1: Lianne
Das Handwerkerviertel von Lyradha ist klein. Um in einer Stadt wie dieser eine Werkstatt erfolgreich aufzumachen muss man entweder
a) ein wahrer Meister seines Faches,
b) reich genug für die Bestechungsgelder oder
c) durchtrieben und skrupellos sein.
Am besten alles zusammen.
Die meisten Gerber, Schreiner, Schmiede oder Steinmetze waren bereits nach wenigen Wochen bankrott oder tot. Das Ergebnis dieser natürlichen Auslese der schwachen und dummen war ein kleiner, aber feiner Kreis von Handwerksbetrieben, die ihr Monopol unerbittlich, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigten. Selbst der Boss wusste um den Nutzen eines Dachdeckers, und daher kam die grösste Gefahr für jeden Handwerker stets aus den eigenen Reihen. Die Überlebenden wurden geachtet, und einige brachten es sogar zu einem kleinen Vermögen.
So lautete das ungeschriebene Gesetz: Wer schwieg, bescheiden blieb und jeden Konkurrenten skrupellos zerstörte, konnte sich und seiner Familie selbst in dieser Stadt ein einigermassen ruhiges und sicheres Leben bieten.
Das Handwerkerviertel von Lyradha war klein. So klein, dass das Wort "Viertel" im Prinzip schon übertrieben ist- eigentlich handelt es sich lediglich um eine gut 150 Meter lange Gasse, an die sich die Betriebe schmiegen. Tagsüber hörte man die Geräusche von Fleiss und ehrlichem Schweiss- Nachts herrschte eine für die Stadt äusserst unübliche Stille.
Jetzt allerdings ist Vormittag- Schon seit Stunden hallt das Hämmern, Sägen und Klopfen aus den Werkstätten hinaus in die Gasse. Laufburschen eilten hin und her, brachten und holten Rohmaterialien, und Fertigprodukte, an allen Ecken wurde gerufen, geflucht und gelacht.
Und mitten im Getümmel das Mädchen. Wobei- eigentlich eine junge Frau in besten Jahren. Aber die Weise, wie sie wütend einen Fuss vor den anderen stampfte, machte sie automatisch um 7 Jahre jünger. Beim Näherkommen konnte man auch verstehen, was sie empört vor sich hinmurmelte:
"Gna gna gna- sei nicht so frech- bla bla bla- man bereitet Hammel nicht auf diese Weise zu- th th th- ich bin deine Mutter, hör gefälligst auf mich, sonst setzts was- mach was hier, mach was da- bin ich eigentlich ihre Haussklavin oder was?!"
Die Knechte und Lehrlinge hinter ihr blieben kurz stehen, grinsten sich an und machten feixende Gesten- das war tägliche Routine, und es wurde von Tag zu Tag amüsanter, Lianne bei ihrem Gang zum Markt zu beobachten und ihr trotziges Aufstampfen nachzuahmen. Besonders, weil sie nie etwas bemerkte, zu sehr war sie damit beschäftigt, der Strasse die Ungerechtigkeiten von zu Hause vorzujammern.
Obwohl der Marktplatz nur zwei Strassen weiter lag, könnte man meinen, Lianne hätte eine neue Welt betreten. Der Geruch von Rauch, Eisen und Holz wich dem Gestank nach Schweiss, Abwasserkanälen und Fliegenschwärmen (die riechen zwar an sich nicht- aber man weiss, was gemeint ist), die Klänge der Arbeit dem Rufen der Händler, Hundegebell und immer mal wieder dem Geschrei eines ausgeraubten Marktbesuchers. Lianne kannte die Gefahren hier- ihren Dolch griffbereit, das Geld auf mehrere versteckte Taschen verteilt, war sie auf das Schlimmste vorbereitet.
Inzwischen schwieg sie, und hielt den Blick aufmerksam auf die Gesichter um sich gerichtet, um Gier oder schlimmeres in fremden Augen früh genug zu erkennen.
So schnell es ging, erledigte Lianne ihre Einkäufe, feilschte um die besten Preise und verstaute alles im verschliessbaren Korb- eine weitere Sicherheitsmassname.
Nach einer guten halben Stunde fehlte ihr noch Nähseide, für die sie einen ganz bestimmten Stand aufsuchen musste- Mutter wollte ihre Nähutensilien nur von der Raupe (der aufgrund seines Berufes als Seidenraupenzüchter so genannt wurde. Oder vielleicht auch weil er so aussah. Höchstwahrscheinlich beides).
Um Raupes stand drängelten sich stets die Mägde der reicheren Damen, die hier feinste Stoffe besorgen sollten. Verwunderlich eigentlich, dass in diesem Loch von einer Stadt ein Gewerbe wie das des Seidenmachers so aufsteigen und Berühmtheit in der ganzen Umgebung erlangen konnte. Lianne seufzte. Obwohl- Selbst ihr Vater, ein durch und durch aufrechter und geachteter Mann, hatte schon mehrere Male die Dienste eines Mörders in Anspruch genommen, wenn der Schmied gegenüber etwas zu erfolgreich geworden war...
Sie stellte sich hinter der Gruppe aus schnatternden Weibern an, die sie gänzlich ignorierten, seit Lianne vor einiger Zeit ein paar sehr unfreundliche Dinge über die Beschaffenheit ihres Kopfinneren gesagt hatte (selbstverständlich hatten sie es völlig verdient). Gelangweilt liess sie den Blick über den vor Hitze flimmernden Platz schweifen. Sie hasste den Markt. Er war schmutzig, stank ekelhaft und die dummen, dummen Leute wurden alle Nase lang ausgeraubt. Himmel, wussten sie denn gar nichts?
Sie rümpfte die Nase und musste niesen, als eine Duftwolke mit starkem Gewürz ihr Tränen in die Augen trieb.
"Gesundheit." Eine Männerstimme. Lianne blinzelte und nuschelte ein "Danke."
Als sie wieder klar sehen konnte, blickte sie direkt in das Lächeln eines Mannes um die vierzig, offensichtlich ein reicher Schnösel der (ganz typisch für diese Leute) viel zu warm angezogen war. Er neigte freundlich sein Haupt, drehte sich schwungvoll um und ging weiter seines Weges. Doch für einen Sekundenbruchteil sah Lianne unter dem silbergewirkten Umhang einen Lederbeutel am Gürtel hängen. Er wirkte schwer. Und in den Augen des Mädchens blitzte etwas auf, was man wohl als "Jagdfieber" bezeichnen konnte.
Während sie dem Mann folgte, liess sie das Messer, das in einer Scheide an ihrem Unterarm steckte, in ihre Hand gleiten.
Er schien an jedem Stand stehenbleiben und die Waren ausgiebig betrachten zu wollen. Nun, ihr sollte es recht sein. Der richtige Augenblick würde sich schon noch ergeben... Langsam schlenderte sie näher und tat so, als würde sie den gegenüber liegenden Stand betrachten, während ihr Blick aus den Augenwinkeln an ihrem ständig zufrieden lächelnden Opfer klebte.
Na warte, dachte Lianne, dein Grinsen wird dir bald vergehen. (Wie die meisten Menschen, die sich für klug halten, meinte sie, Dummheit müsste bestraft werden).
Der richtige Augenblick kam in Gestalt dreier verschreckter Schafe, die von einer Meute Strassenköter durch die Menge gejagt wurden, verfolgt vom Besitzer der Schafe, der brüllend mit den Armen wedelnd hinterherrannte.
Sie stellte sich rasch in die Mitte der Strasse und liess sich vom ersten Schaf zur Seite stossen- direkt auf den Grinser, der anscheinend nicht jeden Tag Gleichgewichtsübungen machte und ebenfalls umfiel, weitere Personen mit sich reissend.
Ein Schnitt- das Geklimper der Münzen ging im Chaos völlig unter. Geübte Handbewegungen schoben den ganzen Segen den Ärmel von Liannes Kleid hoch. Jetzt schnell weg.
Sie stemmte sich auf die Beine, drehte sich um und blieb wie angewurzelt stehen, als sie direkt in ein Paar grüne Augen blickte, keine zwanzig Meter entfernt, halb unter einer Kapuze verborgen. Er hat mich gesehen! schoss es ihr durch den Kopf, und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Auf ihr Starren hin zog er einen Mundwinkel nach oben, hob eine Braue und zwinkerte ihr verschwörerisch zu.
Das weckte sie aus ihrer Starre, und schnell machte sie kehrt und verschwand in der Menge, den Ärmel mit den Münzen fest gegen den Körper gedrückt.