Eine Welt ohne Namen - Die 1. Reise

Es gibt 263 Antworten in diesem Thema, welches 76.192 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (2. November 2023 um 19:13) ist von Rainbow.

  • Zitat

    Der Baum ließ sie aus zwei Metern Höhe auf den Boden fallen. Geschickt rollte Maja sich ab, stand auf und sah sich zuerst einmal um.


    Nimms mir nicht übel, aber in meinem Kopf sah das wie einer dieser tollen Filmstunts aus, in denen Helden nie auf die Schnauze fallen :D Maja war schwindelig und sie fiel aus 2m Höhe und kann sich da noch geschickt abrollen?

    Zitat

    „Wer seid ihr?“, entgegnete er und wiederholte damit Majas Frage.


    Das ist tautologisch, der Leser weiß, dass die Frage wiederholt wird.

    Zitat

    sie stockte einen Moment. „Wir dachten, ihr gehört zu ihm. Ich dachte das“,


    Unterbricht Maja da ihren Satz, der ging danach nämlich nicht weiter? Dann würde ich "Ich dachte, dass ..." schreiben.

    Uiuiui, ich glaube, irgendwas stimmt da mit Majas Sinnen nicht. Sie wirkte selbst ein wenig wie Tabea, ob das abgefärbt hat? Ich denke, dass diese Kamiraenkräfte sich wohl irgendwie negativ auf ihr Verhalten auswirken, auch wenn ich es merkwürdig finde, dass sich Maja unvorsichter verhält, wenn sie Gefahr doch jetzt noch deutlicher spüren kann :hmm:

  • Alopex Lagopus: Danke ^^ . Wie immer ein sehr hilfreicher Kommentar.

    Zitat

    Nimms mir nicht übel, aber in meinem Kopf sah das wie einer dieser tollen Filmstunts aus, in denen Helden nie auf die Schnauze fallen :D Maja war schwindelig und sie fiel aus 2m Höhe und kann sich da noch geschickt abrollen?


    Okay, mir geht es genauso und du hast natürlich absolut recht. Aber ich sage einfach: Ja, kann sie :D . Die Alternative wäre nämlich, dass sie sich das Genick bricht. Sie kann ja auch aus fahrenden Autos springen. Deshalb lasse ich es stehen, obwohl dein Kommentar eigentlich natürlich vollkommen berechtigt ist.
    Den Rest hab ich verbessert.

  • Der Fluch


    Schon nach wenigen Schritten wusste sie nicht mehr wohin, sie wollte weder weitergehen noch umkehren und so blieb sie einfach stehen. Aber sie wäre ohnehin nicht weit gekommen, denn im selben Augenblick, in dem Maja aus ihrem Zelt trat, kam Kamanjo aus einem riesigen, ebenfalls neu aufgestellten Zelt. Er blieb vor ihr stehen, musterte sie mit zusammengekniffenen Augen und ihr wurde klar, dass Karim nicht übertrieben hatte. Man hielt sie für verrückt.
    „Komm mit“, sagte Kamanjo und Maja entschied, dass es das Beste wäre, auf Karim und Jinna zu hören und zu gehorchen. Während sie dem Häuptling durch die Zeltreihen folgte, spürte sie wieder die Gefahr im Nacken. Oder bildete sie sich das bloß ein? Aber Karim hatte Recht, sie konnte nichts tun, sie war nur ein kleines Mädchen. Auf einmal sah sie sich als das, als was die Erwachsenen sie schon immer gesehen hatten, außer Tamor vielleicht: als kleines, schmächtiges, dreizehn-jähriges Mädchen, das gemeinsam mit anderen, ebenso schwachen und machtlosen Kindern durch die Wildnis irrte. Die Situation kam ihr widersprüchlich vor, irgendwie gleichzeitig reizvoll und schrecklich.
    Kamanjo führte sie in das Zelt aus dem er gekommen war. Drinnen herrschte ein warmes, rötliches Licht, auf dem Boden waren Felle ausgebreitet und an den Wänden hingen Schnüre mit regenbogenfarbenen Federn. Leute mit ernsten Gesichtsausdrücken standen in kleinen Grüppchen herum und unterhielten sich leise. Im hinteren Teil des Zeltes lag Gnark, der Baum, der Maja hierher gebracht hatte.
    Maja hatte noch nie einen Baum liegen sehen und so musste sie im ersten Augenblick schmunzeln, aber dann sah sie genauer hin und der Anblick wischte ihr das Lächeln vom Gesicht. Der Baum sah schrecklich aus: Sein Holz war nicht mehr braun, sondern hatte eine trüb-graue Farbe angenommen; die Wurzeln lagen schlaff auf der Erde, ebenso die Zweige, an denen die Blätter welkten und herabfielen. Bei näherem Hinsehen konnte man erkennen, dass die Blätter nicht nur welkten, sondern gräulich-grünen Schimmel ansetzten und an der Seite hatte der Baum einen klaffenden Riss, an dessen Rändern sich ebenfalls dicker, grüner Schimmel bildete.
    Der Anblick war so widerlich und unappetitlich, dass Maja es nicht wagte, auch nur einen einzigen Schritt auf den Baum zuzumachen.
    Dann kam jemand auf sie zu und warf ihr einen Gegenstand vor die Füße. Es war das blau schimmernde Schwert. Die Genêpas hatten es aus dem Wald geholt. Maja sah den Mann an, der es gehalten hatte und der nicht so aussah, wie die anderen Genêpas, auch wenn er sich genauso kleidete. Er war im mittleren Alter, hatte kurzes, blondes Haar mit grauen Strähnen, war groß, aber klapprig, hatte lustige Fältchen um die Augenbrauen und Mundwinkel und trug, zu Majas Verblüffung, eine Brille – eine recht moderne sogar. Das hatte sie in der Welt ohne Namen noch nicht gesehen und auch nicht erwartet.
    Maja glaubte, in dem Mann jemanden aus ihrer Welt zu erkennen. Sie lächelte erfreut. Doch der andere verzog keine Miene; er zeigte mit der Hand auf das Schwert und sprach sie an:
    „Gnark sagt, dass das die Waffe ist, mit der du ihn angegriffen hast.“
    Maja nickte und eine fürchterliche Ahnung stieg in ihr auf. War sie an dem schrecklichen Zustand des Baumes Schuld?
    „Woher hast du es?“, wollte der Mann wissen. Dann streckte er noch die Hand in eine Tasche seiner hellen Lederjacke und zog eine große, in allen Regenbogenfarben schillernde Feder heraus. „Und woher hast du die?“
    Maja starrte die Feder von Tamors Bruder an. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie ihr aus der Tasche gefallen war. „Die hab ich…“, fing sie an und beschloss dann, die ganze Geschichte zu erzählen. „Jemand hat mir dieses Schwert gegeben, damit ich es über das Gebirge zu seinem Bruder trage. Er war nicht da, es sah nach einem Kampf aus, deshalb habe ich das Schwert erst einmal mitgenommen. In dem Haus habe ich auch die Feder gefunden.“
    „Und als du das Schwert nicht abgeben konntest, da dachtest du, du benutzt es einfach mal.“ Der Mann spuckte die Worte förmlich aus, er sah wirklich wütend aus. Maja wurde jetzt beinahe ebenso wütend. Wie oft sollte sie es denn noch erklären?
    „Ich wurde von einem Baum angegriffen. Ich habe die erste Waffe benutzt, die ich in die Hände bekommen habe; ich habe mich nur verteidigt“, rief sie.
    „Das Schwert ist verflucht!“, brüllte ihr Gegenüber. „Seine Wunden heilen nicht und es richtet furchtbare Schäden am Körper an.“ Er zeigte auf den Baum. „Er wird qualvoll sterben.“
    Maja schwieg betroffen. Das hatte sie doch nicht wissen können, genauso wenig, wie sie hätte wissen können, dass der Baum ihr nicht feindlich gesinnt gewesen war. Oder? Hatte nicht in Tamors Brief etwas in der Richtung gestanden? In einem Nebensatz? Sie fühlte sich schrecklich schuldig.
    „Kann man nichts für ihn tun?“, fragte sie.
    Vorsichtig machte sie ein paar Schritte vorwärts und trat an das Sterbebett des Baumes. Sie musste sich überwinden, ihn anzusehen, aber sie tat es. Seine Augen waren nicht mehr strahlend rot, sondern trüb. Er sah nicht so aus, als registriere er seine Umgebung.
    „Ich kenne einen Weg, den Fluch von dem Schwert zu nehmen, aber es ist extrem gefährlich, vielleicht sogar unmöglich. Deshalb hat mein Bruder mir das Schwert zukommen lassen, ich habe ihm geschrieben, dass ich weiß, wie man den Fluch löst. Ich bin mir aber nicht sicher, ob ich den Versuch wagen würde.“
    Maja starrte ihn eine Weile an, bis ihr klar wurde, was er soeben gesagt hatte. „Ihr seid Tamors Bruder?“ Dann fragte sie sich, warum ihr das nicht gleich klar gewesen war. Abgesehen von Kleidung und Haarschnitt sahen sie sich wirklich ähnlich.
    Der Mann nickte. „Mein Name ist Simon Coran Pericatto. Hier werde ich Simon genannt. Ich habe das Haus, in dem ihr mich gesucht habt schon vor einigen Wochen verlassen, weil man mir drohte, mich umzubringen. Ich hielt es für klüger, meine Wohnstatt ordentlich zu verwüsten und bei meinen Freunden, den Genêpas, Unterschlupf zu suchen.“ Er grinste verschmitzt. Dann schaute er zum Zelteingang und schien über etwas nachzudenken.
    „Wenn man den Fluch von dem Schwert nimmt, wird der Baum dann wieder gesund?“, fragte Maja.
    „Das ist sogar die einzige Möglichkeit, Gnark zu retten“, antwortete Simon. „Der Fluch ist an das Schwert gebunden, auch jetzt noch. Aber es gibt keine Garantie, dass es funktioniert.“
    „Wie hebt man den Fluch auf?“
    „Man muss die Waffe reinwaschen. Hier in der Nähe gibt es einen Berg, an dessen Spitze eine Quelle entspringt. Dort hat vor vierhundert Jahren ein Mann namens Molin ein Messer von einem ähnlichen Fluch freigewaschen. Aber der Berg ist von einem tiefen Graben umschlossen über den nur eine schmale Brücke führt und seit Molin hat niemand mehr sie überqueren können.“
    Maja sah den Baum an und für einen Moment hatte sie das Gefühl, als würden seine grauroten Augen die ihren finden.
    „Ich versuche es“, sagte sie zu ihm.
    „Du wirst hinunter fallen“, mischte sich Kamanjo nun das erste Mal ein. „Unser Stamm hat dort über Jahre hinweg viele Angehörige verloren. Nicht einer von denen, die versucht haben, die Brücke zu überqueren, ist herüber gekommen. Sie ist sehr schmal und der Wind böig. Jeder, der versucht, hinüber zu gelangen, fällt herunter. Seile, mit denen man sich festbindet, reißen. Wir nennen sie nun die verbotene Brücke, denn sie ist verflucht. Niemand aus unserem Stamm darf auch nur in ihre Nähe gehen. Trotzdem haben wir dieses Jahr schon zwei Kinder dort verloren, weil sie glaubten, sie wüssten es besser als die älteren. Weil sie glaubten sie könnten auf der Brücke ihren Mut unter Beweis stellen. Wir glauben, dass die Götter nicht wollen, dass wir das, was immer auf der anderen Seite ist, erreichen.“
    „Ich werde es trotzdem versuchen“, sagte Maja. Sie wusste, dass sie ewig Schuldgefühle haben würde, wenn sie es nicht tat. „Werdet ihr mich davon abhalten?“
    Kamanjo schüttelte den Kopf. „Uns ist es vollkommen gleichgültig, was du tust. Aber ich warne dich, es grenzt an Selbstmord.“
    „Ich denke anders darüber“, sagte Simon, als Maja ihn ansah. „Ich bin der Meinung, dass es deine Pflicht ist, den Schaden, den du angerichtet hast, wieder gutzumachen.“
    Und so seltsam es Maja auch vorkam, sie musste ihm zustimmen.
    „Dann bring mich hin“, sagte sie zu ihm.
    „Wir bringen dich alle hin“, sagte Kamanjo. „Gnark ist unser Freund und du sollst alle Unterstützung haben, wenn du ihn retten willst. Wenn wir dich auch nicht über die Brücke begleiten können, denn was in diesem Stamm einmal verboten ist, das bleibt verboten. Selbst wenn es um unser Überleben gehen würde.“

  • Zitat

    Bei näherem Hinsehen konnte man erkennen, dass die Blätter nicht nur welkten, sondern gräulich-grünen Schimmel ansetzten und an der Seite hatte der Baum einen klaffenden Riss, an dessen Rändern sich ebenfalls dicker, grüner Schimmel bildete.


    Wiederholung

    Wow, du warst ja richtig fleißig heute :thumbsup: Damit wäre das Rätsel um Tamors Bruder also gelöst. Ein verfluchtes Schwert also. Ich frage mich gerade, warum Tamor sich von der Waffe trennt und sie seinem Bruder schickt, wo die zwei sich doch nicht so gut verstehen, wie du sagst. Und ob der Fluch auf der Brücke wohl auch für Kamiraen gilt? ;) Wenn es denn ein Fluch ist.

    • Offizieller Beitrag

    Stimme Alo zu ^^
    Aber gut zu hören, dass es eventuell eine Möglickeit gibt, den Fluch zu lösen.
    Allerdings sollte Maja auch die Warnungen ernst nehmen, und hoffe, dass sie zu den Wenigen gehört, die es schaffen 8o

    Der Baum kann einem echt leid tun. Aber wie sie sagte, ich hätte bei der Art und Weise auch nicht verstanden, dass er ihr nicht böse gesinnt war ;)
    Man ist schon immer gleich dabei, sein eigenes Leben zu verteidigen, anstatt erstmal Fragen zu stellen

    Der Rest war leicht geschrieben, heißt, ich konnte dem Text ohne Anstrengungen folgen, was ich klasse finde. Es ist plausibel geschrieben und Kopfkino rattert gleich los ^^

    :super:

  • Die verbotene Brücke


    Wenige Minuten später machten sie sich auf den Weg. Es war keine Zeit zu verlieren. Man hatte Maja ein Pferd geliehen und sie ritt inmitten von zehn Genêpas, darunter Kamanjo, und Simon. Das Schwert trug sie auf dem Rücken. Karim, Jinna und Matthias wussten nicht, was vor sich ging. Es war von Kamanjo bestimmt worden, dass Maja ihnen das selbst sagen sollte, aber die hatte nicht im Traum daran gedacht und geantwortet, dass Karim und Jinna zu erschöpft seien, um sie zu begleiten. Kamanjo hatte das bloß mit einem Naserümpfen quittiert.
    Sie brauchten nicht lange bis sie den Berg sehen konnten. Er war felsig, aber gemessen an denen, die weiter hinten im Gebirge standen recht klein. Maja schaute zu seiner Spitze und hoffte, dass der Rest des Tages reichen würde um sie zu erreichen. Schade, dass Taramos nicht mehr bei ihr war. Simon hatte ihr erzählt, dass auch er gehofft hatte, die Halbdrachen für die Reise auf den Berg benutzen zu können, aber nun, da die Zeit eilte, mussten sie auf sie verzichten.
    „Was machst du eigentlich, wenn ich mit dem Schwert hinunter falle?“, fragte Maja Simon als in der Ferne ein dunkler Strich auftauchte; wahrscheinlich der Graben.
    „Dann muss ich meinem Bruder schreiben und ausprobieren, ob ich es mit den Halbdrachen erreichen kann. Es wäre zu gefährlich es dort liegen zu lassen, wer weiß, wer es finden wird und was er damit anstellt. Nur ein winziger Schnitt des Schwertes reicht aus um zu töten. Diese Gefahr muss vernichtet werden.“
    Gnark hatte sie mit seiner letzten Kraft noch vor einer weiteren Gefahr gewarnt: „Seid auf der Hut vor anderen Bäumen wie mir. Ich bin Anführer meines Stammes, aber wenn ich sterbe, wird es mein Bruder werden. Er ist sehr scharf auf dieses Amt und hat viele Sympathisanten. Sie werden wissen, dass ich verletzt bin und vielleicht versuchen, euch aufzuhalten.“
    Das war Majas größte Sorge, denn ihr war klar, dass sie keine Chance hatten, wenn sie auf ihrem Weg zum Berg von einem Trupp Bäume angegriffen wurden. Wenn sie die Brücke aber einmal überquert hatte, würde sie wohl in Sicherheit sein, sie war viel zu schmal für einen Baum.
    Jetzt kam jene in Sicht, von fern war sie nicht so gut zu erkennen, aber sie war sehr schmal und sehr lang. Nur ein dünner Balken über einer tiefen, hungrigen Schlucht, die um den ganzen Berg verlief. Der Graben, der Berg und die Brücke. All das wirkte wie eine Festung und nicht wie ein natürliches Gebilde. Als hätte jemand sie geplant, um was auch immer auf dem Berg war zu schützen.

    Schließlich stand die Gruppe vor dem Abgrund. Maja blickte hinein und schluckte. Der Graben war so tief, dass man den Boden nicht sehen konnte, was aber auch am Nebel liegen konnte, der in großer Tiefe in dicken Schwaden herum waberte. An seiner breitesten Stelle, also dort wo die Brücke war, maß er sicher fünfzig Meter. Die Brücke selbst war nur etwa einen Meter breit, nur wenig höher und leicht nach oben gewölbt; sie hatte kein Geländer und bestand aus demselben grauen Fels wie ihre Umgebung, wodurch es aussah, als hätte jemand den Graben ausgehoben und die Brücke dabei einfach stehen gelassen. Sie wirkte nicht sehr stabil. Maja fragte sich, ob sie bei ihrer Länge überhaupt einen Menschen tragen konnte.
    Sie blieb zögernd davor stehen. Der Gedanke, dass sie in diesen Abgrund fallen könnte, erschreckte sie, aber nicht lange. Mutig machte sie einen winzigen Schritt auf die Brücke und erkannte dann etwas vor ihren Füßen. Am Beginn der Brücke war ein Symbol in den Stein geritzt. Maja bückte sich und wischte den Staub davon weg. Sie erkannte die Abbildung eines Baumes in einem Ring. Zuerst dachte Maja, es bezöge sich auf die wandelnden Bäume in diesen Wäldern, doch dann fiel ihr ein, dass sie dasselbe Zeichen um ihren Hals trug. Das Zeichen von Pheris zierte diese Brücke und es schien Maja ein wenig Mut zu machen. Sie dachte daran, wie sie aus Tabeas fahrendem Auto gesprungen war. Sie konnte es schaffen. Mit diesem Gedanken ging sie los. Sie wanderte, ohne sich zu verabschieden oder noch einmal umzudrehen, über die Brücke, schaute konzentriert auf ihre Füße und streckte die Arme weit von sich um das Gleichgewicht zu halten. Je weiter sie zur Mitte des Grabens kam, desto stärker zerrte der Wind an ihr, aber sie ließ sich nicht entmutigen.
    „Maja, Stopp!“, schrie plötzlich jemand.
    Maja drehte sich um. Als erstes sah sie Matthias, zwischen den Genêpas stehend und wild mit den Armen fuchtelnd. Mit dem Mund formte er Worte, die Maja nicht verstehen konnte. Neben ihm stand Jinna und starrte sie mit einem Blick an, der völliges Entsetzen ausdrückte. Karim hatte einen Schritt auf die Brücke gemacht und blickte sie flehend an. Seine Stimme war es, die sie gehört hatte. „Komm zurück!“, schrie er und die Worte hallten zwischen den Wänden der Kluft.
    Maja drehte sich um und wollte weiter gehen.
    „Nicht!“, brüllte Karim. „Du wirst sterben!“
    Sie drehte sich wieder um.
    „Warum tust du das?“, schrie Karim.
    „Ich werde Gnark retten“, antwortete Maja und obwohl sie es nur ganz leise sagte hallte ihre Stimme durch den ganzen Graben. „Es ist meine Schuld, dass er so zugerichtet ist und ich werde ihn retten. Ich werde es wiedergutmachen.“
    „Komm zurück!“, rief Karim verzweifelt. „Du bist zu jung … “
    Was er danach sagte kam nicht mehr bei Maja an.
    „Zu jung? Ich war nicht zu jung, um mich in diese Welt zu schleppen, nicht zu jung, um euch über das Gebirge zu begleiten.“ Sie holte tief Luft. „Nicht zu jung, um von dir einfach mutterseelenallein in diese Welt geschickt zu werden, nachdem ich dir nicht mehr nützlich war. Und jetzt tust du plötzlich wieder so, als hättest du eine Verantwortung für mich.“ Sie machte einen Schritt rückwärts, weiter über die Brücke.
    „Es tut mir Leid!“, rief Karim. „Das, was ich zu dir gesagt habe – es war ein Streit, bitte lass es uns vergessen.“
    „Mir tut es auch Leid!“, rief Jinna.
    „Das sagt ihr nur, damit ich nicht weiter gehe!“, schrie Maja und machte noch einen Schritt weiter nach hinten.
    Dann rutschte sie ab. Sie schrie auf, griff mit ihren Händen blind nach oben und erwischte eine Steinkante. Vom Rand des Grabens drangen Schreie zu ihr und sie klammerte sich mit den Fingerspitzen an der Kante fest; ihre Füße hingen ins Nichts. Sie blickte nach oben. Die Brücke war mitten in der Mitte zu Ende gewesen – wie hatte sie das vorher nicht sehen können? – und sie war ins Leere gefallen. Jetzt hing sie hier, Sekunden davon entfernt abzurutschen und ins Bodenlose zu stürzen
    „Hilfe!“, schrie sie, als ihre Finger nachgaben, aber niemand kam ihr zu Hilfe. Aus der Menge der Zuschauer kamen erstickte und entsetzte Schreie, aber nicht ein einziger der Zuschauer wagte es, die Brücke zu betreten. Maja blickte nach unten und sah an ihren Füßen vorbei: Tief unter ihr waberte der Nebel. Sie stöhnte und begann, sich hochzuziehen. In der Schule war sie nie gut in Kraftübungen gewesen, Klimmzüge hatte sie nicht einen geschafft, obwohl sie, wenn sie erst einmal oben gewesen war, sich lange hatte halten können. Jetzt biss sie die Zähne zusammen und versuchte, sich hochzuziehen. Sie schaffte ein Stück und lugte kurz mit dem Gesicht über die Kante, aber dann musste sie kurz loslassen um sich irgendwo anders festzuhalten. Ihre rechte Hand löste sich und schnellte vorwärts, aber im selben Moment konnte ihre linke Hand ihr Gewicht nicht mehr halten und sie stürzte wieder ab. Ihre rechte fand keinen Halt und Sekunden später hing sie wieder in derselben Position, dieses Mal jedoch nur an einer Hand. Vom Rand des Grabens drang wieder entsetztes Aufkeuchen zu ihr und Karims Stimme, die rief: „Lasst mich los – Maja!“
    Er wollte ihr helfen, aber sie ließen ihn nicht, vermutlich befürchteten sie, dass er ebenfalls abstürzen würde. Dass er ihr helfen wollte, gab Maja neue Kraft und plötzlich spürte sie unter ihrem Hemd ganz deutlich das Amulett, das Zeichen von Pheris. Es war warm und es sagte ihr: Du bist eine Kamiraen und du schaffst das jetzt.
    Und plötzlich spürte Maja eine neue Kraft in den Armen und mit einem lauten Schrei, der allen Zusehenden den Atem raubte, zog sie sich zurück auf die Brücke.
    Wo sie zusammenbrach. Zitternd blieb sie auf der Erde liegen und schaffte es nur noch, den Kopf zu heben und zu sehen, wie Karim von Simon, und Matthias und Jinna von zwei Genêpas festgehalten wurden. Dann sank sie platt auf die Brücke und blieb mit dem Gesicht auf dem Stein liegen; die Sonne brannte ihr auf den Rücken. Ihre Arme zitterten haltlos und sie schnappte nach Luft. Außerdem wurde ihr schwindelig, wenn sie an den bodenlosen Abgrund unter ihr dachte.
    Nach zwei Minuten schaffte sie es endlich, ihre zitternden Glieder wieder zu benutzen und stand langsam auf. Sie drehte sich um und sah, warum sie abgestürzt war. Nur wenige Zentimeter vor ihr war eine etwa zwei Meter lange Lücke in der Brücke, eine architektonische Unmöglichkeit. Eigentlich musste die Brücke doch einstürzen. Maja ging zwei Schritte rückwärts und das Loch schloss sich langsam. Es war ein Trugbild, das man erst zwanzig Zentimeter vor dem Loch durchschaute. Eine Art magische Falle, es musste Magie sein. Maja blieb nichts anderes übrig, als über die Lücke zu springen. Zwei Meter waren schaffbar, aber sie zögerte noch. Was war, wenn der Brückenabschnitt, den sie hinter der Lücke sah, auch eine optische Täuschung war? Sie musste irgendetwas hinüber werfen, aber was? Auf der Brücke lagen keine Steine, der Wind hatte alles, was nicht niet und nagelfest war, hinabgefegt und zurück zu den Genêpas wollte sie nicht gehen. Es wäre ihr selbst so vorgekommen, als würde sie aufgeben und wer wusste schon ob diese sie noch einmal hätten gehen lassen. Sie griff in ihre Hosentaschen und zog alles heraus, was sie dort hatte. Es war einiges: ein grob bekritzeltes Taschentuch, Jillians Brief und die Erklärungen von Matthias über das Nebeltal, außerdem ein stummelkurzer Bleistift, ein paar Seiten aus dem Block, den sie Matthias geschenkt hatte und eine Kastanie. Die, die von der Rauchkugel übrig geblieben war. Außer dem Bleistift waren es alles Dinge, die eine Bedeutung für sie hatten. Maja steckte sie wieder in die Tasche und warf nach einer kurzen Phase der Konzentration den Bleistift auf die andere Seite des Loches. Sie versuchte, die Brücke dort so knapp am Loch wie möglich zu treffen. Der Stift fiel auf den grauen Stein, rollte ein wenig darauf entlang und fiel dann hinunter. Aber Maja wusste jetzt, wo sie landen konnte. Sie ging ein paar Schritte rückwärts um Anlauf zu nehmen. Sofort verschwand die Lücke wieder und sie wusste nicht, wo sie abspringen musste. Sie legte die leeren Blätter aus dem Block an die Stelle, doch sie flogen sofort davon. Bei den starken Böen würde vermutlich selbst die Kastanie davon rollen. Außerdem kam ihr jetzt in den Sinn, dass sie den Wind auch bei ihrem Sprung mit einberechnen musste. Es war schwierig: Maja musste sich den Beginn und das Ende der Lücke merken, den Punkt an dem sie abspringen musste und den, wo sie sicher wieder landen konnte, denn die Brücke würde vermutlich erst auftauchen, wenn sie nicht mehr bremsen konnte. Sie ging noch ein Weilchen vor und zurück und versuchte, nicht in den Abgrund zu schauen, als sie sich alles genau einprägte. Dann ging sie drei Schritte zurück, nahm Anlauf und sprang. Sie kam sicher auf der anderen Seite an, warf noch einen Blick zurück auf das Loch und setzte dann langsam und vorsichtig, Schritt für Schritt ihren Weg fort. Es gab keine weitere Lücke in der Brücke, was ja auch völlig unmöglich gewesen wäre, aber Maja hatte es doch nicht ausschließen wollen. Endlich machte sie den letzten Schritt auf sicheres Land. Erst als sie den Abgrund zwei Meter hinter sich gelassen hatte, wagte sie es, sich umzudrehen und den Menschen auf der anderen Seite zuzuwinken. Diese winkten erleichtert zurück.
    Maja rückte das Schwert auf ihrem Rücken zurecht, wandte sich wieder dem Berg zu und ging weiter.

    Einmal editiert, zuletzt von Dinteyra (11. Dezember 2014 um 21:32)

  • Diesmal sind mir ein paar stilistische Sachen aufgefallen:

    Zitat

    Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Man hatte Maja ein Pferd geliehen und sie ritt inmitten von zehn Genêpas, darunter Kamanjo, und Simon. Das Schwert trug sie auf dem Rücken. Karim, Jinna und Matthias hatte man nicht Bescheid gesagt. Kamanjo hatte bestimmt, dass Maja das selbst tun solle, aber die hatte nicht im Traum daran gedacht. Sie hatte Kamanjo gesagt, dass Karim und Jinna zu erschöpft seien, um sie zu begleiten, was dieser mit einem Naserümpfen quittiert hatte.


    PQP ist ekelig, ich weiß und das einzige, was du hier dagegen tun kannst, ist einige Sätze so abzuwandeln, dass du statt "hatte" "war" benutzen kannst.

    Zitat

    Der Graben war so tief, dass man den Boden nicht sehen konnte, was aber auch am Nebel liegen konnte, der in großer Tiefe in dicken Schwaden herum waberte. An seiner breitesten Stelle, also dort wo die Brücke war, war er sicher fünfzig Meter weit. Die Brücke selbst war etwa einen Meter breit und leicht nach oben gewölbt; sie hatte kein Geländer. Sie war aus demselben grauen Fels wie ihre Umgebung, wodurch es aussah, als hätte jemand den Graben ausgehoben und die Brücke dabei einfach stehen gelassen. Nach unten war sie etwas über einen Meter dick. Maja fragte sich, ob sie überhaupt einen Menschen tragen konnte, so lang wie sie war.


    Hier hast du kein PQP. Mein Programm würde das "Verbfaulheit" nennen ^^ Versuch zum Beschreiben der Brücke ruhig andere Verben zu finden, damit es sich weniger wie eine Aufzählung liest :)

    Zitat

    Am Beginn der Brücke war ein Symbol in den Stein geritzt. Maja bückte sich und wischte den Staub davon weg. Es war eine Abbildung von einem Baum in einem Ring. Zuerst dachte Maja, es bezöge sich auf die wandelnden Bäume in diesen Wäldern, doch dann fiel ihr ein, dass sie dasselbe Zeichen um ihren Hals trug. Das Zeichen von Pheris war auf dieser Brücke und es schien Maja ein wenig Mut zu machen. Sie dachte daran, wie sie aus Tabeas fahrendem Auto gesprungen war.


    Hier dasselbe, auch wenn es an dieser Stelle nicht ganz so gehäuft ist.

    Zitat

    Es gab keine weitere Lücke in der Brücke, was architektonisch ja auch völlig unmöglich gewesen wäre, aber Maja hatte es doch nicht ausschließen wollen.


    Genau dieselbe Beschreibung verwendest du einen Absatz weiter oben. Bei solch seltenen Formulierungen sollte etwas mehr Raum dazwischen liegen, es fällt sonst irgendwie auf.

    Huh, wer baut denn solch gemeingefährliche Brücken, das ist ja die reinste Todesfalle - wobei nun auf jeden Fall geklärt ist, dass sie nicht verflucht, sondern nur schlampig (oder besonders ausgeklügelt ;) ) konstruiert ist. Dann bleibt zu hoffen, dass sich nach dieser Anstrengung sich jetzut nicht auch noch die Bäume in Majas Weg stellen werden.

    • Offizieller Beitrag

    Spannender Teil, was die Brücke anging, ich rechnete damit, dass sie fast schon hinunterstürzen würde 8o
    Aber schön, dass es gut ausgegangen ist. :rolleyes:
    Aber en bissken feige fand ich die anderen schon X(
    DAs mit der optischen Täuschung hab ich mir mal versucht vorzustellen in Kombi mit ner Brücke, da stockte mein Kopfkino etwas. Rein theoretisch ....
    wenn das architektonisch bedingt ist, müsste die Brücke Gefälle und Steigung besitzen, damit man eine Lücke übersieht. Also die beiden sich gegenüberliegende Seiten müssten sich etwas überscheiden ... Kann leider net aufmalen, was ich meine :D, aber das hätte Maja auffallen müssen :P
    Aber das ist im Sand nach Steinen gesucht.
    Sonst alles super und die Stimmung gut rübergebacht :super:

  • Vielen Dank an euch beide :thumbup: , ich habe das Kapitel verbessert. Außerdem habe ich aus der optischen Täuschung ein magisches Trugbild gemacht, das ist nämlich das, was ich eigentlich meinte. So eine Art Fata Morgana. Gut, dass ihr mich darauf aufmerksam gemacht habt, sonst hätte ich nicht mal gemerkt, dass ich eher etwas anderes beschrieben habe.
    So, Action-Modus ein. Ich bin gespannt, was ihr davon haltet. Ich kann mir gut vorstellen, dass ihr es auseinander nehmt. :S
    Aber das dürft ihr natürlich auch gerne. :D


    Ein Bruder wird zum Feind


    Auf dem Berg wuchs kein Grashalm und es war so heiß, als wäre Maja in der Wüste gelandet. Sie schleppte sich keuchend und schwitzend den felsigen Hang hinauf und verfluchte sich, dass sie nicht daran gedacht hatte, Wasser mitzunehmen. Um sie herum schwirrten blaue Sirenen in der prallen Nachmittagssonne.
    Sie wusste nicht genau, wo sie die Quelle suchen musste; verschiedene Aufzeichnungen Simons sprachen von der Spitze des Berges, aber niemand wusste, wie ernst diese zu nehmen waren. Maja kletterte weiter und versuchte, nicht daran zu denken, was passierte, wenn sie abrutschte. Dann, endlich, war sie oben.
    Der höchste Punkt des Berges war flach und rund, als hätte jemand ein spitzes Hütchen einfach abgesägt. Das kreisförmige Plateau hatte einen Durchmesser von etwa zwanzig Metern, aber eine Quelle war nirgends zu sehen. Maja ging an seinem Rand entlang und blickte nach unten, auf der Suche nach etwas, das nach Wasser aussah. Auf der gegenüberliegenden Seite derer, von der aus sie gekommen war, wurde sie fündig: etwa zwanzig Meter unter ihr sprudelte ein kleines Rinnsaal aus dem Fels und sammelte sich darunter in einem runden Teich.
    Neben dem Teich stand was Maja befürchtet hatte. Doch wie hatte er hierher kommen können?
    Der Baum war dunkler und kahler als Gnark, viele seiner Äste waren abgesplittert und er hatte nur wenige Blätter. Zu spät bemerkte Maja, dass er seine Augen nicht am Stamm, sondern an den oberen Zweigen hatte und sie sehen konnte. Sie hechtete zurück zur Mitte des Plateaus, als der Baum sich mit seinen riesigen Wurzeln abstieß und sprang. Mit zwei gewaltigen Sätzen war er auf dem Plateau und funkelte sie zornig an. Seine Augen waren jetzt auf dem Stamm, Maja zugewandt. Sie waren leuchtend rot, wie Gnarks, aber er hatte sich nicht die Mühe gemacht eine Nase oder einen Mund zu formen. Stattdessen brachen aus dem Stamm vier lange Äste heraus und Maja erkannte, dass sich an ihren Enden Hände formten. Eine von ihnen griff hinauf zur Krone des Baumes und er riss sich selbst einen langen, geraden Ast ab. Und obwohl er keinen Mund hatte – oder vielleicht hatte er einen und Maja konnte ihn nur nicht sehen – begann er zu sprechen, so laut, dass Maja sich die Ohren zuhalten musste.
    „Verschwinde von hier.“
    „Nein!“, schrie Maja zurück und die Blätter des Baumes raschelten ärgerlich.
    „Ich lasse nicht zu, dass du zu dieser Quelle gelangst, weder heute, noch an irgendeinem anderen Tage. Gib mir das Schwert und ich verspreche, dass ich dir nichts tue. Mehr noch, ich werde dich vorbei und zur Quelle lassen. Du bist sicher durstig nach dem langen Aufstieg.“
    „Ich will einem anderen Baum das Leben retten“, sagte Maja. „Warum willst du mich daran hindern? Ihr Bäume solltet zusammenhalten oder etwa nicht?“
    „Erstens mal sind wir Kampfbäume, hör auf uns wie gewöhnliches Grünzeug zu beschimpfen. Und zweitens ist es mein Bruder, den du da retten willst. Ich bin Genoine, Sohn von Giralda, Bruder von Gnark und bald der mächtigste Kampfbaum in diesen Wäldern.“
    Maja hatte gewusst, dass es passieren konnte, dass einer von Genoines Gefolgschaft ihr auflauern würde. Doch dass es Gnarks Bruder selbst war hatte sie nicht erwartet. Wahrscheinlich hielt er das Schwert für zu gefährlich als dass es jemand anderem in die Hände fallen durfte.
    „Eben. Gerade, weil es dein Bruder ist, wie kannst du ihm nach dem Leben trachten?“
    „Du verstehst nichts von Kampfbäumen und schon gar nichts von ihren Fehden. Für mich ist er kein Bruder, sondern der Oberste Clanführer aller Kampfbäume. So hat er immer verlangt behandelt zu werden, auch von mir. Also behandle ich ihn jetzt auch so. Wie den obersten Clanführer, dessen Rang ich für mich erobern werde.“
    „Aber warum?“, fragte Maja und ging ein paar Schritte nach rechts, bis sie in der Mitte des Plateaus stand, eine Position, von der aus sie am wenigsten Gefahr lief vom Rand der Bergspitze zu stürzen. „Was hast du dagegen, dass er der Anführer ist? Oder willst du bloß Macht gewinnen?“
    „Er ist ein schlechter Anführer. Er weiß, wozu die Kampfbäume fähig sind, aber er handelt nicht danach. Er beschützt diese Genêpas-Sippe, dabei könnte er sich aufmachen und sie alle unterjochen. Wenn ich Clan-Oberhaupt werde, werde ich dafür sorgen, dass die Kampfbäume die Position erhalten, die ihnen zusteht. Versuche nicht, mich umzustimmen, kleiner Mensch. Mein Bruder würde vielleicht auf dich hören, aber ich habe kein Interesse, mich mit den Worten deinesgleichen zu befassen.“
    Erklärte er ihr gerade, dass ihm egal war, was sie sagte? Nun gut, Maja hatte ohnehin nicht erwartet, dass er sie freiwillig vorbei lassen würde. Sie musste sich den Weg erkämpfen, oder ihn irgendwie austricksen. Sie zog das Schwert und überlegte, wie sie an dem Baum vorbei kommen und die Quelle erreichen konnte. Spektakuläre Bilder gingen ihr durch den Kopf, wie sie sich an den nach ihr greifenden Ästen vorbeischlängelte, vielleicht ein paar von ihnen abhieb und dann den Hang hinunter sprang, rechtzeitig das Schwert in den Fels rammte, sodass es sie abbremste und bei der Quelle zum Stehen kam. Aber diese Bilder waren eben nur Gedanken und scheiterten in der Realität schon allein daran, dass der Fels viel zu hart war um ein Schwert darin zu versenken. Während sie verzweifelt die peitschenden Äste des Baumes ansah um vielleicht eine Lücke darin zu finden, lachte Genoine, schüttelte dabei seine Blätter und erzeugte ein bedrohliches Rascheln.
    „Du willst doch nicht tatsächlich gegen mich kämpfen, oder?“, fragte er.
    „Doch“, sagte Maja, was bei dem Kampfbaum eine weitere Lachsalve auslöste. „Aber vorher, verrate mir noch eins.“ Sie brauchte mehr Zeit. „Wie bist du hier herauf gekommen? Die Brücke kann dich nie im Leben gehalten haben, oder?“
    „Nein, die Brücke hält nur eine, vielleicht zwei Personen. Wir Kampfbäume kennen einen uralten, anderen Weg, aber den werde ich sicher nicht dir verraten. Obwohl, warum eigentlich nicht, denn wenn du tatsächlich so töricht bist, wie du gerade aussiehst und mich angreifst, kannst du es so oder so niemandem mehr erzählen.“ Während er sprach wogten die Äste des Baumes nach links und Maja witterte ihre Chance, rechts an dem Baum vorbei zu rennen. Sie rannte los. Zwei Meter vor dem Baum wurde ihr klar, dass es eine Falle gewesen war und dass sie nie die Chance gehabt hatte, an ihm vorbei zu kommen. Ein dicker Ast fischte sie von der Erde und umschlang ihren Oberkörper, während ein dünnerer ihr das Schwert aus der Hand schlug und ein dritter es auffing.
    „Du bist ja so naiv!“, höhnte Genoine, „hast du wirklich gedacht, du könntest – AHHH!“
    Sein Schrei war so laut, dass die Erde bebte, er ließ Maja fallen und sprang zurück. Dort wo der dicke Ast Majas Brust berührt hatte, war er schwarz und verbrannt und leichter Qualm stieg davon auf. Maja sah verwirrt an sich herab und erblickte das Zeichen von Pheris. Es war unter ihrem Hemd hervorgerutscht und hatte seinen Abdruck in die Rinde des Baumes gebrannt. Einen Moment lang starrten Maja und Genoine beide verblüfft abwechselnd auf das glänzende Amulett und auf die verbrannte Stelle. Es war, als hätte dort jemand einen Stempel des Zeichens von Pheris angebracht. Schließlich hörte die Wunde auf zu qualmen, aber das Symbol blieb. Deshalb hatte Tabea das Amulett also nicht mehr in die Hand genommen, nachdem Maja es angenommen hatte. Scheinbar konnte nur sie es noch berühren.
    Maja wusste, dass das hier die Waffe war, die sie benötigte. Sie nahm das Zeichen von Pheris von ihrem Hals, hielt es in der rechten Hand und wickelte die Kette um ihr Handgelenk. Dann stürzte sie wieder auf den Baum zu, bereit jederzeit mit dem für ihn glühend heißen Gegenstand zuzuschlagen, in der Hoffnung, dass er zurückweichen würde.
    Doch das tat er nicht. Wütend schlug er mit einem langen Ast zu. Maja schaffte es, den Schlag mit dem Amulett abzufangen, worauhin er zuerst den Stock und schließlich zwei weitere Äste auf sie zupeitschen ließ. Es gelang ihr, den Angriffen auszuweichen und der Stock entglitt Genoine.
    Der Kampfbaum nutzte eine kurzzeitige Orientierungslosigkeit Majas aus und packte sie mit seiner Ast-Hand am Haarschopf. In ihrer Verzweiflung wusste sich nicht anders zu helfen, als mit dem Amulett nach ihm zu schlagen und tatsächlich – es funktionierte: Er ließ sie los und wich ein Stück zurück. Ohne ihn aus den Augen zu lassen hob Maja den Stock auf, den er fallen gelassen hatte, und stellte sich ihm.
    Jetzt griff Genoine mit vier oder fünf seiner Äste gleichzeitig an. Einen zerschmetterte Maja, die plötzlich von einer unbekannten Kraft durchflutet zu werden schien, mit dem Stock, der dabei zersplitterte. Den zweiten hielt sie mit dem Zeichen von Pheris ab, die anderen jedoch umschlangen ihre Beine und zogen sie nach vorne, sodass sie auf den Rücken fiel. Dann schlug der Baum mit dem Schwert, das er Maja abgenommen hatte, nach ihr und sie schaffte es nur knapp, die rechte Hand auszustrecken und den Schlag abzufangen. Das Zeichen von Pheris hielt der Klinge stand und wieder schrie Genoine auf und ließ die Waffe fallen. An dem Ast, mit dem er sie gehalten hatte, tauchte eine rot glühende Wunde auf, die schnell schwarz wurde. Die Kraft des Amuletts hatte durch das Schwert hindurch gewirkt. Es fiel neben Maja zur Erde und erwischte mit seiner Spitze noch ihren Arm. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn und breitete sich durch ihren ganzen Körper aus. Sie wusste, dass sie schnellt handeln musste.
    Sie sprang wieder auf die Füße, das Schwert in der einen, das Zeichen von Pheris in der anderen Hand und stürzte auf Genoine zu. Seine Äste schlugen nach ihr, in seiner rasenden Wut verfehlte er sie jedoch und Maja rammte das Schwert genau zwischen seine Augen. Es drang nicht tief ein, sie konnte es sofort wieder heraus ziehen und wieder aus der Reichweite der Äste hasten.
    Die Wirkung des Schwertstreiches trat sofort ein: Der Baum schrie auf und taumelte rückwärts. Dann brüllte er schmerzerfüllt noch lauter, als hätte Majas Amulett ihn berührt, wich ein paar weitere Schritte zurück und stürzte den Abhang hinunter.
    Maja stand an der Kante des Plateaus und blickte ihm nach, wie er den steinigen Hang hinunter kugelte, schließlich gegen einen Felsen krachte und liegen blieb. Es war ihr egal, ob er noch lebte oder nicht.
    Im selben Moment, in dem sie das dachte durchfuhr ein tiefer, pulsierender Schmerz ihren ganzen Körper, sie keuchte auf und umschlang sich mit den Armen. Das Schwert fiel ihr aus der Hand und sie sank zu Boden. Aus der Wunde an ihrem Arm tropfte dunkles Blut. Sie war ebenfalls von dem Schwert vergiftet worden und sie war nicht so groß und widerstandsfähig wie Gnark. Sie musste schnellstens das Schwert von dem Fluch befreien und darauf hoffen, dass somit sie und Gnark geheilt würden. Sie griff nach dem Schwert, stützte die Spitze auf den Boden und zog sich daran hoch, dann versuchte sie den Berg in Richtung der Quelle herunter zu klettern. Es war als hätten ihre Glieder alle Kraft verloren; immer wieder durchfuhren sie heftige Wellen des Schmerzes und ihre Hände zuckten unkontrollierbar, sodass sie Mühe hatte, sich und das Schwert festzuhalten. Dann rutschte sie ab und rollte den Hang hinunter, denn sie hatte keine Kraft mehr, sich festzuhalten, versuchte es aber auch gar nicht und fiel mit einem lauten Platschen in den kleinen Teich voller Quellwasser. Sobald das Schwert das Wasser berührte, hörte der Schmerz auf, aber ihre Kraft war noch nicht zurück. Sie schaffte es nicht, ihre Arme und Beine zu bewegen und an die Wasseroberfläche zu schwimmen. Langsam versank sie in dem drei Meter tiefen, kristallklaren Teich.
    Sie dachte daran, was sie allein in den letzten Stunden alles erlebt hatte: Nur an den Fingerspitzen über einem unendlich tiefen Abgrund gehangen, diesen Berg bezwungen, einen Kampfbaum besiegt. Langsam kam ihre Kraft zurück – so viel hatte sie getan, dann würde sie das hier auch schaffen – und mit einem Mal war sie wieder da. Die merkwürdige Kraft, die sie sich an der Brücke hatte hochziehen lassen und die sie den Baum hatte besiegen lassen, kam zurück und Maja schnellte aus dem Wasser an Land und brach dort keuchend zusammen.

    2 Mal editiert, zuletzt von Dinteyra (13. Dezember 2014 um 11:08)

  • Yey, ein neuer Post, da hat sich der Abend doch gelohnt. 00:02, da warst du aber wesentlich schneller als ich :thumbsup:

    Zitat

    Mein Bruder würde vielleicht auf dich Hören, aber ich habe kein Interesse, mich mit den Worten deinesgleichen zu befassen.“


    klein

    Zitat

    Während sie verzweifelt die peitschenden Äste des Baumes ansah um vielleicht eine Lücke darin zu finden, lachte Genoine sich scheckig.


    Phrase.

    Zitat

    Aber das tat er nicht. Er schlug mit einem seiner Äste zu und Maja fing den Schlag mit dem Amulett ab, er schlug mit dem Stock zu, den er sich vorhin abgebrochen hatte und den er immer noch in seiner seltsamen Hand hielt, aber Maja wich aus und der Stock glitt dem Baum aus der Hand. Dann ließ er zwei seiner Äste auf sie zu peitschen; wieder wich Maja ihnen aus; er griff ihr mit einer Ast-Hand, die plötzlich um ein vielfaches verlängert war, in die Haare aber Maja schlug mit dem Amulett danach und er ließ sie los; gleichzeitig hob sie den Stock auf, den er fallen gelassen hatte.


    Es stimmt, die Kampfszenen sind hier nicht so ganz elegant, tut mir leid :S Ich selbst hasse Kampfszenen und finde die Wahnsinnig schwer zu schreiben. Anhand dieses Absatzes sieht man ein paar Dinge. Erstmal ist das ein verflucht langer Satz, der einen ziemlichen Aufzählungscharakter aufweist. Die zweite Sache ist die Art der Handlung, sie ist pingpongmäßig, sprich, er tut was und Maja reagiert, er macht wieder was, aber Maja weicht erneut aus, etc. Das führt zum dritten Punkt, diese aber sätze. Das ist mir an meinen Kampfszenen irgendwann auch aufgefallen, dass ich immer sehr viel mit diesen aber, doch, dennoch, worten gearbeitet habe. dadurch liest es sich aber ziemlich platt.
    Das gilt für die ganze Kampfszene. Besonders viel kannst du meiner Ansicht nach bereits erreichen, wenn du diese Aber-Sätze weglässt - auch wenn es schwer ist. Ich hasse Kampfszenen jedes Mal aufs Neue, weil ich mir sage, dass ich das nicht machen darf ^^
    Ich hoffe, das hilft dir weiter, denn richtig gut kenne ich mich mit den Kampfszenen nicht aus :pinch:

    Zitat

    Es drang nicht tief ein und sie konnte es sofort wieder heraus ziehen, aber der Baum schrie auf und taumelte rückwärts. Dann schrie er schmerzerfüllt noch lauter, als wenn Majas Amulett ihn berührt hätte, wich noch ein paar Schritte zurück und stürzte den Abhang hinunter.


    wiederholung

    Da ich soviel gemeckert habe, muss ich aber auch noch sagen, was ich gut fand :D Super gelungen ist dir der Einstieg in die Szene, wo Gnarks Bruder auftaucht. Der Dialog zwischen ihm und Maja ist echt super :thumbsup: Das Kopfkino kommt erst mit den markierten Absatz ins Wanken.

    • Offizieller Beitrag

    Schließe mich soweit Alo an.
    Die Kampfszene ist noch ausbaufähig. Halte die Sätze kürzer - so kommt Hektik auf. Versuche nicht jede Bewegung im Detail zu erklären, sondern kurz zu formulieren. Ein Kampf ist immer eine schnelle Ablauffolge und je länger die Sätze sind, desto mehr Probleme hat man, das Kopfkino aufrecht zu erhalten.
    Aber ... das ist so ne Sache. Ich bin auch kein Fan davon sowas zu schreiben.
    Ich bin nur froh, dass es ihr gelungen ist und mein Atem stockte, als sie auch von dem Schwert verwundet wurde ;(
    Jetzt lass sie schnell wieder zu den anderen zurückkehren.

    :super:

  • Vielen Dank für eure Mühen. :hail:
    Es stimmt, die Kampfszenen scheinen mir nicht so ganz zu liegen, aber ich möchte mich da unbedingt verbessern. Jede Hilfe ist willkommen, ich rahme mir eure Antworten ein und werde versuchen, in Zukunft darauf zu achten. ^^
    Die Szene habe ich überarbeitet und denke, dass sie jetzt besser ist. Ich habe mich bemüht, all eure Tipps anzuwenden, aber sie ist immer noch ein bisschen holprig. Noch besser bekomme ich es einfach nicht hin. :S Aber ich werde üben.
    Mein Problem ist halt, dass in meiner anderen Geschichte ziemlich viele Kampfszenen vorkommen und jetzt mache ich mir Sorgen, dass die auch schlecht sind. Es ist schwer, so was im Nachhinein noch zu verbessern, oder? Neu schreiben finde ich einfacher.
    Aber naja ... nochmal :danke: , was ihr geschrieben habt war sehr hilfreich. :thumbup:

  • Du bist sehr gut darin, dich selbst einzuschätzen ^^ Ja, die Szene ist besser geworden, aber da ist auf jeden Fall noch Platz nach oben. Denn jetzt hab ich was anderes gefunden:

    Zitat

    Maja schaffte es, den Schlag mit dem Amulett abzufangen, worauhin er zuerst den Stock und schließlich zwei weitere Äste auf sie zupeitschen ließ. Sie wich den Angriffen aus und der Stock entglitt Genoine.
    Der Kampfbaum nutzte eine kurzzeitige Orientierungslosigkeit Majas aus und packte sie mit seiner Ast-Hand am Haarschopf. Sie wusste sich nicht anders zu helfen, als mit dem Amulett nach ihm zu schlagen und tatsächlich – es funktionierte: Er ließ sie los und wich ein Stück zurück. Maja hob den Stock auf, den er fallen gelassen hatte und stellte sich ihm.


    Jeder Satz beginnt nun mit einem Subjekt, dass ist das, was sie so holprig wirken lässt - es entsteht Aufzählungscharakter. Gerade in Kampfszenen bietet es sich auch an, einen Satz mit einem Adjektiv zu beginnen, wie Maja handelt, oder wie sie sich beim Handeln fühlt. Der Wechsel bei den Satzanfängen macht den Text dann auch runder :)

  • So, das hab ich jetzt auch verändert (keine Ahnung, warum es mir nicht selbst aufgefallen ist :dash: , manchmal steht man beim Schreiben echt auf dem Schlauch).
    Und ein weiteres Kapitel hab ich auch geschafft.


    Ein neuer Verbündeter


    Dieses Mal brauchte Maja länger, bis sie wieder vollkommen bei sich war. Sie war nicht ohnmächtig geworden, aber so erschöpft, dass sie ihre Umgebung nur noch durch einen Schleier wahrnahm. Lange Zeit lag sie in der Abendsonne und je mehr der Tag verstrich, desto mehr genoss sie ihre Wärme und das Licht, das ihr auf Bauch und Beine, aber nicht ins Gesicht schien, denn dieses lag im Schatten eines großen Steines. Schließlich setzte sie sich doch auf, um festzustellen, dass die Wunde an ihrem Arm den Ärmel ihres Hemdes mit Blut besudelt, jetzt aber zu bluten aufgehört hatte. Dann fiel ihr auf, dass das Schwert noch am Grund des Sees lag. Erst überlegte sie, es dort liegen zu lassen, aber irgendetwas verband sie jetzt mit der Waffe, vielleicht ihre erste, geschlagene Schlacht, und Maja wollte es nicht auf diesem Berg zurücklassen. Sie sprang mit ihren gerade getrockneten Kleidern wieder in den See und zog es heraus. Dann blickte sie den Berg hinab. Genoine lag nicht mehr vor dem großen Findling, Maja vermutete, dass er noch lebte und gegangen war, um seine Wunden zu versorgen. Sie hoffte, dass er ihr nicht noch einmal auflauern würde, um Rache zu üben oder sonst etwas zu tun. Maja kniete noch einmal am See nieder, steckte den Kopf ins Wasser und trank so viel sie nur konnte. Schließlich machte sie sich auf den Rückweg.
    Der Weg über den Berg kam ihr viel kürzer vor, was daran liegen mochte, dass sie jetzt bergab musste und mehr rutschte und schlitterte als ging. Die Sonne sank immer weiter und als Maja endlich die Brücke sah setzte schon die Dämmerung ein. Eine einzelne Frau sprang dort auf und lief davon, nur um zehn Minuten später mit dem halben Dorf wieder zu kommen.
    Maja wurde wie eine Heldin empfangen. Das Überqueren der Brücke kam ihr jetzt so leicht vor. Sie zögerte nicht lange, bevor sie die zwei Meter lange Lücke übersprang und als sie gerade festen Boden unter den Füßen hatte kamen Karim, Jinna und Matthias herbei gerannt und stürzten sich mit begeisterten Rufen auf sie, sodass sie schon Angst bekam, sie würden alle gemeinsam in den Abgrund stürzen. Beschwichtigend schob sie sie von der Schlucht fort. Dann sah sie Gnark. Der Kampfbaum hatte nun all seine Blätter verloren, aber seine Augen hatten wieder einen gesunden Glanz, seine Rinde war braun und nirgendwo wuchsen Schimmel oder andere Pilze. Er sah überaus zufrieden und stolz aus und neben ihm stand Simon und schüttelte lachend den Kopf. Um seinen Hals hing ein großes Fernglas.
    „Simon hat dich mit diesem Ding beobachtet. Es funktioniert wie ein Fernrohr, aber es hat zwei Röhren und ist viel genauer“, rief Jinna aufgeregt. „Du müsstest mal durchschauen, es ist genial! Man konnte dich fast ganz scharf erkennen. Jedenfalls hat er uns erzählt, was du mit diesem Baum gemacht hast – Mann, als der aufgetaucht ist, dachte ich, du seist erledigt. Ich wüsste gerne, wie du ihn besiegt hast, das konnte man nämlich nicht erkennen. Wir haben nur gesehen, wie er plötzlich nach hinten gekippt ist.“
    Maja hatte Gnark erreicht, aus dessen Rinde, genau wie bei Genoine, vier lange Arme gewachsen waren.
    „Danke, Maja Sonnfeld“, sagte er und drückte ihr die Hand. Einem Baum die Hand zu geben fühlte sich seltsam an, sie wirkte rau und brüchig. „Du hast mein Leben gerettet, ich stehe tief in deiner Schuld.“
    „Ich habe dein Leben doch erst in Gefahr gebracht“, murmelte Maja verlegen und ein wenig beschämt.
    „Ich habe mich selbst in Gefahr gebracht, als ich glaubte, ein kleines Mädchen einfach so mitschleppen zu können. Nachdem ich gehört habe, was du mit Genoine gemacht hast, weiß ich, dass ich in Zukunft vorsichtiger sein muss.“ Er lachte.
    Die Genêpas nahmen Maja, Karim, Jinna, Matthias, Gnark, Simon und Kamanjo in die Mitte und führten sie ins Dorf zurück. Ein kleiner Junge stimmte eine Melodie an und bald sangen alle mit. Es war ein schwungvolles Lied über einen alten Helden und auch wenn Maja den Text nicht kannte, summte sie mit. Im Dorf angekommen trugen sie Feuerholz zusammen, entfachten ein riesiges Lagerfeuer und begannen, kartoffelartige lila Knollen darüber zu grillen.
    „Mann, ich glaub es ja nicht!“, schrie Karim. „Das sind Nunas! Die sind total selten.“ Und er stürzte sich auf einen Korb voll mit Nunas und spießte sich zwei davon auf einen Stock.
    „Nicht auf dieser Seite des Gebirges“, lachte Simon. „Hier.“ Er reichte Maja eine Hand voll bereits gerösteter Knollen. Hungrig biss sie hinein und verbrannte sich sofort die Zunge. Die Nunas schmeckten wie eine Mischung aus Kartoffeln und Zwiebeln. Während die ersten Sterne am Himmel erschienen probierte sie sich durch die verschiedensten Speisen und genoss die Aufmerksamkeit und die bewundernden Blicke, die man ihr zuwarf. Von dem Misstrauen, das noch wenige Stunden zuvor zwischen ihr und den Genêpas geherrscht hatte, war nichts mehr zu merken.
    Gerade nagte sie an einer Art Zucchini am Spieß, die einen sehr scharfen Geruch hatte, als plötzlich ein junger Mann vor ihr stand.
    „Ich habe das mit Genoine gehört“, sagte er. „Reife Leistung. Ich bin übrigens Gendo, einer der beiden mit denen ihr nächste Woche weiterreist.“
    „Maja Sonnfeld“, stellte sie sich vor. „Wer kommt denn noch mit?“
    Gendo deutete auf einen Jungen, der vor einem Zelteingang hockte, den Kopf in den Armen vergraben und die Beine zum Körper herangezogen. Er schien an dem Fest rundherum nicht teilhaben zu wollen.
    „Das ist Mirno“, sagte Gendo. „Er hat furchtbare Angst in Demirs Armee eintreten zu müssen. Also wie gesagt, ich wollte dir gratulieren. Das war wirklich bemerkenswert.“
    „Und von einer Kamiraen nicht anders zu erwarten, nicht wahr?“, sagte Simon plötzlich.
    Gendo ging.
    „Was?“, fragte Maja erschrocken. Sie hatte doch niemandem ... „Woher wissen Sie, dass ich…“
    „Ich habe nur geraten und offenbar richtig. Ihr seid nicht die unauffälligsten, weißt du, ihr Kamiraen. Welches zwölf- oder dreizehnjährige Mädchen wird mit einem Kampfbaum fertig? Du bist eine Kamiraen. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass du dazu noch aus der anderen Welt kommst.“
    „Sie haben mich durchschaut“, sagte Maja. „Aber wie kommen Sie darauf?“
    „Dein Verhalten, deine Art zu reden. Es lag auf der Hand. Ich komme selbst von dort.“
    „Wie Ihr Bruder.“
    „Ach ja. Tamor.“ Er machte ein Gesicht, als wäre er an etwas erinnert worden, das er lieber vergessen wollte.
    „Sie haben ihn lange nicht gesehen, oder?“
    „Wir korrespondieren fast ausschließlich durch Briefe. Wahrscheinlich ist es besser so.“
    „Warum das?“
    „Wenn wir uns über den Weg laufen streiten wir ohnehin die meiste Zeit. Er ist verrückt. Und wahrscheinlich bin ich genauso verrückt. Vermutlich kommen wir deshalb nicht miteinander klar, weil wir uns zu ähnlich sind. Wenn wir dem anderen ins Gesicht sehen, erkennen wir, was für verantwortungslose Idioten wir doch beide sind.“ Er sah traurig drein.
    „Ich denke nicht, dass Sie ein verantwortungsloser Idiot sind“, versuchte Maja ihn aufzumuntern.
    „Ach nein? Dabei habe ich es am heutigen Tag wieder einmal bewiesen. Und nächste Woche werde ich es ein weiteres Mal beweisen.“
    Er ließ sie stehen und nahm sich im Davongehen ein paar Äpfel aus einem Korb. Maja zuckte mit den Schultern und sah sich nach Karim und Jinna um. Sie hatten sich mit zwei großen Fleischspießen in eine Ecke verzogen und machten nun wieder ernste Mienen. Maja wollte nicht zu ihnen gehen, denn so ganz hatte sie ihnen noch nicht verziehen. Auch wenn sie glaubte, dass die beiden sie jetzt nicht mehr daran hindern würden, die Reise mit ihnen fortzusetzen.
    „Ich habe gehört, ihr hattet Streit“, sagte Gnark neben ihr plötzlich. Maja zuckte so heftig zusammen, dass ihre Zucchini oder was immer es auch war zu Boden fiel. Sie hätte nicht gedacht, dass Bäume sich so anschleichen konnten. Aber Gnark hatte ja auch keine Blätter mehr, die verräterisch rascheln konnten.
    „Woher weißt du davon?“
    „Och, weißt du, selbst kranke Bäume haben außerordentlich gute Ohren.“
    „Sie wollten mich sitzen lassen“, gab Maja betrübt zu. „Weil ich mich so dumm verhalten habe, als wir hier angekommen sind.“
    „Ihr wurdet hier unfreundlich begrüßt, warum solltet ihr euch lieb und nett verhalten? Wir Kampfbäume würden immer so handeln, egal, welche Konsequenzen es hat. Wir würden unsere Feinde wahrscheinlich beleidigen und bis zur Weißglut treiben.“
    Maja lächelte. „Mag sein, aber das ist nicht unbedingt besonders klug.“
    „Nein, das ist es wirklich nicht. Hat sich euer Streit denn wieder entspannt?“
    „Ich glaube, sie würden mich jetzt gerne wieder mitnehmen. Karim hat gesagt, er bereut es. Aber ich weiß nicht … was, wenn sie es wieder tun?“ Sie sah den Baum zweifelnd an. „Sie waren immer so nett und dann auf einmal überhaupt nicht mehr. Ich verstehe einfach nicht, warum wir uns so plötzlich gestritten haben. Und ich selbst war auch nicht unschuldig daran. Ich bin viel gereizter als sonst, das sind wir alle.“
    „Ihr habt vor nach Andraya zu gehen. Natürlich seid ihr gereizt. Ich habe auch immer noch nicht verstanden, was ihr überhaupt dort wollt. Verrat mir doch mal die ganze Geschichte. Ich werde es auch niemandem weitererzählen, wenn du das nicht willst. Geheimnisse sind bei mir gut aufgehoben, insbesondere, da du mir das Leben gerettet hast.“
    Maja nahm sich eine weitere Nuna und begann zu erzählen. Sie berichtete ihm alles, selbst dass sie eine Kamiraen war, und von Karims und Jinnas und Matthias’ Schicksal fügte sie so viel hinzu, wie sie konnte.
    „Weißt du Maja“, sagte Gnark, als sie geendet hatte, „du solltest dir nicht so viele Gedanken darüber machen, was Karim und Jinna vielleicht gesagt haben. Sie haben Angst um ihre Mutter und das völlig zu Recht. Sie stehen vielleicht noch mehr unter Stress als du.“
    „Als ich? Ich sitze hier mitten in der Wildnis, werde verfolgt und kann eigentlich nirgendwo hin.“
    „Karim und Jinna werden vielleicht nicht verfolgt, aber sie leben in großer Angst um ihre Mutter und um sich selbst. Und ehrlich gesagt, Maja, wenn du mit der Situation nicht klar kommen würdest, hättest du zu den Kamiraen gehen sollen, statt davon zu laufen. Als du dich entschieden hast, den beiden zu helfen, war dir das bewusst.“
    Maja starrte auf den Boden vor sich und kaute missmutig auf einem Bissen Nuna herum.
    „Du hast Recht“, sagte sie schließlich. „Ich wollte ihnen helfen und ich werde es tun. Von nun an werde ich mich nur noch darauf konzentrieren.“ Sie stand auf. „Gnark, du hast gesagt, du stehst in meiner Schuld, also möchte ich dich um einen Gefallen bitten. Aber du musst es nicht tun, ich möchte auf keinen Fall, dass du dich zu irgendetwas gezwungen fühlst …“
    „Du möchtest, dass ich dich begleite.“
    Maja nickte. Sie wusste nicht, wie weit die Reise noch sein würde, wusste nicht, was ihnen noch begegnen würde, aber sie würden sicherer sein, wenn Gnark bei ihnen war.
    „Kein Problem.“
    „Ehrlich?“ Maja grinste.
    „Natürlich. Und ich weiß auch schon, wie wir reisen werden.“
    Er erzählte Maja seinen Plan und als er fertig war strahlte sie fast schon über das ganze Gesicht. So wie es aussah würde ihr weiterer Weg um ein Vielfaches angenehmer werden.
    Sie nahm sich aus einem Korb eine große Frucht, deren Namen sie nicht kannte und die süß und bitter zugleich schmeckte, dann machte sie sich auf den Weg um Matthias zu suchen. Er saß am Feuer und malte Bilder in den Staub. Maja tippte ihn an der Schulter an und bat ihn, mitzukommen. Sie gingen zu Karim und Jinna und Maja erzählte von den neuen Ereignissen. Dann saßen sie bis spät in die Nacht beisammen, sahen den Genêpas beim Tanzen, Singen und Geschichten erzählen zu und schmiedeten Pläne, wie sie nach Andraya hinein kamen. Denn dank Gnark waren sie schon so gut wie dort.

    Einmal editiert, zuletzt von Dinteyra (22. Dezember 2014 um 14:11)

    • Offizieller Beitrag

    Die Gruppe bekommt Zuwachs 8o
    Gnark ... wie geil ist das denn. Ich hatte ihn eh schon ins Herz geschlossen ;)
    Sehr schön, dann lass sie nach der Feier mal schön weiterziehen :D

    Super, gibt nix zu bemängeln ;)
    Zumindest nicht von meiner Seite

  • Nur ein paar Kleinigkeiten diesmal ^^

    Zitat


    Dieses Mal brauchte sie länger, bis sie wieder vollkommen bei sich war. Sie war nicht ohnmächtig geworden, aber so erschöpft, dass sie ihre Umgebung nur noch durch einen Schleier wahrnahm. Lange Zeit lag sie in der Abendsonne und je mehr der Tag verstrich, desto mehr genoss sie ihre Wärme und das Licht, das ihr auf Bauch und Beine, aber nicht ins Gesicht schien, denn dieses lag im Schatten eines großen Steines. Schließlich setzte sie sich doch auf, um festzustellen, dass die Wunde an ihrem Arm den Ärmel ihres Hemdes mit Blut besudelt, jetzt aber zu bluten aufgehört hatte. Dann fiel ihr auf, dass das Schwert noch am Grund des Sees lag. Erst überlegte sie, es dort liegen zu lassen, aber irgendetwas verband sie jetzt mit der Waffe, vielleicht ihre erste, geschlagene Schlacht, und Maja wollte es nicht auf diesem Berg zurücklassen.


    Du hast hier 6 Sätze, bis du sagst, um wen es sich bei "sie" handelt. Natürlich wird das aus dem Kontext klar, aber am Anfang eines Kapitels würde ich es doch etwas schneller nennen. Muss aber nicht unbedingt sein.

    Zitat

    „Ach ja. Tamor.“ Er machte ein Gesicht, als wäre er an etwas erinnert worden, das er lieber vergessen wollte.“


    Am Ende sind die Anführungszeichen zu viel.

    Zitat

    Karim hat gesagt, er bereut es. Aber ich weiß nicht … was, wenn sie es wieder tun.“


    Ans Ende gehört ein Fragezeichen

    Nunas, eine Mischung aus Kartoffel und Zweibel, stelle ich mir echt lecker vor :D
    Aber Gnark als neuen Gefährten finde ich echt super. Irgendwie mag ich den Baum ^^ Ich hoffe, es ist okay, dass er die Genepas einfach verlässt, denn wenn er fehöt könnte es doch sein, dass sein Bruder die Führung über die andere Kampfbäume übernimmt :S

  • Kriegsrat


    Die Vorbereitungen für die Weiterfahrt liefen in vollem Gange. Im Klartext hieß das, dass eine gute Anzahl von Genêpas damit beschäftigt waren, ein Floß zu bauen oder Proviant anzuschleppen. Maja blieb nur, staunend zuzusehen und sich über die Hilfsbereitschaft und den Zusammenhalt der Genêpas zu wundern. Das mit dem Floß war Gnarks Idee gewesen. Der Fluss, dem Maja und ihre vier Begleiter zum Gebirge gefolgt waren, entsprang irgendwo zwischen den Bergen. Nicht weit davon teilte er sich; eine Gabelung führte auf die östliche Seite des Gebirges, die andere auf die westliche. Der Fluss, der auf dieser Seite verlief, wurde Jun genannt und führte nur wenige Kilometer am Dorf der Genêpas vorbei. Gnark wollte ein großes Floß bauen lassen, auf dem sie alle sieben Platz hatten und damit den Fluss hinab bis nach Andraya fahren, denn dort bildete der Fluss praktischerweise eine Grenze. Ebenfalls die Grenze bildete der Fluss zum Gebiet des Stammes der Xeryllas. Kamanjo warnte sie eindringlich vor ihnen:
    „Sie leben im Reich der Himmelssäulen und sind uns nicht gerade freundlich gesinnt. Genau genommen sind sie niemandes Freund. Sie verstecken sich gut und kommen dann aus der Erde gekrochen wie verschlagene Erdschlangen. Ihr solltet ihr Gebiet nachts durchqueren, falls es euch möglich ist. Außerdem muss ich euch vor den Menschen warnen, die in Andraya leben. Ihr dürft ihnen nicht trauen, selbst wenn ihr den Eindruck haben solltet, dass sie unter Demir leiden und ihn nicht mögen. Haltet euch am Besten von ihnen fern. Gendo und Mirno werden euch kurz vor der Grenze zu Andraya verlassen, aber bis dahin bleiben sie bei euch. Ihr könnt allerdings nicht erwarten, dass sie euch beschützen werden, denn wenn auch nur einer von ihnen nicht an seinem Bestimmungsort ankommt, wird die Strafe unser ganzes Dorf treffen.“
    Maja nickte, dann fragte sie etwas, was sie schon länger interessierte: „Was gibt es auf dieser Seite des Gebirges eigentlich sonst noch für Stämme und Völker?“
    „Außer uns noch die Demen, die Jawaren, die Elti, das Froschvolk, die Bewohner der Silberwiesen und die der Eiswüste. Letztere gehören zu den wenigen, die Demir weder Geld noch Krieger geben müssen, weil er keinen blassen Schimmer von ihnen hat. Er glaubt wahrscheinlich, dass ein Leben in der Eiswüste nicht möglich wäre. Außerdem gibt es noch ein paar Dörfer im Landesinneren, verschiedene Stämme in den Bergen, die sich gut versteckt halten und das Hexenreich Yllnor. Von den Hexen verlangt Demir übrigens ebenfalls gar nichts und da tut er gut dran. Er kann eigentlich froh sein, dass sie viel zu sehr mit ihren eigenen Streitigkeiten beschäftigt sind, um sich für die Situation hier draußen zu interessieren. Das sind alle, die mir einfallen.“
    „Eiswüste…“, murmelte Maja. „Gibt es auch eine richtige Wüste?“
    „Ja, vor Yllnor. Dort lebt allerdings tatsächlich niemand.“
    „Und in der Eiswüste schon.“
    „Genau. Und das ist gar nicht so weit weg von hier. Wenn Demir dort suchen würde, würde er sogar noch mehr als nur ein Volk finden.“
    „Was denn?“
    „Eines der Tore, die er so verzweifelt zu zerstören sucht.“
    Maja klappte der Mund auf. „Da ist ein Weltentor?“
    Kamanjo nickte. „Das Goldene Tor.“
    Maja redete, bevor sie nachdachte: „Da muss ich hin.“
    „Spinnst du?“, rief Karim plötzlich. Er stand etwa zwei Meter rechts von ihr, neben ihm Jinna und Matthias, und alle drei funkelten sie bitterböse an. Maja hatte gar nicht bemerkt, wie sie herbei gekommen waren.
    „Das kannst du nicht machen“, sagte Jinna und es klang wie das Fauchen einer wütenden Katze. Maja wusste sofort, dass sie einen riesigen Fehler gemacht hatte. Die Freundschaft zwischen ihr und den anderen dreien hatte die letzten Tage immer ziemlich auf der Kippe gestanden, aber durch ihre unbedachten Worte, war sie jetzt kurz davor ganz abzustürzen.
    „Tut mir Leid, natürlich meine ich das nicht so“, sagte sie, in einem verzweifelten Versuch, es noch einmal gut zu machen. Aber Jinna schien ihr nicht zuzuhören.
    „Erst beschwerst du dich, wir wären unfair zu dir und jetzt willst du einfach abhauen? Du hast versprochen, uns zu helfen!“, schrie sie, so laut, dass Maja erschrocken nach Luft schnappte.
    „Jinna, es tut mir Leid!“, sagte Maja bittend. „Ich habe nicht nachgedacht, ich kann doch gar nicht gehen, ich werde immer noch verfolgt.“
    Schon wieder hatte sie etwas Falsches gesagt, das merkte sie sofort. Jinna hörte auf zu schreien; ihren nächsten Satz zischte sie leise und boshaft. Maja hätte nie gedacht, dass sie so fies klingen konnte.
    „Das ist also der Grund, warum du bei uns bleiben musst? Dass du nicht weg kannst, weil du verfolgt wirst? Das ist der Grund warum du uns hilfst? Weißt du was, dann können wir auf deine Hilfe verzichten!“
    „Ich habe nie etwas anderes behauptet“, sagte Maja.
    „Doch, das hast du. Aber das war ja wohl mal.“
    „Jinna … “
    „Vergiss es. Auf deine halbherzige Hilfe können wir verzichten.“ Ihre Stimme wurde lauter. „Seit fünf Tagen sitzen wir jetzt hier herum und tun nichts außer schlafen, essen und ... singen.“ Sie sprach das Wort mit einem verächtlichen Naserümpfen aus. „Niemand denkt mehr an unsere Mutter und du auch nicht. Komm mit, Karim, wir gehen weiter. Wir brauchen eure Hilfe nicht“, sagte sie zu Maja, Matthias und Kamanjo. „Wir werden sie auch ohne euch retten und zwar jetzt.“ Damit drehte sie sich um und ging weg. Nach zehn Schritten blickte sie noch einmal zurück. „Karim“, sagte sie ungeduldig zu ihrem Bruder. Aber der starrte sie nur verständnislos an.
    „Ihr könnt mich alle mal!“, schrie sie und rannte davon.
    Die Zurückgebliebenen reagierten alle unterschiedlich darauf. Kamanjo kratzte sich nachdenklich am Kinn, die übrigen Genêpas wandten sich ab und wanderten unbeteiligt zum anderen Ende des Dorfes, um dort eine Streiterei zwischen zwei Teenagern und einem alten Mann zu beobachten. Matthias zog seinen Schreibblock aus der Tasche und Maja fragte Karim, wo Jinna hinging.
    Karim zuckte mit den Schultern. „Nicht besonders weit weg. Ich denke nicht, dass sie es im Alleingang versuchen wird. Das wäre schon seltsam.“
    Maja war sich nicht so sicher. War es denn weniger seltsam es mit drei weiteren Kindern zu versuchen?
    Dann wedelte Matthias mit seinem Schreibblock vor ihrer Nase herum.
    Sie las stumm: Ich glaube, so langsam werden wir alle verrückt. Es wird Zeit, dass wir uns aussprechen. Wir treffen uns in einer Stunde am Strand. Es wäre gut, wenn ihr Jinna bis dahin wieder hinkriegt.

    Karim wartete eine halbe Stunde, dann begann er, Jinna zu suchen.
    „Sie regt sich nie lange auf, lasst ihr ein bisschen Zeit, nachzudenken, dann geht es wieder“, hatte er gesagt. Tatsächlich brachte er sie nach einer Stunde in relativ gefasster Form zum Strand. An ihren roten Augen konnte man noch erkennen, dass sie geweint hatte.
    Der Strand hier war sehr schön. Maja war einmal in Dänemark an der Nordsee gewesen und damit verglich sie den weichen Sandstrand und das Meer hier. Der Strand und die Dünen waren in etwa genauso, nur dass der Sand heller, fast weiß war und auf den Dünen kein grünes, sondern bläulich schillerndes Gras wuchs, das, wenn die Sonne es beschien, in allen Regenbogenfarben leuchtete. Tagsüber zumindest, denn jetzt tauchte die untergehende Sonne es in ein rotes Licht und teilweise nahm es auch eine violette Färbung an.
    Das Meer war hier ruhiger und nicht grau-blau, sondern dunkeltürkis und eiskalt, obwohl der Abend sehr mild war. In der Ferne konnte man sogar einige Eisberge vorbeiziehen sehen. Dort musste die Eiswüste sein, von der Kamanjo erzählt hatte. Er hatte noch einiges anderes über dieses Meer berichtet. Eine Sage erzählte, dass dort der Regenbogen endete und immer wieder Stückchen von ihm ins Meer fielen, die dann von diesem rund geschliffen und als schimmernde Brocken an den Strand gespült wurden. Einige von ihnen landeten auch im Magen von Fischen oder wurden von Muscheln aufgenommen, die danach bunt schimmerten.
    Maja hatte unwillkürlich grinsen müssen, als sie davon gehört hatte und wieder mal an den Regenbogenfisch gedacht. Auch am Strand schimmerten einige der Regenbogenstücke zwischen angespültem Holz und Seetang. Maja sammelte ein paar davon, sie fühlten sich an wie Bernstein. Den gab es hier im Übrigen auch. Als Karim und Jinna kamen hatte sie eine ganze Hosentasche voller Regenbogensteine und Bernstein.
    Der Strand war perfekt für ihre Besprechung geeignet. Er war sehr idyllisch und abgeschieden, sodass sie hier mit Sicherheit ungestört blieben. Außerdem konnte Matthias den feinen und leicht feuchten Sand gut benutzen um darin zu schreiben.
    Sie setzten sich im Kreis hin, wobei Jinna, wie Maja bemerkte, sich nahe bei ihrem Bruder hinsetzte und einen großen Abstand zu ihr und Matthias wählte. Der kleine, blonde Junge begann daraufhin, im Sand zu schreiben und Maja las vor, was er schrieb. Es war aufwendig für ihn, daher machte er keine großen Worte.
    „Wir haben eine anstrengende Zeit hinter uns“, begann Maja zu lesen. „Und ich … also er … “ Maja konnte es sich nicht verkneifen, diese zwei Worte hinzuzufügen; auf keinen Fall wollte sie für Karim und Jinna die Möglichkeit auflassen, zu denken, sie wäre die Schöpferin dieser Worte, sie gab ihnen doch nur die Stimme, „ ... habe das Gefühl, dass wir aufgrund unserer Angespanntheit und gewisser Streitigkeiten ein wenig unser Ziel aus den Augen verloren haben. Könntest du vielleicht etwas emotio-“
    - naler lesen, Jinna und Karim schlafen gleich ein.
    „Hey, was soll das? Ich lese emotional.“
    Tust du nicht.
    „Ich kann nun mal nicht so gut reden. In der Schule hat mir zum Beispiel nie jemand zugehört, wenn ich ein Referat halten musste.“
    „Die Genêpas hören dir zu, wenn du etwas sagst“, meinte Karim und verkniff es sich sogar, zu fragen, was ein Referat war. „Seit du Gnark gerettet hast, kleben sie dir doch an den Lippen. Davon abgesehen: Ich finde, dass du ganz gut reden kannst.“
    Maja sah ihn total perplex an. „Bitte was?“
    „Naja, von der Stimme her. Das soll nicht heißen, dass das, was du von dir gibst, unbedingt Sinn macht. Jetzt lies weiter.“
    Maja schüttelte verwirrt den Kopf und wandte sich wieder den feinen Linien im Sand zu, die Matthias mit einem Stock hinein ritzte. Sie hatten keine Zeit, über so nebensächliche Dinge zu diskutieren. Sie bemühte sich jetzt, etwas betonter zu lesen: „Ich denke, wir sollten uns wieder auf unsere Ziele konzentrieren. Wir sind uns ja alle einig, was unser Vorhaben angeht.“
    „Nach Andraya zu gehen und unsere Mutter aus der Gewalt Fürst Dreizehns zu befreien“, sagte Jinna.
    Ganz genau!, schrieb Matthias weiter, aber Maja blickte nicht einmal hin. Sie saß nur da und starrte auf das eisblaue Meer.
    „Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Karim, aber Maja hörte nicht zu. Einen Moment lang dachte sie an gar nichts mehr, ihr Kopf war wie leergefegt, während sie die Wellen betrachtete und dann waren ihre Gedanken wieder da und alle Verwirrungen der letzen Tage verschwunden. Es war, als hätte jemand gründlich in ihrer Birne aufgeräumt und alle Zweifel und störenden Gedanken beiseite gefegt.
    „Matthias hat Recht“, sagte sie. Sie sah die anderen an und es war, als würde sie sie klarer sehen als zuvor. „Wir müssen unser Ziel wieder ins Auge fassen und darüber brauchen wir auch gar nicht weiter zu diskutieren. Wir haben eine Mission und wir werden nicht eher ruhen, als bis wir eure Mutter befreit haben. Dafür müssen wir zusammenhalten, und wenn wir das tun“, sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, „dann werden wir es schaffen. Von jetzt an gibt es keine Zweifel mehr. Wir werden eure Mutter befreien.“
    Sie streckte die Hand nach vorne aus und die anderen schlugen ein, als wären sie eine Fußball-Mannschaft. „Von jetzt an wird nicht mehr gezaudert und wir geben nicht auf“, erklärte Maja. „Wir sind ein Team.“
    Und die anderen wiederholten die Worte und als Maja Jinna ins Gesicht sah, sah sie, wie sie lächelte. Sie selber lächelte nicht, dafür war sie viel zu entschlossen und viel zu wütend. Wütend auf Fürst Dreizehn, weil er unschuldige Frauen entführte und seine Untergebenen zwang, Kommunikationsmittel zu benutzen, die bei ihrem Gebrauch ein Menschenleben und manchmal mehr forderten. Und weil er die Genêpas und wer wusste schon wie viele Völker noch, dazu zwang ihm jährlich junge Leute zu schicken, die in seine Armee eintreten sollten. Und weil er überhaupt eine Armee hatte und nicht zuletzt, weil er sie daran hinderte, nach Hause zurückzukehren und weil sie sich wegen ihm Sorgen um ihre Familie machte. Große Sorgen.
    Sie erinnerte sich an den Moment, als sie auf Taramos in Richtung des Gebirges geflogen war und berührte wieder die Kastanie in ihrer Hosentasche.

    Einmal editiert, zuletzt von Dinteyra (28. Dezember 2014 um 20:48)

    • Offizieller Beitrag

    Also manchmal finde ich, sind sie ganz schön hart zu Maya.
    Aber nur daran wächst sie anscheinend über sich hinaus und regelt alles.
    Da kann man nur hoffen, dass es ihnen gelingt die Mutter zu retten. ;(
    So einfach wird das bestimmt nicht werden.

    etwas emotio-“
    - naler lesen, Jinna und Karim schlafen gleich ein.

    Guck mal, ist dir da iwas verrutscht?

    :stick: weiter bitte

  • Klingt spannend. Da möchte man gleich weiter lesen. Zudem hast du es kurz und knapp gehalten, aber trotzdem wichtige und interessante Punkte aufgezählt, die den Leser dazu anregen deine Geschichte zu lesen. :)

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    xoxo Kisa