Hey Leute. Zu dieser Geschichte sind wieder mal ein paar Worte der Einleitung notwendig:
Ich habe dieses Semester an der Universität Bremen einen Kurs zum kreativen Schreiben belegt. Das Semester neigt sich nun dem Ende und wir haben beschlossen, vom Kurs aus eine Lesung zu organisieren. Ich hab mich einfach auch mal gemeldet, schließlich hab ich noch nie bei ner Lesung mitgemacht Für die Lesung gab es auch einige Vorgaben:
Das Thema lautet "Auf dem Dach" - zusätzlich muss eine Pistole in der Geschichte vorkommen. Und der Text sollte ungefähr 8 Minuten füllen.
Naja, und mit diesen Vorgaben ist halt diese kleine Kurzgeschichte hier entstanden. Sie ist ein bisschen experimentell, die Dialoge sind bewusst etwas Pingpongartiger gestaltet, wenn das nicht geht, einmal meckern, wie gesagt, es ist experimentell.
Und nun lasst euch bitte von dem vielen Text nicht abschrecken, aber ich wollte diese Geschichte gerne im ganzen Posten, damit sie die volle Wirkung entfaltet. Freu mich auf euer Feedback, ist schließlich für eine Lesung
PS: Macht euch nicht die Mühe, jede Formsache rauszuzitieren, das ist bei so viel Text viel zu anstrengend - außerdem sieht die Fehler beim Vorlesen niemand
Die Wasserspeier
Das Licht des Tages verblasste und mit ihm nach und nach die Geräusche des Stadtlebens. Es war eine stille Nacht. Doch wenn man genau hinhörte, konnte man auf dem Dach eines alten Wohnhauses den Stein flüstern hören. Er klang ungeduldig.
„Immer noch nichts?“
„Nein, alles ist ruhig.“
Schweigen.
„Und jetzt?“
„Nichts. Ich sage euch schon Bescheid, wenn es soweit ist.“
Abermals Schweigen. In der Ferne tönte das Kläffen eines Hundes durch die abendlichen Straßen.
„Und? Passiert jetzt irgendwas?“
„Hör mit der dämlichen Fragerei auf, Westen, ich habe doch gesagt, ich sage Bescheid, wenn es soweit ist!“
Erneutes Schweigen.
„Jetzt muss aber was passieren.“
„Verflucht nochmal, ich wünschte, die Vögel hätten in deinem Mund genistet und nicht in Südens! Dann wäre mit dieser ewigen Fragerei Schluss!“
„Hhnnn“, bestätigte Süden gurgelnd.
„Aber, Norden ...“
„Noch ein Wort und ich werde erst wieder etwas sagen, wenn die Sonne aufgeht.“
„Und wenn ich dir das nicht mitteile?“, meldete sich nun Osten zu Wort. „Ich bin schließlich auch neugierig.“
„Dann sag deinem Bruder, er soll endlich still sein, ich versuche mich zu konzentrieren.“
„Du konzentrierst dich doch ständig“, maulte Westen beleidigt.
Schweigen.
„Gib es zu, du nutzt es nur aus, dass du den besten Blick von uns vieren hast.“
„Hhnnn!“
„Seit die Tauben ihr Nest in Südens Mund gebaut haben und er uns nicht mehr erzählen konnte, was auf seiner Seite des Hauses geschieht“, fügte Westen hinzu.
Schweigen. Eine Straßenbahn fuhr vorbei und hielt an einer Haltestelle, bevor sie ihren Weg durch die Stadt fortsetzte. Niemand der vier hatte je einen Blick auf das Gefährt geworfen.
„Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist ...“
„Ach komm, der Witz ist alt“, beschwerte sich Osten von der gegenüberliegenden Seite des Daches. Westen kicherte. Es klang als würde jemand mit Schmirgelpapier über Grantit reiben.
„Nein, der ist immer wieder gut. Ein Klassiker.“
Niemand antwortete.
„Soll ich euch stattdessen erzählen, was sich hier Weihnachten vor 34 Jahren abspi...“
„Nein“, riefen Osten und Norden wie aus einem Mund.
„Die Geschichte ist gut, ehrlich“, beharrte Westen. „Das Beste, was je auf meiner Seite passiert ist.“
Norden brummte nur.
„Stimmt. Nur leider kennen wir diese Geschichte in und auswendig.“
„Wie ist es mit dir, Süden? Du möchtest die Geschichte doch bestimmt noch mal hören, oder?“
„Hhnn Hnnn.“
„War das ein Ja?“
„Hhnn Hhnn!“
„Also wenn du darauf besteh...“
„HHNN HNNN!“
„Du musst dafür schon leise sein.“
„Er hat Nein, gesagt, Westen.“
„Hhnnn!“
„Das kannst du nicht wissen.“
Osten seufzte.
„Süden: Einmal hnn für ja, zweimal für nein.“
„Hnn Hnn.“
„Da hast du´s.“
Westen schwieg.
„Ich hasse euch“, sagte er nach einer Weile.
„Gut“, antwortete Norden sarkastisch, „dann haben wir ja mal für ein paar Minuten unsere Ruhe.“
Schweigen.
„Okay, ich vergeb euch noch mal. Als Zeichen meiner unendlichen Gnade, werde ich euch erzählen, was Weihnachten vor 34 Jahren ...“
Ein Pfeifen wurde vom Wind durch die Luft getragen.
„Was war das?“, fragte Westen jäh in seinen Gedanken unterbrochen. „Osten, war das bei dir?“
„Nein, hier ist alles ruhig.“
„Bist du sicher?“
„Es ist der Junge“, unterbrach Norden seinen Bruder und erstmals klang eine subtile Fröhlichkeit in seiner Stimme mit. „Er lehnt an der Hauswand und pfeift.“
„Oh.“
Schweigen folgte seinen Worten und diesmal wagte noch nicht einmal Westen eine Unterbrechung. Das Pfeifen verstummte.
„Jetzt holt er sein Smartphone raus und tippt eine Nachricht. Vermutlich schreibt er ihr.“
„Was anderes können die Jungs heutzutage auch nicht mehr“, seufzte Osten.
„Ja“, stimmte Westen zu. „Damals haben sie ihrem Schwarm noch Blumen überreicht und so. Heute müssen die Mädchen das mit dem Geschenk übernehmen. Erinnert ihr euch an die Kleine, die ihrem Liebhaber ein Kondom geschenkt hat, weil der Typ so schüchtern war?“
„Ja“, brummte Norden. „Du sorgst dafür, dass wir es nicht vergessen.“
„Also ich fand die Idee sehr originell“, meinte Osten. „Sie sind an dem Tag weiter gekommen als in den letzten Monaten.“
„Du meinst tiefer“, kicherte Westen.
Norden stöhnte.
„Bruder, bei deiner Erschaffung muss jemand mit dem Meißel abgerutscht sein.“
„Hrn hrn hrn.“
„Bei dir auch, Süden!“
„Ihr seid alle schräg“, warf Osten nüchtern ein. „Ich frage mich echt, ob ihr nicht aus anderem Stein seid als ich.“
„Ich würde gerne nachschauen, Bruder, aber ich kann meinen Kopf nicht drehen.“
„Ach, was du nicht sagst?“
Schweigen.
„Sie lässt ihn diesmal ganz schön warten“, kommentierte Westen schließlich.
„Ja“, erwiderte Norden schlicht.
„Sag nicht, dass sie ihn auch sitzenlässt“, rief Osten aus. „Der Junge tut mir langsam leid.“
„HHHNNN!“
„Ja, ich weiß, er könnte mal das Vogelnest aus deinem Mund entfernen, aber er sitzt lieber bei mir und schaut sich den Sonnenaufgang an“, beschwichtigte Osten seinen Bruder. „Vielleicht hat er deinen Zustand einfach noch nicht bemerkt.“
„HHHNNN!“
„Ja, ich weiß, dass er hier wohnt. Das heißt nicht, dass er verpflichtet ist, uns sauberzumachen. Du weißt, dass dass immer dieser Typ mit dem Walrossschnauzer macht.“
Schweigen. Ein Taube gurrte, dicht gefolgt von einem leidvollen Gurgeln Südens.
„Nimm´s nicht so schwer“, versuchte Westen seinen Bruder aufzuheitern. „Es könnte schlimmer sein. Norden hat mal Vogelkot in sein linkes Auge bekommen.“
„Erinnere mich nicht daran!“, fauchte es von der anderen Seite des Daches.
„Haltet mal die Luft an“, unterbrach Osten die beiden aufgeregt. „Drüben im dritten Stock haben sie wieder Streit. Ich wette, diesmal fliegt ein Messer aus dem Fenster.“
„Oh, ich will auch, ich will auch!“, rief Westen euphorisch. „Ich sage, es fliegt ein Kochtopf.“
„Der Ehemann“, knurrte Norden.
„Hhhnnn“, sagte Süden.
„Der Mülleimer?“, riet Westen.
„Hn Hn. Hhhnnn!“
„Der Fernseher?“
„Hn Hn!“
„Ehrlich, das Spiel läuft immer mehr darauf hinaus zu erraten, auf was Süden tippen will“, murrte Norden.
„Egal. Der Küchenmixer?“
„Das Mädchen ist übrigens da.“
Schweigen.
„Wieso sagst du das erst jetzt?“, beschwerte sich Westen.
„Egal. Was tun sie?“, versuchte Osten einem erneuten Streit vorzubeugen.
„Sie umarmen sich.“
„Lange?“
„Nein, so wie immer.“
Osten seufzte.
„Wenn der Junge sich nicht mehr Mühe gibt, wird sie ihn immer für einen guten Freund halten.“
„Das steht zu erwarten“, stimmte Westen zu. „Wäre ja leider nicht das erste Mal bei ihm.“
„Was sagen sie?“
Norden knurrte.
„Das würde ich euch ja gerne mitteilen, aber ich kann leider kein Wort verstehen, weil meine Brüder keine Sekunde still sein können!“
Schweigen.
„Danke!“
Abermals fuhr eine Straßenbahn vorbei – diesmal, ohne anzuhalten.
„Sie reden über belangloses Zeug.“
Osten seufzte.
„Norden, du bist ein mieser Erzähler. Etwas mehr Detail bitte.“
„Sie reden über die Schule.“
„Und?“
„Über den Physikunterricht.“
Osten knurrte.
„Du hast zu viel Zeit in Gesellschaft dieses Mathematikers verbracht, der im letzten Jahrhundert immer hier oben saß. Geht´s nicht einmal konkret?“
„Er bietet ihr an, ihr bei ihren Hausaufgaben für Physik zu helfen“, knurrte Norden, „zufrieden?“
„Und das nennst du belanglos?“, rief Osten aus. „Du bist wirklich ...“
„... kalt wie Stein?“, mutmaßte Westen.
Osten lachte nicht.
„Ein schlechterer Scherz ist dir ...“
„Sie bleiben stehen“, erstickte Norden das aufkommende Gespräch.
Schweigen.
„Er nimmt ihre Hände.“
Schweigen.
„Und weiter?“, fragte Osten aufgeregt.
„Einen Moment, dann kann ich es gleich zusammenfassen.“
„Du sollst nichts zusammenfassen!“, rief Osten ärgerlich. „Es geht schließlich um unseren Jungen! Jetzt sag endlich, was er tut! Traut er sich diesmal?“
„Ja. Er gesteht ihr seine Liebe.“
Schweigen.
Osten seufzte erneut.
„Das muss so schön sein und wir drei bekommen lediglich ein ‚Er gesteht ihr seine Liebe´ zu hören.“
„Ich bin eben kein sentimentaler Romantiker.“
„Was vermutlich daran liegt, dass du noch nie wie ich einen Sonnenaufgang gesehen hast“, murrte Osten beleidigt.
„Hhnnn!“
„Ja, ich denke auch, dass hier irgendetwas falsch läuft“, stimmte Westen seinem temporär sprachlich benachteiligten Bruder zu. „Normalerweise streite ich mit Norden.“
Osten gurgelte beleidigt.
„Westen, droh mal deinem Bruder von Weihnachten vor 34 Jahren zu erzählen, wenn er nicht endlich ein bisschen mehr Detail...“
„Ist ja gut, ist ja gut, ist ja gut, ich erzähl ja schon!“
Norden räusperte sich, was ungefährt so klang, als würde man einen Eimer Kieselsteine in eine Badewanne aus Marmor schütten. „Also was ich dir eigentlich damit sagen wollte“, rezitierte er. „Ich mag dich wirklich sehr, so sehr, dass ich darüber hinaus andere Dinge vollkommen vergesse, Dinge, die mir bisher wichtig waren, aber nun immer mehr an Bedeutung verlieren. Weißt du, es ist so, also ich ... Ich liebe dich!“
Schweigen. Dann kollektives Seufzen.
„Das ist unser Junge“, sagte Osten.
„Er hat wirklich schöne Worte gefunden“, stimme Westen zu.
„Schöner noch als der junge Musiker damals 1857.“
„Oh ja!“
Schweigen.
„Liegen sie einander schon in den Armen und küssen sich?“, fragte Osten nach einer Weile.
„Nein“, erwiderte Norden sachlich. „Sie hat ihm einen Korb gegeben und sich anschließend verzogen.“
Ungläubiges Schweigen.
„Was!?“, rief Osten. „Wieso? Was hat sie gesagt?“
„Ist das wichtig?“
„Ja!“, insistierten Osten und Westen wie aus einem Munde.
„Sie hat gesagt, es tut ihr leid, er ist wirklich ein lieber Kerl und sie hat ihn auch sehr gern ... aber eine Beziehung mit ihm kann sie sich nicht vorstellen.“
„Das hat sie gesagt!?“, rief Osten ungläubig. „Wieso? Ich verstehe das nicht.“
„Ich auch nicht, Bruder“, pflichtete Westen ihn bei. „Die Zeiten ändern sich.“
„Wo ist der Junge jetzt?“, verlangte Osten zu wissen. Doch statt seinem Bruder antwortete das Geräusch der sich öffnenden Dachtür. Dann Schritte, langsam und schlurfend.
Schweigen.
„Es tut mir so leid, Junge“, sagte Osten bedauernd.
„Er kann dich nicht hören“, maulte Norden. „Die Menschen werden uns nie hören können. Sie haben vergessen, wie der Stein flüstert.“
Norden wurde ignoriert.
„Mach dir nichts draus, manchmal passt es und manchmal eben nicht“, sagte Westen aufmunternd.
„Genau“, bestätigte Osten. „Sieh es mal so, immerhin hast du jetzt Gewissheit.“
„Ja, dass meine Brüder nur Kies im Kopf haben“, nörgelte Norden. „Er hört euch nicht!“
Wieder Schritte.
„Er hat sich zu mir gesetzt“, sagte Westen. „Und er weint. Sein Gesicht gleicht der Quelle eines Wasserfalls.“
„Das wundert mich nicht“, erwiderte Osten leise. „Er hat was Besseres verdient. So oft wie er bereits enttäuscht wurde.“
„Na los“, sagte Westen zu dem Jungen. „Erzähl uns von deinem Kummer, wir hören dir zu, so wie wir es immer getan haben.“
Schweigen.
„Lass ihn zu Atem kommen“, ermahnte Osten seinen Bruder von der anderen Seite des Daches. „Letztes Mal hat er auch lange Zeit nichts gesagt.“
„Stimmt. An manche Dinge gewöhnt man sich nie.“
Schweigen.
„Anscheinend will er uns nichts erzählen. Er greift schon wieder nach seinen Smartphone und ...“
Westen verstummte abrupt.
„Und ...?“, fragte Osten, durch das plötzliche Schweigen seines Bruders verwirrt.
„Junge, lass das blieben, mach keinen Scheiß!“
Westens Stimme klang wie das Kratzen von Fingernägeln auf Schiefer.
„Westen, was ist da los?“, fragte Osten nun eindringlicher.
„Er hat eine Pistole in seinen Händen!“, keuchte Westen atemlos. „Brüder, das ist echt schlimm, er schaut sie schon ganz nachdenklich an.“
„Verflucht!“, rief Osten. „Westen, halt ihn davon ab!“
„Du bist lustig. Wie denn!?“
„Keine Ahnung! Irgendwas eben. Droh ihm, von Weihnachten vor 34 Jahren zu erzählen.“
„Dann bringt er sich erst recht um“, kommentierte Norden finster.
„Er kann mich doch nicht hören und ... moment mal. Wieso drohen? Die Geschichte ist gut und ...“
„Quatsch nicht! Was tut er?“
„Ich weiß es nicht.“
„Wie, du weißt es nicht?“
„Er ist aufgestanden.“
„Verflucht, das heißt, er steht jetzt in unser aller Rücken?“
Schweigen.
„Junge“, versuchte Osten es noch einmal. „Ich weiß, das willst du nicht hören, aber ...“
Das Donnern eines Pistolenschusses zeriss die Luft. Metall schepperte, als die Waffe dicht gefolgt vom Körper des Jungen zu Boden fiel. Dann nichts mehr. Keine Schritte, nicht das leise Geräusch eines unruhigen Atems, kein Schluchzen, keinen Tränen. Es war still.
Lange Zeit schwiegen die Wasserspeier. Noch nicht einmal Westen wagte, das Wort an sich zu reißen. Eine Straßenbahn fuhr vorbei und einige Häuser weiter begannen ein paar Hunde zu kläffen.
„Westen“, flüsterte Osten nach einer Weile. „Magst du erzählen, was Weihnachten vor 34 Jahren auf deiner Seite des Hauses geschah?“
Schweigen.
„Ich glaube, mir ist nicht mehr danach.“
„Bitte erzähle es noch einmal. Und lass nichts aus, erzähl alles, an was du dich noch erinnerst.“
„Ich habe nichts vergessen. Wasserspeier vergessen nie etwas.“
Schweigen.
„Stimmt“, erwiderte Osten bitter. „Aber sie können sich ablenken. Erzählst du es uns nun?“
„Genau“, schloss sich auch Norden an. „Erzähl es noch einmal.“
Schweigen.
„Also schön“, lenkte Westen ein.
Und Westen erzählte.