Die Legende vom Winterkönig - Neufassung

Es gibt 872 Antworten in diesem Thema, welches 265.005 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (6. Juli 2020 um 01:06) ist von kalkwiese.

  • Liebes Forum,
    vor etwa einem Jahr war der Winterkönig meine erste Geschichte hier, in der ich aber stecken geblieben bin (mal wieder). Dann habe ich mit der Garde angefangen und die ist jetzt fast fertig. Fast. Das Ende will sich einfach nicht schreiben lassen aus der Angst heraus, dann ohne Geschichte da zu stehen. Jetzt trickse ich mich selbst aus und fange simultan nochmal mit dem Winterkönig an :D .
    Bitte den alten Thread des Winterkönigs total ignorieren, ich will die Geschichte völlig neu strukturieren. Außerdem hab ich dazugelernt und werde hier keine 30 Seiten Posts mehr einstellen :thumbup: . Nur der Prolog kommt in voller Länge, um ihn nicht zu zerstückeln. Danach gehts "kleiner" weiter. Kommis sind wie immer sehr willkommen :D .

    Prolog

    Schwer lag der Dunst des letzten Regens zwischen den Bäumen, und der wolkenverhangene Himmel wurde immer dunkler. Die Nacht brach heran. Selbst die Vögel hatten bei dem miesen Wetter Unterschlupf gesucht und sangen nicht, das einzige Geräusch im Wald waren die von den Blättern fallenden Wassertropfen.
    Ishaya hatte eine kleine Lichtung zwischen den alten Baumriesen gefunden, wo nicht beständig Wasser auf sie heruntertropfte. Nahezu reglos stand sie im Dunst und lauschte mit klopfendem Herzen in die aufkommende Dunkelheit.
    Es begann.
    Ganz leise und selbst für ihre feinen Ohren kaum wahrnehmbar mischten sich erste Töne in das fallende Wasser.
    Ishaya wagte kaum zu atmen.
    Je dunkler es wurde, desto klarer schwangen die verschiedensten Töne durch die Nacht, fanden zu einem Rhythmus, verwoben sich miteinander und Ishaya glaubte langsam, eine Melodie in ihnen erkennen zu können. Mit leuchtenden Augen begann sie, sich im Rhythmus der fremden Melodie zu wiegen, ein glückseliges Lächeln auf den Lippen.
    Ja, die neue Welt war ebenfalls von der Ewigen gesegnet. Hier waren sie sicher. Hier würden sie ganz von Vorne anfangen und alles Leid, alles Böse vergessen. Ein neues Paradies.
    Die Musik kitzelte durch ihre Nervenbahnen, nahm ihr ganzes Sein gefangen und entführte sie in höhere Sphären.
    Doch noch bevor die Töne sie zum Tanz mitreißen konnten, wurde ihre Harmonie durch ein neues Geräusch empfindlich gestört.
    Schritte.
    Irgendwer kam durch den Wald.
    Irritiert hielt Ishaya in ihren Bewegungen inne.
    Wer wagte es, sie hier zu stören?
    Missmutig zog sie ihre Brauen zusammen. Zwölf Personen, meldeten ihre Ohren, je vier mit einer Gangart. Eine hastig, leise und tippelnd. Eine weich, mit großen Schritten und kaum wahrnehmbar. Und eine brachiale, trampelnde.
    Gnome, Elben und Zwerge.
    Genervt verschränkte Ishaya die Arme vor ihrem nackten Körper und stellt sich herausfordernd hin. Es war offenbar an der Zeit, ihren alten Rang wieder einzunehmen und klar zu stellen, wie das in dieser neuen Welt ablaufen würde.
    Dass die ungebetenen Besucher fast eine halbe Stunde brauchten, ihre Lichtung zu erreichen, und dass es empfindlich kühl wurde und sie ohne den Tanz zu frieren begann verbesserte ihre Laune nicht.
    Natürlich hatte sie richtig gehört. Je vier Gnome, Elben und Zwerge schälten sich aus der Dunkelheit heraus. Die Zwerge gingen, nein, sie trampelten voran, da sie in der Dunkelheit am besten sehen konnten. Die Gnome hatten ein paar Irrlichter um sich herum flirren, die ihnen und den Elben ein schwaches Licht spendeten. Trotzdem schien einer der Elben unterwegs in einen Baum gerannt zu sein. Seine vornehme Kleidung hatte ein paar Schmutzstreifen abbekommen, und ihm hingen noch Blätter im langen Haar.
    Amüsiert zuckte es in Ishayas Mundwinkel, aber nur kurz, dann bemühte sie sich um einen hoheitsvollen Gesichtsausdruck. Selbst sie konnte nicht sagen, wie weit Zwergenaugen die Dunkelheit zu durchdringen vermochten.
    Als sie glaubte, die passende Miene gefunden zu haben, ließ sie mit einer kleinen Bewegung ihrer Hand Sternenlicht um sich herum aufleuchten und wurde damit auf sehr beeindruckende Weise für alle sichtbar.
    Die Gnome klappten bei ihrem Anblick in der Mitte zusammen und drückten ihre Nasen fast ins Gras, die Elben verbeugten sich sehr elegant und respektvoll, wobei ihre langen Haare nach vorne fielen und der eine von ihnen endlich merkte, dass er Blätter darin spazieren trug, nur die Zwerge ließen es an jeglicher Ehrfurcht fehlen. Einer von ihnen brummte ein unwirsches „Na endlich!“, und ohne ihre trampelnden Schritte zu unterbrechen hielten sie einfach auf sie zu.
    Was fällt denen denn ein?
    „Ihr stört meinen Tanz!“, sagte Ishaya kalt und starrte sie vorwurfsvoll an.
    „Wir sind untröstlich“,erwiderte der zwergische Wortführer ungerührt und hielt ihrem Blick mühelos stand. „Aber da keiner deines Volkes an unserer Versammlung teilgenommen hat, bleibt uns ja wohl nichts anderes übrig.“
    Wie spricht der denn mit mir?
    Während Ishaya in Empörung erstarrte, versetzte einer der Elben dem Zwerg einen mahnenden Rippenstoß.
    „Hohe Frau“, setzte dieser gleichgültig nach.
    Ishaya kochte, ließ es sich aber nicht anmerken.
    „Warum sollte auch eine Fee einer Versammlung der Elementarvölker beiwohnen?“, lächelte sie herablassend und verständnislos. Es war Zeit, diesem unverschämten Zwerg ins Gedächtnis zu rufen, wem er gegenüberstand.
    „Weil ihr Scheiße gebaut habt?“
    Dieser eine Satz löste bei den Gnomen einen akuten Anfall von Luftnot und bei den Elben anscheinend nicht weniger akute Zahnschmerzen aus, jedenfalls deuteten ihre Mienen drauf hin.
    Ishaya holte tief Luft.
    „Ich habe ja schon gehört, dass Zwerge ungeschliffen im Umgang sind, aber deine Unverschämtheit übertrifft meine schlimmsten Vorstellungen bei Weitem“, ließ sie ihrer Wut freien Lauf. „Wir haben euch aus einer Welt des Krieges und der Schatten geborgen und euch alle an diesen wundervollen Ort gebracht, einen Ort, wo wir von vorne beginnen werden, eine neue, unberührte Welt, geschaffen von der Ewigen selbst und du wagst es, mir ins Gesicht zu sagen, dass wir damit Scheiße gebaut haben?“
    Ihre Stimme war immer lauter geworden und die letzten Worte gellten wie ein Schrei durch die Nacht. Die Gnome hatten sich zu Boden geworfen, die Elben auf ihre Knie, und selbst der Zwerg musste erstmalig seinen Blick abwenden.
    „Naja, war vielleicht etwas krass formuliert“, räumte er schulterzuckend ein, „aber da ist halt etwas schief gelaufen. Und zwar gewaltig schief. So gewaltig, dass mir das Wort Scheiße angemessen erschien, die Größe des Debakels zu umschreiben“, brummte er und sah ihr wieder unverfroren ins Gesicht.
    „Und was ist deiner Meinung nach schiefgelaufen, Zwerg?“, herrschte Ishaya ihn an.
    Mist. Ich wusste, das dicke Ende kommt noch. Ich habe es geahnt.
    Kein Zucken verriet die Gedanken in ihrem Gesicht, aber unbewusst hatte sie eine Hand schützend über ihren Bauch gelegt, eine Geste, die dem Zwerg nicht entging.
    „Wir sind nicht vollzählig“, sagte er mit gefestigter Stimme.
    Ein nervöses Kribbeln machte sich in Ishaya breit.
    Er hat es nicht wissen können!
    „Es tut mir leid, dass wir vielleicht nicht alle haben retten können, Zwerg. Ich versichere dir meine aufrichtige Anteilnahme an den Toten deines Volkes, und auch an den Gefallenen eurer Völker“ nickte sie den Elben und Gnomen zu. „Auch wir hatten hohe Verluste zu beklagen“, setzte sie mit angemessener Trauer hinzu.
    Die Blicke des Zwerges durchbohrten sie förmlich.
    „Ich rede nicht von unseren Toten, hohe Frau“, knurrte er und der Tonfall gefiel Ishaya ganz und gar nicht, er war Futter für ihr nervöses Kribbeln.
    „Sondern?“ Irgendwie hatte sie das blöde Gefühl, dass der Zwerg sie durchschaute.
    „Ich rede von unseren Elementaren! Sie sind nicht mitgekommen!“ Der Zwerg stieß die letzten Worte aus wie eine Kampfansage. „Und wenn du uns in diese neue Welt gebracht hast, dann frage ich mich, wie konntest du nichts davon wissen?“ Sein Blick war lauernd geworden.
    Scheiße! Nichts anmerken lassen, durchfuhr es Ishaya kalt
    „Unser Elementar ist hier, wir haben ihn selbst hierher gebracht“, wisperte ein Gnom unterwürfig. „Und es geht ihm gut, er wächst ganz prächtig.“
    „Unser Elementar ist drüben geblieben, was aber auch daran liegen mag, dass Aell noch ein Kind gezeugt hat, bevor der Bann wirksam wurde“, murmelte einer der Elben verlegen. „Mit einer Menschenfrau. Es mag sein, dass unser Elementar geblieben ist, um den letzten Aell zu schützen, er schloss sich immer den jüngsten an.“
    Na also. Ishayas Kribbeln flaute ab.
    „Ursa hätte mit dem Tonde hierherkommen müssen, und der Tonde - ist – nicht – da!“ knurrte der Zwerg.
    Nachdenklich ließ Ishaya ihren Blick auf ihm ruhen.
    „Dann seid ihr also die Einzigen, die es grundlos nicht geschafft haben, ihren Elementaren mitzunehmen?“, fragte sie maliziös. Offene Abneigung flammte ihr aus den Augen des Zwerges entgegen.
    „Nun, hohe Frau, der Tonde hätte sein Volk nie freiwillig verlassen. Es gibt also einen Grund. Und um diesen Grund herauszufinden, sind wir hierherkommen.“ Ishaya zuckte mit den Schultern und lächelte ihn bedauernd an.
    „Ich wüsste nicht, wie ich dir bei der Suche nach dem Grund behilflich sein könnte, Zwerg. Vielleicht ist dein Tonde ja noch ganz am Schluss gefallen, so leid es mir für euch Zwerge tut.“
    „Nein, ist er nicht. Ich habe ihn noch gesehen, als die Lichter uns aufnahmen, er stand sehr lebendig da und wollte mit, aber bei ihm hat es nicht geklappt“, murmelte ein zweiter Zwerg.
    „Dann war seine Magie vielleicht zu stark, um einen anderen Zauber wirken zu lassen.“ Ishaya war stolz auf ihre Erklärung.
    Das hätte ja tatsächlich so sein können, schließlich galt der Zwergenmagier nicht umsonst als mächtigster Mann der elementaren Völker.
    „Seid unbesorgt, ihr Zwerge“, lächelte sie, „ denn auch hier wirkt die Ewige, und wir Feen werden neue Elementare erwecken können.“
    Elben und Gnome erwiderten hingerissen ihr Lächeln, während über die Mienen der Zwerge Missmut fiel wie der Schatten einer Wolke über ein Sonnenplätzchen.
    „Wenn du uns an der Nase herumführen willst, musst du dir mehr Mühe geben, hohe Frau“, brummte der Wortführer schließlich verdrossen.
    Dieser Angriff kam so überraschend und war so unverschämt, dass Ishaya fast zehn Sekunden brauchte, um sich an ihr Lächeln zu erinnern und es ersterben zu lassen.
    „Wie darf ich das verstehen?“, fragte sie und ärgerte sich über den neutralen, fast verwirrten Ton ihrer Stimme.
    „Was sollen wir mit einem anderen Elementar? Wir sind Ursas Kinder!“, beharrte der Zwerg verbissen.
    Ishaya maß ihn von oben bis unten.
    „Dann wird es vielleicht Zeit, dass euer Volk erwachsen wird, Zwerg, und sich von Ursas Rockzipfel löst.“
    Jeder sah, wie die Hand des Zwerges zum Stiel seiner Axt im Gürtel fuhr, aber er zog die Waffe nicht.
    Schade! Ich hätte ihn sofort zu Asche verbrennen können. Und niemand hätte es mir verübeln dürfen, es gab genug Zeugen seiner Anmaßung.
    Der Zwerg hob tief einatmend die Arme mit den Handflächen nach außen und deutete damit seine friedliche Absicht an.
    „Was willst du mir eigentlich vorwerfen, Zwerg?“, fragte Ishaya hoheitsvoll.
    „Hohe Frau, ich bezichtige dich der Lüge!“, sagte der Zwerg fast erleichtert, dass sie ihm den roten Faden zurückgegeben hatte. „Ich behaupte, dass es gar nicht du warst, die uns hierher gebracht hat. Denn wenn Feen so etwas tun könnten, macht es in unseren Augen keinen Sinn, dass dein Volk in den fast vierhundert Jahren Krieg von Menschen und Schatten beinahe ausgerottet wurde und du mit diesem Schritt so lange gewartet hast. Ja, oder?“ Auffordernd sah er in die Runde, und selbst Elben und Gnome konnten dieser Logik nur verschämt nickend zustimmen.
    Warum habe ich ihn nicht verbrannt?
    „Außerdem war es kein Feenlicht, dass uns hierhin brachte, dafür war es zu bunt.“ Zufrieden mit sich strich der Zwerg über seinen zu Zöpfen geflochtenen Bart. „Ich muss davon ausgehen, dass du einen Handel abgeschlossen hast mit einer uns unbekannten Macht, um uns alle zu retten natürlich.“
    Oh nein, er würde ihr nicht den Gefallen tun, einfach weiter zu sprechen, sondern er sah sie lauernd an und erwartete eine Antwort.
    Wie konnte es bloß soweit kommen, dass ich mich als Fee vor einem Zwerg rechtfertigen muss?
    „Was geht dich das an, Zwerg?“
    „Aha!“ stieß er aus. „Wie ich sehe, kommen wir der Sache schon näher. Natürlich hast du Recht, es geht mich nichts an, was Feen tun oder nicht, es geht mich überhaupt nichts an - außer, wenn mein Volk die Rechnung für euren Handel bezahlen soll. Und ich glaube, das tun wir gerade, hohe Frau, nicht wahr? Du hast einen Handel abgeschlossen, mit wem auch immer, und dein Handelspartner hat unseren Tonde behalten als Unterpfand für den versprochenen Lohn.“ Noch nie hatte Ishaya eine Bekleidung getragen und noch nie hatte sie sich so nackt gefühlt wie in diesem Moment, unter den bohrenden Blicken der Zwerge und den betroffenen Gesichtern der Elben und Gnome.
    Scheiße!
    „Und wenn es so wäre, Zwerg?“
    Stille senkte sich für einen Moment über die Gruppe.
    „Was hast du ihm versprochen?“, mischte sich nun ein Elb ein.
    Ishaya wich seinem Blick aus.
    „Auch das geht euch nichts an.“
    „Verstehe.“ Das klang so mitfühlend, dass Ishaya erstaunt seinem Blick folgte und ihre Hand auf ihrem Bauch sah.
    Nein!
    „Du wirst dein Versprechen einlösen müssen, hohe Frau“, forderte der Zwerg.
    „Gar nichts muss ich“, presste Ishaya hervor. „Er kann nicht in diese Welt.“
    Wie sehr hatte sie gehofft, dass er dieses kleine Manko übersah, aber nein. Und ausgerechnet die Zwerge hatte er verärgert und ihre Ursa behalten. Sie hatte ihn unterschätzt. Ganz gewaltig unterschätzt.
    „Du wirst dein Versprechen einlösen! Sonst ...“, grollte der Zwerg.
    „Sonst was? Willst du mir etwa drohen?“
    Unbehaglich wechselten Elben und Gnome Blicke.
    „Ja. Du lässt mir ja keine andere Wahl!“, erwiderte der Zwerg.
    Soweit ist es also schon gekommen! Verdammt, wenn ich bloß etwas mehr über diese blöden Zwerge wissen würde!
    Abschätzend erforschte sie die Gesichter der Anderen. Die Gnome sahen einfach nur traurig auf den Boden, aber sie würden wohl eh keine Partei ergreifen. Doch auch die Elben wagten nicht, ihren Blick zu erwidern. Das war ein schlechtes Zeichen. Ganz schlecht.
    „Sehe ich das richtig, ihr Elben? Erst befreundet ihr euch mit unseren ärgsten Widersachern und haltet schützend die Hand über sie, bis die Schatten erwachen können, und auch jetzt, nachdem mein Volk nur noch eine handvoll Feen umfasst, weigert ihr euch, uns beizustehen?“ Eisig klirrten ihre Worte auf die gesenkten Häupter.
    „Hohe Frau, es liegt uns fern, dich zu verärgern. Aber es kann nichts Gutes dabei herauskommen, die neue Welt auf einem Betrug zu gründen“, sagte schließlich ihr Wortführer.
    Und gleich nochmal Scheiße. Diese verdammten Zwerge haben auf der Versammlung ganze Arbeit geleistet und die Elben da gepackt, wo sie empfindlich sind: bei der Ehre.
    „Verstehe!“, presste sie hervor. Dann wandte sie sich direkt an den Zwerg. „Du willst mir also jetzt den Krieg erklären? Ihr alle wollt uns Feen den Krieg erklären?“, versicherte sie sich ungläubig.
    Sagt ja und ich brenne euch alle sofort nieder.
    „Nein, das habe ich nicht gesagt“, hob der Zwerg sofort abwehrend die Hände.
    „Anscheinend seid ihr euch wenigstens bewusst, dass wir die Kinder der Ewigen sind“, knirschte Ishaya und ließ vernichtend ihre Blicke über die zwölf Gestalten gleiten. „Wir geben euch ihren Schutz, und wir erwecken durch unser Tun Elementare, die ihrerseits euch Völker gründen. Die Ewige würde nie zulassen, dass uns etwas geschieht, denn ohne uns gibt es kein Leben.“
    „Hey, ich habe das Wort Krieg nie erwähnt, hohe Frau, es gibt also jetzt keinen Grund, sich so aufzuplustern!“
    Aufgeplustert? Er wagt es, mir das ins Gesicht zu sagen?
    „Wir dachten da eher an eine diplomatische Lösung.“
    Na klar, ihr Zwerge seit ja auch wahre Meister der Diplomatie.
    „Was schwebt euch denn da vor?“ Ishaya vermochte nicht, den leichten Spott aus ihrer Stimme zu bannen.
    „Nun ja“, kratzte sich der Zwerg hinterm Ohr. „Wir werden einen der deinen als unser Unterpfand nehmen, damit du dein Wort halten wirst. Er wird unser Gast sein bis zu dem Tag, an dem der Tonde mit Ursa zu uns zurück kommt. Damit es dir genauso dringlich wird, deine Seite des Handels zu erfüllen wie uns, Ursa hier zu haben, dachten wir da an deinen Gefährten.“
    Er will Leamar als Geisel?
    „Vergiss es!“, zischte Ishaya wütend.
    Einer der Gnome zupfte dem Zwerg zaghaft am Wams und deutete mit nervösem Kopfnicken zum Waldrand. Die Lichtung wurde kleiner. Von allen Seiten waren die Baumriesen näher gerückt.
    Ja, sieh es dir genau an, Zwerg. Ich bin eine Fee und du stehst mitten in einem Wald, und im Gegensatz zu dir habe ich all meine magischen Kräfte auch in dieser Welt. Jetzt wage dich nochmal, mir Bedingungen zu stellen oder Drohungen ausstoßen zu wollen.
    Der Zwerg runzelte die kurze Stirn, als er die Gefahr erkannte, doch dann suchte er offen Ishayas Blick und als sie provozierend zurück sah, begann er doch glatt zu grinsen.
    „So ähnlich habe ich mir das schon gedacht“, nickte er leichthin zu den anrückenden Bäumen. „Du glaubst wohl, ich bin blöd, was? Unterschätze niemals einen Zwerg, hohe Frau, vor allem dann nicht, wenn du ihm kräftig in die Suppe gespuckt hast und das hast du.“
    Der plötzliche Glanz in seinen Augen warnte sie vor.
    „Wir haben Leamar bereits“, flüsterte der Zwerg genüsslich, „und solltest du wagen, auch nur einem Angehörigen eines elementaren Volkes Schaden zu zufügen, dann ist er tot.“
    Ishaya erstarrte.
    „Weiterhin gebe ich hiermit bekannt, dass wir mit den Feen keinesfalls im Kriege liegen, aber für die Zeit, in der Leamar unsere Gastfreundschaft genießt, ist es euch Feen beim Tode verboten, das Gebiet um den großen Berg zu betreten.“
    „Du bist verrückt!“, stammelte Ishaya entsetzt. „Zwerg, es kann Jahre dauern, meine Seite des Handels zu erfüllen. Jahrzehnte! So lange kannst du mir Leamar doch nicht nehmen!“, flehte sie. Ihre Stimme erstarb unter seinem Blick. Oh doch, er konnte.
    „Was sind schon Jahrzehnte angesichts der gewaltigen Lebensspanne unserer beiden Völker“, gab der Zwerg bitter zur Antwort. „Vielleicht tröstet es deinen Kummer zu wissen, dass wir Ursa jeden verdammten Tag in diesen Jahrzehnten genauso schmerzlich vermissen werden wie du deinen Leamar.“

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

    • Offizieller Beitrag

    HAben ja schon drüber gesprochen, ist aber schön endlich die Namen dazu zu erfahren und die Geschichte selbst. Prolog ist gelungen, wenn auch ganz schön lang 8| Kopfkino lief ununterbrochen mit.
    Ungewohnt viel Dialog, find ich aber gut :thumbsup:
    Ich rechnete eigentlich mit viel Epic, aber allein so Sätze "Ihr habt Scheiße gebaut!", lassen anderes vermuten und das ist auch ein Punkt, der mir gefällt!
    Ich bin schon sehr sehr gespannt auf den Anfang der Geschichte :D , das glaubst du gar nicht.

    Also auch hier schön weitermachen :thumbsup::thumbsup:

  • Ich habe jetzt auf deine Bitte hin den alten Text nicht gelesen, aber ich kann nur sagen: Ich weiß nicht was du hast. Dieser Anfang verspricht bereits eine sehr spannende Fantasygeschichte. Wunderbar mitreißend geschrieben. Zudem wirfst du eine Reihe von offenen Fragen auf, zum Beispiel, was es mit den Elementaren auf sich hat, die zum Weiterlesen anregen. Großes Kino, melli :thumbsup:

    Schreib mehr davon :thumbsup:

  • Kapitel 1
    In der alten Welt, etliche Jahre später:

    Es war einer der wenigen Sonnentage des ausgehenden Winters. Die alte Salweide stand in voller Blüte, puschelig weiß hoben sich ihre Kätzchen vom blauen Himmel ab und sonnten sich in der Liebe von wohl tausend Bienen und Hummeln, die den alten Baum berauscht umschwirrten.
    Ihr Summen und Brummen ließ an eine Blumenwiese im Hochsommer denken, dabei war der letzte Schnee erst vor zwei Wochen geschmolzen und mit vielleicht zwölf Grad war es zwar angenehm, aber noch lange nicht warm zu nennen.
    Gembries jedenfalls trug noch seinen Winterumhang aus dickem, braungrauen Stoff, der mit Kaninchenfell gefüttert war. Nur beim Graben hatte er ihn mal kurz ausgezogen und an den Stamm der Weide gehängt.
    Ratlos drehte der stämmige Mann seinen speckigen, großen Filzhut in den Händen.
    „Tja ...“, murmelte er und strich sich eine Strähne seines krausen, rotbraunen Haares aus dem Gesicht, „... ich muss schon sagen, diesmal hast du mich echt überrascht. Ich hätte ja mit allem gerechnet, du alte Schnapsdrossel, aber nicht damit.“
    Sein Blick folgte dem Summen und mit leiser Wehmut nahm er Abschied von dem Baum. Er würde wohl nie wieder hierhin zurückkommen.
    Die verschiedensten Kindheitserinnerungen blitzen kurz hinter seiner gerunzelten Stirn auf, und zu seiner eigenen Überraschung verschwamm ihm die Sicht, als die Augen feucht wurden.
    „Damit du es nur weißt, ich heul nicht deinetwegen“, grollte er leise auf das frische Grab herunter. „Ich habe dich genauso gehasst wie du mich. Arschloch, blödes.“
    Das Grab blieb stumm.
    „Und anscheinend war ich nicht der Einzige, den du dir zum Feind gemacht hast“, brummte der Mann.
    Verstehen konnte er es trotzdem nicht. Wer machte sich denn die Mühe, den weiten Weg hier heraus hinter sich zu bringen, nur, um den alten Zausel in seinem Haus zu erschlagen, selbiges zu durchsuchen und nichts mitzunehmen?
    „Weißt du, was mich am meisten überrascht hat? Dass du anscheinend wirklich ein paar alte und gelehrte Schriften in deiner ollen Kabause hattest. Ich dachte immer, das wäre die Kammer mit deinen Vorräten an Alkohol.“ Gembries schüttelte leise lachend den Kopf. „Aber lass dir gesagt sein, du großer Gelehrter, dass deinem Mörder die Schriften nichts Wert waren. Er hat sie einfach liegen lassen.“
    Es tat gut, dem alten Säufer das noch mit auf den Weg zu geben.
    „Die Hälfte davon kann man sowieso nicht lesen“, setzte er nach. Gembries ahnte, dass diese alten Pergamente wertvolle Schriften eines alten Volkes waren, aber er wollte dem Onkel glauben machen, dass er dieses nicht erkannte und sie nicht zu schätzen wusste.
    Sollte sich der Alte in seinem Grab doch umdrehen.
    „Und noch etwas“, die Lippen unter dem langen Bart verzogen sich zu einem fiesen Grinsen. „Hier!“
    Triumphierend holte er eine Kette mit einem Medaillon aus der Tasche seines Wamses und ließ sie über dem Grab pendeln.
    „Erinnerst du dich, Ruitgar? Die Kette, die einst deinem Sohn gehören sollte und wegen der du mich fast totgeschlagen hast, als ich sie mir anzusehen wagte, diese Kette – sie gehört jetzt mir. Auch wenn ich unwürdig war, auch nur dieselbe Luft zu atmen wie du.“
    Bewusst ließ er Toms Namen aus dem Spiel. Er hatte nie einen Groll gegen seinen Cousin gehegt, wie auch. Der Junge war schwer herzkrank zur Welt gekommen und Ruitgar, diese Besessene, hatte alles getan, um seinen Jungen zum Erbe seines vermeintlich so enormen Wissens zu machen.
    Toms kurzes Dasein hatte aus Lernen und Luftnot bestanden.
    Alles, was Ruitgar je auf die Reihe bekommen hatte, war die Pflege seiner Obstbäume gewesen. Aber auch nur, weil er aus ihren Früchten im Herbst dann den Schnaps brannte, der ihm half, sein verpfuschtes Leben zu ertragen.
    Ruitgar hatte alles getan, um den beiden Jungen das Leben zu versauen. Tom hatte er mit seinem Wissen gequält. Und Gembries mit seinem Hass.
    Zwar hatte er den Sohn seines Zwillingsbruders aufgenommen, aber nur, weil er auch seinen Bruder gehasst hatte und dieser Hass nach dessen Tode ein neues Ziel brauchte.
    Gembries kannte noch nicht einmal den Namen seines Vaters, der Onkel hatte ihn nie erwähnt. Mit voller Absicht.
    Er war verrückt gewesen. Völlig verrückt.
    Und in seinem Wahn hatte er sich weit von den Menschen zurück gezogen. Wie Eremiten hatten sie hier draußen in dem schäbigen Haus gewohnt.
    Gembries hatte zehn Jahre gebraucht, um zu merken, dass der Onkel einfach nur verrückt war, dass sein Hass, seine Prügel, seine geifernden Reden eben nur auf eine Geisteskrankheit zurück zu führen waren und nicht darauf, dass er oder sein Vater „schlechtes Blut“ hatten, wie Ruitgar es immer wieder behauptete.
    Aber diese zehn Jahre hatte er ihm geglaubt, und das war das Schlimmste.
    Er hatte ihm geglaubt und sich schuldig gefühlt.
    Schuldig für Toms Herzfehler, die Erstickungsanfälle, das Wasser, das aus den geschwollenen Beinen lief. Schuldig für die ständig traurigen Augen seines Cousins. Schuldig für Ruitgars verkrüppeltes rechtes Bein, das ihm oft Schmerzen bereitete. Und schuldig an Ruitgars Geisteszustand.
    Unwirsch setzte er sich seinen Hut auf den Kopf und warf einen milderen Blick zum kleineren Grab nebenan.
    Was brachten die Erinnerungen noch? Gembries seufzte tief, drehte sich um und ging auf seinen Wagen zu.

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

  • „Die Hälfte davon kann man sowieso nicht lesen“ setzte er nach.


    da fehlt ein Komma hinter der wörtlichen Rede

    Auch wenn ich unwürdig war, auch nur die selbe Luft zu atmen wie du.“


    dieselbe

    Toms kurzes Leben hatte aus Lernen und Luftnot bestanden.
    Alles, was Ruitgar je in seinem Leben auf die Reihe bekommen hatte, war die Pflege seiner Obstbäume gewesen.


    Wiederholung

    Da hast du aber ein ganz schönes Arschloch skizziert 8| Ich denke, all diese Erinnerungen werden ihre Spuren auch auf Gembries gelassen haben, was man ja schon daran erkennt, auf welche Weise er mit dem toten Alten redet. Naja, was man säht, das erntet man auch.
    Mal schauen, wie dieser Teil mit den Prolog zusammenpasst :)

    • Offizieller Beitrag

    Sehr genialer Teil. Kopfkino pur.
    Grembiers kommt sympathisch rüber und sein Onkel so scheiße, wie zuvor mal kurz geschildert. Nein. Schlimmer als das!
    Ich hätte warscheinlich noch auf das Grab geschifft, wenn ich physisch dazu in der Lage wäre. :rofl:

    Ein sehr gelungener Einstieg in die Geschichte, die wird großartig :D

    DAUMEN RAUF

    Mehr davon bitte 8o

  • Eines Tages. Eines Tages würde er jemand sein. Ein guter, ehrlicher Mensch, mit einer ehrbaren Arbeit, die er meisterhaft beherrschen würde. Eines Tages würde er es vielleicht sogar zu Wohlstand bringen. Und eine hübsche Frau heiraten und Kinder kriegen. Eines Tages würde er seinen Kindern ein guter Vater sein, das war ihm ganz wichtig. Vielleicht würde er sogar eines Tages das Geheimnis seiner Herkunft lüften und feststellen, dass er seine Wurzeln in einem guten Hause hatte. Und einen Nachnamen. Eines Tages.
    Warum auch nicht? Er hatte sich in seinen fünfzehn Jahren nie etwas zu Schulden kommen lassen, hatte sich stets bemüht, ein offener, freundlicher und ehrlicher Mensch zu sein, der Rücksicht auf die Schwachen nahm und ihnen half.
    Er sah gut aus, war nicht dumm, zeigte sich anstellig bei Arbeiten aller Art und hatte, wie ihm schon oft versichert wurde, ein sonniges Gemüt.
    Eines Tages würde er den Platz finden, seinen Platz im Leben, den Ort, wo er hingehörte.
    Und das war sicherlich nicht dieser Waldboden.
    Und noch weniger war es die Gesellschaft dieser Kriminellen, denen er einen finsteren Blick zuwarf.
    Warum nur war er jetzt hier?
    War es denn nicht genug, dass man ihn kurz nach seiner Geburt schon in ein Waisenhaus gab? Obwohl seine Decke aus feinstem Tuch bestand und sogar sein Name in eine Ecke gestickt war?
    Und jetzt diese Lage.
    Da war er an einen Stallmeister verkauft worden und freute sich schon auf die neue Arbeit mit Pferden, sah bereits vor Augen, wie er sich dort hocharbeitete und als Pferdeexperte einen Namen machte, und dann wurden sie auf dem Weg zu dem Gestüt von dieser Bande Lumpen überfallen.
    Der Stallmeister hatte den Überfall nicht überlebt, sie hatten ihn sofort abgestochen. Vor seinen entsetzten Augen, denn er hatte den Mann gemocht.
    Er aber war ihnen wegen seiner ärmlichen Kleidung, die das Waisenhaus verriet, und wegen seines ansprechenden Gesichtes aufgefallen.
    „Der Hübschling da wird uns ein schönes Sümmchen bei entsprechenden Interessenten einbringen!“, hatte der Anführer dreckig grinsend gesagt. „Vermissen wird den auch niemand.“
    Wahrscheinlich verdankte er dieser Absicht sein Leben, trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass dies kein Grund zur Freude war.
    Seine jetzige Lage war bestenfalls bescheiden zu nennen. Die Lumpen, neun an der Zahl, schleppten ihn fortan mit wie ein Tier, dass sie zu einem Schlachter bringen wollten. Tagsüber musste er an den Händen gefesselt einem von ihnen an einer Leine folgen, nachts banden sie ihn an einen Baum. Zu Essen bekam er ihre Reste und Abfälle.
    Langsam fragte er sich, ob seine Vorstellungen von einer glänzenden Zukunft hier gefährdet waren.
    Vier Tage zogen sie bereits mit ihrem Gefangenen durch menschenleeres Gebiet, und nicht einmal hatte sich für ihn eine Gelegenheit zur Flucht ergeben.
    Alastair seufzte tief.
    Sein einziger bitterer Sieg gegen das moralisch zutiefst verwerfliche Handeln dieser Lumpen bestand in den wenigen wahren Worten, die er ihnen zu hören gab, bevor sie ihm einen Knebel in den Mund stopften. Diesen Knebel trug er mit einem gewissen, trotzigen Stolz, so wie Helden eine Wunde in einem Krieg davontragen mochten.
    Zwar glaubte er langsam nicht mehr, mit seinen Worten einen der Kerle zum tieferen Nachdenken gebracht zu haben, aber wenigstens hatte er es versucht. Und wer wusste schon, ob das Körnchen der Wahrheit nicht doch irgendwo auf fruchtbaren Boden gefallen war.
    Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben als in der Nacht erneut darauf zu hoffen, dass sich doch einer erbarmte und ihn von den Fesseln löste.
    Mehr erwartete er ja gar nicht.
    Erst spät wandte er seine Aufmerksamkeit dem aktuellen Geschehen zu. Er war so sehr in seine Gedanken vertieft gewesen, dass er das Handeln des Gesindels beinahe gleichgültig verfolgt hatte, doch nun irritierte es ihn, dass das Pack einen umgestürzten Baum aus dem Wald trug.
    Zwar war Alastair ein großer Verfechter von Ordnung und Sauberkeit, aber ein gefallener Baum in einem Wald stellte nach seinem Ermessen keinen Verstoß gegen eines der beiden Grundprinzipien eines geordneten Lebens dar.
    Neugierig reckte er seinen Kopf und erkannte, dass hinter dem Buschsaum, durch den sich die Männer mit dem Baum gerade mühten, eine Straße lag. Und genau auf ebendieser legten sie den Baum jetzt ab.
    Die verschlagene Freude, die bei ihrer Rückkehr in den schmutzigen Gesichtern lag, verhieß nichts Gutes. Ebenso wenig das Schweigen, mit dem sie jetzt die üblichen Vorbereitungen für ein Nachtlager trafen: Dem harten Brot mit einem dreckigen Messer ein paar Stücke entreißen, ein kleines Feuer entzünden, ein übelriechendes Gemisch aus Gemüse und undefinierbarem Fleisch in einem verbeulten Topf darauf erwärmen und die letzte Flasche Schnaps kreisen lassen, wobei streng darauf geachtet wurde, dass jeder nur einen Schluck nahm.
    Das Essen roch wirklich ekelig.
    Alastair war nun nicht gerade verwöhnt worden in seinem Leben, aber diesmal hoffte er inständig, dass nichts übrig blieb, selbst wenn es ihn für kurze Zeit von der schmutzigen Socke in seinem Mund erlöst hätte.
    Am Besten gab er einfach vor, zu schlafen, dann würde er den Mist nicht essen müssen und niemand wäre deswegen gekränkt.

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

  • Oh, schon wieder ein neuere Prota und eine andere Szene. Mir gefällt Alastair jetzt schon ^^ Irgendwie ein wenig naiv der Gute. Das unterstützt du auch sehr gut, mit der Art, wie du die Beschreibungen wählst. Allein dieser letzte Satz:

    Am Besten gab er einfach vor, zu schlafen, dann würde er den Mist nicht essen müssen und niemand wäre deswegen gekränkt.


    Als ob man sich in einer solchen Situation darum noch scheren würde ^^ Echt super, dieser Part :thumbsup: Mehr davon bitte :thumbsup:

  • Es war eine gute Idee gewesen, die Augen zu schließen. Erstens musste er den Anblick der Gauner nicht mehr ertragen, die mit ihren faulen Zahnstümpfen und ihrem allgemein ungepflegtem Äußeren seinen Sinn für eine gewisse Ästhetik jedes mal beleidigten. Und zweitens konnte er sich ganz auf den hübschen Gesang der Vögel konzentrieren. Fesseln und Knebel vergessend, lauschte Alastair hingerissen dem vielstimmigen Konzert.
    Vögel hatten ihn schon immer fasziniert, eine Leidenschaft, mit der er im Waisenhaus leider ganz allein dagestanden hatte. Niemand hatte ihm die Namen der gefiederten Gesellen nennen können, und so hatte er sich allein deren Anblick und den dazugehörigen Gesang gemerkt.
    Jetzt versuchte er, die verschiedenen Stimmen aus dem Konzert zu filtern und sich die entsprechenden Bilder im Kopf aufzurufen.
    Eigentlich war das ein schöner Wald.
    Schade, dass er seine Zeit hier in so scheußlicher Gesellschaft verbringen musste.
    Kaum hatte er den negativen Gedanken zugelassen, als sich leise ein anderes Geräusch unter die melodiösen Töne mischte und seine Konzentration erforderte. Fast wie ein Scheppern und Klappern. Manchmal gaben Vögel die seltsamsten Laute von sich, gerade in der Balzzeit, und wie ein Sturm jagten sich die Bilder in seinem Kopf.
    Nein, da war kein Bild, dem er spontan diese Laute zuordnen konnte.
    Eine neue Vogelart?
    Er riss suchend die Augen auf. Auch die Männer schienen dem Gesang aufmerksam zu lauschen, mit in sich gekehrten Blicken.
    Erst, als diese ihre Schwerter und Messer zogen und sich leise zu dem Buschsaum aufmachten, wurde Alastair seinen Irrtum gewahr. Das Klappern und Scheppern kam von der Straße, und es hielt auf sie zu. Da kam jemand, unschuldige Menschen wahrscheinlich, und die Gauner hatten mit dem Baum eine Falle gestellt.
    „Mmmmfff , mmmfff“, versuchte der Junge, die Reisenden zu warnen, doch inzwischen war das Scheppern zu einem infernalischen Lärm angewachsen. Hoffentlich war es eine große Gruppe bewaffneter Männer, edle Krieger vielleicht, die diese Lumpen gefangen nehmen und einem Gericht überstellen würden. In dem Moment drehte sich der Anführer der Truppe mit einem hässlichen Lächeln zu seinen Männern um und hob den Daumen.
    Es war ein einzelner Mensch.
    Tränen traten dem Jungen in die Augen, mit verzweifelter Kraft wünschte er sich ein Wunder, dass das Verbrechen irgendwie verhindern könnte, sein „mmmff“ bekam einen schrillen Klang und er sprang auf seine Füße und zerrte vergeblich an seinen Fesseln. Über den Büschen konnte er Teile einer Plane erkennen, die zu einem Wagen gehörte, und dieser Wagen hielt gerade an, so dass Klappern und Scheppern verstummte.
    Starr vor Entsetzen sah Alastair die Räuber durch die Büsche springen, ihre Waffen zum Schlag schon erhoben.
    „Endstation, Freundchen!“ schrie der Anführer.
    „Für wen?“
    Die Antwort klang wütend und gar nicht eingeschüchtert und fast zeitgleich traf Metall aufeinander. Alastair schloss entsetzt die Augen. Gegen neun Banditen würde der arme Mann kaum eine Chance haben, es sei denn, er wäre ein Held, aber Helden fuhren nicht mit klappernden Planwagen durch die Gegend.
    Ein erstickter, kurzer Schrei führte dazu, dass Alastair die Augen wieder aufriss, aber außer den Büschen konnte er nichts erkennen.
    Noch immer hörte er Kampfgeräusche. Schweiß trat dem Jungen auf die Stirn. Wenn er jetzt frei wäre und eine Waffe hätte, würde er ja versuchen, dem armen Mann zu helfen. Zwar hatte er noch nie gekämpft, aber besser mutig gestorben als nutzlos hier herumzuliegen und Böses zulassen zu müssen. Doch er bekam diese verdammten Fesseln nicht ab!
    Mit einem Satz sprang ein Mann durch die Büsche, Alastair zuckte überrascht zusammen. Und wurde ungläubig still, als er in der mit Blutspritzern übersäten Gestalt den Anführer der Räuber erkannte, der so schnell er konnte auf ihn zu rannte, die abgebrochene Klinge seines Schwertes dabei in den Wald warf und ein langes Messer aus dem Gürtel zog.
    Glaubte er denn wirklich, Alastair würde ihm helfen, wenn er ihn jetzt befreite?
    Irgend etwas in der verzerrten Fratze des Kerls sagte Alastair, dass er die Situation falsch beurteilte und in Gefahr war, aber kurz, bevor der Mann ihn erreichte, änderte sich dessen Fratze zu einem erstaunten Blick ins Leere. Dann fiel er wie ein nasser Sack gegen den Jungen und riss ihn mit sich zu Boden. Die Klinge des Messers bohrte sich dabei seitlich in Alastairs Oberschenkel. Der Anführer kam mit seinem Kopf auf der Schulter des Jungen zu liegen und schien aus gebrochenen Augen verwundert in dessen Gesicht zu starren. In seinem Rücken erhob sich der Stiel einer Axt.
    Alastair spürte, wie seine Hose nass wurde und konnte nur hoffen, dass dies von seinem Blut war und er nicht die Kontrolle über seine Blase verloren hatte.
    Die Kampfgeräusche waren verstummt.
    Ganz hinten in seinem Kopf flüsterte eine Stimme, dass Alastair sich jetzt besser bemerkbar machen solle, denn wenn der Wagen jetzt einfach weiterfuhr, hätte er ein Problem. Doch er wagte nicht, ein Geräusch von sich zu geben. Die Angst, das tote Gesicht könnte sich dann erneut zur Fratze verziehen und ihn beißen, war zu übermächtig. Wie hypnotisiert konnte er die Augen von dem Toten nicht abwenden.
    Schwere Schritte raschelten im Laub des Bodens, und eine Gestalt beugte sich zu dem toten Anführer herunter. Mit einem ekelhaften Geräusch wurde die Axt aus dessen Rücken gezogen, dann fuhr eine gewaltige Hand in den Nacken des Toten, packte ihn dort am Kragen und warf ihn einfach fort.
    Alastair hatte noch nie einen so dicken Mann gesehen.
    Obwohl – dick war nicht das richtige Wort.
    Ein an vielen Stellen zerschlitztes Wams gab den Blick auf ein Kettenhemd frei, dessen Ärmel dem Mann bis zum Ellenbogen fielen, und darunter kam ein Unterarm zu Tage, der dicker war als der Oberschenkel des Jungen, aber kein Gramm Fett war daran zu sehen. Der Arm war von Muskeln überzogen wie ein Baum mit Rinde und endete in einer Hand, der nur das Wort Pranke gerecht wurde.
    Diese Pranke senkte sich zu Alastairs Bein herunter und zog das Messer heraus.
    „Da hast du aber nochmal Glück gehabt, Junge, nur eine Fleischwunde“, brummte der Mann mit tiefer Stimme. Alastair starrte ihn immer noch stumm an, wie hätte er mit seinem Knebel auch sprechen sollen?
    Schultern und Hüften des Mannes waren übermäßig breit, seine Beine in der dunkelbraunen Hose wirkten wie zwei bekleidete Baumstämme, die jetzt mühelos einknickten, als er in die Hocke ging, um die Fesseln zu zerschneiden.
    So einen Mann hatte Alastair noch nie gesehen.
    Obwohl er seine langen Haare zurückgebunden hatte, wurde das breite, kantige Gesicht von einer Masse braunroten Haares dominiert, die als Bart bis auf die Brust fielen. Einen Moment lang fühlte sich Alastair an einen Bären erinnert, der durch einen Zauber menschliche Gestalt erhalten hatte, aber dann fiel selbst ihm auf, wie unhöflich und respektlos es war, seinen Retter mit einem Tier zu vergleichen.
    „Ich hab Verbandszeug im Wagen.“ Mit diesen Worten hob der Fremde den Jungen einfach hoch und trug ihn zur Straße.

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

  • Auch dieser Part ist wieder sehr gelungen. Ich mag die Art, wie du die Szenen mit Alistair schreibst. Sie geben selbst derm Metzeln etwas Unschuldiges ^^

  • Echt gut geschrieben. Bin gespannt, wie sich die Geschichte weiter entwickelt und wie der Prolog mit alldem zusammenhängt :D
    Obwohl du gleich zu Anfang zwei Protas an anderen Orten einführst, kommt man nicht durcheinander :thumbup:
    Freue mich darauf, mehr zu lesen ;)

    Dann reitet mein Kaiser wohl über mein Grab,
    Viel Schwerter klirren und blitzen;
    Dann steig ich gewaffnet hervor aus dem Grab -
    Den Kaiser, den Kaiser zu schützen.

    - Heinrich Heine, Die Grenadiere

    • Offizieller Beitrag

    Auch ein sehr schöner Teil, und kann nur sagen, es geschieht den Räubern recht hahhahaha.
    Ging für Alistair gerae nochmal gut ^^

    Jetzt bin ich aber mal gespannt wie es weitergeht, naja wie du das alles umsetzt!!!!

    ;)

    Super geschrieben

  • Der Mann hatte zwar seine Fesseln zerschnitten, aber an den Knebel hatte er nicht gedacht. Alastairs Finger kribbelten noch zu sehr, um sich selbst darum zu kümmern, außerdem hätte er seinem Retter bestimmt den Ellenbogen versehentlich ins Gesicht geschlagen, und das Risiko wollte er nicht eingehen. Verlegen starrte der Junge nach vorne.
    Seine Augen wurden groß und rund, als das erste, was er auf der Straße erblicken musste, der Oberkörper eines Räubers war. Der Unterkörper und die Beine lagen ein paar Meter weiter, als wären sie noch fortgelaufen, nachdem die Axt den Mann in der Leibesmitte zerteilt hatte.
    Hastig wandte der Junge den Blick ab und sah zum Himmel hinauf, das Entsetzen stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
    Das bemerkte der Bärenmann aber nicht. Er setzte den Jungen einfach auf den Kutschbock.
    „Bleib hier sitzen“, brummte er und verschwand im Wagen. Stur sah der Junge auf seine Hose, es schien ihm nicht angeraten, nach den anderen Räubern zu sehen. Blut trat aus einem fünf Zentimeter breiten Schnitt aus, langsam, aber stetig. Das war auch kein schöner Anblick, zumal seine Hose so dreckig war, dass er eine Entzündung der Wunde fürchten musste. Unbeholfen versuchte er mit tauben Fingern in seinem Nacken den Knoten des Knebels zu lösen und war noch gar nicht fertig, als der Fremde sich neben ihn auf die schmale Bank schwang, mit einem Messer sein Hosenbein zerschnitt, einen kleinen Becher Schnaps über die Wunde kippte, was furchtbar brannte, und einen sauberen Wickel so fest anlegte, dass die Blutung stoppte.
    „So, das hätten wir.“
    Dann ließ ihn der Mann einfach sitzen und zog den Baum von der Straße, bevor er erneut auf den Kutschbock sprang.
    In der Zeit hatte Alastair es geschafft, den Knoten zu öffnen. Erleichtert warf er das Ding von sich und zog würgend den Socken aus dem Mund.
    „Danke“, keuchte er.
    „Keine Ursache. He, du“, rief der Mann dann zur Straße herunter, „ist das hier der richtige Weg zur hohen Feste?“
    Verwundert folgten Alastairs Augen der Frage und fanden einen weiteren Räuber, der mit schmerzverzerrtem Gesicht heulend am Straßenrand saß und mit der Linken versuchte, das Loch an der Schulter, wo einst sein rechter Arm gesessen hatte, zu zudrücken. Offenbar vergeblich, denn ein dicker Strom dunklen Blutes schoss pulsierend unter seiner Hand hervor. Nichtsdestotrotz hob er den Kopf und nickte dem Bärenmann mit einem Ausdruck fassungsloser Verzweiflung zu.
    „Danke!“ Mit einem Schnalzen wollte der Fremde seine beiden Ochsen in Gang bringen und nahm die Zügel auf.
    „Aber du kannst ihn doch hier nicht einfach so sitzen lassen!“, entfuhr es Alastair entsetzt. „Sieh doch nur, der Mann hat starke Schmerzen. Sein Arm ist ab.“ Der Bärenmann erstarrte vollkommen in seiner Bewegung und brauchte ein paar Sekunden, bevor er sich zu Alastair umdrehte und ihn mit fassungslosen grauen Augen ansah. Alastair spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg.
    „Ich mein ja nur, es wäre unmenschlich, ihn da so sitzen zu lassen“, haspelte er verlegen und biss sich auf die Unterlippe, als er seine eigenen Worte hörte. Stumm versank sein Retter für einen Moment in die Betrachtung der Hintern seiner Ochsen, dann knurrte er ihnen ein „Wartet mal kurz, Jungs.“ zu, sprang mit einem Satz vom Wagen, zog seine Axt und spaltete dem Mann ohne Arm mit einem mächtigen Hieb den Schädel.
    „Bist du jetzt zufrieden?“, fragte der Bärenmann, nachdem er wieder neben Alastair Platz genommen hatte. Alastair schluckte nur und wandte den Blick ab. Irgendwie war es nicht die Aktion gewesen, die er sich von seiner Intervention erhofft hatte, aber das wagte er seinem seltsamen Begleiter nicht zu sagen. „Können wir jetzt fahren?“ Der Fremde klang gereizt. Alastair nickte hastig. Der Mann nahm erneut die Zügel auf und schnalzte, die Ochsen begannen zu gehen und der Wagen zuckelte schwankend hinter ihnen her, womit das infernalische Klappern und Scheppern einsetzte.

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

  • Sympathischer Mann, dieser Retter. Bin gespannt, was es mit ihm auf sich hat. Auf jeden Fall ist er ziemlich abgebrüht, sonst hätte er nicht einen strebenden Kerl nach dem Weg gefragt :D freue mich auf mehr ;)

    Dann reitet mein Kaiser wohl über mein Grab,
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    - Heinrich Heine, Die Grenadiere

    • Offizieller Beitrag

    „Wartet mal kurz, Jungs.“ zu, sprang mit einem Satz vom Wagen, zog seine Axt und spaltete dem Mann ohne Arm mit einem mächtigen Hieb den Schädel.
    „Bist du jetzt zufrieden?“, fragte der Bärenmann, nachdem er wieder neben Alastair Platz genommen hatte. Alastair schluckte nur und wandte den Blick ab.


    HAHAHAHAHAH :rofl:
    Ich kann net mehr, das Kopfkino ist genial :D

    Sehr guter Teil, ich freue mich auf die Feste, obwohl ich glaube, das dauert noch ein bisschen und nu kommt noch was anderes dazwischen ;)

    Schön weiterschreiben...

  • Dieses Klappern und Scheppern war lange Zeit das einzige Geräusch, das die beiden Reisenden begleitete. Der Bärenmann sah schweigend auf seine Ochsen, und Alastair saß mit gesenktem Kopf daneben und versuchte, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen.
    Er fuhr zusammen, als sein Begleiter nach etwa zwanzig Minuten unvermittelt das Wort an ihn richtete.
    „Wo wohnen denn deine Eltern? Nicht, dass ich dich in die falsche Richtung bringe.“
    „Ich weiß es leider nicht“, murmelte der Junge verschämt.
    „Wie, du weißt es nicht? Du musst doch wissen, wo du wohnst!“, kam es vorwurfsvoll zurück.
    Alastair überlegte.
    „Ich wohne gerade nirgendwo“, fiel ihm selbst auf.
    Ein prüfender Blick traf ihn von der Seite.
    „Haben dir die Kerle vielleicht auf den Kopf geschlagen?“
    Der Junge schüttelte denselben.
    „Nein. Ich bin in einem Waisenhaus groß geworden und wurde von einem Mann gekauft, der mich zum Arbeiten auf einem Gestüt haben wollte. Den haben die Räuber umgebracht. Deshalb habe ich gerade keinen Wohnort. Es tut mir leid“, seufzte der Junge. Auch das noch. Jetzt wurde er dem Mann schon lästig. „Ich kann aber gut auf mich selbst aufpassen, du kannst mich einfach irgendwo absetzen.“
    „Gekauft? Du wurdest verkauft?“, knurrte der Mann ungläubig.
    „Oh, ich bin kein Sklave, wenn du das meinst“, antwortete der Junge hastig. „Es ist üblich, der Hausmutter eine Ablösesumme beim Erwerb eines Arbeiters zu geben, schließlich habe ich bis zu dem Tag von ihrem Geld gegessen.“
    „Ach so“, knurrte der Bärenmann bissig. „Und dann bekommst du von dem Käufer natürlich eine richtige Arbeitsstelle mit angemessener Entlohnung, oder was?“
    „Ja, natürlich, aber erst, wenn ich die Summe, die er auslegen musste, abgearbeitet habe“, erklärte Alastair ruhig, bevor ihm im Nachhinein auffiel, dass der Mann sehr sarkastisch geklungen hatte. Unsicher warf er ihm einen Blick zu.
    „Verstehe“, brummte dieser nur. Sein Gesicht sah sehr finster aus, jedenfalls das, was oberhalb des Bartes zu erkennen war.
    Alastair verstand auch. Der Mann hatte ein Problem damit, dass er ihn nicht irgendwo abliefern konnte.
    „Bitte, kannst du mich hier absetzen?“, fragte er und bemühte sich, es beiläufig klingen zu lassen.
    „Hier?“, echote der Mann und ließ sehr betont seinen Blick über die Landschaft gleiten.
    „Ja, warum nicht hier?“ Um sie herum erstreckte sich zur Rechten der endlos scheinende Wald und zur Linken stieg das Gelände an und der Boden war steinig, weshalb nur Gras und erste Frühlingsblumen dort wuchsen.
    „Es ist doch sehr hübsch!“
    Endlich verschwand das Finstere aus dem Gesicht des Fremden, seine Mundwinkel zuckten.
    „Erzähl mir nicht, dass sie dir nicht auf den Kopf geschlagen haben“, grinste er schließlich, zog die Zügel an und ließ die Ochsen halten.
    „Wie heißt du eigentlich, Junge?“
    „Alastair.“
    Alastair wollte sich gerade für die Hilfe und das Mitnehmen bedanken und sich von dem Fremden verabschieden, als dieser erneut zu sprechen begann.
    „Gut, Alastair, dann werde ich dir sagen, was du jetzt machst: du gehst hier vorne in den Wald und suchst trockenes Holz zusammen – wenn dein Bein es dir erlaubt – und das bringst du zum Wagen, verstanden?“ Der Junge nickte. Diese kleine Gefälligkeit war wohl nicht zu viel verlangt nach allem, was der Mann für ihn getan hatte.
    „Schön“, freute sich der Mann. „Hier werden wir nämlich etwas essen und unser Nachtlager aufschlagen. Es wird bald dunkel.“
    Es dauerte etwas, bis Alastair seine Stimme wiederfand.
    „Wir?“, fragte er schwach.
    „Jetzt guck mich nicht an wie ein verschrecktes Huhn, ich beiße dich nicht“, grinste der Mann. „Junge, hier ist weit und breit nichts – kein Haus, kein Dorf, keine Menschenseele. Du wirst mit mir reisen, bis wir für dich etwas finden, wo du bleiben kannst“, zwinkerte er ihm freundlich zu, „und jetzt hol Holz, ich habe Hunger.“
    Tatsächlich tat das Bein beim Laufen gar nicht weh, was wohl an dem strammen Verband lag. Erst am Waldrand fiel Alastair auf, dass er den Fremden gar nicht nach seinem Namen gefragt hatte. Bedauernd drehte er sich kurz um, aber der Mann war schon im Wagen verschwunden. Auf der Plane des Wagens jedoch prangte eine Aufschrift: Gembries – Kesselflicker.

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

    • Offizieller Beitrag

    Sehr cool.
    Einiges an Infos, aber gepaart mit Text und Geschehen.
    Grembies mag ich jetzt schon, der hat iwie die Ruhe weg. :love:
    Die Jugend von Alistair kommt auch super rüber...

    Ob man Alistair auf den Kopf geschlagen hätte. <--- Hätte ich wahrscheinlich auch gefragt :rofl:

    Na auf die beiden kann man sich nur freuen.

    :thumbsup::thumbsup:

  • 8| Wow, diesen Hünen hätte ich jetzt nie nie niemals mit Gembries in Verbindung gebracht, dafür erschienen mir die beiden zu unterschiedlich zu sein. :hmm: Vielleicht kommt das ja noch, der Bärenmann hat ja nicht viel gesagt. Ziemlich schwarzer Humor von dir, melli, bin ich gar nicht gewohnt. Hat aber was :thumbsup:
    Ich mag Alastair ^^

  • Verdammt! Nisha war so mit Bügeln beschäftigt gewesen, dass sie die Zeit ganz vergessen hatte. Hastig nahm sie die blaugraue Robe vom Brett, hängte das Teil ordentlich auf einen Bügel und nahm Gänge und Treppen im Laufschritt.
    Diesen Monat hatte sie ausgerechnet Zimmerdienst bei Scholar Pollock, dem Stinkstiefel der Feste, und sie hatte weder seinen Kamin gefegt noch sein Bett gerichtet, dabei würde er gleich seine Gemächer aufsuchen. Hoffentlich wurde sie vor seinem Eintreffen fertig, bevor seine anzüglichen Blicke und seine unverschämte Arroganz sie dazu verleiten konnten, ihm eins mit dem Kamineisen überzuziehen. Als er sie nämlich das letzte Mal noch bei ihren Arbeiten antraf, hatte er sie den Leuchter putzen lassen, absichtlich, und während sie auf einer Leiter stehend das Wachs aus den Schalen kratzte, hatte der blöde Kerl unter dem Vorwand, diese Leiter halten zu müssen, ausgiebig unter ihr Kleid geschielt.
    „Da hängt noch ein Wachströpfchen herunter, da unten“, hatte er sie aufgehalten, und allein seine leicht näselnde Art zu sprechen hatte in ihr einen Wutanfall ausgelöst.
    Hieß sie etwa Rhea, trug sie einen tiefen Ausschnitt über großer Brust und machte sie sich die Haare fein, bevor sie zu ihm ging? Doch wohl eher nicht. Der glaubte doch nicht ernsthaft, dass sie sich jetzt in sein Bett legen würde, kaum, dass ihre Kollegin in Schande nach Hause kehren musste, um seinen Bastard zur Welt zu bringen?
    Aber genau das schien er zu erwarten.
    Es gab zwar ein paar Scholare, die mit dem Zölibat nicht so gut zurecht kamen, aber keiner führte sich so auf wie dieser Kerl. Die meisten verliebten sich eher ernsthaft und blieben ihren heimlichen Freundinnen fast ein ganzes Leben lang treu, manche hatten sogar den Dienst quittiert und geheiratet.
    Pollock hingegen führte sich auf wie ein Hahn im Hühnerstall. Von ihm ging sogar das Gerücht um, dass er mal eine junge Anfängerin vergewaltigt hatte, allein deshalb konnte Nisha ihn schon nicht ausstehen. Es war nie zu einer Anklage gekommen, weil das Mädchen sich umgebracht hatte, aber Fakt war, dass sie zu dem Zeitpunkt in seinen Räumen Dienst hatte und eindeutige Verletzungen am Körper aufwies.
    Hastig fegte sie den Kamin aus, legte neue Scheite herein und zündete sie an. Schnell noch die Backsteine auf den Rost gelegt, damit der Stinkstiefel nachts keine kalten Füße bekam, und dann ab in sein Schlafzimmer, die Brokatdecke zurückschlagen und das Kissen nochmal neu aufschütteln. Brokatdecke! Mit Stickereien! Der Mann frönte einem sehr luxuriösen Lebenstil, allein das war Nisha schon unsympathisch. Leider kamen immer mehr Männer seines Schlages in die Hohe Feste. Zweit – oder drittgeborene Söhne reicher Fürsten, ohne jegliche magische Begabung, aber dafür mit einem Haufen Geld am Bein, kauften sie sich hier ein und führten sich ständig so auf, als seien sie etwas Besseres.
    Mist, wo war nur sein Schlafrock? Wahrscheinlich hatte er ihn nach nur einmal tragen in die Wäsche getan, auch das war so eine Unart der reichen Schnösel. Und dann das hier: Ein begehbarer Kleiderschrank. Nisha schnaubte verächtlich, während sie die Türe aufriss und sich auf die Suche nach einem Nachtgewand machte.
    Die Türe klappte hinter ihr zu, dass musste sie dem Schreiner mal sagen.
    Durch die Lochschnitzereien im oberen Teil des sehr aufwändig angefertigten Schrankes fiel schwach das Licht. Sie versuchte, sich zu erinnern, wo sie beim letzten Einräumen seine Nachtwäsche hingelegt hatte und noch während sie die Regale absuchte, hörte sie die schwere Zimmertüre ins Schloss fallen.
    Das wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein.
    Andererseits pflegte Pollock einen abendlichen Besuch in der Bibliothek, wo er sich mit einem Gläschen Wein und ein paar Schriften die nötige Bettschwere verschaffte, wenn er gerade keine Geliebte hatte. Grinsend hockte sich Nisha auf den Boden. Wenn er gar nicht wusste, dass sie hier war, würde er bestimmt wieder gehen und sie könnte unentdeckt verschwinden.

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker