusperte sich, denn natürlich blieb dem Herzog nicht verborgen, dass sich alle viel mehr auf die dunkler werdende Stelle in seinem Gesicht konzentrierten, als auf das, was er gesagt hatte.
    "Wie sieht es aus?", setzte Zacharas an.
    "Lila!", sprachen die Schurkin und Theical synchron.
    "Nicht mein Gesicht!", fuhr der Herzog hoch. "Bekommt ihr das mit dem Unruhe stiften hin?"
    "Öhm ... öh", stotterte Daphne und neigte ihren Blick auf die Karten. "Natürlich bekommen wir das hin. Unruhe stiften ist leichter, als nicht auffallen, schätze ich."
    "Sieht der Türrahmen eigentlich schlimmer aus als Ihr?", verlangte Theical zu wissen und erntete einen ernsten Blick des Herzogs, der darüber keine Auskunft geben wollte. Er nahm Daphne lieber die Karte aus der Hand und erklärte den beiden, wo das Finsternispulver zu finden war. Alles andere würden sie Anhand des Buches herausfinden, welches sie selbstverständlich anwenden durften. Sie sollten einfach so viel Unruhe stiften wie möglich, was Daphnes Herz höher schlagen ließ. In eine Burg hausieren gehen ... Das hatte sie schon lange nicht mehr getan.
    Es dauerte einen Moment, bis Zacharas alles erklärt hatte, was er erklären wollte. Er erzählte Daphne und Theical, welche Sprüche sich in dem Buch befanden und dass jeder sie anwenden konnte. Das wollte die Schurkin nicht ganz glauben. Sie sollte auch dazu in der Lage sein? Der Herzog wiederholte sich ungern und betonte das, was er gesagt hatte, noch einmal durch ein deutliches "Ja!".
    Danach stand Aras auf und wollte wieder gehen, aber Daphne schaute ihn an und richtete sich kurzerhand auf.
    "Zacharas?", unterbrach sie das Öffnen der Tür. "Wollt Ihr das einfach so lassen?"
    "Was lassen?", hakte der Herzog mürrisch nach.
    "Euer Gesicht?", fügte die Schurkin hinzu.
    "Das verheilt schnell. Kein Grund dem irgendwelche Aufmerksamkeit zukommen zu lassen."
    "Oder aber das Auge schwillt bis morgen zu", entgegnete Theical und Daphne stimmte ihm zu.
    "So häufig, wie ich mir schon Wunden und blaue Flecke zugezogen habe, würde ich das nicht unbehandelt lassen", fuhr die Schurkin fort und meinte damit ihre Anfänge beim Klettern und Balancieren bei Einbrüchen. Sie griff unter ihr Bett und zog ihre Tasche hervor. Kurzerhand kniete sie sich davor und räumte sie aus. Immer wieder stellte sie dabei kleine Metalldosen und sogar einen Mörser mit Stößel auf das Bett. Ganz zum Schluss drückte sie Theical einen Beutel in die Hand.
    "Setzt Euch!", befahl sie Zacharas, der nur zögerlich in den Raum zurückkehrte. Daphne suchte eine silberfarbene Dose aus und schaute, ob sie leer war und sie war es. Erst dann fing sie an wortlos eine Flüssigkeit in den Mörser zu schütten, ein paar getrocknete Kräuter und dann eine seltsam blaue Alge, die sie aus dem Beutel holte, welchen Theical hielt. Sie rührte kräftig mit dem Stößel, bis aus dem Geschmisch komischerweise ein klarer Brei geworden war. Eine Art Salbe. Sie füllte dies in die Dose, auf die ein mit Muscheln verzierter Deckel gehörte. Daphne stand wieder auf und wandte sich Zacharas zu.
    "Das stammt aus meiner Heimat. Es kühlt und lindert Schwellungen, aber das Auftragen werdet Ihr sicherlich alleine hinbekommen."
    Die Schurkin übergab dem skeptisch dreinblickenden Herzog die Dose und richtete sich dann an die beiden Herren.
    "So, und ich werde mich jetzt lieber um mein Kleid kümmern, damit ich aussehe, wie eine Frau in anderen Umständen, denn in meine normale Kleidung werde ich dann nicht passen." Sie schaute Theical an. "Mein lieber Gatte, ich werde mich dann zurückziehen!"
    Sie machte einen gespielten Hofknicks und verschwand aus ihrem Zimmer, denn die roten Samtvorhänge nähten sich nicht von selbst und alles den anderen überlassen wollte sie nicht.

  • Jaris und Thyra blieben allein in dem Zimmer zurück und sahen sich halb belustigt, halb geschockt an. Als dann auch noch Engel aus dem Badezimmer stürmte und ohne Umwege zur Tür rannte, nur um dann nach draußen in die Dunkelheit zu verschwinden, hoben er nur fragend eine Augenbraue.
    "Die kriegt sich schon wieder ein", beschloss Thyra und beide wandten sich wieder ihrer Arbeit zu. Nähen war komplizierter als es aussah. Vor allem, wenn man es noch nie zuvor gemacht hatte. Jaris Finger waren mittlerweile übersät von winzigen Stichwunden und er schwor sich innerlich nachdem das hier alles vorbei war, nie wieder eine Nadel in die Hände zu nehmen. Natürlich bemerkte er auch immer wieder die amüsierten Blicke, die Thyra ihm zuwarf.
    "Die Spitze muss in den Stoff, nicht in deine Haut", riet sie ihm mit einem verschlagenem Grinsen.
    "Ach so geht das", antwortete Jaris mit gespielter Überraschung. "Hättest du mir das nicht vorher sagen können." Bevor sie etwas erwidern konnte kam auch schon Zacharas zur Tür herein. Sein Gesicht war geschwollen und dunkelgelbe Paste, die jemand darüber gestrichen hatte, machte es nicht gerade besser. Thyra konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
    "Ist das deine Verkleidung, damit dich niemand erkennt", fragte sie hämisch.
    "Kein Mensch wird dir freiwillig ins Gesicht sehen", stimmte Jaris ihr zu.
    "Ach kümmert euch um euer eigenes Zeug", erwiderte der Herzog gereizt und ließ den Blick suchend im Zimmer herumschweifen.
    "Eure Angebetete hat sich entschieden einen nächtlichen Spaziergang zu machen", erklärte ihm Thyra hifsbereit.
    "Ihr habt sie gehen lassen", fragte Zacharas entsetzt. "Einfach so. Sie könnte uns verraten."
    "Wir haben besseres zu tun als deiner Exfreundin nachzujagen", widersprach Thyra ihm, Jaris runzelte jedoch die Stirn. Wenn Engel jemandem erzählen würde, dass sie hier waren, dann würde es im Gasthaus bald nur so von Soldaten wimmeln.
    "Vielleicht sollte ich einen Aussichtsposten beziehen", bot er an. Er warf der Nomadin einen entschuldigenden Blick zu, doch er konnte nicht behaupten, dass er nicht froh darüber wäre, dem Nähen zu entkommen. "Dann bekomme ich mit wenn jemand die Stadt betritt oder sie verlässt und wir haben genug Zeit uns notfalls einen anderen Standort zu suchen." Zacharas nickte nur zustimmend und übernahm den Platz des Söldners ein, der in die Nacht hinaus trat. Es war kühl, doch nicht kalt und deshalb verzichtete er auf eine Decke oder ähnliches. Ein paar Meter entfernt konnte er einen weißen Schatten im Unterholz erspähen. Es war Fenrir, der das Gasthaus misstrauisch beäugte. Der Wolf bemerkte ihn und Jaris sah, wie sich seine Ohren aufstellten, doch er ließ ihn ungestört passieren. Es war ein beruhigendes Gefühl, dass jemand ein schützendes Auge auf Thyra warf, während er nicht dabei war. Natürlich konnte sie sich selbst verteidigen, daran zweifelte sie nicht, aber es war nie falsch Hilfe zu haben. Ein paar hundert Meter weiter war ein hoher Hügel, von dessen Spitze aus man bereits die Mauern und das Stadttor sehen konnte. Jaris bereitete sich ein behelfsmäßiges Lager in dem Dickicht und legte sich flach auf den Boden, damit niemand seine Silhouette auch nur erahnen konnte. Von hier aus betrachtet lag die Stadt in vollkommener Dunkelheit, nur die Wachen auf der Mauer und dem Tor trugen Fackeln, die ihr Licht hinaus in die Dunkelheit warfen. Doch keine Person tauchte in dem schwachem Schein vor dem Tor auf, keine Rufe drangen, getragen vom Wind, zu ihm hinüber. Engel mochte falsch sein und eine Verräterin, doch noch hatte sie ihnen den Doch noch nicht in den Rücken gerammt. Während die Zeit verstrich, lugte der Mond zwischen den Wolken hervor und beleuchtete die gesamte Ebene vor ihm. Einen Moment lang musste Jaris wieder an Selchiors Worte denken, kurz bevor er gegangen war. Er konnte sich nicht an seinen Vater erinnern. Selbst seine Mutter verblasste schon in seinen Gedanken. Könnte etwa etwas daran sein. Was wusste er schon? Er fragte sich, was die Elfen, die sie in der Wüste getroffen hatten, wohl machten. Wahrscheinlich bewachten sie immer noch die Katakomben, in dem Glauben, dass die Gruppe in ihrem Herzen umgekommen war. Sie hätte er nach seinem Vater fragen können. Sie hätten es ihm vielleicht erzählen können. Immerhin stammten sie vom selben Stamm. Unruhe breitete sich in ihm aus und er war sich sicher, dass er etwas vergessen hatte. Als die Strahlen der Morgensonne durch die Wolken stachen, zogen leise Schritte im nahen Dickicht seine Aufmerksamkeit auf sich. Er drehte sich um und empfing Theical, der den Hügel hinaufgeklettert war.
    "Du sollst wieder zurück kommen", berichtete er ihm. "Engel ist ohnehin wieder da und wir wollen unseren Plan in die Tat umsetzen." Jaris zuckte mit den Schultern und folgte dem anderem durch den Wald, vorbei am immer noch wachendem Fenrir.
    "Ich hoffe ihr beide wisst was ihr tut", sprach Jaris Thecal an und meinte damit ihn und Daphne. Sein Gegenüber verzog das Gesicht.
    "Das hoffe ich auch", antwortete er. "Solange unser Plan funktioniert." Jaris wurde schmerzlich bewusst, dass er, ob bewusst oder unbewusst, genauso aus der Planung herausgehalten worden war wie Engel. Sie misstrauten ihm doch nicht, oder?
    "Keine Sorge, das wird schon", sprach er Theic Mut zu. Der kleine Mann grinste verschlagen.
    "Die nächste Nacht werden die in der Burg nicht so schnell vergessen", versicherte er ihm und trat vor Jaris durch die offene Tür.

    Wer zu lesen versteht, besitzt den Schlüssel zu großen Taten, zu unerträumten Möglichkeiten.

    Aldous Huxley

  • Irgendwann, als der Korb ohnehin fertig gewesen war, hatte Thyra sich erbarmt und dem Lord Stoff und Nähzeug aus der Hand genommen. Gemeinsam hatten sie die schiefen Nähte wieder gelöst und sie hatte dem Zauberer erklärt, wie man es richtig machte. Sie hatte sich dann des Hemdes angenommen und was am Ende dabei herausgekommen war, konnte sich durchaus sehen lassen.
    Theic trug nun Hemd und Hose aus rotem Samt. Den Kragen und den Bund der Hose hatte sie mit Spitzendeckchen, die eigentlich auf die Nachttische gehört hatten, verziert.
    Theic drehte sich um die eigene Achse und hatte trotz seiner stillem Art und seiner Körpergröße eine ganz andere Präsens.
    Daphne, die ein zu Theics Kleidern passendes Kleid trug, sah umwerfend aus und gemeinsam sahen sie so blaublütig aus, das Thyra Tinte in ihrem Adern fließen sehen konnte. Anerkennend klopfte sie dem Herzog auf die Schulter.
    "Du lernst schnell."
    Entgegen ihrer Erwartung ließ der Lord ihren Kommentar einfach so stehen und sagte nur: "Nun verschwindet ihr beiden!"
    Das ließ sich Daphne nicht zwei Mal sagen. Vor Vorfreude grinsend packte sie Theical am Arm und zerrte ihn - wenig damenhaft - durch die Tür.
    Als sie mit einem Klappen wieder zugeschlagen war, wandte sie sich um.
    "Ich hau mich dann mal aufs Ohr."
    Sie ging die Treppe nach oben und suchte sich einen x-beliebigen Raum mit Bett. Sie machte sich sorgen um Theical und Daphne, aber sie wusste auch, dass wenn es einer schaffen würde, es diese beiden waren.

    Writers aren't exactly people ... they're a whole bunch of people trying to be one person.
    - F. Scott Fitzgerald

    • Offizieller Beitrag

    Etwas albern kam sich Daphne schon vor, als sie das Gasthaus verließ. Egal wie sehr Thyra beteuert hatte, wie hübsch sie aussah, das änderte nichts daran, dass sie das schelmische Grinsen im Gesicht der Jägerin bemerkt hatte. Gut, sie selbst konnte sich das Lachen auch nicht verkneifen, vor allem als sie den seltsamen Blick von Jaris sah, als dieser erkannte, für was der Korb gedacht war. Den seltsamen Blick des Herzogs konnte sie nicht zuordnen. Sie hätte aber schwören können, gesehen zu haben, wie er sich ein Lachen verkneifen musste. Engel hingegen bedachte sie nur mit einem musternden Blick und dem Satz:
    "Seid froh, dass Ihr den Bauch später wieder ablegen könnt."
    Das lag vermutlich daran, dass sie die einzige Frau in der Runde war, die Erfahrung mit Schwangerschaften hatte. Thyra hatte Daphne helfen müssen den Korb anzulegen, danach kam das rote Samtkleid darüber, so dass sie tatsächlich aussah, als sei sie schwanger. Im Korb versteckt waren alle möglichen Utensilien, die sie für ihre Mission brauchten, auch Daphnes Alltagskleidung, denn ein Kleid eignete sich nicht wirklich für einen Einbruch. Da die Schurkin ihr Haar ausnahmsweise offen trug und sich mit heißen Holzwickel Locken in die Spitzen gedreht hatte, musste sie all ihre Einbruchsmaterialien ebenfalls im künstlichen Bauch unterbringen. Dadurch besaß dieser ein stolzes Gewicht. Sie brauchte nicht die Erschöpfte spielen, nach der Hälfte des Weges war sie geradezu fertig und der Rücken schmerzte ihr ungemein.
    "Geht es noch?", versicherte sich Theical, als er Daphne hinter sich stöhnen hörte.
    "Muss ja, hilft alles nichts", erwiderte sie trocken.
    "Wir haben es ja gleich geschafft", versuchte der Taschendieb sie aufzumuntern, aber je mehr er es betonte, desto länger kam ihr der Weg vor.
    "Hoffentlich muss ich das nie wieder machen!"
    Nichtsdestotrotz kamen sie irgendwann am Tor an und Daphne versicherte sich noch einmal, dass sich Theical darüber bewusst war, welche Rolle er zu spielen hatte. Nicht, dass sie das nicht zutraute, aber es war weder seine Natur, genauso wie gegen ihre eigene.
    "Heh ... Ist niemand da?", brüllte Theical plötzlich und klopfte lautstark gegen das geschlosses Tor im Morgengrauen. "Macht einer vielleicht mal auf?"
    Sekunden des Schweigens, bis Stimmen erklangen und das kleine Fenster in der Tür öffneten.
    "Ja? Die Tore sind noch versperrt, kommt später um Eure Waren anzubieten oder was immer Ihr wollt", sprach ein Mann in voller Rüstung und musterte die beiden.
    "Wir sind keine Händler, Ihr Sohn einer warzenverseuchten Dirne", spie Theical gespielt arrogant aus, aber so überzeugend, dass Daphne beinahe die Kinnlade hinuntergefallen wäre. "Ich bin Tristan von Braun. Sohn von Willfred von Braun, Herzog von Delyveih. Meine Gattin und ich sind auf diesem Land, während einer Durchreise, ausgeraubt worden. Anscheiend von irgendwelchen verarmten Bauern. Sie ließen uns gerade so die Kleidung am Leib. Und da dies eben auf diesem Lad geschah, fordere ich Einlass in die Stadt, um mich nach einer Möglichkeit der Weiterreise erkundigen zu können, so wie sich ein Arzt meine Frau ansehen soll. Wie Ihr sehen könnt, ist sie in anderen Umständen. Und Gnade Euch Calypso, wenn meinem ungeborenen Sohn etwas geschieht, dann beiße ich Euch höchstpersönlich die hässliche Visage vom Hals!"
    "H-Habt Ihr dafür einen Nachweis, Herr von Braun?", stotterte die Wache hinter dem Tor und Theical zog die Kette hervor, die Daphne ihm zuvor ausgehändigt hatte. Eingehend schaute sich der Soldat das Siegel an, welches mit einer Inschrift auf der Rückseite die Echtheit bewies.
    "Es tut mir leid, was Ihnen zugestoßen ist. Natürlich dürfen Adelsleute passieren. Unser neuer Herzog würde nicht wollen, dass Leute mit Geld vor den Toren versauern." Die letzten Worte waren mehr Genuschel, als diese wirklich für das vermeintliche Adelspaar gedacht waren.
    Das Fenster schloss sich und Theical lehnte sich vorsichtig zu Daphne.
    "War das in Ordnung so?"
    "Noch ein paar drohende Worte mehr und ich hätte mir in die Hose gemacht, wenn ich der gewesen wäre. Ich bekam hingegen weiche Knie. So fühlt sich also Besorgnis an, schade dass sie nur gespielt ist."
    Beide unterdrückten ihr Lachen und ließen eilig die Mundwinkel hängen, was ihnen nicht leicht fiel. Das Tor wurde ihnen geöffnet und mit erhabenen Blick stolzierten sie hindurch. Daphne natürlich als bloßer Blickfang an der Seite ihres Gatten. Frauen sprachen nicht sehr viel in den Kreisen und beschwerten sich nicht, das überließ man den Herren. Sie gab sich einfach erschöpft, seufzte und stöhnte gelegentlich und hielt sich den Bauch.
    "Einen Arzt findet Ihr ...", begann die Torwache noch schnell zu erklären und deutete ebenfalls den Weg zum Markplatz an. Plötzlich schrie Daphne kurz auf und fiel dem Soldaten entgegen, der sie blitzschnell am rechten Arm auffing.
    "Es tut mir Leid", entschuldigte sich die Schurkin schüchtern. "Ich bin so müde, dass ich umgeknickt bin."
    "Das verstehe ich", gestand der Mann mit dem offenen Visier und übergab die Adelsdame der Obhut ihres Gatten. Theical schnappte sich Daphne an der Hüfte und stützte sie auf dem Weg hinein in die Stadt.
    "Hast du ihn?", fragte er, während sie eng nebeneinanderher liefen.
    "Natürlich!", bestätigte die Schurkin und steckte den Schlüssel, den sie der Wache abgenommen hatte, Theical in die Hosentasche.

    In der Stadt bot sich ein unheimlich ruhiger Anblick. Die Kerzen in den Häusern verrieten, dass dort Menschen anwesend waren, aber viel war in den Straßen nicht los. Ein paar Händler bauten am Markplatz ihre Stände auf, aber die, die dort hinkamen, schauten aus als hätte man ihnen in den Nacken geschlagen. Laute Gespräche führte niemand. Anscheinend hatten alle Angst man könnte ihnen etwas nachsagen, was immer das auch sein mochte. Abgesehen davon liefen in der Stadt mehr Wachen herum, als es üblich gewesen wäre. Umgehend fielen Theic und Daphne die vielen Plakate auf, die an Brettern hingen und bei denen es sich um neue Erlasse handelte.
    "Also das mit den höheren Steuerabgaben überrascht mich ja nicht wirklich. Die Ausgangssperre ist auch eine nette Sache und erklärt, warum hier keiner hinausgeht oder groß reinspaziert, aber das geht echt zu weit ...", sprach Daphne und riss einen Zettel ab.
    "Das wird Engel aber nicht gefallen, dass ihr Gatte sie so leicht ... ersetzt", gab Theical von sich und las, was die Schurkin meinte.
    "Lus Primae Noctis?", maulte Daphne ungehalten. "Der neue Herzog erschleicht sich das Recht der ersten Nacht? Ist das nicht etwas übertrieben und sehr veraltet?"
    "Naja, damit ist Zacharas ganz offiziell das geringere Übel."
    "So macht Heiraten gleich mehr Spaß, wenn man die Nacht mit dem neuen Herzog verbringen muss, das ist widerlich!"
    "Wir sollten wirklich dafür sorgen, dass wir dem Kerl das Recht auf den Thron entziehen."
    Darin waren sich beide einig. Kaum wollten sie ihren Weg fortsetzen, hörten sie eine bekannte Stimme hinter ihnen rufen.
    Es war die Wache vom Tor und für einen kurzen Moment rutschte ihnen, wegen des gestohlenen Schlüssels, das Herz in die Hose, aber er hatte ein anderes Anliegen.
    Sein Vorgesetzter hatte ihn ermahnt und gleichzeitig befohlen, dass er den Thronerben von Delyveih zum Arzt geleiten soll, denn man wollte verhindern, dass der fremde Adel sich verlief. Somit hatten beide keine andere Wahl, als dem Wachmann nachzulaufen und die Tarnung so lange aufrecht zu erhalten wie es ging.

    • Offizieller Beitrag

    Der Wachmann führte sie wirklich bis genau vor die Tür des Arztes und hätte Theical nicht mit Nachdruck klar gemacht, dass sie ab hier auch allein zurecht kämen, wäre er ihnen wohl auch noch ins Innere nachgelaufen. Auf dem Weg hatte die Wache ihnen erzählt, dass es sich bei dem Arzt um den Besten der Stadt handelte und sie sich keine Sorgen um das ungeborene Kind machen sollten. Es waren ähnliche Worte, die damals auch Zacharas in den Mund genommen hatte, als es um die Versorgung seiner Großmutter ging. Ob es vielleicht sogar der gleiche Arzt war? Die Wahrscheinlichkeit schien groß, denn wie viele "beste" Ärzte konnte es in einer Stadt schon geben? Aber dafür war nun keine Zeit. Sie mussten ihren Plan weiterverfolgen.
    Leider wartete der Wachmann geduldig, bis sie auch endlich das Haus betreten hatten, weshalb sie ihr Vorhaben von einer Stadtbesichtigung - um das weitere Vorgehen eingehender und von der Situation abhängig zu planen - auf später verschieben mussten. Theical hielt Daphne also die Tür auf, bis diese das Vorzimmer betreten hatte, erst dann folgte er ihr, ohne den Wachmann noch eines Blickes zu würdigen.
    Schon von außen war sichtbar gewesen, dass das Haus mit der hellen Fassade und den dunklen Balken einen gewissen Reichtum verkörperte, nicht zuletzt deshalb, dass es inmitten anderer, scheinbar gut betuchter Häuser stand. Der Arzt verdiente also mit seiner Arbeit nicht schlecht, was ihn für Theical nicht unbedingt sympathischer machte. Denn so war es gut möglich, dass der Mann die Treue auch zum neuen Herzog hielt.
    "Guten Tag", meinte eine ältere Frau, die ihnen freundlich lächelnd entgegen gewatschelt kam. Theical verdrehte innerlich die Augen, fühlte er sich mit seiner Rolle absolut nicht wohl, aber immerhin war er es nicht, der vorgeben musste, schwanger zu sein. Von ihnen beiden hatte er deutlich die besseren Karten gezogen. Auch, wenn er jetzt noch weiterspielen musste, weil sie nicht wussten, ob die Wache schon von der Tür verschwunden war. Einfach wieder wegzugehen, würde also nicht funktionieren und würde eventuell noch unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
    Er streckte die Nase in die Höhe und versuchte sich durch gerades Hinstellen, größer zu machen. Was bei der älteren Frau nicht einmal nötig war, da sie wenige Zentimeter kleiner war als er. Auf das Siegel und seinen Titel verzichtete er, reichte es hier hoffentlich, wenn man sie einfach für gut Betuchte hielt.
    "Entschuldigt die Störung, wehrte Frau, aber meine Gattin", er zeigte auf Daphne, die nur höflich nickte, "ist im neunten Monat und wir haben einen sehr langen Fußmarsch hinter uns. Wir wurden vor der Stadt von Banditen überfallen und mussten deshalb laufen. Seither klagt sie über starke Schmerzen. Der Arzt soll sich meine Gattin einmal ansehen. Ich will nicht, dass ihr oder dem Ungeborenen etwas zustößt." Etwas Glaubwürdigeres fiel ihm auf die Schnell nicht ein und so abgekämpft wie Daphne aussah, weil sie das zusätzliche Gewicht nicht gewohnt war, war das durchaus nicht abwegig.
    "Oh Ihr Arme", meinte die ältere Frau. Sie humpelte davon, hatte sie scheinbar etwas mit dem Bein, oder der Hüfte, und holte einen Stuhl herbei, den sie Daphne hinstellte. "Setzt Euch. Ich werde meinen Mann holen."
    "Nur keine Eile, ich brauche nur etwas Ruhe", versuchte Daphne die Frau zu beruhigen. "Das war alles etwas viel, mehr nicht."
    "Nein, nein, Euer Gatte hat schon recht, damit ist nicht zu spaßen." Die Ältere verschwand hinter einer Tür.
    Die Schurkin räusperte sich und blickte Theical strafend an, was dieser mit einem Schulterzucken zur Kenntnis nahm.
    "Was sollte ich denn machen?", schnaufte er. "Oh tut mir leid, wir haben uns in der Tür geirrt?"
    "Und was mach ich jetzt?", flüsterte Daphne zurück. "Ich habe vergessen zu sagen: Ich bekomme einen Korb?!", fügte sie ebenso schnippisch hinzu, wie Theical zuvor. Dieser war bereit etwas zu erwidern, schluckte es aber hinunter, als die Frau mit einem alten Mann zurückkam. Sein Stethoskop wackelte an seinem Hals, als er erst Daphne und dann Theical begrüßte.
    "Dann wollen wir mal sehen, wo der Schuh drückt", meinte er. Er beugte sich etwas zu der Schurkin, welche ängstlich zurückfuhr und sich an Theicals Arm krallte, was diesen leicht nach vorn zog, da es ihn etwas unvorbereitet traf.
    "Ich will nicht, dass mich ein fremder Mann anfasst, Liebster", rief sie mit bebender Stimme aus und Theic wirkte kurz irritiert, als sich Daphne sogar eine Träne aus den Augen quälte.
    "Aber er will dir doch nur helfen", sprach er beruhigend, als er seine Fassung zurück hatte. "Dir wird nichts geschehen." Er wusste zwar, auf was die Diebin hinaus wollte, aber es wäre unrealistisch gewesen, hätte er ihr einfach so nachgegeben. Er hoffte einfach darauf, dass sie die besseren Argumente hatte.
    "Aber mir fehlt nichts", jammerte Daphne weiter. "Mir geht es gut."
    "Ich bitte dich, du bist völlig erschöpft. Lass ihn dich untersuchen, da ist doch nichts dabei."
    Das ältere Ehepaar sah zwischen ihnen hin und her, bis ein lautes Magengrummeln ihre gespielte Diskussion unterbrach. Plötzlich herrschte betretene Stille zwischen den Anwesenden, bis die ältere Dame hinter vorgehaltener Hand zu kichern begann.
    "Ich schätze, Ihr habt nur Hunger, meine Dame", schlussfolgerte der Arzt nach kurzer Zeit.
    Seine Frau lächelte freundlich. "Ich habe eben Essen vorbereitet, wenn Ihr wollt, könnt Ihr gern mit uns Essen." Sie stockte.
    "Hier könnte ich sichergehen, dass es wirklich nichts Schlimmes ist und Euch im Zweifelsfall doch noch untersuchen", ereilte Ihr Mann zu Hilfe. Das Paar sah sie lächelnd an, weshalb Theical einen fragenden Blick auf seine Schauspielgattin warf. Daphne nickte nur zögerlich als Antwort.
    "Vielen Dank für das freundliche Angebot."
    Die alte Frau nickte zufrieden und führte sie die Treppen nach oben in das zweite Stockwerk, offenbar die Wohnung des Arztes und seiner Frau. Dabei warfen sich Daphne und Theical immer wieder unsicherer Blicke zu, ob es die richtige Entscheidung war, aber besser, als dass ihr Plan aufgrund einer Untersuchung scheiterte. Im Zweifelsfall hätten sie die beiden noch K.O. schlagen müssen.

    In der Wohnung angekommen, zog Theical Daphne einen Stuhl heran, damit sie sich an den Tisch setzen konnte. Der Arzt nahm auf der anderen Seite Platz und beobachtete die Diebin genau. Diese lächelte ihm schüchtern zu, ganz, als hatte sie noch immer Bedenken, aber als Zuversicht, dass es ihr gut ging.
    "In Eurer Praxis ist reichlich wenig los", meinte Theical und bezog sich dabei darauf, dass sie seit dem sie hier waren, noch keinen Patienten gesehen hatten. Ganz davon zu Schweigen, dass der Arzt die Zeit hatte, sich zu ihnen an den Tisch zu setzen.
    Der alte Mann seufzte und warf seiner Frau einen Blick zu. Er schien nach den richtigen Worten zu suchen.
    "Zur Zeit gibt es eben nicht so viele Verletzte." Er lächelte, aber es war ihm anzusehen, dass er es sich auf die Lippen zwang.
    "Liegt das an dem neuen Herrscher?", fragte Theical, um ein unverfängliches Gespräch anzufangen. Wenn sie schon hier festsaßen, konnten sie auch herausfinden, was in der Stadt vor sich ging und wie die Treue dieser Leute zu dem neuen Herzog aussah.
    Wieder blickte sich das alte Ehepaar an.
    "Sicherlich", sprach dann der Alte nicht sonderlich überzeugt aus. Ihm schien das Thema nicht zu gefallen. Ein Grund mehr, tiefer zu bohren.
    "Das ist schön zu hören", begann Theical, leicht den Mundwinkel nach oben verzogen, gerade soviel, dass es Interesse andeutete. "Was ist eigentlich mit dem anderen passiert? Diesem Zacharas van Júmen?"
    Der Arzt öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder, bevor ihn ein Wort verlassen konnte.
    "Der ist tot", meinte schließlich seine Frau. Sie trat an den Tisch und stellte einen frischen Salat in seine Mitte. Dazu noch einige Teller.
    Gespielt erschrocken, sah Theic zu Daphne und sie tat es ihm gleich.
    "Tot?", fragte er. "Was ist passiert?"
    "Zacharas van Júmen ist auf Reisen gegangen und kam nicht zurück. Unser neuer Herrscher, Oswaldo von Papenfeldt, hat auf seinem Thron Platz genommen. Es heißt, man hätte Zacharas umgebracht, um uns von seiner Tyrannei zu befreien", meinte der alte Mann.
    "Befreien", spie die Alte aus. "Mit diesen ganzen neuen Gesetzen hat man uns allen das Leben nur noch schwerer gemacht. Dagegen war Zacharas' Herrschaft eine Wohltat."
    "Sei leise, wenn dich jemand hört!", fauchte der Arzt seine Gattin an. Diese drehte sich stumm, aber mit genervtem Gesicht zurück zur Küche. "Bitte entschuldigt die Worte meiner Frau, sie meint es nicht so."
    Theical sah fragend zu Daphne. Konnte es sein, dass sie in diesen Leuten Verbündete gefunden hatten? Die Schurkin schien seinen Blick zu verstehen, denn sie drehte sich dem alten Mann zu.
    "Heißt das, Ihr seid mit diesem Obstwald von Puppengeld nicht zufrieden?", fragte sie.
    "So war das nicht gemeint", stritt der Arzt schnell ab. Panik zeichnete sich in seinen Augen ab, weshalb er nicht mal zu bemerken schien, dass Daphne den Namen völlig falsch ausgesprochen hatte. "Der Herzog ist ein guter Mensch, er unterstützt und hilft, wo er kann und uns geht es genauso gut, wenn nicht sogar viel besser, als zu Zacharas' Zeiten."
    Theical hob eine Augenbraue. Die Worte des Mannes klangen nicht wirklich überzeugend, was das Zittern in seiner Stimme nur noch mehr verdeutlichte. Und nach dem Ausbruch seiner Frau konnte er sie sowieso nicht mehr belügen.
    "Soso", begann Daphne, "das klingt aber nicht so."
    Hilfesuchend sah der Arzt zu seiner Frau, doch diese sah auch nur erschrocken zu ihnen. Wohl ängstlich darüber, was sie mit ihren unbedachten Worten losgetreten hatte. Die beiden wussten schließlich nicht, auf welcher Seite Theical und Daphne wirklich standen. Sie spielten Adel, oder zumindest Vermögende.
    "Bitte, sagt es nicht dem Herzog", flehte sie.
    Daphne und Theical blickten sich an.
    "Schade eigentlich", feixte Theic, "Er würde sich über diese Worte sicher freuen."
    "F-Freuen?", stammelte der Arzt ein wenig verwirrt.
    "Der Kerl hört sich selbst zwar am liebsten reden, aber Lob gefällt ihm ganz sicher auch", meinte Theical weiter. Er glaubte kaum, dass sie vor diesen beiden älteren Leuten befürchten mussten, dass sie ihnen in den Rücken fielen. Sie schienen wirklich unzufrieden mit der ganzen Situation und Engels Mann als neuen Herrscher.
    "Man hat Euch belogen", begann Daphne. "Zacharas ist nicht tot, der ist sogar ziemlich lebendig ... naja etwas blau um die Nase, aber das bringt ihn nicht gleich um."
    Dem älteren Paar fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. "Was? Er lebt?", stießen sie aus. "Woher wisst Ihr das?"
    "Sagen wir, wir haben ihn erst kürzlich gesehen", meinte Theical. Ihren Plan konnten sie unmöglich verraten, aber sie konnten so viele Verbündete gebrauchen, wie sie bekommen konnten.
    Seufzend ließ sich die alte Frau ebenfalls auf einen Stuhl fallen. "Dem Himmel sei dank, dann hat das hier hoffentlich bald ein Ende."
    "Könnt Ihr uns jetzt sagen, warum die Praxis leer ist?"
    Der Arzt atmete noch einige Male tief durch, dann lehnte er sich etwas nach vorn, als glaubte er immer noch, jemand könnte sie belauschen.
    "Alle Kranken und Alten werden aus der Stadt geworfen, und alle, die ihre Steuern nicht zahlen können, oder sich weigern, landen im Kerker oder werden direkt aufgeknüpft. Die Ärzte wurden angehalten nur noch für Oswaldo von Papenfeldt und die anderen Adligen zu arbeiten. Dabei gibt es auf den Straßen immer mehr Elend, während die sich im Reichtum und Wohlwollen suhlen."
    "Ihr dürft keinen mehr versorgen?", brach es aus Theical heraus. Wenn dieser Mann wirklich derjenige war, der sich um seine Großmutter gekümmert hatte, würde das bedeuteten, dass ... "Was ist mit dieser älteren Frau, diejenige, mit deren Versorgung Euch Zacharas noch vor seiner Abreise betraut hat?" Er musste es einfach wissen. Bisher hatte er den Drang niedergekämpft und sich auf das konzentriert, was von ihnen verlangt wurde, aber er war in der Stadt und er wollte wissen, wie es seinen Großeltern ging.
    Es schien erst, als müsste der Mann überlegen, doch dann krümmte er seinen Rücken, sackte leicht in sich zusammen und betrachtete ihn voller Mitleid. Plötzlich schien er um hunderte Jahre gealtert zu sein. Also war er wirklich ihr Arzt.
    "Ich durfte sie nicht mehr versorgen", murmelte er. "Und als ich es endlich geschafft hatte, mich unbemerkt zu ihr zu schleichen, war es bereits zu spät."
    Theical brauchte etwas, bis er die Worte verstand, dann jedoch schien etwas in ihm zu zerbrechen. Seine Großmutter war also tot? Wut und Trauer überkamen ihn. Nur, weil er nicht da war.
    Erschlagen sackte er in seinen Stuhl zurück und stützte den Kopf in die Arme, betrachtete niedergeschlagen die Tischplatte. Er war schuld...

  • ~Engel~

    Hektisch verließ Engel das Gasthaus, nutzte den Moment und verschwand in der Dunkelheit. Hoffen, nicht verfolgt zu werden, kam ihr nicht mal in den Sinn. Ebenso die Angst davor. Sie blickte nicht zurück. Ihre Rüstung, schwer und unbequem, verlangsamte sie ungemein. Die sperrigen Eisenplatten und klobigen Schuhe klapperten bei jedem ihrer Schritte. Sie wusste, man würde sie vermutlich schon vom Weiten hören, doch wusste sie auch, dass sie gut geschützt war. Sie war eine Kämpferin!
    Die ganze Zeit über dachte sie an Zacharas und die anderen. Tat sie das Richtige? Tat Aras das Richtige? Sie brauchte die Gewissheit, dass ihr Gatte Oswaldo auf dem Thron saß und überhaupt noch lebte. Immerhin hätte auch das eine Lüge sein können und ein völlig Fremder wäre an der Macht. Aras wurde schließlich auch schon als tot erklärt, obwohl es keinerlei wahre Anzeichen dafür gab.

    Sie hörte Schritte im Dickicht. War es dieser fiese Wolf von der Waldläuferin? Engel wollte nicht daran denken, sie wollte allein gelassen werden. Niemand sollte ihr folgen, niemand sollte sie aufhalten. Doch wusste sie, dass sie ein großes Risiko einging. Ihre Gefühle spielten verrückt, mit jedem weiteren Schritt in Richtung Ymilburg wurde sie unsicherer, was ihr Vorhaben betraf.
    Dann bemerkte sie Jaris aus dem Augenwinkel. Ihr war bewusst, dass er sie verraten würde. Doch war sie überzeugt, bald in Sicherheit zu sein. In die Stadt gelangen konnte die Truppe nicht so einfach, das würde sie den Wachen nun auch stecken wollen. Aras hätte ihr nichts von dem Plan erzählen sollen.
    Sie war angekommen. Hundert Meter vor ihr war das Tor zur Stadt. Doch ehe sie es erreichte, entdecke sie einen Streckbrief an dem Pranger des Wegrandes. Es war ein Gesetzeserlass.


    ***
    ~Lus Primae Noctis!~
    ~Hiermit führe ich, Herzog Oswaldo von Papenfeldt, das Recht der ersten Nacht ein!~
    ~Zuwiderhandlungen werden hart bestraft!~

    ***


    Das verpasste ihr einen Stoß ins Herz. Was meinte Oswaldo damit? Bedeutete das genau dies, was Engel früher an Zacharas kritisierte? Das widerrechtliche Halten von Frauen an dem Hofe? Was wollte Oswaldo damit bezwecken? Engel verstand den Sinn dahinter nicht. Sie begriff, was dies bedeutete. Aber wollte sie genau dies niemals haben!
    Ihr schoss nur ein Gedanke durch den Kopf. Neslin, ihre jüngste Cousine. Kurz vor Engels Abreise berichtete sie von dem Vorhaben einer Heirat. Oswaldo mochte Neslin schon immer sehr.
    Dann dachte Engel weiter. Wenn Clewin irgendwann alt genug wäre und auch den Bund der Ehe eingehen wolle... Was, wenn Oswaldo Neslin nun dazu gedrängt haben sollte?
    Wutgeladen und die Tränen unterdrückend schritt sie auf das Tor zu und klopfte an. Die Wache öffnete das Fenster und starrte sie grimmig an. Mächtig und stark bäumte Engel sich auf und sprach: "Ich bitte um Einlass in mein Reich..."

    Sofort unterbrach er sie: "Moment! Könnt Ihr Euch erklären? Wer seid Ihr und als was gedenkt Ihr Euch augeben zu wollen?"
    "Ich bin Engel Papenfeldt! Oswaldo Papenfeldts Ehefrau! Er ist der neue Herzog dieser Lande!"
    Da lachte er verhalten und hielt sich räuspernd die Hand vor den Mund. "Ihr behauptet, die Ehefrau des Herzogs von Papenfeldt zu sein?" Abfällig blickte er sie an. "Mit dieser schäbigen Aufmachung wollt Ihr Einlass in die Stadt erhalten?"
    "Natürlich!", erwiderte sie mürrisch und blickte nun ihn ebenso abfällig an, sofern sie etwas von ihm erspähen konnte. "Ich bin Engel von Papenfeldt..!"
    "Könnt Ihr Euch ausweisen?"
    "Ausweisen? Wieso ausweisen..?"
    "Denkt Ihr etwa, Ihr seid die erste Frau, die sich als des Herzogs echte Gattin ausgegeben hat?" Spöttisches Lachen folgte sogleich. "Ihr müsst wahrlich sehr naiv sein, alte...Frau!"
    "Alte Frau?!" Sie kochte innerlich! Es brodelte in ihr nur so vor Zorn und Hass! Aber sie musste sich zurückhalten, diesen Halbstarken nicht die Fäuste ins Gesicht zu rammen, wie sie es bei Aras schon getan hatte. "Ich bin kaum älter als dreißig! Eure Mutter ist eine alte Frau! Eine Schande, dass sie Euch keine Manieren beigebracht hat..."
    "Zügelt Eure Zunge, falsches Weib..!", ermahnte er sie sofort und öffnete das Tor einen Spalt. Dann huschte eine Speerspitze ihr entgegen und hielt sie auf Abstand. "Noch ein Wort und ich erleichtere Euch einiger Lebensqualitäten!"
    Engel wich zurück, das hatte sie nicht erwartet. Engel war besser bestückt, doch wollte sie keinen Kampf mit ihm eingehen. Auch wenn sie garantiert als Siegerin aus dem Kampf hervorgegangen wäre. Mit kräftigem Fingerdeut zurück zum Pranger sagte sie: "Was hat es mit diesem Gesetz der ersten Nacht auf sich?!"
    "Wie..? Hä..? Seid Ihr noch bei Trost?! Verschwindet endlich und belästigt jemand anderen!"
    Dann knallte er das Tor wieder zu.
    "Richtet Oswaldus aus: Wenn er dieses Gesetz tatsächlich ausüben wird, komme ich, Engel Papenfeldt persönlich zu ihm und erleichter ihn seiner Männlichkeit!"

    Mit diesen Worten kehrte sie wieder um und stampfte zornig davon. Enttäuscht war sie! Sie fühlte sie angewidert und verraten. Hatte ihr Mann sie etwa bereits ersetzt? Und wieso ließ die Wache sie nicht hinein? Offensichtlich erkannte er sie und wusste ganz genau, dass sie es war. Aber seine Ignoranz und Feigheit ließen ihn zögern und störrisch werden.
    Mit Tränen in den Augen rannte sie zurück in das Gasthaus. Sie versuchte ihre Trauer zu verbergen. All ihre Existenz wurde von ihrem eigenen Mann ausgelöscht. Ihre Liebe war nun nichts mehr wert. Sie verzweifelte an den Gedanken daran, was Oswaldo ihrer Cousine und den Frauen anderer Bürger antun würde. Wie verkommen musste man nur sein, sich dieses Recht aneignen zu wollen, die Frauen derart mies zu behandeln?
    Sie musste unbedingt mit Aras reden. Er war vermutlich der einzige, der sie verstehen würde. Schnell wischte sie sich die Augen trocken und raufte sich zusammen. Sie musste stark bleiben. Sie wollte nicht als mitleidenswerter Trauerkloß gelten, sondern als selbstbewusste Kriegerin, die sich von nichts erschüttern ließe.
    Den Raum betreten, bemerkte sie zwar, dass Jaris fehlte, machte sich aber darüber keine Gedanken. Thyras enttäuschtes Gesicht sagte Engel bereits alles, was sie wissen musste. Sie war unerwünscht und niemand vermisste sie wirklich. Aras dagegen wirkte sehr erleichtert und stand sofort auf. Er wollte sie in den Arm nehmen, ob nun Bestechungsversuch oder nicht, war ihr in dem Moment egal.
    Doch sie griff vor. "Zacharas, wir müssen reden!", rief sie durch den Schankraum, schnappte sich seinen Arm und riss ihm mit aller Kraft hinfort. Er folgte ihr unverzüglich, hielt sich dabei weiterhin den kühlenden Fetzen Stoff vor die Nase. Wieder ins Badezimmer verschwanden sie, diesmal von ihr ausgehend. Doch bahnte sich garantiert wieder keine Liebesgeschichte ab. Eher eine dramatische Geschichte.

    "Was ist los?", fragte er leicht entnervt und presste sich unbeholfen den Stoff ans Gesicht. Engel zog kräftig an seinem Arm und schniefte leise vor sich hin. Noch konnte sie die Tränen unterdrücken, die ihr draußen bereits herausspießten. Doch kaum war die Tür zu, ergoss sich der Wasserfall. Aras war so perplex, dass er fast schon freiwillig in Ohnmacht fallen wollte. Er begriff es nicht, was hier gerade passierte. Engel war sonst immer kaltherzig und beinahe gefühlstot. Und nun wirkte sie wie ein Wrack.
    "Wieso weinst du?"
    "Oswaldo hat meiner Cousine etwas angetan..."
    "Wie bitte?!" Augenblicklich ließ er die kalte Kompresse fallen und sackte langsam auf die Knie. Ihn traf der Schock! Er wollte es nicht glauben, was Engel von sich gab. "Wie kommst du auf diese Vermutung? Das ist doch jetzt ein Trick, oder?" Dann fasste er sich wieder und rappelte sich auf. "Ich glaube dir nicht, Engel! Ich kann dir nicht vertrauen! Du hast die Flucht ergriffen..."
    "Und nun bin ich wieder zurück, Zacharas. Ich lüge nicht, Neslin ist in Gefahr!"
    "Was genau hat er ihr denn angetan? Es tut mir leid, aber wenn du so winselst, macht es die Ausdrucksweise extrem schwer."
    "Er hat das Recht der ersten Nacht eingeführt..."
    Da weiteten sich Aras' Augen spontan und seine Kinnlade fiel ihm fast auf die Füße.
    "Und wenn Clewin alt genug ist..."

  • Jaris saß angespannt auf einem Stuhl im Gasthaus und starrte auf das Mahl, dass sie vor sich auf einem der Tische aufgebaut hatten. Sie hatten Käse, Brot, Früchte und sogar Fleisch gefunden, das auch alles verbraucht werden musste, damit es nicht schlecht würde, doch obwohl er seit Wochen kein so reichhaltiges Essen gesehen hatte, hatte er keinen Appetit. Unruhig wippte er auf seinem Stuhl umher. Er hatte keine Erfahrung damit nichts zu tun, während andere ihr Leben riskierten. Die anderen schienen ähnlich zu denken. Zacharas lief unruhig im Zimmer umher und Thyra wirkte zwar ruhig, doch hin und wieder verzogen Sorgenfalten ihr hübsches Gesicht. Nur Engel schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein und starrte nur die Wand an. Überhaupt war sie blass und dunkle Ringe unter ihren Augen deuteten an, dass sie die letzten Stunden bestimmt nicht schlafend verbracht hatte.
    "Verdammt", stieß der Herzog schließlich hervor, als niemand mehr die Stille ertragen konnte. "Ich hätte mitkommen sollen. Sie werden irgendeinen Fehler machen. Jeder macht ständig irgendwelche Fehler, wenn ich nicht dabei bin."
    "Dagegen wäre der einzige Fehler, den sie machen würden, wenn du dabei wärst, der dass sie dich mitgenommen hätten", konterte Thyra und funkelte Zacharas genervt an. "Wie lange, glaubst du, würdest du unerkannt bleiben, in einer Stadt, die du regiert hast." Sie betonte das Wort "hast" am Ende ihres Satzes besonders stark.
    "Tut lieber irgendetwas, das euch beschäftigt", riet Jaris ihm, da ihn der Herzog allmählich auf die Palme brachte, "anstatt hier Furchen in den Boden zu graben." Zacharas schien einen Augenblick darüber nachzudenken.
    "Ich habe gerade eine großartige Idee", platzte es schließlich aus ihm heraus. "Ich kenne einige Orte, die nicht weit von hier liegen. Es ist mir bisher noch nicht in den Sinn gekommen, doch vielleicht leben dort noch Menschen, die mir sagen könnten, wie es um mein Reich steht." Als die erhofften Begeisterungsstürme nicht eintraten, verzog sich Zacharas Miene missmutig.
    "Wenigstens tue ich irgendetwas", warf er den anderen vor und Jaris verdrehte die Augen. Es war ja nicht so als hätte er ihm dazu geraten.
    "Ich komme mit", bot Engel sich sofort an und sprang auf. Der Herzog überlegte einen Moment.
    "Nein", entschied er dann jedoch, was sofort Zorn in Engels Augen auflodern ließ. "Es könnte Fragen aufwerfen, wenn man uns zusammen sieht und die Leute dich als die Frau dieses Usurpators erkennen."
    "Außerdem solltest du wirklich ein wenig schlafen", ergänzte Thyra und klang dabei erstaunlich mitfühlend, wenn man bedachte zu wem sie dies sagte. Engel sah aber auch wirklich mitgenommen aus. Als wäre etwas in ihr zerbrochen.
    "Vermutlich hast du recht", stimmte die ehemalige Rebellin zu und erhob sich mühsam. Während sie sich aus dem Raum schleppte, blieben alle still.
    "Ich werde dann aufbrechen", erklärte Zacharas als wolle er sicherstellen, dass Thyra und Jaris diese heroische Tat tatsächlich nicht zu würdigen wüssten.
    "Versucht vor Sonnenuntergang zurück zu sein", erwiderte Jaris nur.
    "Genau", stimmte Thyra mit einem hinterhältigen Grinsen zu. "Fenrir könnte dich sonst mit einem Wildtier verwechseln." Der Herzog runzelte einen Augenblick besorgt die Stirn, schnaubte dann und trat zur Tür heraus. Die Jägerin lachte kurz auf. "Ich wette, dass er sich beeilt."

    Wer zu lesen versteht, besitzt den Schlüssel zu großen Taten, zu unerträumten Möglichkeiten.

    Aldous Huxley

  • Als der Herzog die Tür hinter sich zugezogen hatte wurde Thyras Gesichtsausdruck wieder ernst. Lustlos pulte sie das Innere eines Brötchens aus der Rinde und knetete es zwischen den Fingern, statt es zu essen. Sie hatte Hunger, ziemlich großen sogar, aber sie machte sich Gedanken um Theic und Daphne. Sie war sich sicher, dass die beiden den Anforderungen des Lords gerecht werden und jede Menge Unruhe stiften würden, aber was kam danach? Sich in einer Stadt aufhalten, die im Chaos versank, war nie gut. Sie sehnte sich zurück zu der ruhigen Zeit bei ihrem Stamm. Da war das Leben noch geregelt gewesen und alles hatte seinen festen Rhythmus gehabt. Dann fiel ihr ein, dass genau das einer der Gründe gewesen war, wieso sie gegangen war... Sie seufzte und lehnte sich im Stuhl zurück.
    "Meinst du, es ist clever, dass wir Zacharas haben gehen lassen?", fragte sie schließlich ohne Jaris anzusehen.
    Der Söldner grummelte, als hätte sie ihn aus seinen eigenen Gedanken gerissen, ehe er antwortete: "Er kann schon auf sich aufpassen."
    Sie lächelte. "Dich stört das Nichts-Tun auch oder?" Sie musste seine Antwort nicht abwarten, um zu wissen, dass sie richtig lag. Er war ein Krieger, einer, der kämpfte und keiner der herumsaß und andere seine Arbeit tun ließ. "Komm", sagte sie schließlich und stand auf.
    Verwundert beobachtete Jaris sie, als sie hastig zwei Brote belegte und was zu trinken einpackte. "Lass uns das Stadttor beobachten und sehen was passiert."
    Mit den Worten verschwand sie aus der Tür des Gasthauses. Im hohen Gras erkannte sie Ferirs leuchtendes Fell. Fragend knurrte er sie an. Thyra zwinkerte ihm zu und machte sich auf den Weg auf einen Hügel, von dem man Yilmburg gut sehen konnte. Aras Schloss ragte dunkel über die Mauern hinaus. Spannung vertrieb ihre Sorgen.
    Was haben sich Daphne und Theic wohl einfallen lassen?
    Sie ließ sich ins weiche Gras sinken, das im Wind wogte und biss herzhaft in ihr Brötchen. Als Jaris sich endlich neben sie sinken ließ, reichte sie ihm wortlos das Zweite. Er nahm und überwand sich schließlich ebenfalls hineinzubeißen. Kauend betrachteten sie eine Weile die Stadt.
    "Ich bin gespannt, was die beiden ausfressen. Zehn zu einer Millionen, dass es Aras nicht gefallen wird."
    Jaris lächelte nun doch endlich mal. "Das kannst du laut sagen ..."
    Thyra schluckte den letzten Rest ihres Mahles. Sie hatte immer noch Hunger. Sie warf einen Seitenblick auf Jaris, der sein Brot angebissen in Händen hielt, aber keine Anstalten machte es fertig zu essen. Aber er musste schließlich auf was essen... also lehnte sie sich bloß zurück und legte ihre Hand dabei wie zufällig auf Jaris'.
    Kurz hatte sie ein schlechtes Gewissen, dass sie versuchte zu flirten, während ihr bester Freund sein Leben auf's Spiel setzte, aber die Gelegenheit konnte sie einfach nicht verstreichen lassen ...

    Writers aren't exactly people ... they're a whole bunch of people trying to be one person.
    - F. Scott Fitzgerald

    • Offizieller Beitrag

    Unangetastet stand das Essen auf dem Tisch und Daphne schwieg. Sie sah Theical an, dass er mit seiner Trauer um seine Großmutter kämpfte und plötzlich rückte selbst für sie ihr Plan in weite Ferne. Sie kannte ihn noch nicht lange, aber sein Verlust machte sie betroffen.
    "Ihr seid ihr Enkel, nicht wahr?", stieß der Arzt plötzlich aus und Theicals Kopf schnellte von seinen Armen wieder nach oben. War ihre Maskerade so schnell aufgeflogen?
    Theical wusste nicht, was er antworten sollte, ohne sie zu verraten, also nahm Daphne ihm diese Entscheidung ab.
    "Ja, ist er!", antwortete sie knapp. Warum noch lügen, wenn die Wahrheit so offentsichtlich schien?!
    Der Arzt nickte betroffen und ergriff den Löffel für die Suppe, die seine Frau vor ihm platziert hatte. Mürbe aß er etwas. Auch der Arzt wirkte, als gab er sich eine Teilschuld an ihrem Dahinscheiden, denn er hatte sich nicht um sie kümmern können. Seine Frau streichelte ihm über die Schulter und setzte sich dann Daphne gegenüber. Ein trauriges Lächeln huschte über das Gesicht der alten Frau, während auch sie mit dem Essen begann.
    "Und was ist mit ihrem Mann? Mit meinem Großvater?", hakte Theical dann neugierig nach. Vor Schreck fiel dem alten Mann der Löffel in die Schüssel und Daphne zuckte zusammen.
    "Mit Eurem Großvater?", stotterte der Arzt. Theical nickte, während das Gesicht seines Gegegenübers fahl wurde.
    "Was?" Theicals Stimme klang fordernder.
    "Man hat ihn eingesperrt", antwortete die Frau des Arztes kleinlaut.
    "Wie bitte? Warum das?", fuhr Theic hoch und stemmte seine Hände auf die Tischplatte, sodass das Geschirr klirrte.
    "Er hat sich anscheinend darüber beschwert, dass seine Frau nicht mehr versorgt wurde. Dies sah der neue Herzog als Akt des Widerstandes und nahm ihn gefangen. Viele werden eingesperrt, die auch nur den Namen von Zacharas in den Mund nehmen oder sich beschweren", erklärte der Arzt hastig und Theic fuhr sich erschrocken mit seinen Händen über sein Gesicht. Er schob den Stuhl nach hinten und ließ nervös im großen Esszimmer auf und ab.
    "Theical?", sprach Daphne und stand ebenfalls auf. Sie wollte ihn aufmuntern, aber als sie ihre Hand auf seine Schulter legte, wandte er sich nur schroff ab und schimpfte: "Nicht, lass mich!"
    Der Arzt und seine Frau sahen derweil nur zwischen den beiden hin und her.
    "Das ist alles meine Schuld!", begann Theical zu wimmern und rieb sich mit seinen Ellenbogen die Tränen weg, die er versuchte vor allen zu verstecken.
    "Nein", fuhr ihm der Arzt über den Mund. "Das ist die Schuld dieses Tyrannen, der sich den Thron angeeignet hat. Unsere Enkelttochter wollte eigentlich nächsten Monat heiraten, aber das haben wir alles abgesagt, dank der neuen Gesetze", gestand der alte Mann weiter. Nun konnten sich Daphne und Theical ziemlich sicher sein, dass das ältere Ehepaar sich auf ihrer Seite befand, so wie sie sicher waren, dass die beiden jungen Leute sie nicht verraten würden. Ernüchternd zog Daphne ihr Kleid leicht hoch und löste die Schnallen des Korbs.
    "Das ist ja gar kein richtiger Bauch", stieß die Frau des Arztes aus und Daphne stöhnte zufrieden, als das Gewicht von ihrem Körper fiel.
    "Nein, ist es nicht und wir sind keine Adligen", brach aus der Schurkin die Wahrheit heraus. "Also ich schon, irgendwie, naja, so halb."
    "Ich glaube, ich verstehe nicht richtig", murmelte der Arzt daher.
    "Ich bin eine Prinzessin, da wo ich herkomme, aber habe damit irgendwie gebrochen, aber deshalb sind wir nicht hier und was wir im Einzelnen vorhaben, braucht niemanden zu interessieren. Es ist nur so, dass ..."
    "Ihr wollt den Tyrannen stürzen. Deshalb kennt ihr auch Herzog Zacharas van Júmen", unterbrach der Arzt das Gestammel von Daphne und diese presste schweigend ihre Lippen aufeinander.
    "Gelobe sei das Schicksal dieser Tage und dass der Herzog noch lebt", stieß die alte Frau erleichtert aus.
    "Und deinen Großvater holen wir aus dem Kerker", wandte sich Daphne schließlich an Theical, der überrascht zu ihr herumfuhr.
    "Wenn wir ohnehin schon dort sind ..."
    Theic nickte leicht, aber wusste, dass das vermutlich nicht sehr leicht werden würde, wenn dieser überhaupt noch lebte.
    "Können wir Euch irgendwie helfen?", fragte der Arzt vorsichtig, aber Theical schüttelte mit seinem Kopf.
    "Ihr helft uns damit schon, wenn wir uns bis zum Sonnenuntergang hier verstecken könnten. Wir wollen niemanden mit hineinziehen, der danach vielleicht, wenn alles nicht so funktioniert wie gedacht, auch noch im Kerker landet."
    "Das ist doch ein Grund, um auf gutes Gelingen zu hoffen", gab die Frau des Arztes von sich und erhob sich. Sie nahm die Wasserkaraffe vom Tisch und eilte humpelnd in die Küche. Sie kramte hörbar in einem Schrank herum und kehrte mit einer Weinflasche zurück. Sie pustete den Staub hinunter und stellte sie auf den Tisch, genau an die Stelle, an der zuvor das Wasser gestanden hatte.
    "Wein? Um diese Tageszeit?", lachte der Arzt auf.
    "Wann haben wir schon einmal so hohen Besuch?! Eine Prinzessin und dann sind sie und der nette, junge Mann auch noch Teil einer Revolte, die wir dringend brauchen."
    "Mir ist nicht nach Wein zumute", gestand Theical und setzte sich wieder an den Tisch, genauso wie Daphne.
    "Sei nicht unfreundlich", flüsterte Schurkin dem Taschendieb zu, weshalb er sie ernst ansah. "Deine Großmutter hätte nicht gewollt, dass du dich dermaßen grämst. Du hättest ihren Tod nicht verhindern können und wärst wahrscheinlich ebenfalls eingesperrt worden, aber du bist frei und kannst etwas tun. Deinen Großvater holen wir heraus. In dem Chaos, welches wir verursachen werden, wird sich dafür eine Gelegenheit bieten, vertrau mir. Du darfst traurig sein, du darfst trauern, aber vergiss nicht, warum wir hier sind. Alleine schaffe ich das nicht. Ich brauche dich dafür."
    Theicals ernstes Gesicht schmolz dahin und er warf seine Stirn in Falten. Zögerlich nickte er und begann zu essen. Großzügig schenkte die Arztfrau unterdessen den Wein in die Gläser und erhob es auf Zacharas, wie auf seine baldige Rückkehr. Den Trinkspruch konnten beide nur bedingt teilen. Theical dachte dabei vermutlich mehr an seine Großmutter und Daphne schloss sich seinem Gesichtsausdruck an und ließ ein zaghaftes Lächeln über ihr Gesicht huschen.

    Das Essen verlief größtenteils schweigend und Theical ließ, abgesehen vom Toast, seinen Wein geradezu angetastet. Kein Wunder, bei der Nachricht, die ihn ereilt hatte. Daphne wollte ihm die Zeit bis zum Sonnenuntergang geben, um mit seinen Gedanken bei seiner Familie zu sein und schaute sich schweigend etwas in der Wohnung des Arztes um. Im Esszimmer hingen unzählige Gemälde und Kerzenständer in allen Variationen prangten von den kleinen Tischen und Ständern. Der Arzt hatte sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, wo die Bestände seiner Medizin zählte, mehr hatte er die Tage nicht zu tun. Seine Frau bewirtete derweil Daphne und Theical, als seinen sie bereits Helden und brühte sogar teuren Kaffee auf. Theical saß immer noch am Tisch und starrte die meiste Zeit ins Leere. Ab und an nahm er einen Schluck Kaffee und versank wieder in Gedanken. Mit Trauer konnte Daphne so gar nicht umgehen und auch mit Langeweile hatte die quirllige, junge Frau so ihre Probleme. Das Cembalo war ihr schon beim Betreten der Wohnung ins Auge gefallen, aber es war Jahre her, dass sie an einem solchen Instrument gesessen hatte. Von der Stille getrieben, die sie hasste, denn Stille bedeutete viele Gedanken, die sie selbst versuchte zu verdrängen, nahm sie auf der kleinen Bank davor Platz und wischte über den staubigen Deckel.
    "Das gehörte meiner Mutter", erzählte die Frau des Arztes, als sie in das Zimmer kam, um Gebäck auf den Tisch zu stellen. "Ich hatte dafür nie Talent. Ich weiß nicht mal, ob es noch funktioniert."
    Vorsichtig hob Daphne den Deckel an und drückte eine Taste. Der metallsiche Klang schwebte lange im Raum und ein Lächeln zierte das Gesicht der alten Frau.
    "Es geht noch", stellte Daphne fest. Vorsichtig betätigte sie mehrere Tasten und huschte mit ihrem Blick immer wieder zu Theical, der sie plötzlich skeptisch ansah.
    "Was? Wir müssen noch warten und ich kann nicht ruhig sitzen. Das konnte ich noch nie, deswegen gab ich ja immer eine furchtbare Adlige ab."
    Schmunzelnd wandte sich der Taschendieb seiner Tasse zu und nahm einen Schluck daraus.
    "Wenn du jemanden davon erzählst, dann töte ich dich!", drohte Daphne grinsend und ließ ihre Finger weiter über die Tasten schweben. "Ich weiß nicht einmal, ob ich noch etwas zusammen bekomme."
    Aber sie wollte es versuchen, auch um Theical etwas Anteilnahme zu vermitteln. In Aufrechter Haltung räusperte sie sich und allmählich ergaben die Töne eine Melodie. Ein paar Mal setzte Daphne neu an, weil es einen Moment dauerte, bis die Erinnerungen an den Unterricht zurückkehrten, aber sie erinnerte sich zunehmend an die Lieder ihrer nebelbedeckten Heimat. Zuerst leise, begann Daphne die Melodie mit ihrer Stimme zu begleiten. Ein Lied über den Verlust einer Person, die man liebte. Hinfortgerissen aus dem Leben von brechenden Wellen, die man an der Klippe des Daseins nicht kommen sah. Als Theical sie nicht auslachte, traute sich Daphne lauter zu werden und ihre eigene, von Trauer behaftete, klare und helle Stimme, nahm das Esszimmer ein. Jedoch sollte das Lied Theical nicht noch trauriger machen. Es endete damit, dass egal wie lange es dauern würde, man sich wiedersah. Am Ende aller Tage, würde man sich wieder begegnen, dort, wo der Horizont das Meer berührte.
    Wenn auch nicht sonderlich sinnvoll genutzt, verging so etwas die Zeit und jedes Lied, welches Daphne anstimmte, verkürzte das trostlose Warten.

  • Er zog seine Kapuze weiter ins Gesicht um sein Antlitz zu verhüllen. Nicht etwa, weil er Angst vor den Rebellen hatte, sondern weil er Angst vor seinem eigenen Volk hatte. Er wusste immer noch nicht, wie es um die Familien stand und ob sie nicht vielleicht des Mordens lustig wurden.
    Fast schon wie verhext war diese Nacht. Darin war er sich sofort einig. Kaum Sterne waren zu sehen, kaum Lichter in den Fenstern. Sonst war ihm die Dunkelheit eine gute Freundin, doch heute nicht. Die vertrauten Geräusche der Nacht waren hier abwesend. Nur Stille, gelegentliches Windgesäusel und seine eigenen Schritte, knirschend auf dem kieselbestreuten Untergrund.
    Oder bildete er sich alles nur ein und das Dorf strotzte vor Leben und Schaffenskraft wie eh und je? Er selbst dabei nur verblendet in Gedanken? Engels Worten schenkte er anfangs keinen Glauben, jedoch waren sie der Grund, warum er nun hier war. Und ehe er das erste Haus passierte, prangerte der Steckbrief an deren Tür. Mit Sicherheit war das Haus verlassen. Wer wollte schon in einem Haus leben, das einem einen so ausladenden Empfang bereitete? Selbst Aras wollte das nicht.

    Mit gemischten Gefühlen stapfte er die Straße entlang, hielt sich unter den Giebelvorsprüngen und Bäumen versteckt. Die Straßen waren wirklich wie leergefegt. Keine Menschenseele geisterte hier herum und nicht mal Hunde oder Katzen waren auf der Pirsch. Hier musste wahrlich großes Elend herrschen. Das kannte Aras von seinen Zeiten als Herzog nicht.
    "Ob die Bürger mich überhaupt beachten?" Bei jedem Haus kam ihm dieser Gedanke. Jedesmal, wenn er eine Haustür passierte.

    Plötzlich hörte er Stimmen, gefolgt von Schritten. Sie kamen näher. Schnell huschte er in die kleine Gasse neben einem Haus. Er wusste, wenn er von den falschen Leuten entdeckt werden würde, wäre es nicht nur um ihn geschehen. Nur kurz linste er ums Hauseck und erspähte zwei Wachen, die auf direktem Weg zu ihm waren. Er verharrte weiter so und beobachtete die Wachen. Er wägte ab, was seine Möglichkeiten waren. Sollte er sich wirklich vor ihnen verstecken? Er wollte schließlich mehr erfahren und sich nicht feige verstecken, während seine Bürger sich in ihren Häusern verkriechen wie feige Ratten.
    Er leiß es drauf ankommen. Früher oder später würden sie ihn sowieso entdecken. Und solange es nur zwei Wachen waren, konnte er sich noch angemessen wehren. Provokativ schob er sich noch ein kleines Stück weiter hervor und versuchte es unbeabsichtigt aussehen zu lassen. Wie erhofft, bemerkten sie ihn schlussendlich und wurden sofort aufmüpfig. "Was glotzt du so, du Streuner?!" "Verschwinde, elendiges Gesindel!"
    Doch Aras verharrte weiterhin so.
    "Du sollst verschwinden, haben wir gesagt!" Mit großen Schritten näherten sie sich ihm und zückten die Schwerter. Bedrohlich wirkten sie in ihren Harnischen und Plattenpanzern. Aber Aras konnten sie damit noch lange nicht einschüchtern. Er wurde schon mit gefährlicheren Leuten fertig.
    Sie versuchten ihn genau dort festzunageln. Dass Aras es so offensichtlich zuließ, schienen sie gar nicht begriffen zu haben. Der Lord tat auf hilflosen Bettler, um sie so aus der Reserve zu locken und sie absichtlich nah an sich heranzulassen.
    "Zeig mir dein Gesicht!", brüllte der eine ihn an und griff nach der Kapuze. Mit kräftigem Ruck riss er sie herunter und geriet kurzerhand in Schockstarre.
    "Ihr? Hier? Das ist unmöglich!"
    Aras spöttelte zurück: "Wäre es unmöglich, dann müsstet Ihr des Geistes krank sein und Gespenster sehen."
    Anschließend wanderte seine Hand in die Seitentasche und umklammerte den Zauberstab. Noch länger wollte er diese Sache nicht hinsuszögern.
    "Unerhört!", schrieen sie beide auf und stießen Aras leicht hinweg. Sie richteten die Schwerter auf ihn. "Egal ob damals oder erst jetzt! Tot ist tot!"
    Sie holten Schwung. Aras zückte augenblicklich seinen Zauberstab und richtete ihn mit bereits gesprochenem Zauberspruch auf sie. Ehe sie auch nur die Schwerter nach vorn schnellen lassen konnten, wurden sie vom Schock des Zaubers erfasst und zu Boden geworfen. Mehrere Meter weit flogen sie und schlitterten anschließend nach dem harten Aufprall noch ein gutes Stück weiter. Noch im Flug schleuderte Aras ihnen eine kurze Salve rückstoßmagiegeladener Schwarzflammen entgegen, damit sie paralysiert genug waren und für einige Minuten außer Gefecht gesetzt blieben.

    Dies vollbracht, steckte er seinen Stab wieder ein und zog die Kapuze hoch. Seinen weiteren Weg setzte er entgegengesetzt derer Position fort und suchte vorerst Schutz zwischen den Häusern in einer engen Gasse.
    Doch kaum war er von der Straße verschwunden, erhellten einige Kerzenlichter die Fenster und Köpfe schauten gespannt, wie auch verängstigt heraus. Aras beobachtete das Geschehen aus den Augenwinkeln, hoffte er doch tief im Innern, dass sich die Bürger ihres früheren Lebensmutes neu erinnerten.

    Plötzlich sprang eine Tür auf, nur wenige Meter von seiner Position entfernt. Eine junge Frau schaute heraus, in ihren Händen ein Nudelholz haltend.
    Sie winkte ihm zu. "Kommt schnell herein, bevor weitere Wachen kommen."
    Kurz zögerte Aras, könnte es doch ein Trick sein. Aber als dann noch zwei Kinder links und rechts neben ihr hervorschauten und ängstlich in die Dunkelheit blickten, erbarmte er sich und schlich hinüber. Er schaute sich alle drei genau an und wagte einen Blick ins Haus.
    "Ich kann nicht, meine Liebste. Zu viele hier sind auf der Suche nach mir."
    Er wandte sich wieder von ihnen ab. Doch die Frau ergriff seine Hand und schaute ihm tief in die Augen. Er konnte ihr Leid sehen. Er spürte, dass sie gut waren, dass sie auf seiner Seite waren.
    Heiser flüsterte sie: "Ich bin Zacharas van Júmen noch nie begegnet, doch glaube ich fest, dass Ihr es seid."
    Er antwortete nicht, schaute nur verlegen weg.
    "Werdet Ihr uns helfen?", fragte sie erwartungsvollen Blickes und schickte ihre Kinder wieder ins Haus.
    "Ich kann Euch nicht vertrauen, werte Frau", musste er ihr gestehen. "Sagt, geschwind! Wie viele Wachen zähltet Ihr?"
    Verwundert schaute sie ihn an. "Was habt Ihr vor..?" Ängstlich klammerte sie sich an seinen Arm. "Hört zu, mein Herr. Nicht alle Soldaten sind gegen Euch gewandt..."
    "Ich kann Euch nicht helfen, versteht das doch..."
    "Sie kommen!" Heftig riss sie an seinem Arm, schmiegte sich fest an ihn und fiel fast vor ihm auf die Knie. "Es ist zu spät, Lord Zacharas. Sie wissen bereits Bescheid, dass Ihr hier seid. Ihr müsst mit reinkommen!"
    "Gut", sprach Aras und blickte sich ein letztes Mal um, bevor er die Schwelle übertrat. "Aber Ihr haltet ab sofort Abstand von mir..."
    Energisch nickte sie, obgleich sie diese Aufforderung nicht wirklich verstand. "Hauptsache Ihr kommt endlich herein!"
    In einer Bewegung schloss Aras die Tür hinter sich und holte seinen Zauberstab hervor. Ängstlich wich die Frau freiwillig einen Schritt zurück und hielt sich das Nudelholz schützend vor die Brust. Anschließend führte sie ihn den Flur entlang. Leise schlichen sie sich in die Wohnstube und sie behielt wie versprochen genügend Abstand zu ihm. Er wollte nicht, dass sie ihn überraschte und heimlich ein Messer in die Brust rammte. Oder auch nur ihm das Nudelholz über den Kopf zog.
    Die beiden Kinder, Bub und Mädchen, hatten sich unter dem Tisch verkrochen und linsten kurz hervor, als die Mutter mit Aras zusammen den Raum betrat. Mit den zierlichen Fingern krallten sie sich an den Tischbeinen fest und versuchten vor ihm in Deckung zu gehen.
    "Ihr braucht vor ihm keine Angst haben", meinte sie zu ihnen und ging in die Hocke. Mit freundlichem Lächeln und hingestreckter Hand lockte sie ihre Schützlinge schlussendlich hervor und stellte ihnen zugleich den Lord vor: "Das ist Zacharas van Júmen. Unser Herzog."
    Aras erbarmte sich und quälte sich ein dezentes Lächeln auf die Lippen. Er wollte ihnen nicht zu viel Mut machen, aber erstrecht nicht den noch gebliebenen wenigen Mut nehmen.

    "Bist du ein Geist?", fragte das Mädchen und stupste ihn schüchtern an. Als sie erkannte, dass er offensichtlich keiner war, fielen ihre Mundwinkel nach unten und ein Schmollen entstand.
    Verwirrt kniff Aras die Augen zusammen. "Bin ich dir lebendig nicht gut genug?"
    "Mutter hat gesagt, du seist tot...Ich habe gehofft, mal einem Geist zu begegnen..."
    "Nein!", wollte sie schreien, behielt aber Fassung und flüsterte nur. "Die anderen haben das gesagt..." Verlegen riskierte sie einen Blick zu Aras, der aber nur gelassen erwiderte: "Das habe ich in den letzten Tagen zuhauf zu hören bekommen."
    Seinen Zauberstab auf alle drei gerichtet, nahm er auf der Bank hinter sich Platz und versuchte seine Gedanken neu zu ordnen.
    "Willst du uns töten?", fragte nun der Bub und handelte sich so fast eine Ohrfeige seiner Mutter ein.
    Aras hob rechtzeitig die Hand. "Die Frage ist berechtigt. Nein, ich werde euch kein Leid zufügen. Es ist nur so, dass ich in letzter Zeit wenig Leuten vertrauen kann..."
    "Uns kannst du vertrauen!"
    "Das möchte ich für mich selbst entscheiden, mein Junge."

    Die Wachen kamen, nun mussten alle leise sein. Heimlich lauschten sie dem Trubel draußen vorm Haus. Die Wachen unterhielten sich und tuschelten. Nur schwer konnte Aras die Worte verstehen. Aber er wusste nun, dass sie wussten, dass er hier war.
    Mit dem Finger zu den Lippen deutete er den Kindern an, leise zu sein. Die Mutter stand hinter der geöffneten Tür, schob ihren Kopf hervor und linste Richtung Fenster. Sie blickte nicht herab, sondern beobachtete ausschließlich die Wachen.

    "Lass uns gleich hier beginnen", sagte einer der Wachleute und plötzlich klopfte es laut an der Tür. Die Familie zuckte vor Schreck zusammen. Nur Aras konnte sich beherrschen und bewahrte Ruhe.

  • Jaris betrachtete mit einem nachdenklichem Blick Thyras Hand, die auf seiner lag. Es war nicht so, als genösse er ihre sanfte Wärme oder das Gewicht ihres Rückens, das gegen seine Brust frückte, nicht, doch eine beharrliche Stimme in seinem Kopf sagte ständig, dass er sich dem nicht hingeben durfte, dass es etwas gab, um das er sich Sorgen machen sollte, anstatt sich hier an der längst unabdingbaren Zweisamkeit zu erfreuen. Was war dieses Etwas noch einmal? Thyra drehte den Kopf und sah ihn an. Ihre Lippen kräuselten sich zu einem behutsamen Lächeln. Er schloss seine Hand um die ihre und zog sie näher an sich heran. Nahe genug, dass er ihren Atem auf seiner Haut spürte. Ohne nachzudenken beugte er sich herab und küsste sie.
    Anders als beim letzten Mal war es weniger ein Impuls, vielmehr etwas natürliches, etwas selbstverständliches. Dieses Mal wurden sie auch nicht von einer betrunkenen Bande gestört, so dass weitaus mehr Zeit verging bis sie sich voneinander lösten. Ein wenig außer Atem betrachteten sie sich gegenseitig. Jaris Kopf war wie leer gefegt. Es interessierte ihn nicht mehr, welche Kriege irgendwo tobten oder ob man ihn irgendwo anderes brauchen könnte. Die Bergkuppe war ihre eigene kleine Welt und sie schwebte über den Wipfeln der Bäume unter ihnen, als könnte nichts sie berühren.

    Als Jaris die Augen aufschlug war es bereits später Abend. Entsetzt wollte er sich aufsetzen, doch im letzten Moment fiel ihm ein, dass er Thyra, die ihren Kopf auf seiner Brust deponiert hatte, so wecken würde. Also blieb er liegen und wartete bis sie von selbst aufwachte, was kurz darauf geschah.
    "Sieht so aus, als hätten wir den kompletten Tag verschlafen", gab sie ihm zu denken, während sie sich reckte. Sie grinste verschlagen, doch dann schlich sich Besorgnis in ihr Gesicht.
    "Glaubst du, dass die anderen wieder zurück sind, ohne dass wir das mitbekommen hätten?", fragte sie. Jaris wollte gerade antworten, als er ein verhängnisvolles Läuten in der Ferne entnahmt. Sofort sprang er auf und sah in Richtung Stadt.
    "Weißt du noch, als wir sagten, dass Zacharas nicht gefallen wird, was Daphne und Theic in der Stadt anstellen?", erinnerte Jaris sie. Thyra, die inzwischen auch neben ihm stand, nickte.
    "Ich glaube nicht, dass er sich freut wenn seine Burg brennt", stimmte sie zu. Am Horizont über der Stadt erhoben sich schwarze Rauchwolken und darunter glühte der Himmel verräterisch dort, wo sich die schwarzen Steine, des Rußbollwerks, in die Höhe stemmten.
    "Ich bin mir nicht sicher, ob das gut oder schlecht für sie ist", bemerkte Thyra.

    Wer zu lesen versteht, besitzt den Schlüssel zu großen Taten, zu unerträumten Möglichkeiten.

    Aldous Huxley

  • Unruhig trat Thyra von einem Fuß auf den anderen und betrachtete den roten Schein der Flammen, die immer höher schlugen und das dunkler werdende Firmament in einen flackernden, nicht enden wollenden Sonnenuntergang tauchte. All ihr trockener Sarkasmus, der sie in solchen Momenten gerne überkam, erlosch, als sie an Theic und Daphne im Feuer dachte.
    Ohne weiter abzuwarten, drehte sie sich um und rannte zurück zur Hütte. Sie hörte Jaris Schritte die ihr folgten. Der Rhythmus seiner Schritte glich dem seines Herzens, dem sie auf seiner Brust gelauscht hatte. Sie schüttelte den Gedanken ab. Theic und Daphne steckten vielleicht in Schwierigkeiten und sie schwelgte in Erinnerungen ... Darüber musste sie später nachdenken.
    Schlitternd kam sie vor der Tür der Hütte zum stehen, riss sie auf und stolperte hinein. Aras und Engel saßen sich gegenüber und sahen überrascht von ihrem Bier auf, als sie so hektisch ihre Unterhaltung unterbracht.
    "Aras ... das solltest du dir ansehen", sagte sie atemlos und wollte schon wieder hinausstürmen, rannte dabei aber gegen Jaris, der mittlerweile hinter ihr stand. Der Söldner packte sie an den Schultern und sah ihr fest in die Augen: "Beruhige dich!"
    "Aber ..."
    Thyra bekam nur im Hintergrund mit, wie Aras alarmiert aufsprang, sie und Jaris unsanft zur Seite schob und gefolgt von Engel aus der Hütte stürmte, um zu sehen, was die Jägerin so auflöste.

    Writers aren't exactly people ... they're a whole bunch of people trying to be one person.
    - F. Scott Fitzgerald