Eine Welt ohne Namen - Die 1. Reise

Es gibt 263 Antworten in diesem Thema, welches 76.164 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (2. November 2023 um 19:13) ist von Rainbow.

  • Alopex Lagopus: Gut, dass Meister Wolf auch kein Mathematiker ist. :D Du hast natürlich Recht mit dem, was du da erläuterst. Aber ich denke, es ist nicht schlimm, dass den Leuten in meiner Geschichte das nicht klar ist. Aber ich stelle mir gerade vor, wie der Wassergeist ihnen den Fehler in diesem Gedanken erklärt, das hätte was. :thumbup: Also wenn du nichts dagegen hast, würde ich das gerne bei Gelegenheit mal aufgreifen.
    Und so wahnsinnig wichtig war die Stelle ehrlich gesagt nicht. :S
    So. Ich habe jetzt einfach mal weiter gemacht und noch ein Kapitel überarbeitet. Im Moment muss ich viel ändern, weil ich damals an dieser Stelle sehr gehetzt habe und sich seitdem auch noch einiges geändert hat. Aber ich mache weiter, vielleicht aber etwas langsamer als am Anfang.


    Der Halbdrachenzüchter


    In der darauffolgenden Zeit verlor Maja irgendwie das Gefühl für ebenjene. Der Weg von Sirref zu Tamor war allerdings nicht allzu weit. Eines Tages kamen sie in Jarub an.
    „Jetzt müssen wir nur noch diesen Tamor finden“, sagte Karim.
    Sie machten es wie sonst auch und steuerten das erstbeste Haus an um nachzufragen. Der Mann, der ihnen öffnete, sah ziemlich verschlafen und unrasiert aus. Kein Wunder, die Sonne war gerade erst aufgegangen, aber Karim, Jinna, Matthias und Maja waren schon seit Stunden unterwegs, sie hatten einfach nicht mehr schlafen können.
    „Tamor?“, gähnte der Mann auf Karims Frage hin. „Der wohnt da oben.“ Er deutete auf einen Hügel, westlich vom Dorf, auf dem ein weißes Haus stand.
    „Vielen Dank“, sagte Karim.
    „In einer Stunde sind wir da“, schätzte er dann, als sie ihre Pferde durch das Dorf führten.
    Pantomime schien langsam keine Lust mehr zu haben, dennoch ging sie jeden Tag wieder sicheren Schrittes weiter. Sie versuchten, vor allem auf Karims Rat hin, ihre Pferde nicht allzu sehr zu überanstrengen, aber sie wollten auch zügig vorankommen und das konnten sie nicht schaffen, wenn sie ständig Pausen machten. Das richtige Maß zu finden war nicht einfach.
    „Bald bist du uns los“, flüsterte Maja Pantomime ins Ohr. „Wir werden auf einem Drachen über das Gebirge reiten. Halbdrachen. Ich hoffe nur, wir finden jemanden, der gut für dich sorgt.“
    Sie brauchten nicht eine, sondern zweieinhalb Stunden, in denen sich ihre Aufregung fast ins Unerträgliche steigerte. Schließlich flog man nicht alle Tage auf einem Halbdrachen. Hoffentlich würde dieser Tamor ihnen helfen. Aber sie hatten den Hügel gehörig unterschätzt. Er war bewaldet und einige der Waldpfade waren so steil, dass sie lieber abstiegen und die Pferde führten. Schließlich kamen sie auf die unbewaldete Kuppe und konnten das weiße Haus wieder sehen. Vorsichtig ließen sie die Pferde herantraben. Pauline trippelte nervös hinterher. Sie roch die Halbdrachen und hätte am liebsten die Flucht ergriffen. Maja sprang ab und warf Matthias Pantomimes Zügel zu. Nur zur Vorsicht. Dann ging sie zur Tür um zu klopfen.
    Das Haus hatte ein rotes Dach und einen kleinen steinernen Anbau, der vermutlich ein Stall war. Maja überlegte, ob dort die Halbdrachen untergebracht waren. Aber passten sie überhaupt hinein? Die Fensterrahmen des Hauses waren aus Holz und grün angestrichen, ebenso die Tür vor der Maja jetzt stand. Ein großer silberner Türklopfer in Form eines monströsen Tierkopfes (Maja brauchte nicht fragen um zu wissen, dass es der Kopf eines Halbdrachen war) verriet ihnen, dass sie am richtigen Ort waren.
    Maja fiel auf, dass sie noch nie einen Türklopfer benutzt hatte. Sie hatte in ihrer Welt zwar schon Häuser besucht, die einen solchen hatten, aber der war meistens nur zur Zierde da und es gab zusätzlich eine Klingel. Und hier, in der Welt ohne Namen, wo es keinen Strom und somit auch keine Klingeln gab, klopfte man einfach mit den Fingerknöcheln. Nur reiche Leute hatten einen Türklopfer. Aber dass Tamor reich war sah man seinem Haus schon von weitem an, es hatte drei Stockwerke, gemalte Ornamente um die Fensterrahmen herum und sah aus wie frisch verputzt.
    Maja griff nach dem silbernen Ring und ließ ihn drei Mal auf das Holz schlagen.
    Die Reaktion trat umgehend ein: Die Umgebung vor ihren Augen begann zu verschwimmen. Die grüne Wiese verzerrte sich und wurde heller und heller bis Maja plötzlich auf weißen Marmorplatten stand. Die Tür und das Haus vor ihr waren schon längst verschwunden, als auch der Himmel sich verzerrte und die Federwolken an ihm größer und größer wurden, bis Maja rundum nur noch weiß sah. Sie stand in einem riesigen Saal. Betroffen drehte sie sich um und starrte dann an die helle Decke. Winzige goldene Fäden breiteten sich dort aus, bildeten ein Muster – ein kunstvolles Deckengemälde – flossen dann an den Wänden herab und formten Türen und Fenster mit goldenen Rahmen hinter denen man Sand, Himmel und die fast endlose Weite des Meeres erkennen konnte. Zwischen den hohen Fenstern erschienen goldene Kerzenhalter mit weißen Kerzen, die allerdings nicht brannten.
    Maja blieb eine Weile unschlüssig stehen. Sollte sie hier warten? Oder sollte sie eine der großen, goldenen, zweiflügeligen Türen benutzen? Zwei davon gab es an der Wand vor ihr. Vielleicht würde eine davon sie zurückbringen. Wie war sie überhaupt hierher gekommen? War sie irgendwie durch die grüne Tür gerutscht? Wo war dann deren Rückseite? Sie blickte sich um, konnte aber kein grünes Holz erblicken. Und die goldenen Türen waren doch viel größer als die grüne.
    Plötzlich hörte sie einen donnernd lauten Ton: BUMM
    Maja hielt sich die Ohren zu, in dem Versuch, möglichst alle Ecken des großen Saales im Auge zu behalten. Dann krachte es noch zwei Mal und Maja musste sich anstrengen, nicht laut loszuschreien, sie war drauf und dran sich auf dem Boden zusammenzukauern. Die Ungewissheit über die Herkunft des donnernden Lautes und über ihre eigene Lage machten sie fast verrückt.
    Plötzlich stand eine kleine Gestalt neben ihr.
    „Aahhrg!“, schrie Maja, und dann: „Matthias!“
    Der Junge war aus dem Nichts aufgetaucht und schaute sich nun interessiert um.
    „Gott sei Dank bist du hier!“, rief Maja. „Wo sind wir hier, warum stehen wir nicht mehr vor dem Haus?“
    Matthias betrachtete nachdenklich das Meer hinter den Fenstern. Dann zog er den Block und den Stift, die Maja ihm geschenkt hatte, aus der Tasche.
    Magie, schrieb er. Das ist das Haus eines Zauberers.
    „Du meinst, dieser Halbdrachen-Fritzi ist ein Zauberer?“
    Natürlich. Meister Wolf ist auch einer, also nehme ich an, dass viele seiner Freunde Magie beherrschen. Allerdings hat dieser hier eindeutig mehr drauf. Dieses Zimmer hier. Sieh mal aus dem Fenster, das Haus hier steht am Meer. Er muss uns kilometerweit verschoben haben.
    „Was meinst du mit verschoben?“
    Matthias kniete sich nieder, um besser schreiben zu können.
    Das nennt man so, wenn man etwas oder jemanden von einem Ort zum anderen zaubert.
    „Aber ich dachte, die Tür hätte uns verschluckt.“
    Matthias grinste.
    Das weiße Haus war nur ein Eingang zum richtigen Haus. Ich wette, er hat noch viel mehr Eingänge, die alle an anderen Orten sind. Ich frage mich, wo Karim und Jinna bleiben.
    Maja schaute eine Weile aus dem Fenster. Der Sandstrand dahinter war lang und weiß.
    „Wie kommen wir wieder hier raus?“, fragte sie und sah Matthias an, der gerade dabei war, Diese Bude ist ganz schön protzig, zu kritzeln.
    Wenn man uns nicht raus lässt gar nicht, antwortete er jetzt auf Majas Frage.
    Plötzlich ging eine der goldenen Türen auf und ein Mann kam in den Raum. Er war groß, hatte blondes, langes Haar und dunkelbraune Augen, das war das Erste, was Maja auffiel. Dann betrachtete sie seine schmalen Lippen und noch schmaleren Augenbrauen. Seine Nase war ebenfalls schmal, genau wie seine Gestalt. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm, dachte Maja. Es lag jedenfalls nicht an dem langen, dunkelgrünen Mantel, den der Mann trug und der ihr die Sicht auf seine sonstigen Kleidungsstücke, die Schuhe inbegriffen, verwehrte. Der Mann blieb stehen und betrachtete die beiden Kinder vor ihm schweigend.
    Maja glaubte, dass er von ihnen erwartete zuerst zu sprechen. Da Matthias schlicht und einfach nicht konnte ergriff sie das Wort.
    „Sind Sie Tamor?“
    „Ja, das bin ich“, sagte der Mann, aber er wirkte dabei leicht verärgert. Maja fiel ein, dass sie sich vielleicht zuerst einmal selbst hätte vorstellen sollen. „Aber wer seid ihr?“, fuhr Tamor fort. „Den Jungen habe ich sicher schon mal gesehen.“
    „Das ist Matthias und ich bin Maja Sonnfeld.“
    „Matthias? Jetzt fällt es mir wieder ein. Du bist der Kurze, der immer wieder mal bei Wolf vorbeischaut. Und Maja Sonnfeld? Der Name ... Sonnfeld.“ Er ließ das Wort auf seiner Zunge zergehen, als könne er es schmecken. „Und diese Art, zu reden. Wenn ich dich so anschaue, habe ich das Gefühl, du kommst aus der anderen Welt.“
    „Äh ja“, sagte Maja. Ihr fiel nichts Besseres ein. Konnte man ihr wirklich so leicht anmerken, dass sie aus der anderen Welt kam? Und dieser Tamor war merkwürdig. Wie er mit verschränkten Armen vor ihnen stand wirkte er sehr Ehrfurcht gebietend. Und immer noch ziemlich verärgert. Vielleicht, hätten sie nicht so ungefragt hier eindringen sollen. Aber es war ja nicht mit Absicht gewesen.
    „Ich bin auch in der anderen Welt geboren, kam aber schon als Kind hierher“, fuhr er nachdenklich fort. „Mein voller Name lautet Tamor Marcellino Pericatto. Nun, was verschafft mir die Ehre?“
    BUMM, BUMM, BUMM
    Alle zuckten zusammen und dann tauchte zwischen Maja und Matthias Jinna auf.
    Sie sah sich neugierig um, schien aber kein bisschen überrascht zu sein.
    „Karim kommt gleich“, sagte sie. „Dieser Feigling wollte mich davon abhalten an dieser blöden Tür zu klopfen, nachdem ihr verschwunden seid. Wer ist das?“, fragte sie und zeigte auf Tamor. Doch bevor sie eine Antwort erhalten konnte kündigten drei weitere donnernde Laute die Ankunft von Karim an.
    Er tauchte neben Matthias auf, sah Jinna und zog sie zu sich. Dann blickte er sich um, sah Matthias und Maja scharf an, als wollte er sich vergewissern, dass mit ihnen alles in Ordnung war und starrte dann Tamor an.
    „Wer bist du?“, fuhr er ihn an.
    Tamor lächelte, aber es war ein kaltes, unfreundliches Lächeln. „Wer bist du?“
    „Pass auf, wenn du uns etwas antun willst - “
    „Ich will euch nichts antun, aber du bist in meinem Haus, also solltest du dich vielleicht erst mal vorstellen.“
    „Das sind Karim und Jinna“, mischte sich Maja schnell ein, bevor Karim etwas Dummes tun konnte. Er sah aus, als sei er kurz davor.
    Tamor betrachtete Maja mit gerunzelter Stirn eingehend. „Du scheinst hier wohl für alle zu sprechen. Gut, was wollt ihr von mir? Warum habt ihr an mein Haus geklopft?“
    Normalerweise sprach Karim immer für sie alle, aber wo Maja jetzt schon mal damit angefangen hatte konnte sie ja auch weitermachen. „Ähm, wir haben gehört, das heißt ... Matthias hat uns gesagt ... ähm ... dass Sie zwei Halbdrachen haben und wir wollen über das Gebirge ... mit den Drachen, üh, Halb - “
    Was war los, sie stotterte doch sonst nicht so herum? Vielleicht lag es daran, dass ihr das Vorhaben jetzt selbst irgendwie albern vorkam, der große weiße Saal erweckte in ihr das Gefühl so unglaublich klein und unbedeutend zu sein.
    Die Gesichtszüge Tamors wurden noch ernster. Jetzt fiel Maja auf, was sie an ihm seltsam gefunden hatte, er trug eine Narbe neben dem rechten Auge. Sie sah aus wie eine Art Brandmal, das ein fremdes Zeichen darstellte.
    „Kommt noch jemand von euch, sonst würde ich sagen, ihr folgt mir einfach mal“, sagte Tamor.
    Maja sah ihre Gefährten an. Matthias folgte Tamor ohne Zögern durch die goldene Tür. Karims Blick war voller Zweifel. Auch Jinna schüttelte den Kopf. Maja zuckte mit den Schultern und folgte Matthias. Wo sollten sie schließlich sonst hingehen? Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Karim und Jinna zögernd hinter ihr her gingen.

  • Wie sagt man so schön? Viele Wege für ... in Tamors Haus :D Stelle ich mir praktisch aber auch gleichzeitig nervig vor, wenn jeder der an meine Tür klopft automatisch hineingelassen wird. Maja, er ist ein mächtiger Zauberer, er kann sich etwas extravaganz leisten ^^
    Mal sehen, ob er der Truppe die Halbdrachen einfach so "ausleiht" 8|

  • Zweifelhafte Unterstützung


    Tamor führte sie durch einen holzvertäfelten Flur in eine kleine Küche, in der es köstlich nach Keksen duftete. Blaue Schränke, eine grau-weiß gestreifte Arbeitsplatte und ein großer Ofen bestimmten den Raum. Durch das Fenster konnte man das Meer sehen, davor, auf der Fensterbank, wuchsen in eckigen Blumentöpfen seltsame, gelbe Kakteen. In einer Ecke stand ein kleiner grasfarbener Tisch. Sie setzten sich auf Holzstühle derselben Farbe und Tamor holte ein Blech mit frisch gebackenen Keksen aus dem Ofen. Er servierte sie seinen Gästen auf einem bunt geblühmten Teller und stellte jedem eine Tasse heißen Tee vor die Nase, die er bereits gefüllt aus dem Schrank nahm. Die Tassen waren gelb und geformt wie kleine Küken, mit orangefarbenen Schnäbeln und schwarzen Knopfaugen. Sie sahen aus, wie etwas, das man auf einem Kindergeburtstag finden konnte. Maja schnupperte an ihrem Tee, er roch lecker nach Johannisbeeren. Sie und Matthias nahmen einen tiefen Schluck und sahen Karim und Jinna wütend an, die den Tee völlig ignorierten. Das Misstrauen der beiden ging ihnen echt zu weit.
    Tamor setzte sich zu ihnen und ergriff das Wort. „Also, habe ich richtig verstanden, ihr wollt über das Gebirge?“
    Maja nickte.
    „Wie alt seid ihr eigentlich?“
    Sie schwiegen. Die Frage hatte sie etwas überrascht.
    „Ich werde euren Eltern Bescheid geben lassen.Sie können euch schnellstmöglich hier abholen, bis dahin könnt ihr bleiben.“ Er stand auf.
    Maja starrte ihn betroffen an. Meinte er das ernst?
    „Danke auch, Maja“, fauchte Karim.
    Maja starrte ihn verdutzt an. Was konnte sie dafür? Und außerdem ...
    „Wo ist das Problem?“, fragte sie. „Deine Mutter wurde entführt. Meine Eltern werden mich wohl kaum morgen hier abholen, sie wissen nichts von dieser Welt und Matthias Pflegeeltern ... Sie verstehen ihn nicht mal.“
    „Na schön, ich hatte es nicht so ernst gemeint. Hier laufen die Dinge wohl leider nicht so.“ Tamor setzte sich wieder hin. „Aber was ums alles in beiden Welten wollt ihr auf der anderen Seite?“
    „Wir wollen Karims und Jinnas Mutter retten. Sie wurde von Fürst Dreizehn entführt“, antwortete Maja.
    Er sah sie einen Moment nachdenklich an. Er schien sehr gut zu verstehen, worum es ging. „Gut. Die beiden wollen ihre Mutter retten. Was geht dich das an? Oder Matthias, was geht es ihn an?“
    „Ich will ihnen helfen“, sagte Maja. „Und Matthias ... “ Sie sah den Jungen an, der etwas auf seinen Block kritzelte.
    Sie gehen nach Andraya. Dort leben die Schwarzmagier.
    Tamor schien es die Sprache zu verschlagen. „Erstens“, er wandte sich Maja zu, „Mädchen, ich weiß, du denkst, das ist ein Traum, aber es ist keiner. Wenn du hier stirbst, dann bist du wirklich tot. Wahrscheinlich bist du durch irgendeinen dummen Zufall hier gelandet, es wäre nicht das erste Mal. Ich verstehe, dass du verzweifelt bist, aber werd bitte nicht gleich lebensmüde. Ich kann dafür sorgen, dass du wieder nach Hause kommst, ich kann Leute beauftragen, die dich zum nächsten Tor bringen und schon ist alles wieder gut.“
    Wann warst du eigentlich das letzte Mal in der Stadt?, schrieb Matthias auf seinen Block. Hast du die Plakate nicht gesehen, die überall hängen?
    „Du bist das Mädchen auf dem Foto?“, rief Tamor. Er betrachtete Maja verblüfft von den Haarspitzen bis zu ihren Schuhen. „Tatsächlich, jetzt erkenne ich dich erst. Ich muss Tomaten auf den Augen gehabt haben. Auf dem Bild siehst du aber um einiges gepflegter aus.“ Maja starrte betrübt auf ihre schmutzigen Finger. „Aber ich kann mir keinen Grund vorstellen, warum Fürst Dreizehn dich suchen sollte, es sein denn ... “ Sein Blick wanderte zu Majas Hals auf dem sich die feine Kette des Amulettes abzeichnete. Maja zog es hervor. „Das Zeichen von Pheris“, keuchte Tamor.
    „Was?“, fragte Maja.
    Tamor sprang wieder auf die Füße, stolperte einige Schritte rückwärts und starrte das goldene Amulett in Majas Hand staunend an.
    „Du bist eine Kamiraen.“
    „Ja“, sagte Maja. „Na und?“
    Tamor strich sich über die Stirn und sah aus dem Fenster.
    „Seit wann?“, fragte er ohne sie anzusehen.
    „Ich habe das Amulett vor einem Jahr bekommen“, erklärte Maja. „Aber eigentlich will ich gar keine Kamiraen sein.“
    „Willst du nicht?“
    Sie schüttelte den Kopf, aber da er immer noch aus dem Fenster starrte, konnte er das nicht sehen. Maja hatte ein beklemmendes Gefühl in der Brust. Offenbar wusste dieser Mann etwas über die Kamiraen. Was, wenn er auf deren Seite war? Was, wenn er sie herbei rief, oder Maja zu ihnen schickte?
    „Sonnfeld“, murmelte er jetzt. „Natürlich. Ich war vorhin wirklich nicht auf der Höhe ... dein Onkel.“
    „Was ist mit ihm?“, fragte Maja.
    „Er war auch ein Kamiraen.“
    „Ich weiß“, sagte Maja. „Dieses Amulett hat ihm gehört.“
    „Seltsam.“
    „Was ist seltsam?“
    „Ich kenne mich nicht wirklich damit aus, wie die Vererbung dieser Amulette geregelt ist, aber es ist ungewöhnlich, dass du es von einem so nahen Verwandten geerbt hast. Soweit ich weiß ist das noch nie passiert.“
    Maja wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.
    „Er war ein seltsamer Kerl. Hat oft sein eigenes Ding durchgezogen und sich dem Willen der anderen Kamiraen widersetzt. Hat sich damit ständig in Schwierigkeiten manövriert.“
    „Sie kannten ihn?“, fragte Maja. Wer war dieser Tamor nur?
    „Nicht persönlich. Aber ein Freund von mir ist auch ein Kamiraen.“ Tamor hob die Hand und strich sanft über einen seiner Kakteen. „Soweit ich weiß, hat dein Onkel es nie bereut.“ Er zuckte zurück, als sich einer der Dornen in seinem Finger verhakte. Mit einem Mal drehte er sich um. „Einverstanden“, sagte er. „Ich stelle euch meine Halbdrachen zur Verfügung.“
    Alle vier starrten ihn wie vom Donner gerührt an. Das kam verdammt plötzlich. Maja verstand die Welt nicht mehr, aber sie wagte nicht, noch ein einziges Wort zu sagen, bevor Tamor es sich wieder anders überlegte.

    Tamor hatte ein paar Diener, die sich nun um die verdutzten Kinder kümmerten. Er bot ihnen an, sich bei ihm ein Weilchen zu erholen, deshalb beschlossen sie, erst in zwei Tagen loszufliegen. Keiner der vier hatte eine Ahnung, warum Tamor plötzlich so hilfsbereit war. Es hatte irgendetwas mit den Kamiraen, mit Maja und ihrem Onkel zu tun, aber was es auch war, konnte es wirklich diesen plötzlichen Sinneswandel erklären? Maja kam schließlich zu dem Schluss, dass Tamor ein bisschen verrückt war.
    Später aßen sie mit ihm zu Abend, es gab Huhn mit Reis und einem interessanten Gemüse, von denen es in der Welt ohne Namen so viele gab. Maja hatte ein schlechtes Gefühl. Das Gespräch mit Tamor war so seltsam gewesen und sie hatte den Eindruck, dass sie noch Klärungsbedarf hatten. Sie hatte das Gefühl, dass Tamor sich irgendetwas zurechtgelegt hatte, das nicht der Wahrheit entsprach. Karim und Jinna hatten sie davor gewarnt, aber sie musste mit Tamor darüber sprechen. Nach dem Essen blieb sie in der Küche und bat um eine kleine ‚Unterredung‘.
    “Herr Pericatto”, begann sie „Sie lassen uns wirklich mit Ihren Halbdrachen über das Gebirge?“
    Er zwirbelte sich nachdenklich eine Haarsträhne um den Finger. „Nenn mich Tamor. Und ja, ich denke, das werde ich tun.“
    „Aber warum haben Sie ihre Meinung geändert? Nur weil ich eine Kamiraen bin?“
    Tamor zuckte mit den Schultern.
    „Ich bin vor den Kamiraen davon gelaufen. Ich will keine von ihnen sein.“
    „Das ist mir schon klar, du hast es bereits gesagt.“
    „Was ist es dann? Und was hat mein Onkel damit zu tun?“
    Tamor dachte eine Weile nach. „Weißt du“, sagte er dann, „als ich euch vorhin in meiner Eingangshalle sah, da zeigten mir meine Augen vier seltsame Kinder mit einem noch seltsameren Anliegen. Und besonders höflich waren sie auch nicht. Eine Frau aus den Händen Fürst Dreizehns befreien. Ich räumte euch keine Chance ein. Doch als ich erfuhr, wer du bist, begann ich die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen.“
    „Soll das heißen, Sie glauben jetzt, dass wir es schaffen können?“, fragte Maja erstaunt. „Nur wegen mir?“
    „Nicht unbedingt. Nein, ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass ihr es schafft. Aber diese Reise wird euch auf jeden Fall weiter bringen. In irgendeiner Weise.“
    „Und wenn sie uns umbringt?“
    „Tja. Das ist das Risiko. Ihr müsst selbst entscheiden, ob ihr es eingehen wollt. Aber wenn du auf die andere Seite des Gebirges willst, werde ich dich nicht aufhalten.“
    Maja schluckte schwer. „Bedeutet das, es ist Ihnen vollkommen egal, ob wir sterben?“
    Tamor runzelte die Stirn. „So würde ich das nicht sagen. Nicht vollkommen egal. Ich denke nur in größeren Dimensionen.“
    Der Typ ist doch beknackt, dachte Maja. Und eines stand fest: sie würde von ihm bestimmt keinen lebenswichtigen Rat annehmen. Doch er wusste anscheinend mehr über die Kamiraen. Vielleicht konnte sie ihn ein bisschen ausquetschen.
    „Sie nannten mein Amulett vorhin ‚Zeichen von Pheris‘“, sagte sie. „Was meinten Sie damit?“
    Das Zeichen der Kamiraen nennt sich so. Pheris ist vermutlich der Ort, von dem die ersten Kamiraen stammen. Doch die meisten Menschen kennen diese Bezeichnung gar nicht.“
    „Warum hat Tabea mir das nicht gesagt? Sie nannte es ebenfalls Amulett.“
    „Ach, die arme Tabea. Sie ist schon sehr alt und hat ihr ganzes Leben lang die Kamiraen zusammengeführt. Sie hat ein sehr glückliches Händchen dafür, aber die Aufgabe hat sie ein wenig eigensinnig gemacht, wie ich hörte. Du solltest es ihr nicht übel nehmen, wenn sie dir nicht alles erzählt hat. Sie lässt sich die Fakten scheinbar gerne aus der Nase ziehen. Aber sie weiß ungeheuer viel.“
    „Was ist denn Pheris für ein Ort?“, fragte Maja.
    „Wenn wir das wüssten. Wir wissen nicht wo er liegt, wie er aussieht und ob er überhaupt noch existiert. Auch das die Kamiraen von dort kommen können wir nur vermuten.“
    „Ich habe so viele Fragen“, sagte Maja.
    „Das ist verständlich, aber ich denke nicht, dass ich sie dir alle beantworten kann. Dazu müsstest du zu den Kamiraen gehen. Du kannst sie wirklich nicht leiden, was?“
    „Nein, kann ich nicht.“
    Tamor schmunzelte. „Man sieht es dir an der Nasenspitze an. Immer wenn du das Wort 'Kamiraen' hörst zuckt sie ärgerlich.“
    „Ist ja auch kein Wunder. Die Kamiraen haben mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Aber ich werde das nicht auf mir sitzen lassen.“
    „Indem du dich aus den Staub machst?“
    Maja zuckte mit den Schultern. „Ich will Karim und Jinna helfen“, sagte sie. „Andraya“, fiel ihr plötzlich ein, „das dreizehnte Königreich – wo liegt es? Wissen Sie das zufällig?“
    „Weit im Süden. Sehr weit.“
    „Könnten Ihre Halbdrachen uns vielleicht bis dorthin bringen?“
    Tamor schüttelte den Kopf. „Nein. Sie müssen bald mit ihrem Sommerschlaf beginnen und ich kann sie nicht für lange Zeit verleihen. Aber selbst wenn, ich würde es euch nicht erlauben.“
    „Warum?“, fragte Maja.
    „Weil ihr dann ohne Zweifel sterbt.“
    „Warum sollten wir sterben?“
    „So geht es jenen, die ungefragt in Andraya eindringen.“
    „Pah“, machte Maja.
    Er sah sie mit unverhohlener Faszination an. „Du glaubst tatsächlich, das hier sei ein Traum.“
    Maja schaffte es nicht, ihm weiter in die Augen zu sehen. Tamor seufzte.
    „Das hier ist kein Traum. Früher oder später musst du das begreifen. Früher oder später wirst du es begreifen.“
    Maja starrte bloß finster auf den Tisch.
    Seufzend sah Tamor auf die Uhr. „Es ist schon spät“, sagte er, „und du bist sicher müde. Da fällt mir ein: morgen ist in Ilster ein großes Fest. Vielleicht habt ihr vier Lust, mit mir dorthin zu kommen. Maja, du würdest doch sicher gern mehr über diese Welt erfahren.“
    Am liebsten hätte Maja ihm ins Gesicht gesagt, dass diese Welt ihr gestohlen bleiben konnte. Aber ein bisschen neugierig war sie schon.
    „Ich frage Karim und Jinna, was sie davon halten.“

  • Wieder ein schöner Teil, und Tamor macht mich mit seinen Andeutungen noch wahnsinnig, der weiß doch mehr und sagt es nicht. :cursing: Ich bin gespannt, wie es weitergeht. :thumbsup:

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

  • Der nächste Teil ist wahrscheinlich ein bisschen seltsam, besonders mit dem Fest. Ihr könnt mir ja vielleicht kurz sagen, ob ihr ihn trotzdem in Ordnung findet, ansonsten muss ich ihn noch mal verändern.

    Das Fest in Ilster


    „Wir hatten doch abgemacht, dass du dich fürs erste von den Städten fernhältst“, sagte Karim. „Dein Gesicht hängt an jedem zweiten Baum.“
    „Stimmt doch gar nicht. Bloß weil wir ein Plakat gesehen haben.“
    „Ach komm schon Karim“, sagte Jinna. „Ich würde gerne gehen.“
    „Es geht mir nur um die Sicherheit“, meinte ihr Bruder.
    „Du übertreibst“, entgegnete Maja. „Die Leute hier interessiert es eh nicht, wenn Dreizehn mich suchen lässt. Soll er doch. Außerdem werde ich mich verkleiden. Und bei dem Fest fallen wir in der Menge gar nicht auf. Tamor hält es für vollkommen unbedenklich.“
    „Und ich finde, wir könnten ein bisschen Spaß gut gebrauchen“, sagte Jinna.
    „Spaß?“, fragte Karim. „Glaubst du wirklich, ich kann Spaß haben, während unsere Mutter im dreizehnten Königreich gefangen ist?“
    Mit einem Schlag huschte ein Schatten über Jinnas Gesicht.
    „Ein bisschen Ablenkung tut vielleicht ganz gut“, meinte Maja, als sie das sah.

    Schließlich rangen sie sich doch dazu durch, das Fest zu besuchen. Tamor hatte sich die Verkleidung Majas gründlich durch den Kopf gehen lassen. Er besorgte ihr ein traditionelles, rotes Kleid und ihre Haare wurden zu einer hier üblichen Frisur geflochten. Zuvor hatte Tamor damit allerdings etwas Besonderes gemacht, sie waren nun nachtschwarz. Maja war sich zuerst etwas mulmig vorgekommen, als Tamor ihre Haare in eine dunkle, rauchende Flüssigkeit getaucht hatte, denn bei ihrer Mutter hatte das Haare färben anders (und weniger gefährlich) ausgesehen. Vor allem hatte das Färbemittel nicht so gequalmt, nach der Prozendur, als sie endlich die Fenster öffnen durften (vorher hatte Tamor das nicht erlaubt) stob dichter, schwarzer Rauch aus ihnen, wie bei einem Brand. Das Dienstpersonal schien das nicht zu stören, offensichtlich waren sie merkwürdige Zaubereien im Haus gewöhnt. Als der Rauch endlich abgezogen war, betrachtete Maja sich im Spiegel. Sie erkannte sich selbst kaum wieder. Mit dem schwarzen Haar sah ihr Gesicht viel blasser aus und die Frisur ließ sie mindestens zwei Jahre älter wirken.

    Sie verließen das Haus durch die große, weiß-goldene Eingangshalle. Als sich alle darin versammelt hatten klopfte Tamor mit einem langen Stab drei Mal auf den Boden und mit einem Mal verwandelten sich die goldenen Fenster an den Wänden in verschiedenfarbene Türen. Maja entdeckte die kleine grüne Tür, durch die sie in dieses Haus gelangt waren, sofort.
    Tamor zeigte als erstes auf eine rote Tür. „Diese Tür führt zu meinem Haus in Ilster. Da ihr aber keine Zauberer seid, könnt ihr sie nicht benutzen. Ihr müsst das Haus auf demselben Weg verlassen, wie ihr es betreten habt. Die grüne Tür bringt euch nach Jarub, von da aus können euch Taramos und Penelope nach Ilster tragen. Er öffnete sie und hielt sie für die Kinder auf. Dann verließ er als letzter sein Haus.
    Maja betrat den Rasen auf der Hügelkuppe. Hinter ihr war das weiße Haus mit den grünen Fensterläden, vor ihr fiel der Hügel weit ab und sie konnte das Dorf Jarub sehen.
    Tamor führte sie allerdings auf der anderen Seite ein paar Meter den Hügel hinab. Auf einer großen Wiese gebot er Maja, Matthias, Karim und Jinna stehen zu bleiben und brachte ein wenig Abstand zwischen sich und sie. Dann zog er eine dünne silberne Pfeife aus der Tasche und blies hinein. Nichts war zu hören und Maja fühlte sich an eine Hundepfeife erinnert.
    „Schaut nur!“, rief Jinna plötzlich und zeigte auf einen verschwommenen Punkt über den Bergen des großen Gebirges, das sich groß und klar vor dem Himmel abhob. Maja fragte sich, was für ein Punkt das war. Dann bemerkte sie, dass er näher kam. Es musste ein Halbdrache sein. Noch näher kam er und Maja erkannte, dass es nicht einer, sondern zwei Punkte – zwei Halbdrachen – waren. Aus der Ferne sahen sie aus wie Riesenschlangen mit Flügeln. Sie flogen sehr elegant und erinnerten an Greifvögel, wie sie kaum mit den Flügeln zu schlagen brauchten. Über der Wiese, auf der Tamor und die Kinder standen, begannen sie zu kreisen. Sie waren merkwürdigerweise orange mit schwarzen Flügeln und ihre Augen funkelten rot. Misstrauisch beäugten sie die vier Unbekannten. Tamor winkte ihnen zu und bedeutete ihnen zu landen.
    Als die Halbdrachen gelandet waren, musste Maja sich eingestehen, dass sie nicht wie Schlangen, sondern eher wie geflügelte Molche aussahen. Ihr Bauch war tatsächlich orange, ebenso der Kamm, der sich über ihren Rücken bis zum Schwanz zog, ansonsten waren sie allerdings dunkelgrün, fast schwarz. Auch der Kopf der Wesen erinnerte an Molche, nur die spitzen Zähne zeigten, dass Halbdrachen Raubtiere waren. Die dünnen, kurzen Beine, die sie im Flug wie Molche beim Schwimmen eng an die Seiten angelegt hatten, trugen nun den Körper, dafür waren die Flügel angelegt.
    Der eine Halbdrache war etwas größer als der andere und sehr dunkel. Außerdem schien sein Bauch leuchtender. Der andere war heller und sein Bauch hatte einen unübersehbaren Beigestich. Beide trugen eine Art Sattel mit vielen Gurten und Riemen.
    „Das ist Taramos und das Penelope“, erklärte Tamor und deutete zuerst auf den größeren und dann auf den kleineren Halbdrachen. „Ich habe sie schon bei Sonnenaufgang satteln lassen."
    „Und da sollen wir drauf reiten?“, fragte Karim skeptisch. „Du weißt, dass Halbdrachen Raubtiere sind.“
    „Niemand weiß das besser als ich“, sagte Tamor. „Aber sei beruhigt, Taramos und Penelope – nun ja, ich will nicht sagen, sie sind ungefährlich, sie brauchen schon ihre Freiheit, aber sie fressen keine Menschen, also kannst du unbesorgt sein. So, ich würde sagen, der Schwerste und der Leichteste“, er deutete auf Karim und Matthias, „gehen auf einen und die Mädchen auf den anderen.“
    Er ging zu Penelope und winkte Karim und Matthias hinterher zu kommen. Karim schritt nur sehr zögerlich voran.
    „Jetzt mach schon Junge, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit“, machte Tamor Karim Beine und half ihm dann, auf Penelope zu klettern. Nachdem er ihn sicher festgeschnallt hatte hob er Matthias hinter Karim auf den Sattel und schnallte auch ihn fest. Penelope scharrte mit den krallenbesetzten Füßen.
    Dann mussten Maja und Jinna aufsteigen. Maja saß vorne und klammerte sich an Taramos Hals fest, während Tamor sie festgurtete. Als auch Jinna im Sattel saß ging Tamor zum Kopf von Taramos und sagte ihm ein paar Worte.
    „Kommen Sie nicht mit?“, fragte Maja.
    „Ich nehme den direkten Weg von meinem Haus nach Ilster. Zu fünft können uns die beiden nicht so leicht tragen. Ich erwarte euch im Wald vor der Stadt.“ Er ging ein paar Schritte zurück. „Los jetzt, Taramos“, rief er.
    Taramos stieß sich von der Erde ab.
    Maja schrie auf, als ihr Herz sich anfühlte, als wollte es seinen Platz mit ihrem Magen tauschen. Sie rollte sich zusammen und klammerte sich gleichzeitig am Sattel und an Taramos fest. Jinna schlang ihre Arme fester um sie. Maja schloss die Augen und wagte nicht, sie zu öffnen, bevor Taramos seinen Steigflug nicht beendet hatte. Endlich hörten sie auf zu steigen. Maja öffnete die Augen und wagte einen Blick nach unten. Das Haus mit den grünen Fenstern war längst nicht mehr zu sehen, stattdessen erblickte sie unter sich einen Flickenteppich aus Feldern und ab und an eine Gruppe winziger Häuser und zwischen diesen Häusern noch winzigere Menschen und Tiere ...
    „Wie lange ist es wohl nach Ilster?“, fragte Jinna mit brüchiger Stimme.
    „Wahrscheinlich nicht so weit“, sagte Maja. „Hoffentlich.“
    Der Flug dauerte tatsächlich nicht allzu lange. Schnell hatten sich die Kinder an die Höhe gewöhnt. Taramos und Penelope hielten das Gebirge immer in der gleichen Entfernung links von ihnen, das bedeutete, sie flogen nach Norden. Nach fünfzehn Minuten erreichten sie einen großen Wald und nach einer weiteren Viertelstunde gingen die Halbdrachen schließlich in einen steilen Sinkflug, der ihren Reitern die Freude am Fliegen gleich wieder verdarb.
    Maja kniff die Augen zu und konzentrierte sich darauf, das ungute Gefühl in ihrem Magen unter Kontrolle zu halten. Plötzlich schrie Jinna auf und Maja öffnete schleunigst wieder die Augen, gerade noch rechtzeitig um zu sehen, dass sie auf das Blätterdach des Waldes zurasten. Sie duckte sich und schützte den Kopf mit den Händen, dann krachten sie durch Blätter und Äste und kamen äußerst unsanft auf dem Boden auf.
    Maja sah sich um. Weit und breit konnte sie nur Bäume sehen, Tamor war nicht in Sicht. Taramos schüttelte sich und einzelne Äste fielen von ihm ab. Er sah etwas zerkratzt aus und Maja fragte sich, ob die Landung so geplant gewesen war. Wo waren die anderen? Dann legte Taramos sich auf den weichen Waldboden, breitete die Flügel aus und schloss die Augen. „Alles klar mit dir?“, fragte Maja.
    „Mir geht’s prima“, antwortete Jinna.
    „Ich meinte Taramos.“
    „Danke auch“, sagte Jinna beleidigt.
    Taramos hob ein Lid und starrte Maja aus seinem roten Auge an. Konnte er sie verstehen? Mit Sicherheit konnte sie es weder bestätigen noch ausschließen.
    „Jinna!“ Karim kam von Norden auf sie zugelaufen, hinter ihm gingen Matthias, Tamor und Penelope, die auf dem Waldboden sehr unsichere Schritte machte.
    Karim machte ebenfalls sehr unsichere Schritte, was aber wahrscheinlich daran lag, dass er gerade erst von Penelopes Rücken geklettert war. Maja öffnete die Gurte, die sie festhielten und sprang von Taramos herunter. Einen Moment lang schwankte sie, der Boden schien so fest, dann hatte sie das Gleichgewicht wieder und konnte Jinna helfen.

    Ilster war etwa einen Kilometer von dem Ort entfernt, an dem sie gelandet waren, eine Strecke, die sie recht schnell hinter sich brachten. Die Stadt war die größte, die Maja in dieser Welt bisher gesehen hatte, eine fünf Kilometer lange Stadtmauer umgab sie, an der alle vierhundert Meter ein trutziger Wachturm oder ein Stadttor standen. Tamor führte sie durch das südlichste Tor hinein. Die Straßen waren sehr voll, augenblicklich befanden sich wohl viel mehr Menschen in der Stadt, als hier eigentlich wohnten.
    „Das Fest hier wird jährlich zu Ehren von Tamira veranstaltet“, erklärte Tamor. „Es ist einzigartig in dieser Welt. Es wird bereits seit vielen Jahren gefeiert und über die Jahre hat sich seine Bedeutung gewandelt. An diesem Tag ist Jarub ein Ort der Freiheit und der Gleichberechtigung. Viele Gruppen versuchen hier, ihre Gesinnungen unter das Volk zu bringen. Es gibt zahlreiche Informationsstände. Lasst euch nicht von den Leuten daran anquatschen, die lassen euch in drei Stunden noch nicht gehen“, fuhr Tamor fort. „Und seid vorsichtig, euch nicht zu lange bei den Demokraten aufzuhalten. Die Stadtwache untersteht dem Großkönig und seinem Despriten und sie haben jedes Jahr ein besonders scharfes Auge auf alle, die andere Regierungsformen durchsetzen wollen. Auf anderen Festen müssten diese Leute um ihr Leben fürchten, aber hier nicht. Das ist das besondere in Ilster. Trotzdem sollte man sich von ihnen fernhalten, wenn man unerwünschte Aufmerksamkeit vermeiden möchte. So wie du.“
    „Was vertreten die da?“, fragte Maja und deutete auf einen Stand, der mit bunten Runen und glitzernden Sternen geschmückt war. Die meisten Menschen machten einen Bogen um diesen.
    „Sie verlangen Magie für alle. Was sie dabei vergessen, ist dass man sehr früh anfangen muss, um Magie zu erlernen. Hat man eine bestimmte Altersgrenze überschritten, ist es vollkommen sinnlos.“
    „Wie früh?“, fragte Maja.
    „Im Alter von vier bis sechs Jahren.“
    „Schade. Es wäre sehr praktisch, wenn ich zaubern lernen könnte.“
    „Das denken sich diese Leute auch. Siehst du, wie die Menschen einen Bogen um diesen Stand machen? Zauberer, selbst solche, die nur Möchtegerne sind, werden in großen Teilen der Bevölkerung gefürchtet.“
    „Und was wollen die dort?“, fragte Maja, plötzlich von einem anderen Stand abgelenkt. Ein Zeichen, ähnlich wie das Yin und Yang Zeichen, allerdings in grün und blau, zierte den Stand. Die Leute dort schienen ihre Sache besonders enthusiastisch zu vertreten und sie strahlten in einem fort.
    „Die wollen die Einheit beider Welten. Mehr Handel, freie Reisen, und so weiter. Aber sie haben ein völlig abgedrehtes Bild von der anderen Welt. Sie glauben, dort ist alles besser. Ich will nicht wissen, was wirklich passiert, sollten deren Forderungen je erfüllt werden. Aber dazu kommt es nicht, es ist physikalisch nicht möglich, wir kennen schließlich nur zwei Tore.“
    „Gibt es in dieser Welt eigentlich so was wie Religionen?“, fragte Maja.
    „Wir brauchen keine Religionen, wir haben Magie um uns zu erklären, was wir nicht verstehen. Obwohl ... wahrscheinlich ist dann diese unsere Religion. Auf eine Art und Weise.“
    Sie waren an einem großen Platz angekommen, an dem das Treiben besonders bunt war. In seiner Mitte stand eine große Statue aus Bronze.
    „Das ist Tamira, noble Patronin dieses Festes“, erzählte Tamor. „Ich muss in dieser Stadt etwas erledigen, ihr könnt unterdessen ein wenig über das Fest gehen. Wir treffen uns bei Anbruch der Dunkelheit hier wieder.“
    Maja schaute zu der Statue hoch. Tamira hatte offenes, langes Haar und ein herzförmiges Gesicht. Sie trug eine Art lange Tunika und Sandalen, außerdem einen Umhang wie auch Maja ihn vor kurzem noch getragen hatte.
    „Kommst du, Maja?“ Das war Jinna, die auf sie wartete. „Die Jungs sind Boot fahren gegangen.“
    Am Rande des Platzes war ein großer Teich auf dem Wettrudern stattfand. Immer zwei Ruderer mussten in einem schmalen Kanu gegen zwei andere antreten. Karim und Matthias hatten sich in die Schlange eingereiht.
    „Kostet das nichts?“, rief Maja als sie und Jinna sich in die Reihen der Zuschauer gesellten.
    „Doch“, sagte Jinna. „Aber Tamor hat uns etwas Geld gegeben.“
    „Ich würde auch gerne mitmachen“, sagte Maja.
    „Das wäre unklug, jemand könnte dich erkennen.“
    „Niemand erkennt mich.“
    Die beiden Jungen waren bald an der Reihe und kletterten ins Boot.
    „Team eins hat das Boot betreten!“, rief ein Mann, dessen laute Stimme über das Wasser zu ihnen herüberhallte. Er beugte sich zu den Jungen herunter und fragte sie nach ihrem Namen. „Karim und Matthias heißen die mutigen Seemänner. Sag mal Karim, bist du dir sicher, dass dein Mitstreiter nicht ein bisschen klein ist? Aber mir soll es recht sein, hier kommen eure Gegner.“
    Zwei Frauen stiegen in das zweite Boot, von jubelnden Rufen einer ganzen Gruppe Frauen begleitet.
    „Es geht los. Eins, zwei, drei!“ Der Mann schlug mit einem Stock gegen eine Art Trommel, was einen lauten Knall verursachte.
    Karim und Matthias legten sich mächtig ins Zeug. Maja und Jinna feuerten sie an, aber gegen die beiden Frauen im anderen Boot, die mit eiserner Entschlossenheit und einwandfreier Technik ruderten, hatten die zwei einfach keine Chance. Und dann kippte auch noch ihr Boot um. Maja und Jinna zogen sie pudelnass aus dem Teich und sorgten dafür, dass sie sich auf einer Wiese in die Sonne legten. Zum Glück war es ein heißer Tag und bald waren die beiden wieder trocken.
    „Ich könnte was zu trinken gebrauchen“, rief Karim.
    Jinna besorgte Saft und die Kinder genossen den Nachmittag auf der Wiese während sie wie viele andere auch den verschiedensten Leuten bei einer Art ‚Hau den Lukas’ zusahen. Sie hatten keine Eile weiter zu kommen, sie wussten, dass sie noch genug Zeit hatten.
    Schließlich entschlossen sie sich dann doch über das Fest zu gehen. Außer den Informationsständen verschiedenster politischer oder auch weniger politischer Ideen gab es eine ganze Reihe Belustigungsstände, zum Beispiel Glücksspiele, Wettkämpfe im Bogenschießen und ein Spiel, bei dem mit Steinen auf Eier geworfen wurde.
    Da Karim und Matthias Boot gefahren waren wollten Maja und Jinna auch etwas machen. Sie entschieden sich für das Bogenschießen. Wer drei Mal hintereinander das Ziel traf gewann einen kleinen Lederbeutel.
    „Na, auch von der Emanzipationsbewegung?“, fragte der Besitzer des Schießstandes. „Die räumen mir heute den ganzen Laden leer. Wollen unbedingt beweisen, dass Frauen auch Bogenschießen können. Als wenn ich je daran gezweifelt hätte.“
    Jinna fing an, aber sie verfehlte das Ziel um Zentimeter. Majas erster Schuss ging voll daneben, sie schaffte es nicht den Pfeil richtig loszulassen. Sie erinnerte sich daran, wie ihr Vater ihr das Bogenschießen beigebracht hatte, als sie sich einmal einen Bogen gebastelt hatte um damit Indianer zu spielen. Natürlich war der Bogen, den sie jetzt in der Hand hielt ein viel besserer. Der nächste Schuss traf fünf Zentimeter neben der Scheibe, der dritte Pfeil saß im Ziel.
    Stolz wie Oskar ging Maja mit den anderen weiter, auch wenn sie keinen Preis gewonnen hatte.
    „Wir hätten fragen sollen, ob Matthias es mit seiner Steinschleuder hätte probieren dürfen“, sagte Jinna gut gelaunt. „Er trifft damit schließlich alles.“ Sie klopfte ihm auf die Schulter.
    Maja fiel auf, dass offenbar nichts so gut vermocht hatte, das Eis zwischen Karim und Jinna und Matthias zu brechen, wie dieses Fest. Die beiden scherzten mit ihm, obwohl er nicht einmal antworten konnte.
    Plötzlich knallte Maja gegen etwas und fiel zur Erde. Gedankenverloren war sie gegen einen Mann gelaufen. Er bot ihr jetzt die Hand und zog sie hoch.
    „Denkst du, die Monarchie steht dieser Welt im Weg, wie ich gerade dir im Weg stand?“, fragte er.
    Maja ignorierte ihn, sie hatte Dringenderes im Kopf, sie konnte die anderen nicht mehr finden.
    „Karim?“, rief sie. „Jinna, Matthias?“ Doch sie waren nicht mehr da.
    Nach etwa zehn Minuten musste Maja sich eingestehen, dass sie die anderen nicht mehr finden würde und machte sich auf den Weg zur Statue von Tamira. An ihrem Sockel blieb sie stehen und sah zu dem großen Gesicht auf. Tamira lächelte freundlich und hatte ihre Augen in die Ferne gerichtet. Es schien, als könnte sie die ganze Stadt überblicken.
    „Da bist du ja. Wir haben uns aufgeteilt um dich zu suchen. Die anderen kommen gleich.“
    Maja wandte den Blick widerwillig von Tamiras Gesicht ab und sah Karim an. Plötzlich sah sie aus dem Augenwinkel etwas auf Tamiras Brust blitzen. Schnell sah sie genauer hin.
    „Karim“, rief sie überrascht. „Sie trägt das Zeichen von Pheris. Sie ist eine Kamiraen.“

  • :hmm: Also ich habe keine Ahnung, was an dem Part seltsam sein soll. Ich finde, du hast das Fest glaubhaft geschildert, auch wenn ich es etwas merkwürdig finde, dass auf einem Fest politische Anhänger Leute zu bequatschen versuchen ^^ Naja, wenn das dazugehört, gehört es eben dazu, schließlich ist das eine ganz andere Welt :)

  • Ja, das meinte ich. Ich finde es halt nicht nur merkwürdig, sondern extrem gaga. Ich hab das halt damals so aufgeschrieben und am liebsten hätte ich es geändert, aber ich ändere schon so viel. Und ich möchte, dass die Geschichte trotzdem dieselbe bleibt. Manches gehört einfach rein, selbst wenn es eigentlich unwichtig ist. So, ich bin heute sehr motiviert. Noch zwei Kapitel, dann habe ich Teil 2 geschafft. Jetzt kommt erst mal ein bisschen Action:


    Die Rauchkugel


    „Was?“
    „Sie ist eine Kamiraen?“
    „Wer denn?“
    „Tamira. Siehst du nicht das Zeichen von Pheris, das sie trägt?“
    „Du meinst, das Teil, was du auch hast.“ Plötzlich leuchteten Karims Augen auf. „Ja, ich sehe es. Komisch, das ist mir vorher gar nicht aufgefallen.“
    „Mir auch nicht“, sagte Maja. Beunruhigt sah sie sich um. Sie hatte mal wieder ein komisches Gefühl, als ob sie jemand beobachtete. Auf dem Platz mit der Statue standen und gingen viele Leute, manche davon waren mittlerweile betrunken. Maja schaute nach oben. Die Dämmerung setzte schon ein und verwandelte den Himmel in ein violett-blaues Dach. Sie setzte sich auf den Sockel der Statue und dachte nach. Sie hatte die Statue einer Kamiraen gefunden. Hielten die Menschen so viel von diesen, dass sie ihnen sogar Statuen widmeten? Warum gab es dieses Fest? Was hatte Tamira getan, dass man sie bewunderte? Maja griff unter ihr Kleid und zog das goldene Amulett hervor. Das Zeichen von Pheris. Würde es irgendwann auch eine Statue von ihr geben? Konnte sie dieser Welt etwas geben, was sie dieser Ehre würdig machte? Maja schaute zu der Statue auf und fühlte sich auf einmal sehr verbunden mit Tamira. Sie gab ihr eine schwer beschreibbare Hoffnung. Auch den Menschen auf diesem Fest gab sie Hoffnung. Sie brachten Ideen hierher, die die meisten für verrückt hielten.
    Auch wir haben eine solche Idee, dachte Maja. Wir haben etwas vor, von dem niemand glaubt, dass wir es schaffen könnten. Und doch sind wir heute, hier auf diesem Fest, entspannter. So blöd die Umstände auch sind, wir haben ein bisschen Spaß. Und neue Hoffnung.
    Plötzlich packte jemand Maja von hinten. Maja wollte schreien, aber die Person hatte ihr die Hand vor den Mund gelegt. Es war eine starke Männerhand. Maja versuchte, hinein zu beißen, aber sie schaffte es nicht. Die zweite Hand des Mannes packte Majas Arme und verdrehte sie hinter ihrem Rücken. Dann zog man sie durch die Menge, weg von der Statue. Majas Augen suchten verzweifelt die von jemand anderem, aber niemand schien zu bemerken, dass hier gerade ein Kind entführt wurde. Der Mann führte Maja auf eine kleine Gasse zu.
    „Maja!“, schrie da plötzlich jemand hinter ihr.
    Karim, dachte sie. Sie rang kurz mit ihrem Entführer und schaffte es, sich umzudrehen. Dabei streifte ihr Blick den Mann, den sie vorher nicht hatte sehen können. Er war ihr unbekannt – aber er trug schwarze Kleidung. Karim versuchte, sie zu erreichen, doch zwei junge Männer packten ihn und hielten ihn fest. Majas Herz verkrampfte sich. Hoffentlich passierte ihm nichts.
    Ihr Entführer schleppte sie in eine Gasse und schleuderte sie gegen die Wand. Maja schrie auf und rappelte sich auf. Sie würde kämpfen. Sie erinnerte sich daran, wie sie in Arels Haus mit dem Besenstiel gekämpft hatte.
    Doch dieses Mal hatte sie keine Chance. Ein harter Schlag ließ sie wieder auf den Boden fallen, der Mann packte sie und band ihre Hände zusammen. Dann richtete er sich auf und blickte zum Anfang der Gasse. Zwei andere kamen keuchend um die Ecke gestürzt. Es waren die, die Karim aufgehalten hatten. Der eine hatte blondes Haar, der andere dunkles. Viel mehr konnte Maja von ihnen nicht erkennen, außer, dass sie beide ziemlich dreckige Hemden trugen.
    „Und, hatten wir recht?“, fragte der eine.
    „Ich weiß es nicht“, antwortete Majas Entführer.
    „Sie hat erkannt, dass Tamira eine Kamiraen war. Zuvor war mir das gar nicht aufgefallen, aber dann sah ich es auch.“
    „Sie hätte es auch von jemand anderem erfahren haben können.“
    „Wie viele wissen davon? Mit Sicherheit nicht viele. Und ihr wisst doch: Die Kamiraen erkennen einander. Wenn sie es gesehen hat, muss sie eine sein.“
    „Wir reden immerhin über eine Statue. Ich habe nie gehört, dass diese Regel bei Statuen funktioniert.“
    „Ich habe nie gehört, dass Tamiras Statue das Zeichen von Pheris trägt.“
    „Es ist nicht einmal das richtige Zeichen. Es ist nur eine Abbildung. Und vielleicht hast du dich verguckt. Ich sehe kein Amulett bei der Statue.“
    „Ich zuerst auch nicht, aber nachdem ich wusste, wonach ich suchte, habe ich es erkannt. Vielleicht, weil ich es von einer Kamiraen erfahren habe?“
    „Schluss jetzt!“, mischte sich der zweite Neuankömmling ein. „Ihr könnt später weiter diskutieren Jetzt müssen wir erst mal sehen, wie wir aus der Stadt heraus kommen.“
    Die drei führten Maja durch die engsten Gassen Ilsters und schafften es zur Stadtmauer zu gelangen, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Jedenfalls keiner, die sich um Majas Schicksal gekümmert hätte oder mutig genug gewesen wäre, ihr zu helfen. Sie hielten Maja immer noch den Mund zu. An der Mauer angekommen wandten sie sich nach rechts, bis sie schließlich an einer kleinen Tür ankamen, einem Seitenausgang. Der Schwarzgekleidete, Maja war sich mittlerweile sicher, dass er zur Schwarzen Garde gehörte, verschwand eine Weile und kam dann mit einem großen Schlüssel wieder.
    „Du bist genial, Gorlo“, sagte der Blonde.
    Gorlo grinste und schloss die Tür auf.

    Die drei führten Maja in den Wald, der kurz hinter der Stadtmauer begann und in dem Tamor Taramos und Penelope zurückgelassen hatte. Maja hoffte, sie würden auf die beiden Halbdrachen treffen, aber sie gingen immer weiter ohne jemandem zu begegnen. Irgendwann wurde es so dunkel, dass Maja kaum noch etwas sehen konnte. Schließlich banden die Männer sie an einen Baum und setzten sich auf den Waldboden um zu beraten.
    Die Zeit verging und die drei redeten und redeten. Sie konnten sich nicht entscheiden, ob Maja eine Kamiraen war oder nicht. Aus irgendeinem Grund waren sie nicht in der Lage das Zeichen von Pheris, das um ihren Hals hing, zu sehen. Deshalb versuchten sie, Maja mit den Bildern von ihr zu vergleichen, die überall herum hingen. Zum Glück hatten sie keines dabei und Majas schwarzes Haar irritierte sie immerhin so sehr, dass keiner mit Sicherheit sagen wollte, dass sie es war.
    „Jetzt reicht es, ich werde Fürst Dreizehn kontaktieren“, sagte Gorlo schließlich.
    Maja konnte gerade noch verhindern, zusammenzuzucken.
    Der Blonde schüttelte den Kopf. „Es kann ewig dauern, wenn wir ihm eine Nachricht schicken und wie will er das Mädchen dann erkennen?“
    „Ich werde ihm keine Nachricht schicken. Ich werde mit ihm sprechen. Wir nutzen diese Möglichkeit nur selten, da sie ein gewisses Risiko birgt.“ Er griff in eine Tasche, die er mit sich herum trug und zog eine große, mit Rauch gefüllte Kugel heraus. „Dreizehn wird sie heute Abend sehen können. Dann weiß er wenigstens, dass ich kein solcher Versager bin wie Seffjo und Knorre“, sagte er geschäftig während er die Kugel auf den Waldboden legte. Er trat einige Schritte zurück und betrachtete sein Werk.
    „Verbindung herstellen“, sagte er schlicht zu der Kugel.
    Mit einem Schlag schien sie vor ihren Augen zu explodieren, dann schoss ein greller Blitz in den Himmel. Maja blinzelte zweimal und sah dann die Kugel etwa einen Meter über dem Waldboden schweben. In ihr wirbelte schwarzer Rauch und eine dicke Säule wuchs kurz über der Kugel scheinbar endlos in den Himmel.
    Hoffentlich sieht jemand den Rauch und rettet mich, dachte Maja und zerrte ein wenig an ihren Fesseln.
    Gorlo schritt in kleinen Schritten um die Kugel herum und blieb dann an einem Punkt links von Maja stehen.
    „Warum rufst du mich auf diese Weise?“, fragte eine Stimme, die Maja an die Stimme eines Versicherungsvertreters erinnerte. Sie schien aus der Kugel zu kommen.
    „Wir glauben, wir haben dieses Mädchen gefunden“, sagte Gorlo. „Maja Sonnfeld.“
    „Dann tötet sie“, sagte die Stimme, so ruhig wie eh und je. Maja zerrte wieder an ihren Fesseln.
    „Wir sind uns nicht sicher, ob sie es wirklich ist. Wenn ja, dann hat sie sich sehr gut verkleidet. Aber sie hat etwas gesagt, das nur eine Kamiraen wissen könnte. Glauben wir“, fügte er unsicher hinz. „Und sie hat das richtige Alter. Deshalb vermuten wir, dass sie es sein könnte. Aber ihr Haar ist schwarz. Wir dachten, wir sollten sicher gehen. Vielleicht könnt Ihr sie erkennen.“
    „Meinst du das wirklich ernst?“, fragte die Stimme genervt.
    „Äh.“ Gorlo schien nicht recht zu wissen, was er darauf antworten sollte.
    „Na schön. Du sprichst von wir“, sagte die Stimme. „Also bist du nicht allein.“
    „Würde ich Euch sonst rufen?“, sagte Gorlo. „Nick und Jeremy, zwei Jungs aus der Stadt sind bei mir.“
    „Meinetwegen.“ Die Stimme wurde noch ein wenig genervter. „Dann zeig mir das Mädchen.“
    Gorlo machte ein Zeichen und der Dunkelhaarige zerschnitt Majas Fesseln. Er zog sie vor die Kugel, an die Stelle, an der Gorlo stand. Maja starrte angstvoll in die Kugel. Sie wusste, dass sich jetzt ihr Schicksal entschied. Wenn Fürst Dreizehn sie erkannte …
    Der Nebel in der Kugel lichtete sich und eine Gestalt erschien darin. Maja starrte gebannt in die Kugel. Wenn sie Dreizehn sehen konnte, konnte er sie sehen, da war sie sicher.
    Plötzlich erschütterte ein Knall den Wald und die Kugel zersplitterte in tausend Stücke. Maja sprang reflexartig zurück, konnte aber nicht verhindern, dass die Glassplitter sie trafen und feine Risse in ihrer Haut hinterließen.
    Die Rauchsäule über der Kugel stürzte zusammen und verhüllte die gesamte Umgebung. Dann strömte der Rauch auf den Punkt zu, an dem vor kurzem noch die Kugel geschwebt hatte. Ein Tosen ertönte, wie die Brandung des Meeres, nur hunderte Male grauenhafter. Etwas zerrte Maja ebenfalls in die Richtung, aber sie konnte dem Sog der zerstörten Kugel widerstehen. Dann wirbelte eine schreiende Person an ihr vorbei und verschwand in dem schwarzen Loch. Es war der Dunkelhaarige. Der Blonde flog jaulend in die Gleiche Richtung und wurde von dem Loch verschluckt. Maja drehte sich um. Gorlo hing hinter ihr an einem Baum, er klammerte sich an einem Ast fest um von der zerstörten Kugel nicht ebenfalls verschluckt zu werden. Maja wusste, dass er es nicht schaffen würde, seine Kräfte würden ihn verlassen und auch er würde verschluckt werden.
    Gorlo wandte den Kopf und sah sie hasserfüllt an. „Du bist eine Kamiraen. Sonst hätte die Kugel dich längst verschluckt. Ich werde sterben, aber wenigstens kann ich dich noch mitnehmen.“ Er ließ los und segelte an Maja vorbei, doch im letzten Moment packte er zu. Maja stürzte und griff nach einer Baumwurzel. Gorlo war schon halb in dem schwarzen Loch verschwunden, doch er hatte sie am Arm gepackt; er wollte sie mit hinein ziehen. Maja trat ihn in die Magengegend. Er stöhnte auf, ließ sie aber nicht los. Ihre Hand rutschte ab.
    „Nein!“, schrie sie und trat noch einmal nach Gorlo. Gleichzeitig riss sie den Arm, den er festhielt, nach oben.
    Gorlo ließ los und im selben Moment konnten Majas Finger sie nicht mehr halten und lösten ihren Griff. Er wurde in den Sog gezogen, sie rutschte ein Stück über die Erde und blieb dann liegen, während sich hinter ihr mit ohrenbetäubendem Krachen das Loch schloss.
    Keuchend lag Maja auf der Erde. Ihre Ohren pfeiften ein bisschen und ihr war übel. Sie blickte auf die Stelle, an der die Männer verschwunden waren. Ein langer Pfeil lag dort. Und eine glänzende, große Kastanie. Maja betrachtete sie, dann streckte sie die Hand danach aus und umschloss sie mit den Fingern. Schließlich blickte sie in die Richtung, in die der Schaft des Pfeiles zeigte. Zwischen zwei großen Kiefern standen Tamor, Karim, Matthias und Jinna, hinter ihnen schwebten zwei große Halbdrachenköpfe. Tamor hielt einen Bogen in der Hand. Er sah aus wie der, mit dem sie am Nachmittag geschossen hatten.
    Maja steckte die Kastanie in die Hosentasche. Dann sackte sie zusammen, die Kraft hatte sie verlassen, sie konnte nicht mehr stehen. Tamor rannte auf sie zu und ergriff ihre Hand.
    „Es tut mir so Leid, Maja“, sagte er. „Ich habe vergessen, was die Rauchkugeln anrichten, wenn man sie zerstört. Als es mir klar wurde … ich … “ Er seufzte. „Zum Glück ist dir nichts passiert.“
    Maja sagte nichts, die Hand in ihrer Tasche umschloss die Kastanie.
    „Die Kugeln verschlingen bei ihrer Zerstörung alle Menschen in ihrer Umgebung. Es ist unglaublich, dass du noch hier stehst.“
    „Das Zeichen von Pheris“, sagte Maja nur. Sie schloss die Augen. „Es hat mich irgendwie geschützt. Gorlo hat gesagt, sie benutzen die Kugeln nur wenn es unbedingt sein muss. Ich nehme an, deswegen.“
    „Unter anderem“, sagte Tamor. „Es gibt aber noch einen viel schlimmeren Grund. Die Kugeln fordern einen Tribut vom Benutzer. Jedes Mal, wenn die Verbindung abbricht, verschlingen sie den, der ihnen am nächsten steht.“
    „Und sie benutzen sie trotzdem?“, rief Maja entsetzt.
    „Nur wenn sie jemanden dabei haben, den sie opfern können.“
    „Mich“, sagte Maja.
    Tamor nickte. „Oder einen der anderen beiden. Komm jetzt, wir müssen uns beeilen. Wir fürchten, dass unsere drei Freunde noch mehr Anhänger hatten. Sie sind uns die ganze Zeit gefolgt, nur mit Hilfe von Taramos und Penelope konnten wir fürs Erste abhauen.“
    „Was meinst du damit, sie hatten noch andere Anhänger?“
    „Grüne Ritter und ein paar Soldaten Dreizehns, sie werden die Explosion der Kugel gesehen haben und sich ungefähr denken können, was passiert ist. Zumindest wenn dieser Gorlo ihnen irgendwie mitgeteilt hat, dass er dich gefangen hat.“ Tamor zog Maja zu Taramos und half ihr, aufzuklettern. Jinna sprang hinter ihr auf dessen Rücken. „Hör zu, Maja. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Grünen wissen, was hier passiert ist. Und sie haben mich gesehen. Taramos und Penelope werden euch jetzt über das Gebirge bringen. Ihr findet Verpflegung und eure Reisekleidung in den Satteltaschen. Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns wieder sehen.“
    „Was meinst du?“, fragte Maja. Sie glaubte auch nicht, dass sie sich wiedersehen würden, aber so, wie er das sagte, klang es, als glaubte er, sterben zu müssen.
    „Taramos“, rief Tamor, „los.“
    Taramos machte einen Senkrechtstart durch das dunkle Blätterdach.
    „Halt dich fest, Maja!“, rief Jinna.
    Maja war noch nicht gesichert. Sie klammerte sich fest und befestigte die Gurte. Unten auf der Lichtung blickte Tamor ihnen nach. Im Gebüsch raschelte es und der erste grüne Ritter trat heraus.
    „Tamor“, zischelte er. „Ich wusste, wir würden dich irgendwann drankriegen."

    Taramos flog direkt nach Westen und machte erst nach ein paar Stunden halt. Die Kinder stiegen sofort ab und legten sich zum Schlafen nieder. Sie fanden tatsächlich alles, was sie brauchten, in den Satteltaschen. Maja war verwirrt. Warum hatte Tamor alles hineingetan? Hatte er geahnt, dass so etwas passieren würde?
    Plötzlich schob Matthias Maja seinen Block unter die Nase. Mach dir keine Sorgen, stand darauf. Er ist Zauberer. Er wird’s schon packen.
    Maja lächelte. Es war nett, dass Matthias sie aufmuntern wollte, aber es funktionierte nicht. Sie drehte sich um und schloss die Augen. Sie war zu erschöpft um nachzudenken.

    Einmal editiert, zuletzt von Dinteyra (5. September 2014 um 14:15)

  • Sonnenaufgang


    Maja erwachte als der Wind eine kleine weiße Feder auf ihre Nase wehte. Ärgerlich wischte sie sie weg, setzte sich auf und starrte in den klaren Nachthimmel. Im Osten setzte schon die Morgendämmerung ein. In dem schwachen Licht konnte Maja die Ausläufer des Dark Forest sehen. Auf der anderen Seite, im Westen, tauchte der Mond die Berge und Taramos‘ schwarze Haut in ein silbriges Licht. Die beiden Halbdrachen hatte ihre vier Reiter am Abend auf dieser Anhöhe abgesetzt und waren allein davon geflogen. Da sie zwei Stunden später mit kugelrunden Bäuchen zurückgekehrt waren, vermutete Maja, dass sie gejagt hatten. Sie war sehr dankbar, dass Taramos und Penelope sie zuvor abgesetzt hatten, die Flugmanöver, die sie auf der Jagd vermutlich gemacht hatten, wollte sie sich gar nicht vorstellen.
    Sie kuschelte sich wieder in ihren Schlafsack und starrte zum Mond hinauf. Er war genau so wie in ihrer Welt, er brachte ein Stückchen Heimat zu ihr. Wenn sie ihn ansah, war es als wäre sie wieder zuhause, dort hatte sie oft im Garten gelegen, den Mond angeschaut und die Sterne gezählt. Aber die Sonne hier war bleicher als zuhause und es schien, als wäre sie weiter weg.
    Plötzlich verdeckte ein dunkler Schatten den Mond. Maja sprang auf aber der Schatten war schon am Mond vorbeigezogen und in dessen Schein konnte Maja das Wesen betrachten. Es hatte riesige Flügel und rot-golden schimmernde Schuppen.
    Das Wesen schoss genau über den Hügel, auf dem Maja stand, hinweg und sie sah den riesigen Kopf und ein großes, kluges Auge. Es schien als würde es ihr zuzwinkern, dann flog es mit ein paar kräftigen Flügelschlägen auf den Horizont zu und ließ eine vor Aufregung zitternde Maja zurück. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie dem Wesen hinterher sah. Hatte sie einen Drachen gesehen? Noch einen Flügelschlag und es verschwand am Horizont. Genau in diesem Moment ging die Sonne auf und ein kräftiger Windstoß fuhr Maja ins Gesicht und wehte ihre Haare nach hinten.
    Plötzlich schien alles in goldenes Licht getaucht zu werden, das Gras unter Majas Füßen, die Berge in ihrem Rücken und selbst Taramos schimmerte nicht mehr silbern im Mondschein sondern golden und rot im Licht der aufgehenden Sonne, genau wie das Drachenwesen, das Maja gesehen hatte.
    Der Himmel verfärbte sich blutrot und die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages verwandelten den See, den sie am Nachmittag überflogen hatten in ein Meer aus Gold.
    Maja stand vor Staunen der Mund offen. Sie hatte noch nie einen so schönen Sonnenaufgang gesehen, vor allem nicht in dieser Welt, wo ihr die Sonne immer irgendwie grau vorkam.
    „Wahnsinn!“, rief jemand hinter Maja. „Das ganze Reich ist in Gold getaucht.“ Maja drehte sich um. Hinter ihr stand Karim und sah auf die Hügel vor ihnen und auf die Ausläufer des Dark Forest dahinter. Die Sonne spiegelte sich in seinen Augen.
    „Karim!“, rief sie. „Ich habe einen Drachen gesehen.“
    „Was?“ Karim sah sie verdattert an.
    „Ich hab einen Drachen gesehen. Er war riesig, rot und golden, wie der Sonnenaufgang.“
    Karim blickte sie immer noch ungläubig an und sein Gesicht zeigte eine Mischung aus Entsetzen und Besorgnis.
    „Was ist?“, fragte Maja.
    Karim legte ihr die Hand auf die Schulter. „Nimm es nicht zu schwer“, sagte er. „Aber es gibt keine Drachen.“
    „Was?“ Maja lachte. „Karim wir stehen vor einem Halbdrachen. Red keinen Blödsinn.“
    „Es ist wahr. Der letzte Drache wurde vor vielen Jahren von Menwy Drachentod getötet.“
    „Ich hab mir den Drachen doch nicht eingebildet.“ Maja schluckte einen gewaltigen Kloß in ihrem Hals herunter. „Ich erkenne doch einen Drachen wenn ich ihn sehe. Ich meine ... ich hab zwar noch nie einen gesehen, aber es ist allgemein bekannt, wie sie aussehen, oder? Es war wirklich ein Drache. Es war kein Halbdrache und auch sonst nichts.“
    „Maja vielleicht hast du nur geträumt.“
    „Ich habe nicht geträumt“, fauchte Maja, etwas heftiger als nötig. Die Ereignisse der letzten Tage hatten sie reichlich mitgenommen.
    Karim wandte den Blick ab. „Was soll's. Ich geh wieder schlafen“, sagte er.
    Maja sah ihm zu, wie er in den Schlafsack kroch und sich wegdrehte dann drehte auch sie sich um und betrachtete den Sonnenaufgang.
    „Ich hab noch nie einen so schönen Sonnenaufgang gesehen“, sagte Jinna hinter ihr. Sie war also auch wach. „Und ich finde Sonnenaufgänge sind das schönste, was es gibt.“
    „Ich finde Sonnenuntergänge schöner“, sagte Maja. „Bei uns sind sie das auch. Besonders am Meer. Aber ich gebe zu, dass das hier schon etwas Besonderes ist.“
    „Ich lebe am Meer“, sagte Jinna. „Aber ich finde Sonnenuntergänge beängstigend. Der Tag verschwindet und danach kommt nur noch die Dunkelheit. Es ist unheimlich.“
    Maja sagte nichts. Sie mochte die Dunkelheit, sie war so still und beruhigend. Die Dunkelheit verschluckte alles Grelle und ließ einen ruhig werden. Aus demselben Grund mochte Maja auch den Schnee. Er machte die Welt leiser, verschluckte die lauten Töne und den Lärm der Straßen. Die Nacht und der Schnee ließen die Welt eine Weile ruhen. Und am nächsten Tag ging die Sonne wieder auf und alles bekam neue Energie.
    Maja konnte nicht mehr schlafen und so betrachtete sie den Sonnenaufgang bis die anderen schließlich aufstanden. Sie dachte über den Drachen nach. War er wirklich nur ein Traum gewesen? Wurde sie denn langsam verrückt in dieser seltsamen Welt in der es Wassergeister und Einhörner, aber keine Drachen gab?
    „Hey Träumerchen.“ Jinna stupste sie an. „Mach mal Frühstück fertig.“
    Maja holte einen Laib Brot aus ihrem Rucksack und begann, Scheiben davon abzuschneiden, die sie mit würzigen Wurstscheiben belegte.
    Nach dem Frühstück kletterten sie wieder auf die beiden Halbdrachen. Jinna schlang ihre Arme um Majas Taille und diese klammerte sich an Taramos Hals. Dann gab sie das Zeichen zum Abheben und Taramos katapultierte sich mit zwei mächtigen Flügelschlägen in den tiefblauen Himmel. Maja blickte an seinen schuppigen Flügeln vorbei und sah Penelope unter ihnen ebenfalls abheben. Ihre schlanken Beinchen schmiegten sich seitlich an ihren Körper und ihre Flügel bewegten sich gleichmäßig wie die eines Adlers. Der Drache war anders geflogen, seine kräftigen Flügel hatten noch weniger schlagen müssen und seine Beine waren nicht spindeldürr gewesen, wie die der Halbdrachen, sondern kräftig und sie endeten in mächtigen Pranken.
    Außerdem war der Drache schneller geflogen, viel schneller.
    Maja schreckte auf, als vor ihr plötzlich der erste wirkliche Berg auftauchte. Es war kein grasbewachsener Hügel mehr, sondern ein grauer, felsiger Berg. Taramos schlug schneller mit den Flügeln und stieg höher in den Himmel, dann segelte er knapp an der Bergspitze vorbei.
    Hinter Maja sog Jinna pfeifend die Luft ein, als vor ihnen ein wahrer Wald aus Bergen auftauchte, die meisten davon höher als dass sie sie überfliegen konnten. Taramos lehnte sich in eine Kurve um an dem nächsten vorbeizuziehen und stieg noch ein Stück höher. Maja konnte unter ihnen ein mit Nadelbäumen bewachsenes Tal sehen. Sie drehte sich noch einmal um und sah auf das ebene Land zurück. Dann überflog Taramos den nächsten Gipfel und Maja verlor es aus den Augen. Rundherum waren nun nur noch steinige Felsen. Sie hatten das Große Gebirge erreicht und das Reich des Großkönigs endgültig hinter sich gelassen.

    Maja griff in die Tasche und berührte die Kastanie, die seit dem gestrigen Abend darin lag. Sie wollte sie von jetzt an bei sich tragen, aber sie sagte den anderen nichts davon, denn die würden vermutlich glauben, dass sie gefährlich war. Ein Stück schwarzer Magie. Für Maja war es eine Erinnerung. Eine Erinnerung daran, was Dreizehn getan hatte, was er immer noch tat. Gorlo, Nick und Jeremy waren böse Menschen gewesen, aber trotzdem. Was ihnen zugestoßen war, ging Maja nicht mehr aus dem Kopf. Es machte sie fertig. Und die Kastanie war das einzige, was von ihnen übrig war. Maja trauerte nicht um sie, das zu behaupten wäre übertrieben gewesen. Aber es waren die ersten, die sie hatte ... Nein, Maja sperrte sich dagegen, zu denken, dass die drei tot waren. Sie waren in diesem Loch verschwunden, aber ... sie wusste nicht, was sie denken sollte. Sie war verwirrt und sie spürte eine lodernde Wut auf Fürst Dreizehn. Auf den Mann, der von seinen Dienern verlangte, diese Kugeln zu benutzen, Kugeln die bei jeder Verwendung ein Menschenleben forderten.
    Und er ließ all diese Leute entführen. Karims und Jinnas Verlust ihrer Mutter war immer so unwirklich gewesen. Maja hatte diese nie getroffen und Karim und Jinna erschienen trotz dieser Geschichte oft so unbeschwert. Nur manchmal merkte man, wie gereizt sie waren, wie sehr das alles an ihren Nerven zehrte und manchmal hörte Maja Jinna nachts weinen und Karim leise schniefen. Dann wusste sie, dass alles, was sie tagsüber zeigten, nur eine Fassade war. Aufgebaut für alle anderen, am meisten aber für sich selbst.
    Sie selbst weinte auch nachts. In diesen Phasen, in denen ihr Glaube, dass das alles hier ein Traum war, bröckelte. Wenn sie an ihr Zuhause dachte und daran, wie schrecklich sie in der Klemme steckte. Wie unfair das alles doch war. Und alles nur wegen Fürst Dreizehn.
    „Was willst du von mir, Dreizehn?“, flüsterte sie. Sie wusste, dass Jinna sie über den Flugwind nicht hören konnte. „Du versuchst verzweifelt, mich zu finden, Dreizehn. Warum? Kann ich dir gefährlich werden? Ich bin eine Kamiraen. Man hat den Kamiraen Statuen gewidmet. Was bin ich?“

    3 Mal editiert, zuletzt von Dinteyra (14. Oktober 2014 um 15:01)

  • Hey, was ist denn los? Ich hab Formsachen gefunden ;)

    Formsachen

    @67

    Zitat

    In ihr wirbelte schwarzer Rauch und eine dicke Säule dieses wuchs kurz über der Kugel scheinbar endlos in den Himmel


    Ich glaube, das Wort ist zuviel

    Zitat

    Aber sie hat etwas gesagt, das nur eine Kamiraen wissen können.


    könnte

    Zitat

    Gorlo ließ los und Maja ließ los.


    Wiederholung

    Zitat

    „Ich wusste, wir würden dich irgendwann drankriegen.


    Da fehlen die " am Ende

    @68

    Zitat

    Wenn sie ihn ansah, war es als wäre sie wieder zuhause, dort hatte sie oft im Garten gelegen, den Mond angeschaut und die Sterne gezählt. Aber die Sonne hier war bleicher als Zuhause und es schien, als wäre sie weiter weg.


    Ich hab im Duden nachgesehen, wie man es schreibt, nur leider werde ich gerade nicht schlau drauß, besonders, weil das letzte Beispiel zur Kleinschreibung (fast) identisch mit dem ersten Beispiel zur Großschreibung ist :wacko:
    Duden

    Zitat

    Aber ich gebe zu, dass das hier schon etwas besonderes ist.“


    groß

    :hmm: in der Rauchkugelszene hast du bei mir einige Fragen zur Logik aufgeworfen. Du sagst, wenn die Kugel zerstört wird, saugt sie alle umstehenden Menschen auf. Dass Maja verschont geblieben ist, ist nachvollziehbar, aber wieso auch Tamor, Karim, Jinna und Matthias? Waren die hinter den Bäumen in Sicherheit oder einfach nur außer Reichweite? :huh:

    Dann ist mir noch aufgefallen, dass die beiden Halbdrachen in der Pause gar nichts zu essen bekommen ;( Eigentlich eine Nebensächlichkeit, aber irgendwie glaub ich nicht, dass die Halbdrachen nur landen, um ihren Reitern eine Pause zu gönnen.

    Die Sonnenaufgangsszene fand ich schön :love: Gibt der ganzen Geschichte und den Protagonisten viel mehr Tiefe :thumbsup: Vermutlich ist das die Ruhe vor dem Sturm 8)

  • Alopex Lagopus: Ups ... Danke ^^ . Keine Ahnung, was mit mir los war, vielleicht war es schon etwas zu spät. Oder ich war zu sehr damit beschäftigt, die Wörter "rot" und "gold" ungefähr aus jedem Satz in der Sonnenuntergangsszene zu streichen, das zermürbt.
    Tamor, Karim, Jinna und Matthias waren knapp außerhalb der Reichweite der Rauchkugel, zum Glück haben sie diese mit einem Pfeil zerstört.

    Die Halbdrachen brauchen Essen. :patsch::dash:;(
    Hab ich ganz vergessen. :blush: Ich werd mal schauen, ob ich da noch was einbauen kann, bis dahin kannst du einfach davon ausgehen, dass sie am Vorabend gefüttert wurden, oder sich in der Nacht etwas gejagt haben. Sind so oder so eher nachtaktiv. Und jagen müssen sie, (bis auf Leckerli vielleicht) selbst, ich glaube nicht, dass sie zusätzlich zu ihren Passagieren noch viel Fleisch tragen können. Ich bau das noch irgendwie ein.

  • Boah bist du fleißig gewesen! 8| Drei hammerlange Teile in drei Tagen ... Respekt!
    Langsam verdichten sich die Hinweise, dass Maja in der anderen Welt selbst als Kamiraen etwas Besonderes ist. Ich hoffe, wir erfahren noch etwas mehr über "Kamiraen ". Die Geschichte wird immer phantastischer, ich bin sehr gespannt, was da noch alles kommen wird. :thumbsup:

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

  • Teil 3


    Rückkehr der Versager


    „Sie sind wieder zurück.“
    Der Mann, der diese Meldung gemacht hatte zog den Kopf schnell wieder aus dem Türspalt als Fürst Dreizehn aufstand und auf die Tür zuschritt. Der Fürst ließ sich nicht anmerken, was er dachte; sein Gesicht blieb vollkommen ausdruckslos als er sich an dem Boten vorbei durch die Tür schob.
    „Werdet Ihr sie im Thronsaal empfangen?“, fragte dieser unsicher.
    Dreizehn würdigte ihn nicht einmal einer Antwort. Im Stillen erwog er diese Möglichkeit kurz, bevor er sie verwarf. Ein Empfang im Thronsaal mochte stilvoll und Ehrfurcht gebietend wirken, doch er musste niemandem seine Macht demonstrieren. Abgesehen davon war der Thronsaal im neunten Stock und der Bericht, den er erwartete, war den Aufstieg nicht wert. Das Empfangszimmer im dritten Stock, der Ort an dem die beiden vermutlich bereits auf ihn warteten, war für diesen Zweck völlig ausreichend.
    Noch einen Flur entlang, links die Treppe hinunter und durch die Tür in einen kleinen aber hohen Raum. Er schnaubte unwillkürlich als er die jämmerlichen Gestalten vor sich stehen sah. Ihre schwarzen Mäntel waren zerrissen, die Stiefel dreckig und dunkle, modrige Blätter hingen den beiden im Haar.
    Mit einem verächtlichen Blick auf die Männer schritt er zwischen ihnen hindurch und setzte sich auf einen Stuhl an der Wand. Er nahm eine bequeme Haltung ein, legte die Ellbogen auf den Armlehnen ab, verschränkte die Finger und atmete tief durch.
    „Was ist denn mit euch passiert?“, fragte er betont freundlich und nahm einen dornenbesetzten Ast ins Auge, der sich im Hosenbein des einen verheddert hatte.
    Die zwei blickten beunruhigt an sich herunter.
    „Auf dem Schwarzen Weg hat uns etwas angegriffen“, sagte der linke von ihnen, der von den meisten einfach nur Knorre genannt wurde. Er hatte dunkles Haar und seine Gesichtsbehaarung erweckte den Anschein als könne er nur stümperhaft mit einer Rasierklinge umgehen. In Wahrheit beherrschte er sie meisterlich, er steckte sie bloß lieber in anderer Leute Rippen, als dass er damit seinen Bart stutzte. Der Mann neben ihm, Seffjo genannt, war ein wahrer Hühne was einige zu dem Fehlschluss verführte, mit seinem Grips könne es nicht allzu weit her sein. Auch das stellte sich meist als fataler Irrtum heraus. Was nicht bedeutete, dass er nicht manchmal bemerkenswert unfähig sein konnte. So wie jetzt.
    „Werdet ihr jetzt nicht mal mehr mit Quayax fertig?“, fragte Dreizehn genervt.
    „Oh“, sagte Knorre, „er ist ganz schön gewachsen in letzter Zeit.“
    „An Quayax wächst überhaupt nichts“, erwiderte Dreizehn. Dann sah er die beiden gespannt an und wartete darauf, dass sie Bericht erstatteten. „Und?“, fragte er ungeduldig, nachdem lange keine Antwort kam, „habt ihr den Auftrag erledigt?“ Die beiden schwiegen weiter, die Köpfe gesenkt, den Blick auf ihre Schuhspitzen gerichtet. Eine Welle der Enttäuschung überrollte Dreizehn. „Ihr habt sie verloren“, sagte er. Es war eine Feststellung. Eine Feststellung die ihn wütend machte. „Was kann man eigentlich noch falsch machen?“, zischte er und ballte die Hand zur Faust. Dann streckte er die Finger wieder und atmete tief ein und aus, bemüht, seine Beherrschung wieder zu erlangen. „Ihr solltet ein dreizehnjähriges Mädchen zu mir bringen“, erklärte er schließlich leise. „Ihr gehört zur schwarzen Garde, überall fürchtet man euch. Und ihr schafft es nicht ein Kind zu entführen? Oder wenigstens aus dem Weg zu räumen?“
    „Sie ist immerhin eine Kamiraen.“
    „Sie ist ein Kind. Ihr werdet nicht einmal mit einem kleinen Mädchen fertig.“
    „So klein ist sie nicht. Und diese Tabea war bei ihr. Wenn sie nicht ...“
    „Und? Ist es von meiner Spezialtruppe etwa zu viel verlangt, diese nervtötende Frau einfach umzubringen? Muss ich erst losziehen und sie selbst erledigen?“ Er hob seine Stimme nicht, aber seine Augen blitzten gefährlich.
    Knorre und Seffjo senkten wieder den Kopf. Dreizehn stand auf und baute sich mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihnen auf. Dann wartete er, bis sie ihn wieder ansahen. Knorre konnte er genau in die Augen blicken, aber Seffjo reichte er nicht einmal bis zum Kinn.
    „Ich bin enttäuscht. Ihr könnt das eigentlich besser und beim nächsten Mal werdet ihr es mir beweisen. Sonst könnte ich auf die Idee kommen, dass es weniger aufwendig ist, zwei neue Trottel für meine Garde auszubilden, als mich weiterhin mit euch herumzuplagen. Ich könnte auf die Idee kommen, dass ihr nur noch als Halbdrachenfutter taugt. Verstanden?“
    Seffjo nickte knapp, Knorre starrte Dreizehn einen Moment mit angsterfülltem Blick an. Dann nickte er heftig mit dem Kopf.
    „Dann geht mir aus den Augen.“
    Wieder nickten die beiden und eilten zur Tür. Als sie dort ankamen drehte Seffjo sich noch einmal um. Offenbar in einem verzweifelten Versuch, seine Ehre zu retten, sagte er: „Wir haben Maja Sonnfelds Spur verloren aber wir sind nicht die einzigen. Tabea weiß auch nicht mehr, wo sie ist.“
    Fürst Dreizehn hob die Hand um ihm zu bedeuten, dass er bleiben sollte. „Was meinst du?“
    „Bei dem Versuch, Maja zu fassen, wurden wir gefangen genommen. Wir konnten uns befreien“, bei diesen Worten schwoll ihm kaum merklich die Brust, „und haben ein bisschen nachgeforscht. Offenbar hat das Mädchen Tabea verlassen und ist mit ein paar anderen Kindern weiter gereist. Und es klang nicht so, als wäre Tabea freiwillig zurückgeblieben.“
    „Willst du sagen, Maja Sonnfeld ist vor Tabea abgehauen?“
    Seffjo zuckte mit den Schultern. „So was in der Art, ja.“
    Mit einem Mal verzogen sich Dreizehns Mundwinkel zu einem schmalen Lächeln. „Sie will zurück. Schickt Leute zu ihrem Zuhause, sie sollen Tag und Nacht nach Maja Ausschau halten. Und zieht euch um. Ach ja, wo sind die anderen drei?“
    „Wissen wir nicht.“
    Dreizehn verdrehte die Augen. „Vermutlich haben sie sich genau so dämlich angestellt wie ihr“, sagte er. „Wenn sie hier auftauchen schickt sie zu mir. Und für euch beide habe ich später auch noch einen Auftrag. Und wehe ihr stellt euch wieder so blöd an.“
    Die beiden nickten und starrten auf ihre Schuhe, als wären sie Schuljungen. Fürst Dreizehn schickte sie mit einer Handbewegung hinaus. Sie bekamen es nicht mit, sie starrten immer noch ihre Schnürsenkel an, als würden diese plötzlich wachsen.
    „Raus hier“, fauchte Dreizehn. „Und zieht euch was anderes an.“

    Als sie draußen waren war der Raum leer mit Ausnahme des Stuhls auf dem er gesessen hatte. Fürst Dreizehn ballte die Hand wieder zur Faust. Er musste die Kamiraen vernichten, er musste einfach.
    Es war nichts Persönliches, aber sie störten seinen Plan und wenn sie sich weiterhin einmischten konnten sie zu einer echten Bedrohung für ihn werden. Er begann, mit schnellen Schritten um den Stuhl herumzugehen. Doch, es war persönlich. Sehr sogar. Es war eine uralte Geschichte und mit jedem Jahrhundert, das ihre Gemeinschaft überdauerte, wuchsen sein Hass und seine Wut auf sie. Er wollte sie endlich vernichten, sie für alle Zeit von dieser Erde tilgen. Und seine Chancen waren groß wie nie.
    Er stoppte abrupt als es an der Tür klopfte. Herein kam eine kleine, schlanke Frau mit einem hübschen Gesicht unter einer dicken Schicht Schminke. Sie hatte dunkles Haar und grüne Augen, die ihn unter schweren Lidern aufmerksam betrachteten. Die Frau hieß Lil. Mit ihren schwarz umrahmten Augen sah sie schön und geheimnisvoll aus, aber sie hätte die Schminke nicht gebraucht um geheimnisvoll zu wirken.
    Lil war Zauberin mit dem Spezialgebiet Wahrsagerei. Ein kompliziertes Gebiet, das allen Gesetzen der Logik zufolge nicht einmal existieren sollte. Sie war Fürst Dreizehns engste Vertraute, sie fungierte als Beraterin und war in viele seiner Geheimnisse eingeweiht. Natürlich nicht in alle, denn seine tiefsten und dunkelsten Geheimnisse teilte er mit niemandem.
    „Ihr seid zornig“, stellte sie fest.
    Dreizehn antwortete nicht.
    „Ihr solltet Euch nicht so sehr auf die Jagd nach den Kamiraen versteifen“, riet Lil. „Wir haben wichtigere Pläne.“
    „Mag sein, aber die Gelegenheit war günstig. Bewohner der anderen Welt sind so verblüffend leicht ausfindig zu machen. Ein paar Computer hacken, ein paar Beamte bestechen oder bedrohen ... Aber ich hätte mir denken können, dass meine Garde es vermasselt. Und jetzt ist Maja Sonnfeld hier irgendwo in dieser Welt. Sie noch zu finden wird schwer.“
    „Macht es ihnen nicht zum Vorwurf. Ihr wisst selbst, wie schwer es ist, eine Kamiraen zu töten.“
    „Natürlich mache ich es ihnen zum Vorwurf. Davon abgesehen ist es lächerlich einfach, eine Kamiraen zu töten. Gerade eine so junge. Wahrscheinlich hatte sie einfach bloß Glück.“
    „Und Tabea auf ihrer Seite.“
    „Tabea!“ Fürst Dreizehn spuckte den Namen förmlich aus. „Irgendwann werde ich sie mir persönlich vorknöpfen.“
    Sie schwiegen eine Weile, in der Dreizehn missgelaunt den Stuhl musterte.
    „Maja werde ich nicht mehr kriegen“, sagte er schließlich, „es sei denn, sie schafft es tatsächlich zurück in die andere Welt. Aber solange nicht einmal die Kamiraen wissen, wo sie ist ... diese Welt ist zu groß. Sie zu finden wäre Zufall. Wobei ... Gorlo hat in Ilster ein Mädchen gefunden, von dem er glaubte, dass sie es war. Ich hielt das für unwahrscheinlich, weil ich Maja bei Tabea vermutete, aber wenn ich jetzt darüber nachdenke könnte sie es tatsächlich gewesen sein. Gorlos Rauchkugel wurde leider zerstört bevor ich sie sehen konnte. Er ist jetzt wohl tot.“
    „Dann ist das Mädchen es auch.“
    Dreizehn neigte den Kopf. „Vielleicht. Wenn sie Maja Sonnfeld war vielleicht auch nicht.“
    „Ihr meint, sie kann das überlebt haben?“
    „Ich bin überzeugt davon. Aber es hilft uns nicht weiter, sie wird nicht mehr in Illster sein. Falls sie jemals dort war. Ich kann mir aber auch nicht vorstellen, wo sie sonst sein sollte. Und da sie wohl nicht so dumm sein wird, mir direkt in die Arme zu laufen, bleibt mir nichts anderes, als mir einen neuen Plan zu überlegen.“
    „Was für einen Plan?“
    „Einen Plan, die Kamiraen endgültig und für alle Zeit zu vernichten. Ihr Ende naht. Komm mit.“

    Er stand auf und verließ den Raum. Zügig schritt er durch mehrere Korridore und erreichte schon bald eine breite Wendeltreppe. Lil folgte ihm sechs Stockwerke hinauf bis in den großen Thronsaal. Als sie endlich dort ankamen, rang sie nach Atem, während Fürst Dreizehn nicht einmal ein Schweißtropfen auf der Stirn stand.
    Der Thronsaal war ein riesiger Raum mit dunklen Wänden, einer großen Tür und einem noch größeren Fenster. Von der Tür aus führte ein breiter, samtig-grüner Teppich zu einer Stufe, auf der ein schwarz-grün-goldener Thron stand.
    Ansonsten gab es nur noch vier Möbelstücke im Raum: einen kleinen, quadratischen Tisch, zwei Stühle und eine große Truhe. Dreizehn bedeutete Lil, stehen zu bleiben, während er auf die Truhe zu ging und sie öffnete. Nach einigem Stöbern zog er eine Pergamentrolle heraus. Erst als er sie auf dem Tisch ausgebreitet hatte, winkte er Lil herbei. Das Pergament zeigte mehrere immer größer werdende Ringe, ähnlich den Jahresringen eines Baumes. In jedem dieser Ringe standen in verschlungenen Buchstaben Namen.
    Lil stockte hörbar der Atem.
    „Wo habt Ihr das her?“, fragte sie. „Das ist ein machtvoller magischer Gegenstand, ich wusste nicht, dass so etwas überhaupt möglich ist.“
    „Eine mächtige Hexe hat mir geholfen, es herzustellen.“
    „Eine Hexe?“
    Er nickte. Lil sah einen Moment aus, als wollte sie weitere Fragen stellen, doch dann unterließ sie es klugerweise. Dreizehn zeigte auf einen der Namen.
    „Sie wird unser nächstes Ziel“, sagte er. „Du kannst es Knorre und Seffjo mitteilen. Und sag ihnen, sie sollen bloß nichts überstürzen.“
    „Das ist Euer großer Plan?", fragte Lil skeptisch. „Angenommen, sie schaffen es, sie zu töten, was dann?“
    „Dann bin ich einen Schritt näher am Ziel.“
    Die Zauberin hob die Augenbrauen. „Das sind Spekulationen, nichts weiter.“
    „Muss ich dich daran erinnern, dass ein großer Teil davon deine Spekulationen sind?“
    „Nein, das ist mir bekannt. Mich beunruhigt einfach, dass Ihr euch so sehr davon beeinflussen lasst. Was, wenn die Sache einen Haken hat?“
    „Hast du etwa einen besseren Plan?“
    „Ihr könntet Euch auf dringendere Angelegenheiten konzentrieren.“
    „Gut.“ Dreizehn rollte das Pergament wieder zusammen. „Welche?“
    „In der Stadt wurde schon wieder ein roter Pullover gesichtet.“
    Dreizehn verzog das Gesicht. Ihm war klar, dass Lil davon beunruhigt wurde, sie war immerzu besorgt um ihn. Ihn selbst langweilten diese Neuigkeiten eher.
    „Das ist das dritte Mal in einem halben Jahr. Wir sollten endlich die Häuser durchsuchen lassen“, fuhr Lil fort.
    „Das wird nichts bringen. Wer immer dafür verantwortlich ist, wird dafür sorgen, dass es keine Beweise gibt.“
    „Es gibt immer Beweise.“
    „Nein. In diesem Fall nicht, weil wir es mit einem Schwarzmagier zu tun haben. Für sie ist es einfach, die Farbe eines Kleidungsstückes zu verändern.“
    „In dem Fall wäre es noch beunruhigender. Das bestätigt, was wir schon lange vermuten. Die Schwarzmagier intrigieren gegen Euch. Und Ihr schaut zu und lacht auch noch darüber. Wir haben es hier mit mächtigen Magiern zu tun und sie wollen Euch stürzen. Sie wollen die Macht. Ich mache mir wirklich Sorgen.“
    „Dazu besteht kein Anlass. Die Schwarzmagier beunruhigen mich nicht. Im Gegenteil, sollen sie doch versuchen, mich zu stürzen. Es wird ohnehin Zeit, ein Exempel zu statuieren.“
    „Ihr glaubt wirklich, ihr könntet es mit einem Zirkel schwarzer Magier aufnehmen?“, fragte Lil ungläubig.
    „Ja.“
    „Aber vor den Kamiraen fürchtet ihr euch? Das ist widersinnig.“
    Dreizehn wirbelte herum und funkelte sie zornig an. „Ich fürchte mich nicht vor den Kamiraen“, zischte er. „Ich will sie vom Antlitz dieses Planeten tilgen, das ist ein Unterschied.“
    „Wäre es nicht dringender, die Schwarzmagier vom Antlitz des Planeten zu tilgen?“
    „Nein. Sie sind wie ein Haufen Ratten in einem Käfig. Ein wenig abstoßend, aber im Großen und Ganzen interessant zu beobachten. Und damit beenden wir dieses Gespräch, ich habe keine Geduld für deine Widerworte. Du tätest gut, dich ab und an daran zu erinnern, wer ich bin.“
    Sie verzog beleidigt den Mund. „Ich mache mir halt Sorgen um Euch.“
    „Ich brauche dich nicht damit du dir Sorgen machst. Ich brauche dich, damit du mir die Zukunft entschlüsselst.“ Er drückte ihr das Pergament in die Hand. „Ich nehme an, das kannst du dafür gebrauchen?“
    Lil nahm es vorsichtig entgegen. „Ich fühle mich geehrt. Aber bevor ich gehe, muss ich noch eine Frage stellen: Habt Ihr den Sonnenaufgang vor zwei Tagen gesehen?“
    Fürst Dreizehns Miene verdunkelte sich augenblicklich. Er nickte.
    Lil verlagerte nervös das Gewicht auf ihren linken Fuß. „Es gibt Gerüchte, ein Drache sei über Ostland geflogen“, sagte sie.
    Dreizehn schnaubte. „Ostland?“, sagte er verächtlich. „Du nennst es so? Eine uralte Bezeichnung. Alt wie die Drachen. Aber ihre Zeit ist vorbei; sie sollten das wissen.“
    „Scheinbar wissen sie es nicht. Seit Jahrhunderten hat man keine Drachen mehr gesehen und jetzt fliegt einer von ihnen über Ostland. Viele Menschen sehen es als ein Zeichen an. Die einen als hoffnungsvolles, die anderen als eines drohenden Unheils. Was denkt ihr?“
    Dreizehn dachte einen Moment nach. „Es ist ein Zeichen“, sagte er schließlich.
    „Wofür?“
    „Es wird Zeit zu handeln.“

    Einmal editiert, zuletzt von Dinteyra (15. Oktober 2014 um 17:49)

  • Zitat

    Es war nichts Persönliches, aber sie störten seinen Plan und wenn sie sich weiterhin einmischten konnten _ zu einer echten Bedrohung für ihn werden.


    + sie

    Die Kamiraen scheinen für Dreizehn nicht so gefährlich zu sein, wie die Schwarzmagier, trotzdem fokussiert er all seine Kraft auf sie. Ich denke, da steckt eine alte Rechnung hinter. Vielleicht sollte er ja selber einer werden - gegen seinen Willen, so wie Maja. Bin mal gespannt, was da rasukommt :thumbsup:

  • Ah, der erste Auftritt des Antagonisten :thumbsup: . Sehr gelungen! Ich bin gespannt, wie sich sein Hass auf die Kamiraen erklärt und überhaupt, wie es hier weitergeht :D .

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

  • So, es geht weiter. Was jetzt kommt ist eines der ältesten Kapitel, die ich je für diese Geschichte geschrieben habe. Ganz am Anfang sah sie nämlich noch ganz anders aus, aber dieses Kapitel war schon drin. Es könnte sogar wirklich das älteste sein, so sicher bin ich mir nicht, auf jeden Fall ist es das älteste, das noch drin ist. Leider merkt man das auch ein bisschen. Ich habe ziemlich lange gebraucht um die logischen Fehler auszubügeln, mehr als die Hälfte habe ich praktisch noch mal neu geschrieben. Die Grundhandlung ist aber geblieben. Ich hoffe, dass es so, wie es jetzt ist, Sinn macht, auch wenn es noch nicht perfekt ist. Viel Spaß beim Lesen. :)


    Feodor


    Tock, Tock, Tock. Der Specht hämmerte eifrig auf die morsche Rinde ein. Darunter fand er sein Futter: Käfer, Larven, Ameisen und andere kleine Tierchen. Plötzlich horchte er auf. Schritte klangen durch den Wald, leise zwar, doch stetig näher kommend. Der Specht klopfte eine Weile weiter und fand ein paar Käfer, doch bevor er sie verzehren konnte waren die Schritte so nah, dass er sie nicht mehr ignorieren konnte. Er flatterte auf, landete auf einem dünnen Zweig und sah hinunter auf den Waldboden.
    Durch den Wald kam ein Junge gerannt, vielleicht 15 oder 16 Jahre alt. Er war groß, etwas klapprig und hatte schlohweißes Haar, das ihm wild vom Kopf abstand wie die Stacheln eines Igels. Gekleidet war er recht denkwürdig, so trug er eine enge weiße Hose, und darüber eine ebenso weiße, kurze Tunika. Seine Schuhe waren aus hellem weichem Leder und erzeugten kaum Geräusche auf dem Waldboden. Am Gürtel trug er ein kleines Messer und einige Beutel mit verschiedenen Pulvern darin. Das merkwürdigste an diesem Jungen jedoch waren seine Augen. Die Iris war fast so hell wie sein Haar und hob sich nur durch einen leichten Regenbogenschimmer vom weißen Augapfel ab.
    Auf einer Lichtung blieb der Junge keuchend stehen und stützte die Hände auf die Knie um wieder zu Atem zu kommen. Seine Tunika war schweißnass und klebte ihm am Oberkörper. Er war schon zwanzig Minuten lang gelaufen und hatte gerade mal die Hälfte des Weges hinter sich. Das Gefühl zu versagen – es nicht schaffen zu können – wurde immer stärker.
    Der Junge lief wieder los, doch er hatte gerade mal fünfzig Meter hinter sich gebracht als er wieder anhielt und sich verzweifelt ins Gras schmiss. Es war hoffnungslos, er würde niemals rechtzeitig ankommen. Er wälzte sich auf den Rücken und hielt sich die Hände an die Seite. Er hatte noch nie so schlimme Seitenstiche gehabt. Dabei war er eigentlich ein guter Läufer. Nur dieses eine Mal, - ausgerechnet dieses Mal – war er viel zu überstürzt losgerannt, schon nach wenigen Metern aus der Puste gewesen und jetzt hatte er seine Kraftreserven verbraucht. Aber er durfte hier nicht rasten, er durfte nicht ausruhen.
    Beweg dich endlich, Feodor, schimpfte er sich in Gedanken selbst aus. Er musste seinen Meister warnen, dieser konnte nicht gegen sie ankommen, nicht gegen einen Schwarzmagier. Er versuchte erneut sich aufzurappeln, aber jetzt kroch die Schwäche in seine Glieder und er kam nicht mehr hoch.
    Er hätte keine Pause machen dürfen, warum musste er immer so schnell aufgeben? Er hatte die Gruppe auf einer Lichtung in der Nähe des Schwarzen Weges belauscht. Sein Meister hatte ihn dorthin geschickt um nach seltenen Kräutern zu suchen. Es war ein guter Ort um Hauhechel, Honigklee und Lohminze zu pflücken.
    Doch schon von weitem hatte Feodor gemerkt, dass Fremde im Wald waren, denn die kleine Gruppe hatte sich kaum Mühe gemacht, ihre Anwesenheit zu verbergen. Drei Männer und zwei Frauen hatten auf der Lichtung Rast gemacht, ihre Pferde angebunden, sich selbst im hohen Gras ausgestreckt, eine laute Unterhaltung begonnen und damit effektiv jedes Tier, das dort lebte, in die zeitweilige Flucht getrieben. Feodor hätte es den Tieren gerne gleichgetan und sich fern von der Lichtung gehalten, doch er war auch neugierig gewesen und ein ungutes Gefühl, welches sich durch penetrantes Jucken seiner Schulter ausdrückte, hatte ihn schließlich dazu gebracht, näher zu schleichen und die Gruppe zu belauschen. Kurz darauf hatte er den größten Schreck seines Lebens gekriegt. Es war die Aura eines der Männer, die ihm Angst einjagte. Der Junge wusste, dass ein sehr talentierter Zauberer spüren konnte, wenn sein Gegenüber im Gebrauch der Magie bewandert war. Doch obwohl er ein Lehrling der Zauberei war und obwohl er sich selbst für ausgesprochen talentiert hielt, war es ihm nie gelungen. Bis zum heutigen Tag. Der Mann hatte eine derartige Macht ausgestrahlt, dass vermutlich selbst ganz gewöhnliche Menschen sie gespürt hätten und wenn es nur als Kitzeln in ihrem Nacken war. Doch was Feodor gespürt hatte, war keine Magie, wie er selbst sie benutzte. Etwas an der Magie dieses Mannes war grundlegend falsch gewesen, sie strahlte etwas Faules und Bösartiges, aber auch ungeheuer Machtvolles aus. Und Feodor hatte sofort gewusst, dass er es mit einem Schwarzmagier zu tun hatte.
    Ein Schwarzmagier! Im Dark Forest! Es war ein beängstigender Gedanke, doch worüber die Gruppe redete war noch viel beängstigender: Sie hatten gesagt, dass sie den Wolf diesmal kriegen würden. Ein normaler Mensch hätte vielleicht geglaubt, sie hätten vor, ein wildes Tier zu erlegen, nicht aber der Lehrling des Wolfes. Denn der Wolf war sein Lehrmeister, ein Zauberer der tief im Dark Forest lebte. Wolf war sein Name. Der Junge lebte bei ihm seit seine Eltern ihn im Alter von vier Jahren zu diesem geschickt hatten, damit er ihn die hohe Kunst der Zauberei lehrte.
    Kaum hatte er gehört, dass sein Meister in Gefahr war, war Feodor erst einmal in eine Art Schockstarre verfallen. Er hatte ein paar Augenblicke gebraucht um sich wieder zu fangen. Gerade als er sich schließlich zurückziehen wollte, hatte sich die Gruppe angeschickt, auf ihre Pferde zu steigen und weiter zu reiten. Und dem Jungen war klar geworden, dass er sich beeilen musste. Er musste seinen Meister vor dem Schwarzmagier warnen. Doch dafür musste er schneller dort ankommen als die Reiter auf ihren Pferden und das war nicht einfach. Er hatte den Vorteil, dass er kleiner war, als die Pferde und sich so auch durch dichtes Gestrüpp schlagen konnte. Außerdem kannte er den Wald wie seine Westentasche. Aber die Pferde waren so viel schneller als er. Er musste sich wirklich beeilen, doch stattdessen lag er hier am Boden und stöhnte über seine Seitenstiche. Wut auf sich selbst erfüllte ihn und am liebsten hätte er sich gehörig in den eigenen Arsch getreten, doch anatomisch war das einfach nicht möglich. Mit einem zornigen Schnauben erhob er sich endlich und rannte weiter. Er musste Meister Wolf warnen.
    Je länger er lief, desto mehr hatte er das Gefühl, es nicht mehr schaffen zu können. Hätte sein Meister ihm doch bloß bereits die Verschiebung beigebracht, dann wäre die Strecke ganz einfach zu bewältigen gewesen. Oder er hätte sie nutzen können um eine Nachricht zu versenden. Stattdessen musste er sich auf seine eigenen, in dieser Situation ziemlich langsamen Beine verlassen.
    Er hatte das Haus von Meister Wolf, das Haus in dem er selbst lebte, jetzt fast erreicht und wurde langsamer. Ihm graute davor, was er vielleicht auffinden würde. Was, wenn er zu spät war? Was, wenn der Schwarzmagier seinen Meister getötet hatte? Die Vorstellung war unerträglich und sie bremste ihn aus. Dann stolperte er auch noch über eine Baumwurzel und fiel der Länge nach hin.
    Er fluchte leise und legte schließlich die letzten Meter zum Abhang auf dem Bauch kriechend zurück.
    Das Haus des Zauberers war etwa auf halber Höhe an einem teils felsigen, teils erdigen Abhang gebaut, der mit Bäumen und Farnen bewachsen war. Oberhalb dieses Abhangs lag Feodor nun und spähte hinab auf die kleine Hütte. Weiter unten konnte er zwischen den Felsen einen kleinen Bach plätschern sehen. Der Anblick der Hütte erfüllte sein Herz mit Wärme. Seit mehr als elf Jahren lebte er schon hier. Das Haus war sein Zuhause und Meister Wolf seine Familie. Es beruhigte ihn, dass er vor der Hütte niemanden sehen konnte; weit und breit entdeckte er keine Spur eines Pferdes. Vielleicht war er ja trotz aller Zweifel rechtzeitig gekommen um seinen Meister zu warnen. Oder aber die Reiter waren schon wieder weg. Bei dem Gedanken musste der Zauberlehrling schwer schlucken und so schob er ihn sofort beiseite.
    Er begann, vorsichtig den Abhang hinabzuklettern und sich der Tür zu nähern. Angespannt lauschte er doch keiner seiner Sinne meldete ihm irgendeine Gefahr. Also lugte er durch die Tür in die Hütte. Sie war leer – nicht komplett leer aber leerer als gewöhnlich. Zwar standen Tische, Stühle, Bett und Schränke noch darin, doch die Zauberbücher, die zahlreichen Kräuter und Tränke, sowie jede Erfindung des Meisters waren verschwunden. Kurz gesagt alles, was darauf schließen ließ, dass hier ein Zauberer lebte.
    Der Anblick verwirrte Feodor mächtig, so sehr, dass er erst einmal ein paar Augenblicke nur in der Tür stand und in sein Zuhause blickte. Es kam ihm so fremd vor. Und es war ihm völlig unerklärlich, wie es dazu hatte kommen können. Er ging hinein. Auch seine persönlichen Sachen waren verschwunden: die Bücher, die Flöte und seine Blättersammlung. Feodor griff an seinen Gürtel und tastete nach den Lederbeuteln, die daran hingen. Wenigstens hatte er seine magischen Pulver noch. Und natürlich alles, was er in seinem Kopf gespeichert hatte: die Zauberformeln, die Beschwörungen, die vielen Sprachen und das Wissen über Kräuter und den Wald. Feodor war ziemlich stolz auf seinen Kopf, er hatte ein sehr gutes Gedächtnis, welches er bereits in frühen Jahren zu trainieren begonnen hatte und das es ihm mittlerweile ermöglichte, sich selbst komplizierteste Sachverhalte in kurzer Zeit zu merken. Außerdem konnte sein Kopf bemerkenswerte Schlüsse und Ideen produzieren. Gerade allerdings war er vollkommen leer.
    Ein Rascheln hinter ihm ließ Feodor herumfahren. Die Gestalt in der Tür erkannte er sofort – es war der Schwarzmagier. Er trug ein langes braunes Gewand und hatte dunkle, kalte Augen, die unter, seinem schwarzen Haarschopf hervorblitzten. Feodor starrte ihn an. Als der Schwarzmagier ihn erblickte, zog er eine Augenbraue hoch und musterte den Zauberlehrling vom weißen Haarschopf bis zu den Lederschuhen. Einen Moment lang starrten sie sich gegenseitig in die Augen, dunkle in helle. Dann machte der Schwarzmagier ein paar Schritte auf Feodor zu. Der Junge wich zurück.
    „Bist du der Lehrling des Wolfes?“, fragte er. Seine Stimme war leise, kaum hörbar. Sie klang wie das Zischen einer Klapperschlange oder wie das Sausen eines durch die Luft jagenden Messers, das ganz sicher sein Ziel erreichen würde. Außerdem sprach er einen für Feodor fremden Dialekt.
    „Was wenn ich es bin?“, fragte Feodor.
    Sein Gegenüber verzog die Lippen zu einem fiesen Lächeln. „Dann hätte ich ein paar Fragen an dich. Zuallererst die, wo dein Meister steckt.“
    „Diese Frage wollte ich gerade euch stellen. Was habt ihr mit ihm gemacht? Wohin habt ihr ihn verschleppt?“
    „Der Schlaueste bist du auch nicht, oder? Würde ich dich fragen, wo er ist, wenn ich ihn erwischt hätte? Da du es scheinbar noch nicht kapiert hast noch einmal langsam zum mitschreiben: Wir wissen nicht, wo er ist. Aber scheinbar weißt du es auch nicht, also gehe ich davon aus, dass er sich verkrochen hat. Dein Meister ist weggelaufen wie ein feiger Hund, mit eingezogenem Schwanz. Und er hat alles mitgenommen, nur dich ließ er hier.“ Der Mann lachte verhalten. „Außerordentlich interessant. Seine Kräuter sind ihm wohl wichtiger als sein Lehrling.“
    Feodor wusste, dass das nicht wahr war, sein Meister hatte ja keine Gelegenheit gehabt, ihn mitzunehmen. Trotzdem versetzte ihm die Art, wie der Schwarzmagier ihm diese Schlussfolgerung unter die Nase rieb, einen schmerzhaften Stich.
    „Was hast du getan, dass er dich zurückgelassen hat?“, hakte der andere mit einem fiesen Grinsen nach. „Oder wollte er einfach nur seinen eigenen Arsch retten?“
    Feodor fröstelte. Aus irgendeinem Grund hatte er das Bedürfnis, seinen Meister zu verteidigen: „Er konnte mich nicht mitnehmen, ich war nicht hier“, sagte er.
    „Und da hat er dir kein Zeichen hinterlassen, wo er vielleicht hingegangen ist?“
    Feodor erkannte jetzt die Masche des Schwarzmagiers. Er wollte ihm entlocken, wohin sein Meister gegangen war. „Nein, hat er nicht“, sagte er. „Und wenn doch, dann würde ich es dir nicht sagen.“
    Der Schwarzmagier grinste. „Wahrscheinlich hat dein Meister das aber anders gesehen. Vermutlich dachte er du plauderst es aus, wenn er dir gesagt hätte wo er hin ist, denn sonst hätte er es dir ja gesagt. Er vertraut dir wohl nicht.“
    „Er vertraut mir“, sagte Feodor.
    Die Augen des Schwarzmagiers leuchteten auf und Feodor blickte unsicher zur Seite. Er war sich nicht sicher, was der Schwarzmagier erreichen wollte. Er war sich nur sicher, dass er in gewaltigen Schwierigkeiten steckte.
    „Tatsächlich?“, sagte der Mann. „Du bist schon ziemlich lange sein Lehrling, oder? Von Beginn an?“
    Feodor schwieg, fest entschlossen, keine weiteren Geheimnisse preiszugeben. Nicht solange er nicht wusste, was der andere eigentlich vorhatte.
    „Antwortest du jetzt etwa nicht mehr? Du bist wohl doch nicht so dumm, wie ich anfangs dachte.“ Er sah Feodor fest in die Augen. „Nein, vermutlich bist du sogar ziemlich schlau. Du hast doch sicher bereits vieles gelernt. Schlauer junger Kerl, was? Fleißig? Ehrgeizig? Wissbegierig? Und der einzige Gefährte eines einsamen alten Mannes, mitten im Wald; Magie als das einzige halbwegs interessante Gesprächsthema weit und breit. Und du hast Talent, das spüre ich bis hier hin.“ Nachdenklich ließ er die Augen über die umstehenden Bäume schweifen. „Du hast noch nicht viel von der Welt gesehen, oder?“, fragte er schließlich. Dabei sah er Feodor wieder auf diese eindringliche Art ins Gesicht und der Junge hatte das Gefühl, dass er auf jede noch so kleine Regung wartete, auf irgendetwas, das seine Vermutungen bestätigte. Doch Feodor war fest entschlossen, ihm nichts dergleichen zu bieten. Er versuchte seinen Mimik so ausdruckslos wie möglich zu halten.
    Was tust du hier eigentlich, fragte plötzlich eine Stimme in seinem Kopf. Schalt endlich dein Hirn ein. Und mit einem Schlag war Feodor wieder bei sich und tat genau das. Er steckte nicht bloß in Schwierigkeiten, er war in tödlicher Gefahr. Wenn er diese Sitation nicht bald durchblickte, würde er sterben. Was also hatte der Schwarzmagier vor? Blitzschnell rief er sich alles in den Kopf, was ihm sein Meister jemals über dessen Zunft erzählt hatte und fasste das Wichtigste zusammen: Die meisten von ihnen lebten in Andraya und standen damit unter der Herrschaft Fürst Dreizehns. Doch das half ihm nun nicht weiter. Angeblich waren sie grausam und hinterhältig und hatten Spaß daran, ganze Landstriche zu verwüsten. Sie genossen es, Leid zu verbreiten. Menschen zu quälen und zu töten gehörte zu ihrem Handwerk wie das Beschwören von dunklen Mächten. Warum also machte er bisher keine Anstalten, Feodor etwas zu tun?
    Er will etwas von mir, dachte Feodor. Informationen, wo mein Meister ist. Aber die habe ich nicht, das dürfte ihm mittlerweile klar sein. Nein, er möchte etwas anderes wissen. Warum ist er überhaupt hier, was will er von meinem Meister? Denn was immer es ist, scheinbar hält er es für möglich, dass er es auch von mir bekommen kann. Es kann sich wohl nur um Wissen handeln. Wissen, von dem er glaubt, dass Meister Wolf es mich gelehrt hat. Sobald er es bekommt oder denkt, dass ich es nicht habe, wird er mich erledigen.
    Die Erkenntnis drückte ihm schwer auf den Magen. „Mein Meister vertraut mir“, sagte Feodor. „Und er hat mich vieles gelehrt. Ich weiß vieles über Magie.“
    „Tatsächlich?“, entgegnete der Schwarzmagier mit gehobenen Augenbrauen. Dann lachte er plötzlich leise. Feodor wich zurück. War er zu weit gegangen? Zugegeben, seine Absicht war leicht zu durchschauen gewesen „Tut mir Leid“, sagte der Schwarzmagier, „aber ich finde das gerade ziemlich amüsant. Du glaubst es wirklich. Dass du vieles gelernt hast, dass du vieles weißt. Dabei hast du dein ganzes Leben in diesem Wald verbracht. Du hältst dich für schlau, aber in Wahrheit bist du naiv und unerfahren. Was weißt du schon über die Welt? Was weißt du über Magie? Nichts. Ich könnte dir Dinge über Magie ezählen, die dein gesamtes Weltbild auf den Kopf stellen würden. Die dir zeigen würden, wie erbärmlich klein die Welt ist, die du bisher kennen gelernt hast. Welche Möglichkeiten es dort draußen gibt.“
    Feodor hatte wieder Schwierigkeiten, die Absichten des Schwarzmagiers zu begreifen. Doch dieses Mal entschied er sich, es offen zuzugeben:
    „Was meinst du damit?“, fragte er.
    „Dein Meister hat dich im Stich gelassen. Selbst wenn er keine Gelegenheit hatte, dich zu warnen, bevor er ging ... eine Frage: Wo ist er jetzt? In diesem Moment, in dem du seine Hilfe dringend gebrauchen kannst. Ihm muss klar sein, dass ich dich ohne mit der Wimper zu zucken töten würde.“
    Feodor versuchte, die Worte nicht an sich herantreten zu lassen, aber er konnte nicht verhindern, dass sie ein wenig an seinem Vertrauen zu seinem Lehrmeister kratzten.
    „Du hast etwas Besseres verdient“, sagte der Schwarzmagier plötzlich. „Du bist intelligent und wissbegierig, nicht wahr? Du verdienst einen besseren Meister.“ Feodor starrte ihn ungläubig an. Er versuchte doch nicht tatsächlich das, was er vermutete, oder? „Der Wolf ist nicht der einzige Zauberer in dieser Welt. Such dir einen anderen Meister.“
    „Wen? Dich?“, fragte Feodor tonlos.
    „Das ist ein großzügiges Angebot. Wir haben an dieser Stelle nämlich genau zwei Möglichkeiten: Entweder ich beseitige dich hier und jetzt, oder du begleitest mich. Ich zeige dir die Welt. Ich zeige dir Magie, wie du sie noch nie kennen gelernt hast. Ich lehre dich, Zauber zu vollbringen, von denen du bisher nicht einmal geträumt hast.“
    „Warum würdest du das tun wollen?“ War der Schwarzmagier wirklich so scharf auf das Wissen, das Feodor vielleicht hatte, dass er einen solch umständlichen Plan verfolgen würde? Warum zwang er Feodor nicht einfach, sein Wissen preiszugeben?
    „Meine Gründe sind nicht weiter relevant. Sagen wir einfach, talentierte Zauberlehrlinge sind schwer zu finden und ich habe nicht die Geduld, ein geeignetes Kind zu finden und großzuziehen. Wie auch immer – triff deine Entscheidung.“
    Feodor schloss die Augen und dachte so schnell er konnte nach. Der Schwarzmagier konnte es auf keinen Fall ehrlich meinen. Ein Zauberer musste seinem Lehrling vertrauen können und sein Gegenüber wäre nicht so dumm, Feodor zu trauen. Alles was er ihm anbot, war den Schein zu wahren, sein Meister zu sein. Er würde Tag und Nacht nach Feodors Wissen fischen und früher oder später würde er sich Feodors schließlich entledigen. Wenn er von ihm endlich die Information gewonnen hatte, die erbrauchte.
    Abgesehen davon würde Feodor niemals einen Schwarzmagier als Meister haben wollen. Sie waren schrecklich. Doch hatte er eine Wahl? Wenn er ablehnte, würde er mit Sicherheit sterben und das vermutlich voller Schmerzen. Feodor hing an seinem Leben und es gab schließlich immer noch die Möglichkeit, dem Schwarzmagier in einer günstigen Gelegenheit zu entkommen.
    „Komm mit mir“, sagte dieser leise. Es klang freundlich ... einladend ... verlockend.
    Feodor schluckte und traf seine Entscheidung. Er nickte.

    Einmal editiert, zuletzt von Dinteyra (23. Oktober 2014 um 23:16)

  • Also was Formalia angeht, hab ich nur das hier gefunden:

    Zitat

    Er hätte keine Pause machen dürfen, warum musste er immer so schnell aufgeben.


    Da gehört ein Fragezeichen ans Ende des Satzes.

    Und Logikfehler finde ich jetzt auch keine. Also ich merke nicht, dass diese Szene so alt ist, wie du sagst, heißt also, dass die Überarbeitung gelungen ist :thumbsup:
    Ich frage mich jetzt nur, wie lange diese Szene in der Vergangenheit liegt. Ich könnte mir nämlich vorstellen, dass wir Feodor bald ein paar Jahre älter und erfahrener wiedersehen. Und ich frage mich, wieso Meister Wolf ihn zurückließ :hmm: Sowieso würde mich mal interessieren, wie der Meister Wolf so ist. Gheört habe ich ja nun einiges, aber einen Auftritt hatte er bisher nicht.

  • Alopex Lagopus: Danke ^^ . Ist ja schön, dass die Überarbeitung scheinbar gelungen ist. Ich habe allerdings eine Frage an dich: Wie kommst du darauf, dass es in der Vergangenheit spielt? Hab ich das irgendwie angedeutet? Das wäre dann nämlich aus Versehen gewesen, es spielt nicht in der Vergangenheit.
    Ach so - du möchtest Meister Wolf kennen lernen ... dein Wunsch ist mir Befehl. :D


    Eine Einladung des Raz-We-Wo-Na


    Jimo Kandrajimo hetzte durch seine kleine Waldhütte und packte. An der Tür stand bereits ein Koffer mit Kleidung und auf dem Tisch lag ein wichtig aussehender Brief. Kandrajimo schlug den zweiten Koffer zu und schleppte ihn nach draußen. Dann kam er wieder herein und sah sich um. „Den hätte ich fast vergessen“, murmelte er und griff nach dem Brief. Er entfaltete ihn und las ein letztes Mal den in großer Eile geschriebenen Text:

    An alle 12 Weisen,
    ich berufe morgen Abend eine dringende Versammlung ein. Ich erwarte das Erscheinen aller.
    Jonathan Niber, Vorsitzender des Raz-We-Wo-Na (Rates der zwölf Weisen der Welt ohne Namen)

    Der Brief war knapp und in sehr unfreundlichem Ton geschrieben, was bedeutete, dass er wichtig sein musste. Kandrajimo steckte ihn ein, trat vor die Tür, packte seine Koffer und seufzte. Dann verschwand er, als hätte er sich in Luft aufgelöst und zurück blieb nur der frische Wind der um die Hütte blies.

    Einige Kilometer nördlich der Hütte, im dunklen Dark Forest, tauchte plötzlich zwischen Himbeersträuchern und Farnen eine Gestalt auf. Jimo Kandrajimo stieg mühsam aus dem Gestrüpp auf den Weg und folgte ihm eine Weile, bis vor ihm ein steiler Hang aus Erde und großen Felsen auftauchte und, in ihn eingearbeitet, ein kleines Haus. Er begann, die aus Steinen gelegte Treppe hinaufzusteigen, wobei er leise schnaufte. Endlich stand er vor der Tür des Hauses und klopfte. Zuerst war es drinnen totenstill, dann konnte man hektisches Schlurfen hören. Die Tür öffnete sich und Jimo Kandrajimo blickte in die Mündung eines großen, gewehrähnlichen Gegenstandes.
    „Jimo?“, die Mündung verschwand und dahinter erschien das breite Gesicht von Kandrajimos altem Freund Wolf.
    Er hatte eine Menge Falten und graue Haare, aber sein Lächeln war jung und seine Augen waren voller Kraft. Normalerweise waren sie fröhlich und gutmütig, aber jetzt glitzerten sie kalt und voller Hass, nicht auf Kandrajimo, aber auf jemand anderen. Kandrajimo runzelte besorgt die Stirn.
    „Was ist das wieder für ein Zauberding?“, fragte er. Wolf bat ihn herein und schloss die Tür. „Eine neue Erfindung von mir“, sagte er. „Ich kann sie dir vorführen.“
    Er richtete die Mündung des Gegenstandes auf eine große Vase, zog ein paar Hebel und drückte dann auf einen Knopf. Ein Schuss krachte und die Vase ging in die Luft, ebenso wie der vordere Teil des Gegenstandes. Kandrajimo sprang auf und versuchte, in der entstandenen Rauchwolke seinen Freund wieder zu finden. Wolf lag auf dem Boden, das Gesicht pechschwarz und die Haare angesenkt.
    „Es ist noch nicht ganz ausgereift. Aber diesmal sind mir deine Freunde aus der anderen Welt nicht voraus. Ha! So was können sie noch nicht erfunden haben. Dafür fehlt ihnen das Genie eines Zauberers.“
    Er rappelte sich hoch und tanzte durch den Raum. „So etwas hat die Welt noch nicht gesehen. Vorbei die Zeit der Schwertkämpfe. Wenn mein Projekt erst ausgereift ist bekämpfen sich die Leute mit Schwarzpulver.“ Kandrajimo blickte ihn irritiert an.
    „Schwarzpulver? Warum nennst du es so?“
    Wolf griff in eine Kiste und zog etwas Schwarzpulver heraus. „Weil es mir jedes Mal das Gesicht verrußt. Schau mich doch an.“
    „Was sagt denn Feodor dazu?“, fragte Kandrajimo.
    Plötzlich veränderte sich Wolfs Gesicht.
    „Feodor!“, flüsterte er und taumelte zu einem Stuhl. Kandrajimo war sofort zur Stelle und stützte ihn.
    „Was ist mit Feodor?“, fragte er.
    „Er hat ihn mitgenommen. Der Schwarzmagier. Das ist alles meine Schuld.“
    Wolf schrie auf und wollte sich auf den Boden werfen aber Kandrajimo zog ihn zurück auf den Stuhl.
    „Wie konnte das passieren?“, fragte er.
    Wolf begann zu erzählen, während Kandrajimo einen starken Kaffee kochte.
    „Ich hatte Feodor zu einer Lichtung bei den Donnerfelsen geschickt, um ein paar seltene Heilkräuter zu suchen. Der Junge ist ein begnadeter Kräutersammler, ich weiß gar nicht, woher er diesen Blick dafür hat. Jedenfalls sollte er nach Lohminze suchen; die eignet sich hervorragend für alle Beschwörungen, die mit Wärme zu tun haben. Als er weg war spürte ich, dass ein Schwarzmagier in der Nähe war, deshalb versteckte ich mich im Wald und bedeckte mich mit einigen Schutzzaubern. Alles was auf meine Anwesenheit hinwies habe ich im Keller unter der geheimen Falltür versteckt. Dort hab ich immer die Dinge aufbewahrt, die Feodor nicht finden sollte; der Raum ist magisch unaufspürbar. Ich war so gemein zu dem Jungen, ich habe alles Mögliche vor ihm versteckt, sogar den Zauberbrunnen hab ich ihm nie gezeigt. Das hab ich jetzt davon, Feodor ist weg.“
    Wolf schluchzte laut auf.
    Kandrajimo legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. „Ich bin sicher, du hattest gute Gründe, dem Jungen nicht alle deine Geheimnisse zu verraten. Außerdem hätte es ihm wahrscheinlich nicht viel geholfen. Erzähl weiter, was ist dann passiert?“
    „Ich weiß es nicht genau, ich kann nur Vermutungen anstellen. Feodor kam wohl früher zurück, als ich erwartet hatte. Das hier habe ich neben dem Türrahmen gefunden. Es hat vorher nicht dort gelegen, da bin ich sicher.“ Er griff in seine Hosentasche und zog ein kleines Beutelchen hervor. „Der Junge hat immer gerne experimentiert und magische Pulver erstellt. Das hier ist eine seiner Erfindungen. Ziemlich harmlos: verrührt man dieses Pulver mit Wasser, erhält man eine Art Leuchtfarbe. Feodor muss das Säckchen fallen gelassen haben um mir ein Zeichen zu geben. Der Schwarzmagier hat ihn mitgenommen.“
    Kandrajimo reichte Wolf eine Tasse Kaffee.
    „Bist du dir ganz sicher, dass er nicht noch irgendwo im Wald nach Kräutern sucht?“
    „Ich bin sicher. Es ist gestern passiert, Feodor wäre längst wieder hier.“ Wolf schüttelte betrübt den Kopf. „Er wurde gefangen genommen, ich weiß es. Vielleicht ist er sogar schon tot.“
    Kandrajimo schwieg. Wenn Feodor wirklich von dem Schwarzmagier gefangen genommen wurde, dann war er vermutlich schon tot. Wolf stand auf und erschlug eine kleine Sirene mit seinem Pantoffel.
    „Ich werde ihn suchen und befreien. Und wenn der Schwarzmagier ihm irgendetwas angetan hat, dann ... dann mach ich Brei aus ihm.“ Er starrte die Überreste der Sirene an, die nun die Sohle seines Pantoffels zierten.
    Jimo Kandrajimo seufzte. Er hätte Wolf gerne beigestanden, aber er musste zum Treffen des Raz-We-Wo-Na.
    „Ich würde dich gerne begleiten, aber ich bin leider nur auf der Durchreise. Ich muss morgen Abend zu einer Versammlung. Jonathan Niber hat ausdrücklich verlangt, dass alle Ratsmitglieder anwesend sein müssen.“
    Wolf erschlug wieder eine Sirene.
    „Tatsächlich? Alle? Das kommt selten vor, oder? Ihr verteilt euch doch meistens über die halbe Welt.“
    „Ab und an schaffen wir es tatsächlich, alle im Hauptquartier oder der näheren Umgebung zu sein. Und wenn es dann einen wichtigen Anlass gibt, nehmen wir die Gelegenheit für eine Vollversammlung gerne an. Ich vermute, es geht um die neue Kamiraen. Mittlerweile sollten sie und Tabea angekommen sein. Ich hatte vor, ein paar Wochen im Hauptquartier zu bleiben, deshalb wollte ich dich eigentlich fragen, ob du in meiner Abwesenheit meine Pflanzen gießen könntest. Aber das erübrigt sich ja nun. Naja, nicht so wichtig.“
    Wolf hob erneut den Pantoffel und zielte auf eine Sirene aber Kandrajimo schnappte das Insekt ärgerlich aus der Luft und rettete es vor dem Jähzorn des Zauberers.
    „Hör auf damit“, sagte er und ließ die Sirene fliegen. „Wenn die Versammlung zu Ende ist werde ich dir auf der Suche nach Feodor helfen. Das verspreche ich dir.“ Ach ja-“ Er deutete auf das Gewehr oder was es auch war. „Sieh zu, dass das niemand sieht.“
    „Ich habe es selbst erfunden, also kann ich damit tun, was ich will.“
    „Es ist ein gefährlicher Gegenstand und er darf nicht in die falschen Hände geraten. Das verstehst du doch, oder?“
    Wolf sah genervt aus, aber er nickte.
    „Ich wünsche dir viel Glück“, sagte Kandrajimo und umarmte den Freund. „Bring Feodor sicher wieder zurück. Ich komme nach, so schnell ich kann, aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich eine große Hilfe sein werde.“
    „Schon okay. Danke.“
    Kandrajimo lächelte ihm ein letztes Mal zu und verließ die Hütte in Richtung Südwesten. Das mit Feodor war eine ernste Sache. Wolf war zwar ein Pechvogel, aber dass er seinen Schüler verlor hatte er nicht verdient. Er war doch ein guter Mensch, die meiste Zeit verbrachte er damit, seltsame Dinge zu erfinden. Dinge die in der anderen Welt längst zum Alltag gehörten. Nur dass der Wolf eine seltsame Mischung aus Technologie und Magie dazu benutzte. Wolf nannte seine Erfindungen aber auch oft genau so, wie sie in der anderen Welt hießen. Manchmal war es echt zu komisch. Schwarzpulver. Trotzdem mahnte Jimo Kandrajimo seinen Freund immer wieder zur Vorsicht. Man hatte nicht umsonst beschlossen, zu verbieten, Gegenstände aus der anderen Welt in diese zu bringen. Es durfte nicht passieren, dass ein einziger experimentierfreudiger Mann all das zunichte machte. Solange er Waschmaschinen und Taschenlampen erfand, mochte es noch angehen. Aber bei Waffen hörte der Spaß auf.

    Wolf blickte aus dem Fenster und sah gerade noch, wie sein Freund Jimo an einem Busch ins Blaue hinein verschwand. Dann hob er seine Schwarzpulverwaffe auf. Beim letzten Schuss war etwas schief gegangen, es hatte die komplette Mündung weggesprengt. Und er hatte keine Zeit, sie zu reparieren. Er würde wieder mit seinen üblichen Waffen kämpfen müssen – mit Magie.
    Seufzend zog er eine Tasche unter dem Bett hervor. Er nahm eine Kerze und zündete sie mithilfe eines einfachen Feuerzaubers an. Schließlich murmelte er ein paar Worte und schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete befanden sich in der Tasche all die Dinge, die er mitnehmen musste. Unter anderem war sein gesamter Vorrat an Schwarzpulver darin. Er zweifelte nicht daran, dass er den Schwarzmagier besiegen konnte. Wenn er wollte, konnte er mächtige Magie wirken, auch wenn er sich meistens nicht die Mühe machte. Schwierig würde bloß werden, seinen Gegner ausfindig zu machen. Denn der lebte im Reich Fürst Dreizehns. In Andraya.
    Wolf verließ das Haus in der gleichen Richtung wie Jimo und verschwand an derselben Stelle. Auftauchen tat er viele Kilometer weiter südwestlich. Am anderen Ende der Welt.

    Einmal editiert, zuletzt von Dinteyra (24. Oktober 2014 um 11:52)

  • Zwei tolle Teile! :thumbsup: Kopfkino läuft in HD. Ich bin sehr gespannt, wie sich dieser Handlungsstrang weiter entwickeln wird.

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

  • Bittere Nachrichten


    Alle Eingeladenen waren anwesend, der Tisch war rundum besetzt, mit Ausnahme eines Platzes. Jimo Kandrajimo war allerdings zuversichtlich, dass der leere Stuhl sich im Laufe des Abends füllen würde. Die Formalitäten waren geklärt und alle warteten nur darauf, dass der Vorsitzende des Raz-We-Wo-Na das Wort ergriff. Jonathan Niber stand auf.
    „Wir haben heute sieben Tagesordnungspunkte“, begann er. „Erstens: eine schlimme Nachricht. Tabea?“
    Aus dem Schatten an der Wand trat eine schlanke Gestalt, ganz in schwarz gekleidet, mit langem, weißem Haar. Jimo Kandrajimo runzelte die Stirn. Von Tabea hatte er eigentlich eine gute Nachricht erwartet.
    „Wir haben ein Problem“, sagte Tabea ohne Umschweife. „Maja Sonnfeld ist abgehauen.“
    Bestürzte Gesichter starrten sie an, jeder hoffte, das wäre ein schlechter Scherz. Dann machte sich Geflüster breit. Ein verärgertes Wispern wie das Rauschen von Blättern in der ersten Herbst-Brise. Schließlich meldete sich Andrea zu Wort: „Du hast eine hohe Verlustrate, Tabea.“
    Tabeas Gesicht wurde knallrot. „Wie kannst du es wagen? Du kennst dieses Mädchen nicht, sie ist das eigensinnigste Kind, das ich je getroffen habe. Wenn ihr mich fragt, wird sie den Kamiraen noch den Untergang bringen.“
    Das Gemurmel am Tisch wurde lauter.
    „Wir kennen deine Position zu diesem Thema“, schnarrte Jonathan Niber. „Aber was wir uns alle fragen – zu Recht, wie ich denke – ist, wie du sie überhaupt verlieren konntest. Was soll das heißen, dass sie abgehauen ist?“
    Tabea verschränkte die Arme. „Sie wollte nicht herkommen. Aber wegen der Schwarzen Garde hatte sie ja keine andere Wahl. Dann hatten wir ein paar Meinungsverschiedenheiten und schließlich hat sie sich mitten in der Nacht davongeschlichen.“
    „Und warum hast du sie nicht wieder zurückgeholt?“, fragte Niber.
    „Wie hätte ich das denn anstellen sollen?“
    „Spiel hier nicht die Scheinheilige. Du kannst mir nicht erzählen, dass du sie nicht wiedergefunden hättest.“
    „Und was dann? Sie wollte nicht mehr mit mir gehen. Sie will nicht herkommen. Sollte ich sie zwingen?“
    „Wenn es nötig gewesen wäre. Maja Sonnfeld wird verfolgt, je eher sie bei uns in Sicherheit ist, desto besser. Meinetwegen auch gegen ihren Willen.“
    „Maja Sonnfeld“, erklärte Tabea langsam, „kann mir von jetzt an gestohlen bleiben. Das Mädchen ist eine Plage und ich werde mich nicht länger mit ihr herumschlagen.“
    „Wie kannst du es wagen?“, rief Niber. „Es ist deine Pflicht, sie zu uns zu bringen.“
    „Erzählt ihr mir nichts über Pflicht“, fauchte Tabea zurück. „Nicht nach dem, was ihr zu tun versäumt habt.“
    Jimo Kandrajimo stand auf und unterbrach damit den Streit. „Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas passiert“, sagte er und das Geflüster verstummte. „Wir sollten Ruhe bewahren und uns vor allem nicht gegenseitig die Schuld geben.“ Er sah Tabea an. Es war selten, dass sie so aus der Haut fuhr und ihren Respekt gegenüber den Kamiraen auf diese Weise vergaß. Er sah ihr an, wie tief verletzt sie von Jonathans Worten war. Maja Sonnfeld war nur an der Oberfläche das Thema dieses Streits. Darunter drohte eine jahrelange Meinungsverschiedenheit wieder hervorzubrechen. Es war besser, das Thema zu wechseln. „ Tabea, wo hast du sie verloren?“
    „Am Rande des Dark Forest. Das ist allerdings schon recht lange her“, antwortete sie. „Ich fürchte, sie wird etwas Dummes anstellen. Entweder sie versucht wieder nach Hause zu kommen, was ihr wohl kaum gelingen wird, oder…“ Sie lachte verlegen und schien sich für das, was sie sagen wollte, zu wappnen. „Ich denke, sie will mit zwei Gleichaltrigen deren Mutter aus der Gefangenschaft Fürst Dreizehns befreien. Dann läuft sie ihm direkt in die Arme.“
    Kandrajimo blinzelte verblüfft. Er wusste nicht recht, was er dazu sagen sollte.
    „Das Dreizehnte Königreich ist am anderen Ende der Welt“, sagte Keiph. „Dort wird sie ja wohl kaum ankommen. Oder?“
    „Was starrt ihr mich so an?“, fragte Tabea, als sich alle Köpfe ihr zuwandten.
    „Wir würden gerne deine Meinung hören.“
    „Es ist leicht, das dreizehnte Königreich zu erreichen“, sagte Tabea.
    „Nein, ist es nicht“, erwiderte Andrea.
    „Wenn man den Schwarzen Weg benutzt, schon.“ Alle starrten sie entsetzt an. „Aber ich glaube nicht, dass sie das tun werden. Die beiden, die Maja begleiten, sind verzweifelt, aber nicht dumm. Sie werden zuerst versuchen, das Gebirge zu überqueren.“
    „Was völlig unmöglich ist“, erklärte Keiph. „Zumindest für ein paar Kinder. Selbst erfahrenste Bergwanderer scheitern am Großen Gebirge.“
    „Dann wisst ihr ja, wo ihr sie suchen müsst.“
    „Was ist mit dir?“
    „Ich bin raus aus der Nummer.“
    „Nein, bist du nicht“, sagte Jonathan Niber. „Du-“
    „Lass sie“, unterbrach Kandrajimo ihn. „Es bringt nichts, darüber zu streiten. Danke, Tabea. Du kannst gehen.“
    Sie warf ihm einen giftigen Blick zu, aber dann drehte sie sich um und verließ den Raum.
    „Irgendwelche Vorschläge?“, fragte Niber.
    „Wenn Tabea es nicht tut, muss jemand von uns sie suchen“, erklärte Andrea.
    Kandrajimo seufzte. „Schon gut. Ich kümmere mich darum.“
    Die anderen sahen ihn dankbar an.
    „Außerdem“, fuhr Andrea fort, „sollten wir jemanden zu ihrem Zuhause schicken. Nur für alle Fälle.“
    „Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass sie zurückkehren könnte“, sagte Keiph. „Wir bewachen die Tore, es gibt keinen Grund, anzunehmen, sie könnte sich an uns vorbei schleichen. Und sie weiß nicht einmal, wo sie sind.“
    „Wir bewachen nur die Tore, die wir kennen. Es gibt andere. Aber mir geht es nicht um Maja, sondern um Fürst Dreizehn und seine Garde. Wer weiß, welche Absichten er verfolgen wird, wenn er erfährt, dass Maja nicht bei uns ist.“
    Eine Pause entstand, in der sie alle darüber nachdachten, dann nickte Jonathan Niber. „Aber wer soll es tun? Es muss jemand sein, der sich auch in der anderen Welt gut zurecht findet.“
    Die Kamiraen sahen allesamt verlegen auf ihre Finger. Die meisten von ihnen waren kaum jemals in der anderen Welt gewesen und wenn doch, so dachten sie voller Unbehagen an dieses Ereignis zurück. Kandrajimo war die einzige Ausnahme, aber er hatte bereits zugestimmt, Maja Sonnfeld zu suchen.
    „Ich frage Tabea, ob sie es macht“, sagte dieser schließlich. „Von uns allen kommt sie dort am besten zurecht.“
    Andrea schien nicht überzeugt. „Sie scheint ein wenig sauer auf uns zu sein.“
    „Ich werde sie schon überzeugen können.“
    „Gut“, sagte Niber. „Ich denke, dass ist alles was wir tun können. Kommen wir zum zweiten Punkt unserer Tagesordnung, eine Sache, über die ich schon seit langem mit euch reden möchte. Die Soldaten Dreizehns und auch die Grünen Ritter auf dieser Seite des Gebirges werden immer zahlreicher und es sieht nicht so aus, als habe der König vor, etwas dagegen zu unternehmen. Ich fürchte, es führt kein Weg daran vorbei: wir müssen uns mal wieder einmischen.“
    Das Gemurmel am Tisch nahm wieder zu, die Gesichter nahmen unbehagliche Mienen an.
    „Ruhe“, sagte Jonathan Niber leise. „Ich weiß, dass wir es immer sehr ungern getan haben, und dass die Chancen, dass es bei der jetzigen Lage funktioniert, in etwa so groß sind wie die, im Dschungel von Jortha ein Dromedar zu entdecken, aber wir müssen es versuchen. Wer meldet sich freiwillig?“
    Die Anwesenden zögerten, aber schließlich meldete sich Andrea.
    „Ich werde es versuchen.“
    „Versuchen reicht vielleicht nicht“, sagte Niorc, eine junge Frau von den Silberwiesen. „Mach dem Kerl Feuer unter dem Hintern, sonst gehen wir noch alle drauf.“
    „Ich werde mein Bestes geben.“
    „Gut“, sagte Jonathan Niber wieder.
    Nachdem sie das also besprochen hatten, kamen sie auf andere, ebenso wichtige Themen zu sprechen, z. B. das Vorhaben Fürst Dreizehns, die Weltentore zu schließen und die Tatsache, dass sich in letzter Zeit immer mehr seiner Anhänger in der Nähe des Hjemas Tores herumtrieben.
    „In den letzten zwei Monaten wurden dort ganze drei Schwarzmagier gesichtet und ich mache mir Sorgen, dass sie unsere Zauber aufheben könnten“, sagte Jonathan Niber. „Es war klar, dass sie früher oder später hier anfangen würden zu suchen, jetzt, nachdem sie das Tor im Süden zerstört haben und ihre Versuche, das in Kannitz zu finden, gescheitert sind. Und je mehr seiner Anhänger hier herumlaufen, desto größer ist die Gefahr, dass einer von ihnen zufällig darüber stolpert. Ihr wisst, was ich meine. Vor wenigen Wochen sind zwei Soldaten Dreizehns dort aufgekreuzt und haben das Tor gesehen. Sie hatten zwei Kinder bis dort verfolgt, haben es also streng genommen zufällig entdeckt. So etwas kann wieder passieren. Sie konnten überwunden und gefangen genommen werden, aber wir können nicht erwarten, weiterhin so viel Glück zu haben.“
    Sie nickten, sie wussten es alle. Die Zauberbanne auf dem Tor bewirkten zwar, dass jemand, der nicht wusste, wo es lag, nicht darauf stoßen konnte, wenn er es suchte, aber schon, wenn er gerade etwas anderes vorhatte und nur zufällig darüber stolperte. Normalerweise verhinderten die allgemeinen Schauergeschichten, die man sich über den Dark Forest erzählte, dass dort allzu viele Menschen herumliefen und das Tor entdeckten, aber wenn Dreizehn ganze Regimente dorthin schickte, war es nur eine Frage der Zeit, bis jemand, der vielleicht gerade nicht so befehlstreu nach dem Tor suchte, darüber stolperte. Es war eine verzwackte Lage, aber es half auch nicht groß, darüber zu sprechen, keinem von ihnen fiel eine Lösung ein. Solange der Großkönig den Ernst der Lage so dermaßen unterschätzte, gab es nichts, was sie tun konnten.

    Die Versammlung des Raz-We-Wo-Na dauerte lange und als Jimo Kandrajimo das Hauptquartier endlich wieder verließ war es schon dunkel. Die Sterne funkelten am Himmel und blinzelten ihm zu. Hinter ihm ging Tabea und trat missmutig einen Stein beiseite. Er hatte sie direkt nach der Versammlung aufgesucht und die Bitte des Rates an sie weiter getragen. Jetzt war sie schlecht gelaunt, weil sie wieder in die andere Welt musste. Er wusste, sie hätte einiges darum gegeben sich mal wieder auszuruhen und an einem friedlichen Plätzchen in dieser Welt zu verweilen, anstatt sich der Hektik und Ruhelosigkeit der anderen Welt auszusetzen. Kandrajimo dagegen hätte einiges darum gegeben, wieder das pulsierende Leben einer Großstadt zu spüren, statt der starren Sterne die bunten Lichter eines Flugzeugs am Himmel zu sehen oder das Gefühl des Fliegens bei der Fahrt in einem Auto zu erleben.
    Auch er war übrigens nicht glücklich mit seinem Auftrag. Er hatte ernsthaft vorgehabt, Wolf bei der Suche nach seinem Lehrling zu helfen, aber das konnte er sich jetzt an den Hut stecken.
    „Du hast dich freiwillig gemeldet um nach Maja Sonnfeld zu suchen, nicht wahr?“, fragte Tabea, als hätte sie geahnt, in welche Richtung seine Gedanken gerade schwammen.
    „Wie kannst du das wissen?“
    „Ich kenne dich, es ist genau das, was du tun würdest. Außerdem bist du der einzige, der sie schneller finden kann, als ich.“
    „Das glaube ich nicht.“
    „Sagt der Mann, der sich in Luft auflösen kann, um an einem völlig anderen Ort wieder aufzutauchen.“
    „Aber woher soll ich wissen, wo ich anfangen soll? Warum hast du sie nur weglaufen lassen? Und warum hast du so lange gebraucht, um uns das mitzuteilen? Machen wir uns nichts vor, es war viel länger, als nötig gewesen wäre. Was ist dein Problem mit diesem Mädchen?“
    „Du meinst abgesehen davon, dass sie absolut keinen Respekt hat und dass sie trotzig und quengelig ist?“
    Kandrajimo nickte.
    „Was ich in der Versammlung sagte, meinte ich auch so. Ich fürchte, sie wird euch den Untergang bringen.“
    Er seufzte. „Und du denkst, sie im Stich zu lassen, wird etwas daran ändern?“
    „Ach, was weißt du schon?“, zischte sie und wandte sich ab. Ohne ein weiteres Wort, ohne ihn noch einmal anzusehen, ging sie davon.

  • Wow, Tabea mag Maja echt überhaupt nicht. Hoffentlich bewahrheiten sich ihre Befürchtungen nicht. Den Rat hast du mit all seinen offenen und unterschwelligen Konflikten gut rübergebracht. Bin immer noch ein Fan dieser Geschichte. :thumbsup:

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker