Es war Mittag und die Sonne stand hoch über dem Wüstendorf Hadijaf. Das Dorf, eigentlich nur eine Ansammlung von weißgekalkten Lehmhäusern und einem Palmenhain rund um eine zwischen sandgelben Felsen eingerahmte Wasserstelle wäre völlig unbedeutend gewesen, wenn sich nicht zwei Karawanenstraßen hier gekreuzt hätten. Es waren keine bedeutenden Straßen aber in den unsicheren Zeiten gewannen gerade die eher unscheinbar wirkenden und eigentlich weniger wirtschaftlichen aber daher auch weniger bekannten Nebenstrecken an Gewicht.
Um diese Zeit, in der eine nicht mehr nur metaphorische Brutofenhitze den Ort fest im Griff hatte, ging niemand der bei Sinnen war einer anderen Tätigkeit als dem Ausruhen nach.
Eine Ausnahme gab es allerdings, wie es immer eine gibt: Den Haimahmud. (Sprich: Ha-i-mach-muhd)
Außerhalb der großen Wüste Khom und ihren angrenzenden Stadtstaaten hätte man ihn als Barden oder Skalden, vielleicht abschätzig als Märchenonkel bezeichnet, doch keine dieser Beschreibungen hätte wirklich zugetroffen.
Der Geschichtenerzähler machte keineswegs Musik in Tavernen oder hatte den anrüchigen Ruf des fahrenden Volkes. Und niemand würde sich abschätzig über einen Haimahmud auslassen, war er es doch, der die alten Geschichten bewahrte, die neuen ersann und darin Wahrheit und Weisheit zum Volke brachte, es also gewissermaßen zugleich lehrte und unterhielt.
Dies erforderte eine angenehme, weit tragende Erzählstimme, ein profundes Wissen über den Landstrich und dessen Kultur, da es durchaus lebensgefährlich sein mochte, in einem falschen Sultanat gut oder schlecht über einen bestimmten Herrschenden zu berichten. Nur wenige sehr berühmte Haimahmudi mussten nicht mehr darauf achten, da sie aufgrund ihrer Berühmtheit beinahe unantastbar waren. Allein, sie waren nicht so berühmt geworden, weil sie sich leichtfertig die Mächtigen des Landes zum Feind gemacht hatten ...
Der Erzähler nahm den sorgsam ausgewählten Platz unter dem Schatten des Vordachs der Karawanserei ein, dem einzigen großen Gebäude des Dorfes, das genug Schatten für eine größere Zuhörerschaft bot. Zudem war es der Ort, an dem sich die Durchreisenden aufhielten, denn nur die größten Haimahmudi konnten erwarten, dass die Kundschaft weite Wege auf sich nahm um zu ihnen zu kommen. Normalerweise ging der Erzähler dorthin wo seine Zuhörer waren um seien »Waren« anzubieten.
Ein dichter Bart zierte das Gesicht des Mannes, gepflegt, aber nicht zu gepflegt. Die Menschen erwarteten von ihm, dass er zwar auf sein Äußeres achtete, aber dennoch eine gewisse Weltfremdheit aufwies, die anzeigte, dass er seine Aufmerksamkeit nicht zu sehr der Pflege seiner Gestalt sondern mehr der Pflege seiner Geschichten widmete.
Sein Gewand war dementsprechend einfach, aber sauber, wie das sorgsam gehütete Gewand eines freigiebigen Spenders. Nur sehr bekannte Erzähler, die ihre Gönner beleidigen würden, wenn sie nicht die reichen Gewänder anlegten, die man ihnen schenkte, putzten sich heraus. Ein Haimahmud hatte aus der Mitte des Volkes zu kommen, das ihn umgab.
Das Alter des Mannes war nicht leicht zu schätzen, was genau so beabsichtigt war. Am besten wäre es »alt« zu wirken, da mit dem Alter auch die Lebenserfahrung und die Weisheit vorhanden waren, die man von einem Haimahmud erwartete. Natürlich wurden auch die berühmtesten Erzähler nicht bereits alt geboren, doch ein guter Bart und das Leben unter der heißen Wüstensonne ließ jedes Gesicht schnell altern.
»Mahmud ist wieder da und er sitzt im Schatten der Karawanserei!« Die Stimme des Kindes war begeistert und hallte durch das ganze Dörflein und schnell waren weitere Kinder aus den Schatten gesprungen und fanden sich um den Erzähler ein.
Es waren immer zuerst die Kinder, die den Mahmud »fanden« und dann kämen die jungen Frauen, dann die älteren Frauen, danach die älteren Männer und schließlich würden auch die jungen Männer sich einfinden, freilich viel mehr um »nach ihren Frauen zu sehen« als von der Neugier auf die Geschichte getrieben.
Mahmud beschloss dem jungen Said, den er als Ausrufer angestellt hatte noch einen kleinen Bonus zu schenken, sofern die Zuhörerschaft sich als einigermaßen spendabel erwies. Das hatte er wirklich überzeugend spontan und aufgeregt herübergebracht, wobei der Erzähler sich schmunzelnd klar war, dass der Junge vermutlich gar nicht so sehr schauspielern musste. Er mochte hier im Dorf nicht so berühmt sein, wie in Fasar oder Kunchhom, den großen Metropolen, doch er genoss gerade diese Anonymität. So sollte das Leben eines Erzählers aussehen, nicht als Herr eines Palastes mit mehr Dienern als das kleine Dorf hier ständige Einwohner hatte.
Als sich immer mehr Kinder und die ersten Frauen versammelt hatten, begann er wie es die Tradition vorschrieb.
»Was wollt ihr von mir, ihr kleinen Nervensägen? Kann ein armer Mann nicht eine einzige Stunde ungestört im Schatten den Herrn Rastullah, neun Mal neunfach gepriesen sei sein Name, einen guten Mann sein lassen?«
»Eine Geschichte, Mahmud, erzähl uns eine Geschichte!«, riefen die Kleinen sogleich im Chor, was dem Erzähler ein zärtliches Lächeln entlockte. Ja, genau so sollte es sein. So und nicht anders.
Natürlich hatte er wie jeder Haimahmud seinen eigenen Kanon an Geschichten, viele davon waren Klassiker, wie Nedime, die Tochter des Kalifen, oder der Sultan und der Herr der Dschinne oder die Liebe des Sheiks zur Tochter des Windes. Doch natürlich hatte er selbst viele Geschichten ersonnen, die meisten davon beruhten auf wahren Begebenheiten und wie alle Erzähler kannte er die besten Geschichten seiner Berufsgenossen. Diese gab er allerdings wirklich nur dann zum Besten, wenn man ihn ausdrücklich darum bat. Welcher Erzähler mit Selbstachtung lebte gerne vom Werk anderer?
»Über einen großen Krieger!«, riefen die Einen.
»Lieber über ein tolles Pferd«, riefen andere.
»Über Beides!«, kamen die Gruppen schließlich schnell zur Einigung.
»Soso, ihr unruhigen, zappeligen Zwergdschinne, Rastullah strafe euch, dass ihr einem alten Mann seine Ruhe stehlt, über ein Krieger und sein Pferd also ...«
»Ja, bitte!« Der Chor der Kinder lockte immer mehr Erwachsene aus ihren Häusern.
»Leider ist meine Kehle ausgedörrt und mein Schlauch ist leer, daher fällt mir das Reden in dieser Hitze schwer.«
Auch das war Tradition und sogleich wurde von einer Frau ein Schlauch mit Ziegenmilch durch die Reihen der Kinder gereicht, die inzwischen einen undurchdringlichen Kokon um »ihren« Haimahmud gebildet hatten, wie es ihr Vorrecht war.
»Ahh, das tut gut, Rastullah segne euch und eure Kinder und auch eure Kindeskinder dafür!«
Nun trat Ruhe ein. Selbst frisch Hinzukommende waren so leise wie möglich, galt es doch als Zeichen von schlechten Manieren, einen Haimahmud zu stören, außer an den dafür vorgesehenen Stellen, natürlich.
»Gut, meine erste Geschichte handelt von einem Krieger und seinem besonderen Schwert, von seinem Mut, seiner Einsamkeit und seinem außergewöhnlichen Pferd.«
Ein Blick in die Runde ließ Mahmud unter seinem Bart grinsen. Ein Held, sein Ross und das Versprechen von Blut und Tragik. Ja, er hatte sie genau da, wo er sie haben wollte, ganz so,wie es sein sollte.
Mit gerade der richtigen Lautstärke, nicht zu laut, um die Stimme zu schonen, nicht zu leise, damit die Worte auch im ganzen Hof zu hören waren, begann er.