Gefangen in der leeren Welt

Es gibt 131 Antworten in diesem Thema, welches 39.224 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (10. Juli 2016 um 18:18) ist von Dinteyra.

  • @Dinteyra Gut, das mit den Charakteren kann ich nachvollziehen, sind ja schließlich gleich 10. Ich werde versuchen, dass es übersichtlicher wird (und bei der Überarbeitung später genauer darauf achten). Wenn irgendwelche Fragen auftauchen, nur her damit. :)

    *hust* Ich bin mir sicher, ich hätte vor dem Teil hier mehr schreiben müssen, aber da hat's bei der Planung ziemlich gehapert ...


    Sie hatten es nicht geschafft. Ein Ende war nicht in Sicht und der Timer tickte beständig der 0 entgegen.

    12 ... 11 ... 10 ...
    Ramona sah hektisch zu Luke, der direkt neben ihr lief und ihren Blick mit panisch geweiteten Augen erwiderte. Genauso wenig wie er konnte sie sagen, was jetzt wohl passierte.
    »Scheiße«, zischte Ramona, »wir ...« Sie brach ab, als sie erkannte, dass Lynn nicht mehr an ihrer Seite war.

    02 ... 01 ... 00
    Noch ehe sie sich besorgt fragen konnte, wohin Lynn verschwunden war, schenkte sie dem abgelaufenen Timer ihre Aufmerksamkeit. Die Schrift verschwand und zwei neue Wörter erschienen, blinkten warnend auf dem Display: Mission fehlgeschlagen.
    Also doch. Irgendwer beobachtete sie und wusste genau, was sie taten. Ob es die anderen Gruppen geschafft hatten, aus dem Labyrinth zu kommen?
    »Lynn!«, rief Ramona laut und spürte, wie sich ihr Puls bei dem Gedanken erhöhte, die Aufgabe nicht geschafft und Lynn ausgerechnet in diesem Moment verloren zu haben. Eigentlich hatte sie gar keine Zeit, sich Sorgen darüber zu machen, was jetzt passierte, wenn womöglich Lynn etwas zugestoßen war oder es ihr aufgrund der abgelaufenen Zeit würde. Zudem verwirrte sie, dass der Timer keine neue Zahlen, sondern einzig die bedrohlich blinkende Botschaft anzeigte.
    »Was machen wir jetzt?«, hörte Ramona Luke und bemerkte, wie er seine Tränen nur mit größter Mühe zurückhielt.
    »Komm«, meinte Ramona nur, ohne die Frage direkt zu beantworten. Sie zog flüchtig an Lukes Ärmel und rannte dann mit ihm den Gang entlang zur nächsten Abzweigung. »Lynn?«
    Zu ihrer Überraschung stand Lynn plötzlich direkt vor ihnen, sodass Ramona erleichtert ihre Schritte verlangsamte.
    »Lynn, wieso warst du weg?«
    Ramona erhielt keine Antwort und musterte skeptisch ihre Kameradin.
    »Was machst du mit dem Messer?«
    »Komm nicht näher«, sagte Lynn mit einem solch monotonen Tonfall, dass Ramona tatsächlich zögerte und stehenblieb. Lynn hatte ein Messer erhoben, dessen Klinge Ramona und Luke entgegengestreckt war.

    Eine Warnung?
    »Was soll das?!« Ramona tastete verwirrt nach ihrem Gürtel, um ein eigenes Messer zu erspüren. Doch da war nichts. Hatte sie es auf dem Weg verloren? »Scheiße, Luke, was passiert hier gerade?«
    »Weiß ich doch nicht«, entgegnete Luke und stolperte zitternd einige Schritte zurück, obwohl Lynn keine Anstalten machte, näher zu kommen.
    »Lynn, lass das Messer fallen!«, versuchte es Ramona.
    »Komm nicht näher.«
    »Lass den Scheiß!« Ramona hob die Arme, als würde sie sich ergeben, und schritt entschlossen auf Lynn zu. Sie konnte sich nicht erklären, was in sie gefahren war ... oder doch. Ramona kam wieder die abgelaufene Zeit in den Sinn.

    Einer wird sterben.
    Was hatten sie mit Lynn angestellt?
    »Komm nicht näher!«, kreischte Lynn wie aus dem Nichts und fuchtelte etwas mit dem Messer. »Komm nicht näher, komm nicht näher!«
    Die stetige Wiederholung der Worte gaben Ramona den endgültigen Beweise, das in der Zeit, in der Lynn verschwunden war, etwas mit ihr passiert sein musste.
    Jetzt kam es einzig darauf an, wie sie handelte. Sie durfte sich keinen Fehler erlauben, weder zu schnell noch zu langsam handeln. Ramona atmete einmal tief durch. Auf Luke konnte sie sicher nicht zählen, also musste sie Lynn allein das Messer entwenden und dann zur Vernunft bringen.
    »Komm nicht näher!«
    »Weil du mich sonst umbringst oder wie?« Ramona war selbst erstaunt, wie ruhig sie blieb. »Ich weiß absolut nicht, was sie dir angetan haben, aber ...«
    »Komm nicht näher!«, unterbrach sie Lynn erneut und machte nicht den Eindruck, verstanden zu haben, was Ramona sagte. Ihre Augen wirkten erstaunlich leblos und der andere Arm hing schlaff neben ihren Körper.
    »Lynn.« Nun wollte Ramona doch kein Risiko mehr eingehen und verharrte an der Stelle, etwa einen Meter von der ausgestreckten Klinge entfernt. Hastig handeln wäre bei Lynns Zustand nicht die richtige Methode. Sie musste ihre Worte wählen und dann ...
    »Ich kann nicht mehr.« Ein Flüstern entwich Lynns Lippen mit einer solch gequälten Stimme, dass Ramona automatisch die Luft anhielt und einen Schritt machte.
    Ob das der Fehler gewesen war oder ob sie nichts mehr hätte ausrichten können, egal, wie sie sich entschied, war die Frage, die sich Ramona im Nachhinein immer wieder stellte.
    Mit einer schnellen Bewegung drehte Lynn die Klinge, dann bohrte sie sich in ihre Brust. Nicht ein Geräusch entfloh ihr, nur ein schmerzverzerrter Ausdruck blieb auf ihrem Gesicht zurück. Sie zog das Messer heraus, dann erstach sie sich erneut.
    »Nein!«, keuchte Ramona und Luke schrie. Als Lynn in ihre Knie sank, war Ramona zur Stelle. Das Messer fiel klirrend zu Boden, sie fing Lynn auf und zog sie in ihre Arme. Blut sickerte durch den Stoff und Ramona wusste, dass sie schnell einen Verband herstellen musste, damit Lynn nicht verblutete.
    »Warte, das haben wir gleich«, murmelte Ramona und zog hektisch an ihrem Ärmel, um Stoff einzureißen, nur klappte das nicht wie geplant. Stattdessen presste sie überfordert eine Hand auf die eine Wunde. Lynn hustete, spuckte zitternd Blut und atmete schwer, doch sie sagte nichts und schloss von selbst die Augen, bis ihre Bewegungen erschlafften.

    „Nie wieder!“, sagt der Verstand.
    „Jederzeit!“, sagt die Sehnsucht.
    „Unmöglich!“, sagt die Tatsache.
    „Versuch es“, flüstert der Traum.

  • Oh je. 8| Es ist wohl doch bitterernst alles. Ich hatte ja noch zu hoffen gewagt, dass die Drohung, dass jedes Mal jemand stirbt, wenn sie die Aufgabe nicht erledigen, nur scheinbar eingehalten werden würde, aber so wie es geschehen ist, gibt es wohl keinen Zweifel, dass es echt war. :/ Eine ganz schön gruselige Szene, die du dir da ausgedacht hast.

    Das einzige, was mich etwas irritiert, ist am Anfang dieses Teils der Sprung zum letzten Teil. Da hatten sie doch noch Zeit und jetzt ist sie auf einmal weg. Hast du wieder einen Post vergessen oder war das Absicht. Wenn es Absicht war bin ich mir nicht sicher, ob diese Entscheidung gut war, da du in den fehlenden Momenten vor diesem Teil großes Potenzial für Spannung verschenkst.

    Aber ansonsten war alles gut. Hab ein paar Korrekturen, aber nichts Dramatisches.
    Weiter so :thumbsup:

    Spoiler anzeigen

    Eigentlich hatte sie gar keine Zeit, sich Sorgen darüber zu machen, was jetzt passierte, wenn womöglich Lynn etwas zugestoßen war oder es ihr aufgrund der abgelaufenen Zeit würde.

    Den Satz musste ich dreimal lesen, um ihn zu verstehen. Vielleicht kannst du das noch etwas klarer formulieren?

    Sie konnte sich nicht erklären, was in sie gefahren war ... oder doch.

    Hier würde ein Fragezeichen am Ende des Satzes gut passen.

    »Komm nicht näher!«, kreischte Lynn wie aus dem Nichts und fuchtelte etwas mit dem Messer.

    Vorschlag: Unvermittelt
    Außerdem stört mich das etwas, es klingt so harmlos. Wenn sie das Messer nur leicht bewegt, könntest du schreiben: "das Messer zuckte in ihrer Hand" - das klingt sicher bedrohlicher. Aber sie kann auch gerne richtig damit fuchteln, obwohl eine leichte Bewegung ja vielleicht besser zu ihrem Zustand passt.

    Die stetige Wiederholung der Worte gaben Ramona den endgültigen Beweise, das in der Zeit, in der Lynn verschwunden war, etwas mit ihr passiert sein musste.

    Entweder "gab" oder "stetigen Wiederholungen"
    dass

    Jetzt kam es einzig darauf an, wie sie handelte. Sie durfte sich keinen Fehler erlauben, weder zu schnell noch zu langsam handeln.

    Wdh.

    Ihre Augen wirkten erstaunlich leblos und der andere Arm hing schlaff neben ihren Körper.

    ihrem

  • Zitat von Ameko

    *hust* Ich bin mir sicher, ich hätte vor dem Teil hier mehr schreiben müssen, aber da hat's bei der Planung ziemlich gehapert ...

    Ja, ein wenig plötzlich kommt der Ablauf der Zeit jetzt schon, aber na gut ^^

    Ohje, derjenige, der dieses Spiel veranstaltet kann also auch noch direkt Einfluss auf die Handlungen der Teenager nehmen. Übel, damit kann er ja automatische dafür sorgen, dass einen Aufgabe nicht erfüllt wird, wenn ihm danach ist :/
    Ich frage mich immer noch nach dem Grund für alles. Brot und Spiele?


  • Das einzige, was mich etwas irritiert, ist am Anfang dieses Teils der Sprung zum letzten Teil. Da hatten sie doch noch Zeit und jetzt ist sie auf einmal weg. Hast du wieder einen Post vergessen oder war das Absicht. Wenn es Absicht war bin ich mir nicht sicher, ob diese Entscheidung gut war, da du in den fehlenden Momenten vor diesem Teil großes Potenzial für Spannung verschenkst.

    Nein, ich habe nichts vergessen. Diesmal fiel mir nichts Zufriedenstellendes ein. :/ Vielen Dank für deine Meinung, die lieben Worte und Verbesserungen. Ich werde erst mal weiterschreiben, aber spätestens bei der Überarbeitung vor diesem Teil etwas hinzufügen. :)


    Ich frage mich immer noch nach dem Grund für alles. Brot und Spiele?

    Da musst du leider noch etwas geduldig sein. :D
    Und dir natürlich auch ein Danke~

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  • Kapitel 6

    Ramonas Puls raste, sie fühlte ihre trockene Kehle und einen unangenehmen Druck in der Magengegend. Lukes Schreie blendete sie vollständig aus, den Blick starr auf Lynn gerichtet, die an der Wand einige Meter entfernt niedersank und augenblicklich verstummte. Der Schock traf Ramona tief und sie brachte es einige Sekunden nicht fertig, sich zu rühren.
    »Lynn!« Endlich bewegten sich ihre Beine und sie stolperte hastig der zu Boden gesunkenen Kameradin hingegen.

    Was war passiert?
    Ramona zögerte nicht mehr, sondern zog Lynn an den Schultern zu sich hoch und wuchtete den schlaffen Körper in ihre Arme.
    Lynn hat sich umgebracht.
    Ein Teil in Ramona wollte nicht akzeptieren, was sie soeben gesehen hatte.
    Ich konnte nichts tun.
    Ramona blinzelte mehrmals, wollte aus einem schlechten Traum erwachen. Sie formte Wörter mit ihren Lippen, brachte aber keinen Mucks heraus.
    Ich konnte dich nicht aufhalten.
    Keine Sekunde verstrich und sie wusste, dass Lynn tot war. Sie versuchte nicht, ihre Blutung zu stoppen oder sie darum zu bitten, durchzuhalten. Die leblosen Augen verrieten zu viel. Mit zitternden Fingern schloss Ramona Lynns Augenlider.
    Ich hätte es verhindern können.
    Ramona ignorierte, was Luke rief, der ebenfalls herangetreten war, sondern hielt Lynn weiterhin fest und versuchte mit der Leere, die sich in ihr ausbreitete, fertig zu werden. Lynn konnte sich nicht aus freiem Willen das Leben genommen haben, oder?
    Schuldbewusst sah Ramona zu Luke, der wimmernd das Gesicht in den Händen vergraben hatte.
    »Sie ist tot!«, schluchzte er immer und immer wieder. »Weil die Zeit abgelaufen ist, oder? W-Weil wir zu langsam waren! Der Mann hat nicht gelogen, wenn wir versagen ... muss einer sterben ...«
    Ramona sagte nichts. Sie brachte nichts hervor, was ihre Bestürzung ausdrückte. Wieder sah sie zu Lynn, drückte sie an sich und stand mit ihr in den Armen auf. Ihr Körper zitterte, teils vom Gewicht, teils vor Angst, aber sie umklammerte Lynn und lief ein paar Schritte.
    »Was machst du da?«, hörte sie Luke leise fragen.

    Alles ist purer Ernst. Lynn ist wegen unserer Unfähigkeit gestorben. Wir müssen einen Weg finden, aus dieser seltsamen Welt zu entfliehen.
    Luke tappte Ramona hinterher, sagte nun ebenfalls nichts mehr, mit den Nerven vollkommen am Ende.
    Ramona fiel auf, wie wenig sie bis zuletzt über Lynn hatte erfahren können. Sie hatten sich nicht nahe gestanden, fast gar nicht gekannt und oder nach und nach angefreundet, und trotzdem wusste Ramona, dass sie niemals über ihren Tod hinwegkommen würde.
    Jetzt mussten sie aus dem Labyrinth gelangen, die anderen finden und eine Lösung ersinnen, damit niemand mehr starb. Wenn das hier die Realität war, dann konnten sie nicht hoffnungslos verloren sein. Nein, das wäre der erste und letzte Tod. Sie würde mit den anderen überleben. Bestimmt.
    Ramona schaffte es nicht, Lynn über einen längeren Zeitraum zu tragen. Schließlich legte sie den Körper ab, immer noch zitternd, und bemerkte erst jetzt das Blut, das in ihre Kleidung gesickert war. Schnell wandte sie den Blick auf und legte stattdessen eine Hand auf Lynns Wange.
    Kalt.
    Erneut hörte sie Luke schluchzen und fragte sich zum ersten Mal, warum sie nicht weinen musste. Lynns Tod nahm sie schrecklich mit, und dennoch ...
    Vorwürfe keimten in Ramona auf, die sie nicht zu verdrängen vermochte. »Wir müssen sie doch hier lassen, ich kann sie nicht mehr tragen.«
    »Ist gut ...«
    Schweren Herzens wandte sich Ramona ab. Sie war kein sentimentaler Mensch und wusste nicht, was sie noch tun konnte. »Tut mir leid ... Ruhe in Frieden«, flüsterte sie nur und nahm eine nächste Abzweigung, ohne die Umgebung zu betrachten. Umso überraschter war sie, dass der Weg mit einem breiten Torbogen endete, anstatt wie üblich eine Sackgasse oder weitere Wege zu offenbaren.
    »Sag bloß nicht, das ist ... das ist tatsächlich der Ausgang«, meinte Luke mit brüchiger Stimme, während Ramona hastig voraneilte. Mit den Fingern fuhr sie über das rissige Holz des Tores, ehe sie mit beiden Händen dagegen stieß und sich die Tür mit einem Knarren nach außen öffnete.
    »Anscheinend doch.«
    Unwillkürlich spielte Ramona mit dem Gedanken, zurück zu Lynn zu laufen, aber Luke ging bereits an ihr vorbei, deshalb entschied sie sich dafür, es ihm gleichzutun.
    Hinter dem Tor erwartete sie ein ähnlicher Raum wie der, in dem sie an diesem Tag erwacht waren.
    Dann ging alles ziemlich schnell. Die anderen kamen auf sie zu - Ramona erkannte zuerst Niara, Kirian Artemis und Finn - und redeten auf sie ein, doch Ramona schenkte den Worten keine Beachtung.
    Sie schluckte, als Niara entsetzt das Blut an ihrer Kleidung berührte und als echt befand.
    »Sie ist tot«, sagte Ramona. »Lynn starb wegen unserem Versagen.«
    »Wegen der abgelaufenen Zeit?«, keuchte Niara, wurde von einem Nicken bestätigt.
    Noch ehe Ramona berichtete, fing Xii an zu weinen und Luke sank zitternd in einer Ecke nieder, beständig denselben Ausdruck faselnd.
    »Es sah nach einem Selbstmord aus, aber sie kann es nicht aus freiem Willen getan haben.«
    Niara trat näher an Ramona heran, ihr Handgelenk fest umklammert. »Und was gibt uns die Sicherheit, dass ... dass du es nicht warst?«
    »Was?«
    »Du wirkst viel zu gelassen«, erklärte Niara verunsichert. »Und das Blut ...«
    »Glaubt, was ihr wollt, aber ich wollte sie retten.«
    Dachten die anderen wirklich, sie wäre dazu imstande, Lynn zu töten?
    Erschöpft sank sie an einer Wand nieder und kramte eine Plastikflasche hervor. Mit dem letzten bisschen Wasser versuchte sie, das Blut von ihrer Haut zu waschen.
    »Lynn ist also gestorben«, stellte Artemis trocken fest. »Ohne Scheiß? Du lügst wirklich nicht? Also ... wir wurden nicht angelogen und die meinen es hier so verdammt ernst?«
    Ramona beobachtete stumm, wie Niara damit bemüht war, Xii zu trösten, wie sich Finn zu Luke aufmachte und Hailey sich an Kirian drückte, ehe Artemis sie feindselig ansprach und die beiden in dieser Situation tatsächlich einen Streit anfingen.
    »Niemand wird mehr von uns gehen.« Es waren gesenkte Worte, die Luke galten. »Wir werden hier rauskommen.«
    Luke schniefte. »D-Du ... bist so gefasst ...«
    »Alles andere würde es nur noch schwerer machen«, entgegnete Finn, doch Ramona sah ihm an, wie sehr er mit sich selbst rang. Es fiel ihr leicht, zu erkennen, wenn andere Menschen ihre Gefühle versteckten.
    »Es tut mir so leid, Lynn«, flüsterte Ramona, dann schloss sie die Augen und atmete tief durch. »Aber dein Tod wird nicht umsonst gewesen sein.«

    „Nie wieder!“, sagt der Verstand.
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    „Unmöglich!“, sagt die Tatsache.
    „Versuch es“, flüstert der Traum.

    Einmal editiert, zuletzt von Ameko (13. Februar 2016 um 15:56)

  • Am nächsten Tag schlug Finn aufgrund einer eisigen Kälte, die sich durch seine Kleidung fraß, die Augen auf. Neben ihm lag ein Rucksack mit der Aufschrift seines Namens, den er hastig untersuchte. Der Rucksack war diesmal erstaunlich groß und Finn holte eine schwarze Jacke heraus, die er überzog.
    Eine Schneeflocke landete auf seiner Nasenspitze und schmolz. Finn erschauderte und sah sich in der Gegend um.
    Weiß. Der Boden war vollständig von einer Schneeschicht überzogen und außer einzelnen verschneiten Bäumen erkannte Finn keine Unebenheit in der Landschaft. Er weckte die anderen, ehe die neue Nachricht auf ihrer Uhr erschien: Fahrt vom Haltepunkt aus mit dem Zug bis zur Endstation.
    »Mist, ich hab diesmal wieder nur blödes Brot bekommen«, hörte Finn Niara klagen, Kirian redete Hailey und Artemis aufmunternde Worte zu und Luke flüstere immer und immer wieder etwas zu sich selbst, aber seitdem sie Lynn verloren hatten, war es nie so laut wie vorher.
    Jeder von ihnen fand wärmere Kleidung, mit der sie der Kälte nicht schutzlos ausgeliefert waren. Finn gesellte sich zu Niara, die einen Arm um die zitternde Xii gelegt hatte.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Finn vorsichtig, obwohl er genau wusste, das überhaupt nichts in Ordnung war.
    Xii nickte leicht.
    »Ist dir kalt? Möchtest du meine Jacke?«
    »Wie heldenhaft«, spottete Niara. »Du wirst dich nur unterkühlen.«
    »Nein, behalt sie«, hauchte Xii und zwang sich zu einem beruhigenden Lächeln. »Ist alles okay, ich ... mir macht das mit Lynn nur noch etwas zu schaffen ...«
    »Du brauchst aber keine Angst zu haben, diesmal bleiben wir alle zusammen, passen besser auf und finden eine Lösung, um nicht mehr so weitermachen zu müssen.« Finn war erstaunt, wie zuversichtlich er klang. Kirian hatte recht. Optimismus war das Einzige, das ihnen jetzt half, die nächsten Tage zu überstehen.
    »Ja«, erwiderte Xii sanft. »Danke.«
    Kirian war derjenige, der nach ein paar Schritten fast vollständig vom Schnee verschonte Eisenbahnschienen entdeckte, was bedeuten musste, dass sie trotz ihres rostigen Aussehens in Betrieb waren. Das einzig Verwunderliche war, dass sie nur einspurig ausgelegt waren. Aus reiner Intuition wählte Finn eine Richtung, in der sie den Schienen folgten, und alle bis auf Taron, der sich kommentarlos von ihnen entfernte, gingen mit ihm. Niemand hielt Taron auf.
    »Wenn wir in einen Zug müssen, können wir ja mit dem Lokführer sprechen!«, sprach Kirian laut das aus, was Finn ebenfalls überdachte.
    »Das hier ist alles viel zu gut geplant.« Artemis vergrub seine Hände tief in den weichen Jackentaschen seines Anoraks. »Ich glaube kaum, dass uns das helfen wird.«
    »Zerstör nicht wieder unsere Hoffnung, Artie«, erwiderte Kirian mit einem gespielt belehrenden Tonfall.
    Finn konnte sich nicht entscheiden, ob er die Leichtigkeit Kirians Worte auflockernd oder unangebracht finden sollte und sagte nichts dazu, sondern wunderte sich nur über Artemis' Reue zeigenden Blick.
    »Wisst ihr, was ich komisch finde?«, warf Niara ein. »Die letzten Tage war es warm und plötzlich ist alles verschneit. Wo zur Hölle haben die uns hingebracht?«
    Der Schnee knirschte unter ihren Schritten und Kirian sprach das Offensichtliche aus. »Weit weg vom letzten Ort.«
    »Ich kapier's einfach nicht. So viel Aufwand dafür, dass ...« Finn beobachtete Niaras Zögern, wie sie schließlich den Mund zuklappte und ihren Satz unbeendet stehen ließ. Seine Gedanken schweiften zurück zu Lynn und er fühlte sich fast hilflos. Wenn sie nichts unternahmen, wen traf es dann als Nächstes?
    »Dass wir sterben werden?«, sprach Hailey unwillkürlich weiter. Ihre Stimme erklang eingeschüchtert. »Das wolltest du sagen, oder? Aber ich kann doch noch nicht sterben, das hier kann nicht das Ende sein, ich will es nicht glauben!«
    Beruhigend legte Kirian einen Arm um Hailey und strich über ihren Rücken. »Wir werden einen Ausweg finden.«
    Finn sah Hailey an, wie sehr sie sich mit Kirians Trostversuch zufrieden gab, denn auf ihren Lippen erschien ein zartes Lächeln und sie schmiegte sich an ihren Begleiter. »Du hast recht, an der Seite eines Beschützers wie dir sollte ich mir keine Sorgen machen.«
    »Kirian hat nie davon geredet, dein Beschützer zu sein, Mädchen«, fauchte Artemis.
    »Warum mischst du dich da wieder ein, Jagdgöttin?!«
    »Wenn du den Mund aufmachst und so etwas Lächerliches sagst, kann ich gar nicht still sein!«
    Hailey schnaubte und suchte Augenkontakt mit Kirian; das stellte sich jedoch als gar nicht so einfach heraus, da dieser ständig zwischen ihr und Artemis hin und her sah.
    »Kein Grund zu streiten, ich beschützte euch beide«, lachte Kirian und korrigierte bei einem genervten Geräusch von Niara: »Nein, euch alle.«
    »Na das will ich sehen«, höhnte Niara und Hailey quietschte: »Das ist ja so süß von dir, Kirian!«
    Finn sah flüchtig über seine Schulter zu Ramona, die als Letzte ging, kurz vor ihr Luke, der immer wieder über seine Augen wischte. Keinem der beiden sah man Hoffnung an, obwohl aus Ramonas meist gleichbleibend ernster Miene sowieso schwer zu lesen war. Xii lief dicht an Niara gepresst, welche ab und zu versuchte, ihr die kalten Hände zu wärmen.
    Nun spielte Finn mit dem Gedanken, laut zu rufen, denn andere Menschen wären ihre Rettung. Wahrscheinlich. Sicher sein wollte und konnte er sich nirgendwo. Außerdem wurde seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gelenkt.
    »Ein Hund?«, entwich überrascht seinen Lippen, eins, nein, zwei Tiere erspähend, die durch den Schnee sprangen.
    »Sehen aus wie Huskys«, meinte Kirian. »Gehören die womöglich Menschen?«
    »Nee, das sind Wölfe«, mischte sich Artemis ein.
    »Artemis hat recht, Huskys sehen ganz anders aus.« Niara stupste Finn an, der stehengeblieben war. »Wölfe sind bloß in Märchen böse, lasst uns weitergehen.«
    »Mich verunsichert trotzdem, dass sie auf uns zukommen«, gab Finn zu und bemerkte, wie hinter einem Baum ein dritter Wolf erschien, der sich in Bewegung setzte. Wölfe taten also nichts, sagte Niara? Es fühlte sich eigenartig, so schwer an, wenn Finn versuchte, zu seinen Erinnerungen zu gelangen. Nein, er sollte Niara Glauben schenken und aufhören, sich unnötig Kopfschmerzen zu verschaffen.
    »Vielleicht denken sie, wir haben Essen und deshalb ...« Niara beendete ihren Satz nicht. Finn wandte sich verwundert an sie und sah gerade noch, wie Niara nach hinten über ihre eigenen Füße stolperte und in den Schnee fiel. Zwei der Wölfe waren ihnen nahe gekommen und umkreisten sie. Verwundert musterte Finn die Augen des einen Wolfes, die eine ungewöhnlich gelbe Iris zeigten. Für mehr Beobachtungen blieb keine Zeit.
    Hailey kreischte, als der Wolf Finn ansprang und zu Boden riss. Der Atem des Wolfes ging rasselnd, Speichel tropfte von seinen spitzen Zähnen. Ein stechender Schmerz fuhr durch Finns Brust. Er keuchte und wollte zu seinem Herz fassen, doch der Wolf hinderte ihn daran. Entsetzt versuchte er, das Tier wegzustoßen und um Hilfe zu rufen, doch sein Körper wollte nicht. Finn realisierte, wie der Wolf ihn biss, wie die anderen schrien und etwas Warmes seinen Bauch hinab rann.
    Seine Finger verfingen sich in dem dichten dunklen Fell des Tieres und rissen daran, erst wirkungslos, dann mit einem Ruck. Ein Jaulen erklang, wodurch der Wolf die Zähne aus seinem Fleisch riss. Finns Freude weilte nur flüchtig. Der Wolf stellte beide Vorderpfoten auf seinen Oberkörper ab, sodass ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Abermals schmerzte seine linke Brusthälfte so sehr, dass Finn um ein Haar sein Bewusstsein verlor.
    Ein Schuss durchschnitt das Durcheinander.

    Ein Schuss?
    Mit einem Winseln wich der Wolf von Finn und dieser schnappte heftig nach Luft. Bei dem Versuch, sich aufzurichten, ertönte ein weiterer Schuss, der ihn diesmal erschrocken zusammenzucken und automatisch ließ ???. Automatisch warf er sich zurück in den Schnee.
    Eins ... Zwei ... Drei ... Vier ...
    Sekunden verronnen, in denen Finn nichts außer seinen beschleunigten Herzschlag hörte.
    »Alles in Ordnung?« Es war Niara, die sofort bei ihm war und besorgt seinen Körper untersuchte. »Das waren keine normalen Wölfe, bestimmt nicht! Sie ... Scheiße, du blutest.«
    Finn presste die Zähne zusammen, als Niara seine Jacke öffnete und mit der Hand über seine Bisswunde fuhr, die sich an seiner linken Taille erstreckte. Flink zog Niara etwas aus ihrem Rucksack, das Finn nicht mehr erkannte, da er vor Schmerz die Augen schloss.
    »Zwei Schüsse?«, presste er fragend heraus.
    »Ramona hat noch einen kleinen Revolver dabei. So unfair, dass sie den Retter geben durfte.« Sie lachte flüchtig und drückte einen Stofffetzen auf Finns Haut, um einen weiteren Blutverlust zu vermindern. »Die Viecher sind abgehauen und wir sollten auch schnell von ihr verschwinden.« Nur ein paar Sekunden wandte sich Niara lauter an die anderen. »Hat jemand irgendetwas Hilfreiches dabei? Finn hat eine große Bisswunde!«
    »Warte«, gab Kirian eine Antwort und ein paar Minuten später hatte Finn einen dicken Verband um seinen Bauch gewickelt, durch den nur noch ein bisschen Blut sickerte. Da er nicht allein laufen konnte, stützten ihn Niara und Ramona.
    Luke hatte es mit einer dicken Kratzwunde im Gesicht und einem Biss in den Oberschenkel getroffen. Seine Panik war riesig und er weigerte sich, weiterzugehen, sodass ihn Kirian kurzerhand auf seinen Rücken hievte, um ihn zu tragen. Diese Standhaftigkeit bewunderte Finn.
    »So viel dazu, Wölfe wären nur in Märchen gefährlich«, murrte Hailey.
    »Das waren halt keine richtigen Wölfe!« Genervt und ohne nachzudenken gab Niara Hailey einen kleinen Schubs, sodass diese gegen Artemis rempelte.
    »Was soll das?!«
    »Beruhig dich, ich hab dich nur berührt und schon fällst du fast um.«
    »Niara, bitte«, murmelte Finn, um einen unangebrachten Streit zu verhindern. Er war gerade eben von einem Wesen angefallen und verletzt worden, nicht ahnend, was ihm noch bevorstand. Geschwächt und geschockt wiederholte er gedanklich pausenlos Kirians ermutigende Worte und zwang sich dazu, keine Angst zu zeigen. Vorhin hatte er Xii getröstet und wenn er jetzt aufgab, würde er ihr sicher damit schaden.
    »Wie auch immer. An den Viechern von eben haben bestimmt Menschen experimentiert.«
    »Experimentiert?«, fragte Xii Niara vorsichtig.
    »Ja, hast du denen mal in die Augen gesehen?«
    »Unsinn«, fand Artemis. »Anscheinend sind Wölfe halt nicht nur harmlos und wir können extrem froh sein, dass Ramona eine Knarre dabei hatte! Wieso verteidigst du die Tiere überhaupt?«
    »Ich verteidige sie nicht, ich suche nur nach einer logischen Erklärung für ihr komisches Verhalten.«
    Die restliche Unterhaltung schaltete Finn ab, da ihn das viele Gerede zu nerven begann. Was passiert ist, ist passiert, sie hatten es alle mit mehr oder weniger Glück überstanden und konnten den Schienen folgen. Finn hoffte nur, den Tieren nicht ein zweites Mal zu begegnen und schnell zum Zug zu finden. Doch da war etwas, das ihn mehr zu schaffen machte. Dort, wo sein Herz saß, zog es alle paar Sekunden stark und schmerzte heftiger, als es seine puckernde Wunde tat.

    „Nie wieder!“, sagt der Verstand.
    „Jederzeit!“, sagt die Sehnsucht.
    „Unmöglich!“, sagt die Tatsache.
    „Versuch es“, flüstert der Traum.

    Einmal editiert, zuletzt von Ameko (20. Februar 2016 um 17:15)

  • so, ich bin wieder up-to-date. Bei dir ist ja ganz schön was passiert und man merkt, dass es jetzt richtig ernst wird. Kirian hat gut reden mit seinem Optimismus. So wie es aussieht, soll von den Teens niemand überleben.

    Weiss leider nicht, wie man vom Smartphone aus dem Text zitiert
    deswegen gibt es keine Korrektur - hab aber bis auf eine Sacheauch nichts gefunden:

    Zitat von Ameko

    puckernde

    Das Wort hab ich noch nie gehört, ist das Dialekt?

  • @Dinteyra danke :) Habe den Teil ein zweites Mal überarbeitet und habe gemerkt, was du meinst. Ganz zufrieden bin ich noch nicht, ich schaue demnächst nochmal rein.
    An eine Zahnradbahn also. :'D Die sind ganz hübsch, hier geht es allerdings weniger hübsch weiter ...

    Xii war verschreckt von den Wölfen und sah sich alle paar Sekunden ängstlich in der Umgebung um. Wenn Ramona nicht gewesen wäre ... Allerdings gefiel ihr die Vorstellung von Ramona, die einen geladenen Revolver mit sich trug, ebenfalls nicht. Natürlich hatte sie Finn und Luke mit eben diesem retten können, doch was wäre, wenn es hart auf hart käme? Bisher hatte Ramona nie bösartig gewirkt, doch hinter ihrer ernsten Fassade war schwer zu erkennen, was sie wirklich dachte. Hinzu kam, dass Lynns Tod sie äußerlich nicht berührt hatte.
    Ich sollte bei Finn und Niara bleiben, die beiden sind freundlich zu mir.
    Bekümmert beobachtete Xii, wie Niara damit bemüht war, Finn zu stützen, der seine Finger ab und zu in den Stoff seines Mantels krallte, als würde er so Schmerzen verdrängen wollen.
    Und wenn ich ihnen nur zur Last falle? Bisher habe ich gar nichts für sie tun können.
    Xii fröstelte und zog den Schal, welchen sie von Niara bekommen hatte, fester um ihren Hals.
    Nach einer halben Stunde Fußmarsch gelangten sie an einen breiten Tunnel, in dem keine einzige Lichtquelle zu existieren schien.
    Kirian entschied, dass sie hineingingen, nach einer Haltestelle suchten und erst umkehrten, wenn sie sich im Dunkeln zu schlecht zurechtfänden und das Ende des Tunnels nicht mehr ausmachen könnten.
    »Wieso sollte es in einem Tunnel einen Bahnhof geben?«, fragte Niara. »Das ist einfach nur unlogisch.«
    »Vielleicht ist da drin ja etwas, wo der Zug hält«, entgegnete Kirian.
    »In einem Tunnel«, wiederholte Niara scharf. »Züge halten in Dörfern und Städten.«
    »Ich weiß, aber auf der Uhr wurde ja das Wort Haltestelle verwendet und ...«
    »Nein, Haltepunkt«, unterbrach ihn Artemis. »Das Wort habe ich noch nie gehört und das ist eigenartig genug, also lasst uns einfach mal in den Tunnel gehen.«
    Somit war das Erkunden des Tunnels geklärt.
    Und Kirian sollte recht behalten. Nicht weit entfernt vom Eingang las Xii ein verwittertes, fast umgekipptes Schild, das einen Ort markierte, an dem ein Zug hielt. Seltsam, denn wieso sollte ein Zug mitten im Nichts stoppen? Unsicher verfolgte Xii die Gespräche der anderen, die ebenfalls darüber redeten, es aber schnell nicht mehr hinterfragten, zu viel Unerwartetes war passiert.
    Die Gruppe wartete nah an der Wand des Tunnels, bis ein stetig lauter werdendes Geräusch und leichtes Beben der Schienen das Kommen eines Zuges ankündigte.

    Erschreckend pünktlich.
    Der Zug hielt mit einem unangenehmen Quietschen, eine Tür öffnete sich von alleine. Äußerlich war die Gestaltung in dunklem Grau gehalten und die Fenster verspiegelt, sodass Xii nicht hineinsehen konnte.
    Wie erwartet hielten sich einige nicht zurück, sofort in den Zug zu springen. Kirian hatte Luke nicht durchgängig tragen können und zwischendurch nur gestützt, aber es wenigstens geschafft, ihn zu beruhigen und seinen Widerstand einzudämmen. Mitleidig musterte Xii ihn. Lukes sowieso schon außerordentlich helle Haut mit den Sommersprossen wirkte unnatürlich weiß. Die dunklen Ringe unter den geröteten Augen verstärkten diesen Eindruck.

    Wie ein Geist.
    Xii umklammerte nervös die Riemen ihres Rucksacks und stieg hinter Niara in den Zug. Sie erwartete bereits eine böse Überraschung und versuchte intuitiv, sich hinter den anderen zu verstecken, nicht aufzufallen.
    Von innen zog sich rechts ein mit rotem Teppich ausgelegter Gang entlang, schwach beleuchtet mit einzelnen Lampen, von denen über die Hälfte zerschlagen waren. Türen, die zu den Kabinen führten, waren zerkratzt und schmutzig. Alles in allem wirkte der Zug wenig ansprechend.
    »Hier sind Menschen!«, hörte Xii Kirian rufen, der eine Kabinentür ruckartig aufzog. Weil die anderen drängelten, blieb Xii im Gang und wärmte mit ihrem Atem die eiskalten Hände. Viel angenehmer als draußen erschien es ihr leider nicht. Allerdings gab es andere Leute, von denen sie erfahren konnten, wo sie überhaupt waren.
    Mit einem Ruck fuhr der Zug los.
    Die Erleichterung über andere Menschen zerbrach in dem Moment, in dem Xii wagte, durch ein Fenster einer der Kabinen zu sehen. Der starre, fast tote Blick eines älteren Mannes mit Glatze aus aufgerissenen Augen, der Xii zu durchbohren schien, brachte sie zum Schaudern.
    »Entschuldigung«, stammelte sie, als würde sie das von den kalten Augen bewahren, die sie einschüchterten. »Uh ... Niara?« Sofort stand Xii vor der Kabine, in die ein paar andere getreten waren, wagte zwei Schritte hinein und griff nach Niaras Arm, weil sie wusste, von ihr beschützt zu werden.
    Unerwartet drehte Niara den Kopf und beugte sich zu Xiis Ohr. »Sie reden nicht mit uns, sondern glotzen nur.«
    »Sie reden nicht?«
    »Nein, geh mal rüber zu Kirian und Hailey.«
    Auf einem schäbigen Sitz der linken Seite saß Finn, die anderen waren leer. Über ihnen im Gepäckfach lag ein lederner Koffer, daneben Handschuhe und eine Bierflasche. An der anderen Seite standen Hailey und Kirian vor zwei Leuten, einer jungen Frau Mitte zwanzig und einem älteren Herren mit Schnurrbart und Zylinder. Wie auch der Mann, dem Xii zuvor ins Gesicht gesehen hatte, wirkten die Augen der beiden, die ins Nichts starrten, leblos.
    »Warum sagt ihr nichts, seid ihr taub oder was? Euer Verhalten ist doch total bescheuert«, jammerte Hailey ungeduldig.
    »Bitte, können Sie uns keine Auskunft geben, wo wir uns befinden?«, versuchte Kirian die beiden Mitfahrer auf eine andere Art zum Sprechen zu bringen. »Wir werden auch nicht nochmal stören.«
    Die Frau blinzelte, was Xii verblüffte, zum ersten Mal. Wie in Zeitlupe drehte sie das Gesicht zu dem Mann neben ihr, schloss plötzlich ihre Lider und lehnte den Kopf gegen die Schulter ihres Begleiters.
    Hailey trat ratlos zurück. »Warum pennt die jetzt?«
    »Das gefällt mir nicht«, sagte Artemis und fuhr fröstelnd durch seine vom schmelzenden Schnee genässten Strähnen. »In der Kabine nebenan sitzen zwei Kinder und eine Frau, die genau das Gleiche abziehen. Entweder die wollen uns hier einschüchtern oder ... ich weiß nicht.«
    »Glaubst du an Übernatürliches?« Kirians Frage kam so unverwandt, dass Artemis stutzte.
    »Ähm, eigentlich nicht.«
    »Diese Leute wirken aber auf jeden Fall nicht menschlich. Schau doch nur mal ihre Pupillen an.«
    Xii umgriff Niaras Arm fester, als sich diese äußerte. »Du denkst also, sie wären nicht wie wir?«
    »Klingt wie in einem schlechten Horrorfilm, ich weiß.« Kirian lachte.
    »Nein, das ist es nicht«, kam nachdenklich zurück. »Hier ist schon so viel Seltsames passiert, wir sollten nicht von allem automatisch die Realität ... nein, unsere Realität, so wie wir denken, sie zu kennen, annehmen. Wir alle leiden unter Gedächtnisverlust, oder? Und dennoch beurteilen wir erstaunlich sicher, was realistisch ist und was nicht! Ist das nur unser Unterbewusstsein oder ...«
    »Du meinst also«, sagte Artemis ruhiger, »wir könnten uns eigentlich irren, wenn wir zum Beispiel sagen, es gäbe keine ... was weiß ich, Elfen, weil wir eine lückenhafte Erinnerung haben und einzig vergessen haben könnten, dass sie existieren?«
    »Ach, Elfen, was für ein süßes Beispiel!«, entgegnete Niara aufziehend. »Aber ich meinte es auch in eine andere Richtung. Denk an die Sache mit Lynn. Ramona meinte, es wäre Selbstmord nach Ablauf des Timers, den sie höchstwahrscheinlich nicht aus freiem Willen beging. Was, wenn uns jemand so manipulieren kann, wie er will, und das auch mit diesen Menschen hier getan hat?«
    »Dann könnte man uns doch gleich vollständig manipulieren.«
    »Ich denke, dann wäre ein gewisser ... hm, ich nenne es mal Spaß, weg. Würde man uns so handeln lassen, wie sie es wollten, wäre alles vorhersehbar und langweilig. Sie nutzen das bloß aus, wenn es nicht anders geht oder sie Druck ausüben müssen, deshalb der angekündigte Tod nach einem Versagen.«
    Xii war erstaunt von Niaras Überlegungen, die in irgendeiner Richtung einleuchtend klangen. Sie umklammerte ihren Arm fester.
    »Wow«, grinste Kirian. »Meine Frage war also gar nicht so komisch gewesen.«
    »Nein, sie war super«, lobte Hailey unnötigerweise. »Wie alles, was du sagst.«
    Artemis tat Haileys dämliches Kichern mit einem Kopfschütteln ab und ging nicht wie sonst darauf ein. »Na ja, ich muss zugeben, dass das gar nicht so abwegig klingt, Niara. Ich meine, es muss schließlich eine Erklärung für alles geben, aber ich kann mir dennoch schwerlich vorstellen, wie jemand uns derart manipulieren könnte.«
    »Ich auch nicht, von Wissenschaft hatte ich nie Ahnung.«
    »Und Zauberei?«, fragte Kirian.
    »Ach, belassen wir es erst mal dabei und kümmern uns um wichtige Dinge.« Niara wuschelte durch Xiis Haare. »Nun guck nicht so ängstlich, vielleicht erzähle ich auch nur Quatsch, die Leute hier spielen mit uns, Lynn war verrückt oder hatte einen Grund. Noch ist nichts vorbei. Lass uns mal zum Lokführer vorgehen, der kann bestimmt nicht tote Puppe mimen!«
    Froh darüber, wie sich Niara um ihr Wohlergehen sorgte, nickte Xii und folgte ihr den schmalen Gang entlang. Zwischendurch spähte sie durch einige Fenster, bei denen sie die bekannten ausdruckslosen Gesichter entdeckte, bis sie im vordersten Teil des Fahrzeuges angelangt waren.
    »Ich klopfe erst mal«, sagte Niara und pochte gegen die Tür zur Fahrerkabine. »Entschuldigen Sie?«
    Da es bis auf die Fahrtgeräusche still blieb, wiederholte sie die Geste. »Hallo, darf ich Ihnen kurz eine Frage stellen?«
    Keine Reaktion.
    Niara riss der Geduldsfaden. »Hören Sie, das hier ist gar nicht lustig! Ich will nicht glauben, dass Sie und wir gesteuerte Puppen sind, also antworten die gefälligst!«
    Aufgrund des wütenden Tonfalls stieg in Xii der Drang, sich die Ohren zuzuhalten.
    »Fein, dann komme ich halt rein, Alter.« Niara stieß die Tür auf und stellte sich direkt neben einen Mann in typischer Fahreruniform. Da sie das erwartete, was sie bereits von den anderen Menschen in Zug kannte, handelte Niara anders. Erst pikte sie dem Mann in die stoppelige Wange, dann rüttelte sie an seiner Schulter.
    »Jetzt sag was!«
    Anstatt einer Antwort erhielt Niara ein Rumsen, als der Mann schlaff zur Seite kippte und gegen die Apparaturen knallte.
    Xii schrie auf.

    „Nie wieder!“, sagt der Verstand.
    „Jederzeit!“, sagt die Sehnsucht.
    „Unmöglich!“, sagt die Tatsache.
    „Versuch es“, flüstert der Traum.

    3 Mal editiert, zuletzt von Ameko (27. Februar 2016 um 15:42)

  • Okay, Zombies oder so. :hmm: Ganz tot scheinen die meisten zumindest nicht zu sein. Ich würde mir übrigens doch Gedanken darüber machen, wie jemand sie kontrollieren kann, vielleicht können sie es irgendwie verhindern.
    Wie viele sind jetzt eigentlich in diesen Zug gestiegen. Es kam mir eher wie eine kleine Gruppe vor, aber es waren alle, oder?
    Der Teil gefiel mir sehr gut :thumbsup: . Wenn du noch etwas verbessern willst, wären ein paar mehr Beschreibungen sicher nicht schlecht. Ich freu mich schon auf den nächsten :popcorn:

  • Spoiler anzeigen

    »Genau. Ach, Elfen, was für ein süßes Beispiel!«, entgegnete Niara aufziehend.

    Das "Genau" würde ich streichen. Wenn man zu einem Konter ansetzt, stimmt man nicht erst zu, das wirkt dann mMn unterbrochen und unpassend

    »Nein, sie war super«, lobte Hailey unnötigerweise. »Wie alles, was du sagst.«

    Hailey geht mir langsam echt auf die Nerven x) Ich würde es als extrem lästig empfinden, wenn so eine auf mich stehen würde.

    Niaras Erklärung ist gut und auch das, was ich im ersten Moment gedacht habe. Kann aber auch sein, dass du damit eine falsche Fährte legen willst. Auf jeden Fall ist so ein Zug extrem unheimlich. Und wenn die Leute wirklich unter Kontrolle stehen, hindert sie nichts daran, plötzlich und unerwartet auf die Teens loszugehen - jetzt, nachdem die ganze Gruppe glaubt, die regen sich eh nicht.
    Hast hier echt super Stimmung erzeugt
    :thumbup:

  • Yay, ich kann mich in letzter Zeit dazu aufraffen, mehr zu schreiben. ^^ Danke für eure Rückmeldungen, es ist immer ermutigend, sie zu lesen.

    Kapitel 7


    Am gruseligsten fand Artemis das seichte Lächeln auf den Lippen der Kinder und wie sie mit ihren kleinen Beinchen wippten, während aufgerissene, kalte Augen seine Schritte verfolgten.
    Artemis hatte sich von den anderen entfernt, wollte sich alleine einen Überblick des Zuges verschaffen und war in einem Abteil angelangt, in dem ihm drei Kinder im Grundschulalter entgegen blickten. Es kam ihm beinahe wie eine Art Mutprobe vor, die er alleine bestehen musste.
    »Was genau seid ihr?«, murmelte er und stupste einem der Mädchen in die Wange. Ganz normal warm. »Hat euch jemand hypnotisiert?« Kritisch beäugte er das Kind von nahem und wich erschrocken zurück, als es zwinkerte. »Ich versteh das einfach nicht. Niaras abstruse Theorie will ich nicht glauben, also sagt doch endlich was, verdammt!«
    »Artie?«
    Ein heftiges Zusammenzucken und Artemis, der bis eben vor dem Mädchen gehockt hatte, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Hosenboden. Beschämt darüber drehte er sich zum Türrahmen.
    »Mensch, Kirian, musst du mich so erschrecken?«
    »'Tschuldige«, kicherte Kirian und streckte Artemis eine Hand entgegen, an der sich dieser hochzog. »Und, noch irgendetwas Spannendes herausgefunden?«
    »Spannendes?«
    »Na haben die Kinder was gesagt oder so?«
    »Diese Leichtfertigkeit immer, mit der du alles hinnimmst ...« Artemis steuerte auf den Ausgang zu. Nachdem das Mädchen geblinzelt hatte, war da etwas, was ihm sagte, möglichst schnell Abstand zu gewinnen.
    »Ist das was Schlechtes?«, fragte Kirian.
    Da Artemis nicht darüber nachgedacht, sondern einfach geredet hatte, zuckte er mit den Schultern. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, damit aufzuhören, Kirian zu kritisieren. Er mochte ihn viel mehr als alle anderen der Gruppe. Kirian stand immer zu ihm, interessierte sich für ihn und Artemis wusste inzwischen, dass er Hailey vor allem deshalb nicht leiden konnte, weil sie versuchte, ihm Kirians Aufmerksamkeit zu nehmen. Zugeben würde er das natürlich nie.
    Ein Schrei ertönte und Artemis drehte sich erschrocken zu Kirian um.
    »War das Xii?«, sagte dieser und rannte mit Artemis den Gang zum vorderen Teil des Zuges.
    Niara kam ihnen entgegen und rief hektisch: »Wir haben keinen Lokführer!«
    »Was?«, fragte Artemis verwirrt.
    »Da saß ein Mann, doch als ich ihn berührt habe, ist er umgefallen! Sein Puls steht still, er ist tot!«
    »Oh Scheiße.« Artemis zweifelte nicht eine Sekunde an dem, was Niara sagte.
    »Xii versucht sich an der Technik«, fuhr Niara fort. »Sie scheint ein wenig Ahnung zu haben.«
    Obwohl Artemis nicht einmal ein Bild davon bekam, wie es im Raum des Fahrers aussah, schob er sich an Niara vorbei und stürmte zu Xii. Als er dabei beinahe über einen leblosen Körper stürzte, erschauderte er.
    »Kommst du klar, Xii?« Artemis zwang sich, der Leiche keine Beachtung zu schenken und musterte die Knöpfe und Hebel, die Xii bediente.
    »So schwer ist das gar nicht.« Zu Artemis' Staunen erhielt er ein starkes Lächeln. »Endlich kann ich helfen. Ich helfe euch doch, wenn ich den Zug sicher als Ziel bringe, nicht wahr?«
    Verblüfft über Xiis naive Worte blieb Artemis einen Moment still. Sie trat kein Stück verängstigt auf. »Ähm, klar.«
    »Ich bin also doch zu etwas nütze.«

    Sie freut sich also darüber, uns mit ihrem Wissen behilflich zu sein?
    Artemis suchte nach einer Erwiderung, doch als er keine fand, wandte er sich von Xiis zufriedenem Gesicht ab. Erstaunlich, wie sehr man sich in dem Charakter eines Menschen irren konnte - so schwach, wie Xii immer gewirkt hatte, war sie noch lange nicht. Da Niara, Kirian und Ramona kamen, wich Artemis zur Seite und lief zurück zum zweiten Wagon. Beim Durchgang ruckelte es und er musste sich an den Wänden abfangen.
    Wenn Xii mit dem Steuern des Zuges klarkam, blieben nur noch die stummen Passagiere, die Artemis Sorgen bereiteten. Er hoffte, sie fuhren einzig zur Einschüchterung mit ihnen und er fände ein leeres Abteil, um ihnen aus dem Weg zu gehen.
    »Kirian?«, hörte Artemis Hailey rufen, die auf ihn zukam. »Kiriaaaan?«
    »Hör auf, so nervtötend zu schreien.«
    »Wenn es dich nervt, höre ich erst recht nicht auf«, erwiderte Hailey spitz.

    Hailey ist so ätzend ... Womit könnte ich sie am besten ärgern?
    Auf Artemis' Gesicht erschien ein triumphierendes Grinsen. »Deine Haare sind vom Schnee extrem gekräuselt, das sieht so bescheuert aus.« Eigentlich etwas, das ihn überhaupt nicht scherte oder in anderen Situationen auffiel, aber es erzielte sicherlich seinen gewollten Effekt.
    »Waaaas?«, quietschte Hailey entsetzt so, wie es Artemis erhofft hatte. Sie strich mit den Fingern durch die violetten Strähnen und wühlte in ihrem Rucksack. »Und dabei habe ich keinen Spiegel und meine Bürste ist auch nicht mehr da!«
    »Du hast Probleme«, sagte Artemis abwertend, bevor er sich umdrehte und rief: »Kirian!«
    »Was soll das denn jetzt? Willst du, dass er mich so sieht?!«
    »Als würde der sich dafür interessieren, wie deine Haare aussehen.« Artemis verdrehte genervt die Augen. »Sei froh, dass er überhaupt dein Gelaber erträgt.«
    »Was soll das denn heißen?«
    Schnell verlor Artemis den Reiz daran, sich über Hailey lustig zu machen. Es gab viel Wichtigeres und außerdem kam in diesem Augenblick Kirian angelaufen, der sich fragend an Artemis wandte.
    »Was gibt's denn?«
    Schadenfroh sah Artemis zu Hailey und vergaß, dass er sie einfach hatte ignorieren wollen. »Haha, er ist nur gekommen, als ich ihn gerufen hab!« Ohne eine Antwort abzuwarten - Haileys angesäuertes Gesicht reichte ihm allemal - griff Artemis nach Kirians Ärmel und zog ihn mit sich den Gang entlang. Dieser folgte ihm ohne Protest und Artemis wusste nicht, wieso, aber das freute ihn ungemein und er blickte kurz lächelnd über seine Schulter.
    »Was ist mit dir los, Artemis?«, fragte Kirian ungewohnt kritisch.
    »Nichts, wieso?«
    »Du benimmst dich so anders als sonst. Du hast mich gerufen und dann auch noch so friedlich angelächelt.« Das Misstrauen in Kirians Stimme wich, als er lachte. »Nicht, dass mich das stört, aber bisher ...«
    »Bilde dir nichts darauf ein«, unterbrach ihn Artemis schnell und bereute es sogleich. Wenn einer solche schnippischen Antworten nicht verdient hatte, dann Kirian.
    Zum Glück blieb er gelassen. »Das passt schon eher zu dir! Aber ich sag dir was, dieses Lächeln von eben steht dir total, Artie.«
    Artemis ließ Kirians Ärmel los und sah sich nervös um. Das hatte zwar niemand gehört, aber Artemis schämte sich trotzdem. In Momenten wie diesen wusste er nicht, was er denken, geschweige denn, wie er reagieren sollte. »Sag doch nicht so was Peinliches!«
    »Ich hab nur ausgesprochen, was ich gedacht habe, und peinlich ist für mich was anderes.« Spielerisch stupste Kirian gegen Artemis' Schulter. »Außerdem war es doch ein Kompliment gewesen!«
    »Eben weil es ein Kompliment war, ist es ja so ... peinlich. Genau wie dieser Spitzname.«
    »Ach ja?«
    Artemis drehte sich weg und öffnete die Tür des Abteils, vor dem sie standen. »Du checkst echt gar nichts«, murmelte er.
    Leider nicht leer. Zwei Männer in Anzügen saßen sich gegenüber und Artemis wollte gerade wieder rausgehen, als sie mit einem Rauschen in einen Tunnel fuhren. Von einer Sekunde zur nächsten war es fast komplett dunkel, die schwachen Lampen an den Decken halfen wenig.
    »Warum hast du mich eigentlich gerufen?«, wollte Kirian wissen, den das karge Licht im Gegensatz zu Artemis nicht verunsicherte.

    Um mir selbst zu beweisen, dass ich dir wichtiger als Hailey bin.
    »Einfach so«, sprach Artemis stattdessen aus. Um abzulenken, fügte er hinzu: »Lass uns für die Fahrt ein leeres Abteil finden, diese Menschen sind mir echt nicht geheuer.«
    »Okay.«
    Die meisten Lampen im Gang flackerten wie bei einem Wackelkontakt, vereinzelte fielen nach einigen Augenblicken aus. Unruhig blieb Artemis dicht hinter Kirian, stumm fragend, wie lang der Zug noch war, da sie bereits eine Weile liefen, niemand anderes begegneten und vom Ende keine Sicht war.
    Eine Hand legte sich auf Artemis' Schulter und im ersten Moment vermutete dieser Hailey, die ihnen gefolgt war.
    »Lass das«, zischte er mit einem Schütteln, doch zu seinem Überraschen bohren sich knorrige Finger schmerzhaft in seine Haut. »Was soll das?!«
    Genervt sah er hinter sich.
    Und das Blut gefror in Artemis' Adern.
    »Ki ... Kirian ...!« Der Ausruf kam wie ein kehliges Flüstern über seine Lippen.
    Die toten Augen direkt auf Artemis gerichtet, leckte das Wesen, dessen Fratze nicht mehr an einen Menschen erinnerte, über seine scharfen Zähne. Wie gelähmt konnte Artemis keinen Schritt tun und schnappte panisch nach Luft, als dünne Finger seinen Hals umfassten und ihn gegen die Wand drückten.

    Was geschieht hier? Das ist ein Traum ... Das kann nur ein Traum sein ...!
    Der Schmerz vernebelte Artemis' Gedanken. Er zwang seine Gliedmaßen, ihm wieder zu gehorchen und strampelte wild mit seinen Beinen, als er den Boden unter den Füßen verlor. Er traf den Bauch des Wesen, das ihn festhielt, und mit ekligen Knacken brach es ihm eine Rippe.
    Die Finger lösten sich von Artemis' Hals, womit auch der Druck verschwand, der ihn aufrecht erhielt. Er krachte auf den Teppich und hörte erst dann, wie Kirian nach ihm rief, doch es klang viele Meter entfernt.
    Weil Artemis nicht akzeptieren wollte, dass ihn soeben einer der Männer im Anzug angegriffen hatte, wagte er vor dem Wegrennen einen Blick auf den niedergesunkenen Körper.
    Die Augen des Mannes waren geschlossen und er wirkte, als würde er schlafen.

    Habe ich mir das eben nur eingebildet? Aber wie kann man sich so etwas einbilden?
    Plötzlich starrte Artemis in gelbe Pupillen und er wusste, mit seinem Zögern einen Fehler begangen zu haben. Etwas Kaltes, das er in dem Bruchteil einer Sekunde nicht erkannte, grub sich in seine Haut, er keuchte und versuchte zu verstehen, was gerade passierte, aber er schaffte es nicht. Seine Schreie erstickten, als es ihm die Luft abschnürte und das Bewusstsein nahm.

    „Nie wieder!“, sagt der Verstand.
    „Jederzeit!“, sagt die Sehnsucht.
    „Unmöglich!“, sagt die Tatsache.
    „Versuch es“, flüstert der Traum.

    Einmal editiert, zuletzt von Ameko (5. März 2016 um 21:20)

  • Und wieder ein fieser Cliffhanger x)

    Spoiler anzeigen

    Artemis steuerte dem Ausgang zu.

    Muss es nicht heißen "steuerte auf den Ausgang zu" ?

    Zu Artemis Staunen erhielt er ein starkes Lächeln.

    Artemis´

    Unruhig blieb Artemis dicht hinter Kirian, stumm fragend, wie lang der Zug noch war, da sie bereits eine Weil liefen, niemand anderes begegneten und vom Ende keine Sicht war.

    Weile

    Also der Sache mit Xii trau ich ja nicht über den Weg. Mag sie noch so froh sein, dass sie jetzt helfen kann, da ist gerade ein Mann neben ihr tot umgekippt und sie lächelt in der Situ - das passt gar nicht zu Xii, da ist doch was faul. Genial jedenfalls, wie Artemis Hailey ärgert :D Dass das funktionieren muss, war ja klar :rofl: Und wie es aussieht, behalte ich mit der Vermutung recht, dass sich da zwischen Artemis und Kirian was anbahnt - sofern die beiden das überleben O.o

  • Muss es nicht heißen "steuerte auf den Ausgang zu" ?

    Da hast du wohl recht. ^^

    Zu deinem Kommentar sage ich lieber nichts, sonst spoiler ich noch ungewollt. :D
    Und weiter geht's.

    Der Schlagstock lag gut in seiner Hand und verlieh das sichere Gefühl, besser ausgestattet zu sein als die Menschen, die seit dem Tunnel nicht mehr stumm auf ihren Plätzen saßen.
    Hastig durchfühlte er die Reisetasche, die er mitgezogen hatte, fand zwischen ein paar Handtüchern ein kleines Messer und schmunzelte zufrieden.
    Unnormale Gepäckstücke von unnormalen Reisegästen.
    Eine Pistole wäre ihm zwar am liebsten und Schwerter sahen wesentlich eindrucksvoller als Schlagstöcke aus, aber für seine Verteidigung reichte es allemal.
    Die Wesen, wie er sie bezeichnete, konnten ihm gar nichts anhaben, das stand für Taron fest. Was auch immer dieser Zug für eine Art Prüfung darstellte, für ihn ergab sich keine Schwierigkeit. Und an so etwas wie Teamarbeit glaubte er nicht; alleine wurde er von niemandem aufgehalten und könnte sein eigenes Ding durchziehen.

    Hätte nicht mal was Schlechtes, wenn die anderen nicht überleben. Wenn es für einige endet.
    Zum hintersten Teil drang das wenigste Licht, doch damit hatte Taron die geringsten Probleme. Vielleicht beeinträchtigte es die Wesen, die ihn verfolgten, und außerdem war ihm das Sehen im Dunkeln durch Kontaktlinsen, die er im Rucksack gefunden hatte, ermöglicht. Dass solch eine Technologie überhaupt existierte und sie ausgerechnet ihm zur Verfügung gestellt wurde, musste etwas bedeuten.
    Beinahe fasziniert beobachtete Taron, wie ruckartig die Tür des letzten Abteils aufgestoßen wurde und eine Frau heraustrat, die ihn scheinheilig anlächelte. Auf den ersten Blick hinterließ sie einen ordentlichen Eindruck, mit ihrem Anzug und den hochgesteckten Haaren, wirke wie eine Sekretärin, doch Taron kannte keine Skrupel. Noch ehe sie ihre dünnen Arme nach seinem Hals ausstreckte und die spitzen Zähne entblößte, holte er mit seinem Stock aus. Eine ausdruckslose Miene beibehaltend traf er die Schläfe der Frau. Ihr Genick knackte, durch die Wucht des Schlages krachte sie gegen das Abteil und wollte sich mit einem Fauchen aufrichten. Doch dafür gab ihr Taron keine Zeit und schwang seine Waffe ein zweites Mal.
    »Wow, das war einfach.« Unbeeindruckt kniete sich Taron vor die Gestalt, die nur noch vereinzelt zuckte, nieder. Eine Hand benetzte er mit ihrem Blut, um es genauer zu betrachten.

    Nichts Ungewöhnliches. Wie bei einem Menschen.
    Taron glaubte nicht an Unnatürliches. Nein. Experimente an Menschen würden viel leichter erklären, was hier abging, als es die Existenz von Zombies oder ähnlichem tat.
    Etwas, das einmal tot ist, wird es auch immer sein.
    Tarons Finger verfingen sich in den einst ordentlichen Haaren, zogen den Kopf heran, sodass er der Frau in das Gesicht blicken konnte. Ohne zu zögern kam er näher, bis seine Nasenspitze ihre Haut fast berührte. Der einzige Unterschied zu einem normalen Menschen blieb der tote Blick und die gefährlich scharfen Zähne.
    Wenn die Wesen alle so schwach waren oder besser gesagt nicht mehr Stärke als ein gewöhnlicher Mensch besaßen, wäre die Zugfahrt ein Kinderspiel.
    Schade eigentlich. Schon das Labyrinth war so schrecklich langweilig gewesen.
    Kopfschüttelnd nahm Taron Schreie aus dem vorderen Bereich es Zuges wahr. Solche Feiglinge. Allein deshalb würde Taron nicht zu ihnen gehen, sonst würde er noch als ihr Held dastehen. Nein, er machte sich nur mit so vielen Kreaturen die Finger schmutzig, wie es nötig war, um sein Leben zu verteidigen. Jeglichen Spaß würde er außen vor lassen, damit die Wahrscheinlichkeit nicht drastisch schwand, die anderen zu gefährden.
    Bei dem Gedanken, noch andere Waffen zu finden, suchte Taron das Gepäck eines anderen Abteils ab. Leider umsonst.
    Ein Kichern lenkte Tarons Aufmerksamkeit auf sich, er machte auf den Absatz kehrt und hielt seinen Schlagstock einsatzbereit. Das amüsierte Kichern wurde lauter und im nächsten Moment hörte es Taron direkt neben seinem Ohr, während ihn ein Gewicht auf dem Rücken beinahe zum Stolpern brachte. Gezielt reagierend sprang Taron gegen die Abteilwand, sodass das Kind auf seinem Rücken mit einem entsetzten Quieken herunterrutschte. Taron wirbelte herum und schlug ihm gegen den Schädel, während sich ein anderes Wesen, welches er nicht hätte kommen sehen, an sein Bein klammerte.

    Nervig.
    Diesmal handelte Taron nicht schnell genug, spürte, wie sich Zähne in sein Bein bohrten. An den Schmerz war er gewöhnt. Es fiel Taron leicht, diesen zu ignorieren und seine Priorität auf den anderen Wesen zu setzen, die sich ihm näherten. Da sie ins Abteil traten war nun vollends klar, dass sie nicht wahllos liefen, sondern nach ihnen suchten.
    Taron versuchte, einen Schritt zu tun, doch das kleine Kind an seinem Bein war schwerer als gedacht. Abrupt entschied er sich um; mit einem geschickten Griff brach er dem zarten Körper das Genick.

    Ziemlich schnell tot diese Dinger.
    Siegessicher holte er mit seinem Schlagstock aus, als ein Mann mit schütterndem Haar sein Gebiss entblößte, was Taron die endgültige Sicherheit gab, sie waren größtenteils darauf aus, ihn zu beißen.
    Ein Grinsen erschien auf den Lippen und Tarons Mimik erstarrte überrumpelt. Das Wesen hatte seinen Arm gepackt, kurz bevor er ihn hatte treffen können, und hielt ihn nun mit eisernem Griff fest. Doch Taron riss sich zusammen, trat mit der harten Sohlen seines Stiefels gegen das Knie des Mannes und schaffte es, dem Griff zu entgleiten, verlor jedoch seinen Stock. Als er über das Bein eines anderen stolperte, rollte er sich geschickt auf dem Boden ab und tat das, was ihm am vernünftigsten erschien: Tür zuschlagen, abhauen und nach einer neuen Waffe suchen. Das hieß aber nicht, dass er nicht mehr zurückkäme. Die Wesen würden schon noch bereuen, sich mit ihm angelegt zu haben.
    Taron blickte über seine Schulter, bis sein Rennen durch ein Zusammenstoß gestoppt wurde. Seine Unaufmerksamkeit verfluchend fing sich Taron an einer Wand ab, vermutend, gegen einen Passagier gelaufen zu sein, der zu Boden stürzte. Entgegen seiner Erwartungen blickte er in ein verzweifeltes, verheultes Gesicht.
    »Taron?«, schniefte Luke und konnte sich nur mühevoll zitternd aufrichten. »Sie kommen! Hilf mir! Hilf m... mir bitte!«
    Schweigend beobachtete Taron, wie Luke erneut zusammenbrach, bevor eines der Wesen an seinem Hals zerrte.

    Es war schnell. Und es schenkt mir keine Beachtung. Bestimmt, weil Luke die leichtere Beute ist. Perfekt.
    Lukes Betteln drang durch Tarons Ohren, aber nicht zu seinem Herzen. Sein eigenes Wohl stand an erster Stelle und die Mühe, jemanden zu retten, lohnte sich nur, wenn man einen eigenen Vorteil daraus zu gewinnen vermochte.
    »Hilfe!«, krächzte Luke, als ihm Taron bereits den Rücken zuwandte.
    »Du hast nicht zufällig eine Waffe?« Taron zweifelte an einem Nutzen der Frage, die ihm vor dem Beenden eines Gedankens über die Lippen gekommen war.
    »Rucksack ... Pistole, da ist eine Pistole!«
    Wie ein Wachhund horchte Taron auf, wog die Wahrscheinlichkeiten ab und änderte seinen Plan. Ein geübter Kick und das Wesen ließ von Luke ab. Noch ein Kick gegen die Schläfe und es sackte in sich zusammen.
    Treffer.
    Luke, der mit seinen Nerven vollkommen am Ende war, wollte seinem Retter danken, so viel sah ihm Taron an, doch er brachte nichts heraus. Taron zog grob an Lukes Rucksack. Wenn er gelogen hatte und keine Waffe besaß, würde er sogar ein paar Sekunden opfern, um Luke aus dem Weg zu räumen. Bei einem Zug voller zombie-artiger Menschen würde ihn niemand verdächtigen.
    Seine Finger ertasteten das Gesuchte. »Eine Pistole«, stieß Taron aus, die Glock 18 betrachtend. Luke hatte nicht belogen. »Wie kann man so hirnrissig sein und die nicht benutzen?!«
    »Ich ... also Ramona«, stotterte Luke, »hat sie mir gegeben und ich ...« Lukes Stimme erhöhte sich eine Oktave, als Taron emotionslos auf ihn zielte. »Nicht, nicht! D-Die hat nur noch eine Kugel! Hörst du, nur noch eine Kugel!!«
    »Eine?! Warum sagst du das nicht eher? Hätte ich mir die Mühe gar nicht machen müssen!« Wütend boxte Taron in Lukes Bauch. »Scheiße. Ich hätte dich einfach krepieren lassen sollen!«
    Mit einem erschöpften Wimmern hielt sich Luke den Bauch, ungewollt in die Knie gehend. »Ich ...«
    »Dann verrecke halt jetzt.« Wieder schlug Taron ihn und bemerkte zufrieden, wie zwei neue Wesen näher kamen. In seinem momentanen Zustand hatte Luke gegen niemanden eine Chance.
    Taron steckte die Pistole in seinen Gürtel. Wenn er keine Munition fände, würde sie ihm bloß in einem wichtigen Moment dienen können.
    »Bleib bitte hier!«, schrie Luke mit letzter Kraft, als Taron ein paar Schritte in die entgegengesetzte Richtung machte. Er fragte sich, wie Luke noch immer denken konnte, er wäre ihm freundlich gesinnt. »Geh nicht!«
    Den Wunsch würde Taron ihm nicht erfüllen. Dass sich zwei von den Wesen auf ihn stürzten und seine Schreie langsam verebbten gab ihm nur Genugtuung. Genugtuung, weil er stärker war. Genugtuung, weil Luke bekam, was er verdiente.

    „Nie wieder!“, sagt der Verstand.
    „Jederzeit!“, sagt die Sehnsucht.
    „Unmöglich!“, sagt die Tatsache.
    „Versuch es“, flüstert der Traum.

    Einmal editiert, zuletzt von Ameko (5. März 2016 um 21:19)

  • Bestimmt, weil Luke die leuchtete Beute ist.

    leichtere

    Oh wow, der arme Luke 8| Taron ist ja hammerhart, ihn da einfach draufgehen zu lassen. Aber wie es aussieht, hat er bei diesen "Spielchen" damit bisher die besten Chancen. Hoffentlich kommt der noch mal in eine Situ, wo er alleine richtig aufgeschmissen ist, weil er die mit Gewalt nicht lösen kann.
    Und was hatte Luke ganz alleine da zu suchen? Der cwar doch verletzt 8|

  • Der Tunnel, durch den sie fuhren, fand noch immer kein Ende.
    Taron zückte sein Messer, als er angriffsbereit hinter einer Ecke wartete. Lukes Leichnam war schon lange keine Ablenkung mehr für die Wesen, die plötzlich so zahlreich erschienen.
    Die anderen hatten noch nichts von seiner Anwesenheit bemerkt, waren also im vorderen Teil des Zuges beschäftigt. Umso besser. Taron graute schon vor den lästigen Fragen, mit denen sie ihn löcherten, wenn er auftauchte. Vorausgesetzt, die anderen kamen lebend an.
    Da kein erwarteter Angriff kam, linste Taron um die Ecke. Allerdings bemerkte er einzig, wie die Dunkelheit nach und nach schwand. Tageslicht drang schwach durch die zerkratzen Scheiben, nahm dem Zug etwas von seiner Unberechenbarkeit.
    Doch das war es nicht, was Tarons Aufmerksamkeit stahl, sondern die fehlende Spur der Wesen, die ihn bis eben verfolgt hatten.

    Bestimmt eine Falle.
    Stets wachsam bewegte er sich vorwärts, zog eine Abteiltür auf und schritt reflexartig zurück. Eine Frau, die eben noch im Gang gewandert war, saß mit gefalteten Händen auf einem Platz, als könne sie keiner Fliege etwas zuleide tun. Taron dachte an einen Hinterhalt. Er sprang heran, vortäuschend, der Frau sein Messer in die Kehle zu stechen; nur wenige Millimeter vorher stoppend, wartete er auf die Reaktion.
    Nicht einmal ein Blinzeln.
    Skeptisch verharrte Taron in der Position, bis er von ihr abließ. Scheinbar unbedacht, jedoch immer noch bereit drehte er ihr probeweise den Rücken zu. Nichts passierte.
    Taron wog ab, ob es sich lohnte, sie zu töten. Seine Entscheidung fiel darauf, andere Wesen zu suchen.
    Der Timer verriet ihm, dass bereits mehr Zeit als vermutet verronnen war: 04:38
    Bei den anderen Abteilen, die Taron begutachtete, sah es nicht anders aus. Teilnahmslos hatten die übrig gebliebenen, rätselhaften Passagiere ihre Plätze aufgesucht und reagierten höchstens mit starren Blicken. Taron sah keinen Sinn daran, diese umzubringen, wenn sie nicht erneut erwachten oder ihn bedrohten. Stattdessen nahm Taron direkt vor einem der Wesen Platz, um mögliche Bewegungen zu registrieren.
    Wieder vernahm Taron laute Stimmen aus dem vorderen Bereich, die ihn nicht interessieren. Er fragte sich nur, ob er die Pistole zu seinem Vorteil benutzen konnte oder die anderen von der ausgegangenen Munition wussten. Mit einer Kugel kam er schließlich nicht weit.
    Die Fahrt endete abrupter als erwartet. Taron fing sich dennoch gut ab, als ihn ein Ruck aus dem Sitz presste.

    Ist das die Endstation?
    Gleich einer Einladung, das Fahrzeug zu verlassen, schoben sich die Türen auseinander.
    Ohne Bedenken, dass der Zug wieder losfahren könnte, sprang Taron in den Schnee. Selbst wenn er sich irrte, gäbe es eine Möglichkeit, ans Ziel zu gelangen. Bisher hatten ihn seine Instinkte noch nie getäuscht und sein Wille im Stich gelassen.
    Tatsächlich hörten die Schienen direkt vor ihnen auf, angekündigt mit einem breiten roten Schild. Ein Glück, dass sie davor gehalten hatten.
    Misson erfüllt blinkte auf der Uhr.
    Das war ja gar nichts, dachte Taron. Aber besser als das Labyrinth.
    Zwischen Bäumen ein Stück weg entdeckte er ein Gebäude mit flachem Dach und kleinen Fenstern. Bestimmt nur, da man nicht wollte, dass sie erfroren.
    »Taron!«, rief eine männlich Stimme, die Angesprochener nicht zuordnen konnte. »Du bist hier?!«
    Das hätte ihm gerade noch gefehlt. So tuend, als hätte er nichts gehört, rannte er dem Haus entgegen.
    »Hey, bleib gefälligst stehen!« Diesmal ein Mädchen.

    Bestimmt die nervige Blonde.
    Von den Namen der anderen erinnerte sich Taron nur an Finn und Ramona. Das reichte ihm, mehr wollte er nicht mit Ihnen zu tun haben.
    Der Wind wirbelte leichten Schnee auf und Taron beschleunigte sein Tempo, ehe er ankam und eintrat. Nicht abgeschlossen. Entweder, sie mussten sich hier noch einer Probe stellen oder es wäre ihre simple Unterkunft für den Rest des Tages und die Nacht.
    Holzdielen, ein brennender Kamin, ein Tisch, Stühle und Rucksäcke, geordnet nach Farben an den Wänden.
    Taron war sich sicher, dass die anderen ihm folgten, also müsste er schnell handeln. Er griff seinen und zwei wahllose Rucksäcke, entdeckte eine Treppe und steuerte schnurstracks darauf zu. Von außen hatte das Haus nicht hoch gewirkt, also gäbe es höchstens zwei Etagen. Eine spontane Idee, wie er die anderen loswerden und andere Rucksäcke bekäme, ließ Taron so handeln.
    Die Eingangstür öffnete sich, doch die Einzige, die eintrat, war Niara.
    »Wo warst du und wieso gehst du uns immer aus dem Weg?!«, schimpfte sie aufgebracht, doch mindestens genauso verzweifelt. Ihr Gesicht war dreckig, die Haare struppig, ihre Kleidung aufgerissen und die Arme von Wunden überzogen. An Tarons Kleidung zeugte nur fremdes Blut von den Strapazen der letzten Stunden.
    »Du bist echt das Letzte! Während wir ...«
    »Sei sofort still und beweg dich nicht mehr.« Die Kälte in Tarons Stimme war stärker als die der Natur. Den Revolver direkt auf Niara gerichtet, verzog er keine Miene, hoffend, sie wüsste nichts von der einen, letzten Kugel. Im Notfall schießen konnte er nur aus diesem Grund leider nicht, denn obwohl Tarons Selbstbewusstsein das der anderen übertrumpfte, konnte er sich nicht leisten, den Zorn aller anderen auf sich zu ziehen. Wer wusste, zu was sie erbost fähig waren.
    Zu Tarons Freude verstummte Niara und bewegte sich keinen Zentimeter. Nur ihr Blick durchbohrte ihn.
    Eine Weile herrschte Stille.
    »Das ... wirst du nicht tun«, presste Niara schließlich heraus. »Und gleich sind die anderen hier!«
    Ein Klicken, als die Pistole entsicherte.
    »Nimm das Messer aus deinem Gürtel und wirf es weit weg!«, brüllte Taron als einzige Antwort. »Dann deine Jacke, dann den Rucksack, ehe du die Hände hebst!«
    Niaras Hass war unübersehbar, aber sie gab den Widerstand auf und tat wie verlangt.
    »Gutes Mädchen«, höhnte Taron. »Und jetzt bleib schön brav da stehen. Bei einem Wort oder der kleinsten Bewegung töte ich dich.«
    Für Taron war es ein wundervolles Gefühl zu sehen, wie viel Macht ihm eine einzige kleine Waffe über einen anderen Menschen verlieh. Wie ihm plötzlich bedingungslos gehorcht wurde. Wie er Angst erzeugen konnte.

    Angst muss eine störende Emotion sein.
    Taron stieg rückwärts die Stufen empor, Blick und Mündung nicht von Niara weichend. Jetzt müsste er bedacht handeln.
    Sofort, als Niara aus seinem Blickfeld verschwand, rannte Taron in den Flur und fand dort eine einzige Tür, die er aufriss. Da er Niara nicht genug einschätzen konnte, war nicht sicher, ob sie ihm nachkam. Oder die anderen erschienen. Taron warf die Rucksäcke beiseite und fragte sich, ob es diesmal wirklich seine beste Idee gewesen war.

    Doch, das war sie. Starke Menschen handeln, und zwar richtig. Schwache bereuen.
    Schrank. Stühle. Verstaubte Bücher. Regal. Genügend Möglichkeiten fürs Verbarrikadieren.
    Ja, er hatte richtig gehandelt. Die anderen waren viel zu dumm und würden sich nicht mehr um ihn scheren, wenn Niara erzählte, zu was er fähig war.
    Taron war voll und ganz zufrieden. Alles lief glatt, zwischendurch sogar unvorhersehbar. Irgendwie spannend.
    Und wieder einen Tag überstanden.

    „Nie wieder!“, sagt der Verstand.
    „Jederzeit!“, sagt die Sehnsucht.
    „Unmöglich!“, sagt die Tatsache.
    „Versuch es“, flüstert der Traum.

  • Taron ist echt das Letzte. Er sichert sich echt alle Vorteile und das auf Kosten aller anderen. Ich hoffe, genau dieses Verhalten wird ihm noch zum Verhängnis - wie auch immer das passieren soll, aber ich wünscvh es mir.
    Vielleicht ist er bereits zu weit gegangen und Niara stachelt die anderen jetzt gegen ihn auf. Dann braucht die Truppe keine Prüfungen mehr, dann zerlegt sie sich gegenseitig.

  • So, habe es nun gelesen... Ziemlich spannend und bedrückend deine Geschichte. Eigentlich nicht mal der Typ von Geschichte den ich mag, aber ich musste einfach weiterlesen, da ich das dringende Bedürfnis habe die Hintergründe zu allem zu erfahren. Und in deinem Fall gefällt mir das alles richtig gut.
    Taron ist ja mal ein richtiger Arsch - Was natürlich beabsichtigt ist. Ich hoffe ja, dass ihm schnell etwas schreckliches zustößt, seitdem er Luke umgelegt hat erst Recht. Nur leider befürchte ich, dass es noch etwas dauern könnte, bis Taron seine Strafe ereilt...

  • @Genesis Vielen Dank für deinen Kommentar. ^^ Freut mich umso mehr, dass du es liest, obwohl dich das Genre normalerweise nicht anspricht. Jetzt hoffe ich nur, dich nicht mit irgendetwas zu enttäuschen.

    Und weiter geht's ~

    Kapitel 8


    Finns Gliedmaßen schmerzten. Der erste Gedanke, der ihn überkam, war, dass ein weiterer Tag angebrochen war, in dem sie in der Hoffnung, es bekäme ein Ende, alles taten, was ihnen vorgeschrieben wurde. Zu seiner Verwunderung erschienen ihm alle Erinnerungen von gestern verschwommen. Was genau war im Zug passiert? Sie hatten jemanden verloren, oder?
    Nach längerem Nachdenken fiel ihm einiges wieder ein, an das er sich, wenn er ehrlich war, lieber nicht erinnern würde. Mit ihnen wurde gespielt und inzwischen hatte Finn nicht mal mehr die Kraft das zu hinterfragen oder zu trauern.
    Was passiert ist, ist passiert.
    Sein Timer zeigte die neue Aufgabe an: Nur einer kann durch die Tür schreiten und weiterleben, der andere bleibt zurück.
    Finn rieb sich die Augen und ruckelte Niara an, die direkt neben ihm lag. Noch einmal las er die Worte, dann erhob er sich. Niara und er waren die einzigen, die in diesem quadratischen, nicht sonderlich großen Raum aufwachten. Das sterile Weiß der Wände und des Bodens, das überall so sauber war, als hätte noch nie jemand einen Schritt hineingewagt, gab Finn ein mulmiges Gefühl.
    »Morgen«, hörte er Niara nuscheln und entdeckte einen Gang, als er über seine Schulter linste. Dieser war bestimmt dreißig Meter lang und endete im Kontrast mit einer schwarzen Tür. Das war ohne Zweifel die Tür, von der die Nachricht der Uhr handelte.
    »Oh, wir sind also diesmal nur zu zweit aufgewacht?«, fragte Niara und stand auf.
    »Sieht so aus«, antwortete Finn. »Und anscheinend kommt hier nur einer von uns beiden wieder raus.«
    »Wow, sieh dir mal die Wände dieses Ganges an!« Finn folgte Niaras Blick und musste schlucken, während Niaras Augen tatsächlich glänzten. Sie ging nicht auf seine Worte ein. »Abgefahren!«
    Ihr Ausspruch galt den Waffen, die links und rechts an den Wänden des Ganges hingen. Äxte, Schwerter aller Arten und Größen, die verschiedensten Gewehre, Revolver und Bogen, Messer und vieles mehr glänzte im Schein der beleuchteten Decke. Finn blieb stumm und skeptisch, während Niara zum Gang lief und die Waffen von der Nähe betrachtete. Es konnte kein Zufall sein, ausgerechnet hier eine solch erschreckende Vielfalt an Mordgegenständen aufzufinden. Von ihnen wurde ganz klar erwartet, dass sich Spannung zwischen ihnen aufbauen würde, da nur einer weiterleben konnte, bis sie sich gegenseitig umbrachten. Was die anderen wohl gerade erwartete?
    Finn schätzte sich unglaublich froh, mit Niara hier gelandet zu sein, da er von ihr nicht erwartete, verraten zu werden.
    »He, Finn, willst du dir nicht auch ein paar Waffen mitnehmen? Wenn wir die die nächsten Tage behalten können, wäre es gar keine schlechte Idee, sich das Beste auszusuchen!«
    Finn kam näher und betrachtete Niaras Profil, während sie vorsichtig über die Klingen verschiedener Messer strich und eines aussuchte. »Hör mal, hast du schon auf deine Uhr geguckt? Ich denke nicht, dass das der Sinn der Waffen ist.«
    »Aber ...« Niara sprach nicht zu Ende, sondern linste auf ihr Handgelenk. Schlagartig änderte sich ihr Gesichtsausdruck. »Huh, will uns das Ding hier ernsthaft weismachen, dass nur einer von uns durch die Scheiß-Tür gehen kann?«
    »Anscheinend.«
    Niara ließ ihr Messer sinken. »Vielleicht interpretieren wir das nur falsch.«
    »Dann interpretier das mal anders.«
    Niara schwieg einen Moment und wandte sich wieder den Waffen zu, um Finns betrübten Blick zu entgehen. »Wir haben ja noch genug Zeit, um eine Lösung zu finden.«
    »Oder du gehst einfach durch und ich bleibe zurück.« Die Worte kamen so schnell über Finns Lippen, dass er von sich selbst überrascht war.
    Habe ich in Wahrheit so wenig Angst vor dem Tod?
    »Spinnst du?«, zischte Niara sofort. »Ich kann dich doch nicht einfach hier zurücklassen! Das könnte ich nun wirklich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren.«
    »Nur deshalb?«
    »War bloß ein Scherz«, grinste Niara schwach. »Aber warum würdest du mich gehen lassen?«
    Mit der Gegenfrage hatte Finn nicht gerechnet und verstummte. Ja, warum eigentlich? Würde er nicht damit fertigwerden, falls sich Niara für ihn opferte, oder was war es?
    Niara seufzte. »War klar, dass du den Helden spielen würdest. Aber was, wenn ich will, dass du gehst?«
    »Sag das nicht so gelassen, es geht hier schließlich um dein Leben!«
    »Um deines doch auch«, entgegnete Niara verwirrt. »Oder bist du plötzlich versessen darauf, zu sterben?«
    »Das ist es nicht, aber ... ich habe das Gefühl, es wäre die bessere Entscheidung, wenn du lebst.«
    Wieder ein gespieltes Lachen. »Oh Mann, ist schon echt seltsam, wie leichtfertig man nach so ein paar Horror-Tagen das eigene Leben wegwerfen würde, was?« Ein kleiner Ruck erklang, als Niara einen handlichen Revolver von der Wand zog, einmal in der Hand drehte und dann in ihren Rucksack steckte.
    »Panik hilft ja nicht«, sagte Finn.
    »Hab ich auch nie behauptet. Geht es dir eigentlich besser?«
    Finn nickte, verschwieg die Schmerzen.
    »Schön«, kam knapp zurück. Dann eine unerwartete Reaktion. Niara streckte Finn ein Messer entgegen, als dieser keine Anstalten machte, sich den Waffen zuzuwenden. Danach lief sie zu einem anderen Platz, nahm einen Degen in die Hand und focht spielerisch mit einem unsichtbaren Gegner. »Also ich bin ehrlich, ich möchte eigentlich nicht jetzt schon sterben, aber dich zurücklassen wäre genauso Scheiße.« Plötzlich sprang sie vor und richtete den Degen auf Finns Brust. Dieser erschrak und zuckte zurück, woraufhin Niara die Waffe wieder grinsend senkte. »Warum vertraust du mir so sehr?«
    »Vielleicht ist es Leichtsinn, aber für mich hast du nie wie jemand gewirkt, der jemanden verrät. Obwohl ich deine Art zugegebenermaßen am Anfang ziemlich nervig fand.«
    »Hab ich mich denn geändert?«, wollte Niara wissen.
    Finn zuckte mit den Schultern, da er nicht wusste, auf was das Gespräch hinauslaufen würde. Er setzte sich auf den Boden und begutachtete das zugesteckte Messer. Als er aufblickte, hatte sich Niara auf Augenhöhe zu ihm hinuntergebeugt. »Wie wär's, wenn wir einfach gleichzeitig durch die Tür gehen?«
    »Meinst du, das könnte funktionieren?«
    »Na ja, viele Möglichkeiten haben wir ja nicht. Entweder bleibst du hier und ich mache mir auf ewig Vorwürfe oder ich bleibe hier und dir geht es genauso. Wegen uns ist Lynn gestorben und Luke verschwunden ... Zudem haben wir keine Erinnerungen und können nicht garantieren, jemals wieder in unseren Alltag zurückzukehren. Was haben wir zu verlieren?«
    Niara streckte ihm die Hand entgegen, und Finn nahm sie entgegen und stand auf. »Hast recht.« Erstaunlich, wie schnell sie zu einer Lösung kamen. Nicht einmal eine halbe Stunde war vergangen.
    »Aber ich nehme noch ein paar Waffen mit, sonst wäre es echt eine Verschwendung.«
    Auch Finn nahm sich noch eine Pistole, obwohl er der Meinung war, sie nie zu benutzen. Er wartete er an der Tür auf Niara. Dann nahm er ihre Hand. Sein Kopf fühlte sich wie leergefegt an, als Niara die Klinke herunterdrückte, sie sich gerade nebeneinander aufstellten und er lediglich seinen Atmen hörte. Hinter der Tür offenbarte sich ihnen eine komplette Schwärze.
    »Ich muss zugeben«, hörte Finn Niara leise, »dass ich gestern mehr Angst verspürte, als Taron die Pistole auf mich gerichtet hatte. Ich hatte mehr Angst davor, dass er abdrückt, als jetzt, wo ich meinem Tod ebenfalls entgegen gehen könnte.«
    Finn drückte Niaras Hand unwillkürlich fester. »Vielleicht, weil du selbst entscheiden kannst. Gestern konntest du es nicht.«
    »Kann sein.« Sie sah ihn an. Finn erwiderte den Blick. Sie nickte.
    Und die beiden machten den ersten Schritt.

    Als Ramona die Augen aufschlug und direkt in Tarons sah, wich sie zurück und setzte sich kerzengerade auf.
    Ausgerechnet der.
    Und außer Taron war niemand mit ihr in dem weiß gestrichenen Raum. Auf Ramonas Uhr erschien gerade die neue Aufgabe und sobald sie diese gelesen hatte, hörte sie, wie Taron aufstand. Schnell tat sie es ihm nach, um keine Zeit zu verlieren, denn so egoistisch, wie Taron sich zeigte, würde er bestimmt ohne zu zögern durch die Tür laufen.
    Ein Gang, der mit einer dunklen Tür endete, vor der sich an den Seitenwänden alle erdenklichen Waffen sammelten, fesselte ihre Aufmerksamkeit. Von einem Augenblick zum nächsten spürte sie die Erhöhung ihres Pulses, erhaschte einen Seitenblick auf Taron, der zur selben Zeit wie sie erkannte, was die Aufgabe von ihnen wollte.
    Beide rannten los.
    Schon hatte Ramona die linke Wand des hellen Ganges erreicht und zog die erstbeste Pistole, die ihre Finger fanden, grob aus der Halterung. Mit einem gekonnten Griff entsicherte sie die Waffe und zielte geradewegs auf Taron, der die andere Seite gewählt hatte. Ramona realisierte, dass sie exakt gleich gedacht und dementsprechend gehandelt hatten, als Taron ausdruckslos mit einer Pistole auf sie zielte. Sie erschauderte bei dem Gedanken, womöglich erschossen worden zu sein, wäre sie nur einen Moment langsamer gewesen. Aber ob sie abdrücken konnte, wenn es darauf ankam? Wenn sie sich nicht verlesen hatte, stand fest, dass nur einer von ihnen lebend den Raum verlassen konnte. Und Ramona würde Taron nicht siegen lassen. Oh nein. Besonders gegen Taron würde sie nicht verlieren.
    »Und was jetzt?«, brach Ramona die angespannter Stille mit erstaunlich festem Klang. »Wollen wir uns gegenseitig erschießen?«
    »Halt die Schnauze.«
    Ramona wusste, sie durfte nicht nachlässig werden. Taron könnte jederzeit schießen und dann müsste sie es ebenfalls tun und ausweichen. Und wenn sie das Ausweichen nicht schaffte, wenigstens hoffen, selbst zu treffen.
    Zwischen Tarons Augenbrauen hatten sich von dem einschüchternden Blick, den er nun aufsetzte, Falten gebildet, und seine Tattoos, die den Großteil seiner Haut bedeckten, wirkten in dem gleichmäßigen Licht noch bedrohlicher. Taron würde abdrücken, würde sie ohne zu zögern umbringen, wenn sein passender Moment gekommen war. Ramona verfluchte ihre eigene Unachtsamkeit. Hätte sie nur früher reagiert, wäre ihr die Flucht durch die Tür möglich gewesen. Jetzt musste sofort eine Lösung her.
    »Taron«, begann Ramona von neuem, ohne den Revolver von ihm zu richten. »Wenn nur einer überleben kann, sollten wir das fair bestimmen.«
    Es kam keine Antwort, aber auch kein Schuss, den Ramona beim Reden beinahe vermutet hatte.
    »Wir können gegeneinander kämpfen«, fuhr sie fort.
    Keine Reaktion und Ramona zweifelte, dass sie ausgerechnet in solch einer Situation mit Taron reden könnte, wenn es doch schon vorher nie jemandem gelungen war. Aber sie durfte keine Schwäche zeigen.
    »Wie wär's mit einem Schwertkampf? Oder Degen? Der Gewinner darf überleben, das ist doch fair, oder?«
    Irgendetwas gab Ramona die Zuversicht, gut mit derartigen Waffen umgehen zu können. Bei Taron erwartete sie es ebenfalls, denn bisher war er ein starker Kämpfer gewesen, doch wenn sie auch nur ein wenig schneller war, könnte sie einen solchen Kampf für sich entscheiden. Und es blieb die Hoffnung, dass Taron nicht riskieren würde, mit einer Kugel in der Brust zu enden, wenn sie keinen Kompromiss schlossen.
    »Gut«, stieß Taron nach einer Weile aus und Ramona dachte zuerst, sie hätte sich verhört. »Wir werden uns duellieren. Mit Degen. Aber keine Tricks. Ich bringe dich sonst auf der Stelle um. Verstanden?«
    »Tricks?«
    »Ich werde die Pistole nicht sinken lassen, wenn ich auf dich zukomme. Ich werde den Degen von der Wand nehmen, ohne den Blick und die Pistole von dir abzuwenden. Wie lange das dauert, ist egal. Dann werden wir die Pistolen gleichzeitig fallenlassen. Wir beginnen ohne Geschwafel.«
    »Kompromissbereit gefällst du mir besser«, stellte Ramona fest, klappte den Mund bei einem eisigen Blick jedoch wieder zu. »Aber das ist gut. Wir werden es genau so machen. Und von dir möchte ich auch keinen Trick. Also, ich zähle dann bis drei und wenn du die Waffe nicht fallenlässt, werde ich ohne zu zögern schießen!«
    Ramona merkte erst jetzt, wie gefährlich ihre Lage war, denn was gab ihr die Sicherheit, Taron zu vertrauen? Wäre es doch eine bessere Lösung, wenn sie einfach schoss und damit alles riskierte, als später überlistet zu werden?
    Sie gab sich alle Mühe, ebenfalls bedrohlich auszusehen, als Taron vorsichtig auf sie zukam. Im Gegensatz zu vorhin schien die Zeit nun endlos langsam zu vergehen. Ramona durfte sich keinen Fehler erlauben und richtete ihren Revolver exakt auf Taron, bis er neben ihr stand und nach einem Degen tastete. Inzwischen dachte Ramona, sie spiele in einem schlechten Film. Nachdem Taron einen Degen gepackt hatte, tat es ihm Ramona gleich.
    Sie atmete tief durch.
    »Eins ... zwei ... drei.« Vor Anspannung, ob alles wie nach Abmachung lief, dachte Ramona, ihr Herz bliebe stehen. Mit einem Scheppern kam ihre Pistole auf dem Boden auf und nur einen Sekundenbruchteil später hörte sie ein ähnliches Geräusch.
    Taron hielt sich an die Abmachung, stürmte auf Ramona zu, doch sie parierte seinen Schlag. Das Klirren gegeneinanderschlagenden Metalls hallte durch den Gang und Ramona sprang zur Seite, um Platz zu gewinnen. Jetzt musste sie einzig auf ihr Können vertrauen, das ihr in ihrem Unterbewusstsein Mut gemacht hatte, dann bekäme sie eine Chance.
    Tarons Hiebe waren heftig und lange Zeit war Ramona nur damit beschäftigt, diese zu blocken. Zum Glück hatte Taron den Degen gewählt, denn Ramona zog Beweglichkeit der Schlagkraft vor. Doch die Frage blieb, wo sie gelernt hatte, mit einer solchen Waffe umzugehen.
    Ramona platzierte einen Angriff so gut, dass ihn Taron nur knapp abwehren konnte. Mit dem Rücken stieß er gegen die Wand, sodass einige daran befestigte Waffen geräuschvoll zu Boden fielen. Sein Ausdruck wurde finsterer, er duckte sich unter Ramonas Degen weg und diesmal war es Ramona, die einen kommenden Hieb nur in letzter Sekunde abwehren konnte. Sie keuchte vor Schreck auf und zwang sich, mehr bei der Sache zu bleiben. Sie durfte nichts vermasseln, nicht hierbei.
    Die beiden gerieten immer mehr Richtung Ausgang, doch davon bekam Ramona nichts mit.
    Auf Ramonas Gesicht bildete sich ein siegessicherer Ausdruck, da sie inzwischen deutlich öfter als Taron Angriffe zu starten vermochte. Das Klirren der Klingen, wenn sie sich trafen, erklang häufiger, obwohl sie schon eine Weile kämpften. Das Adrenalin, das Ramona nur bei dem Gedanken, dass sie sterben würde, wenn sie nicht gewann, durchströmte, verhalf ihr immer wieder zu neuer Kraft. Sie blockte einen starken Schlag und setzte einen schnellen hinterher. Immer und immer wieder versuchte sie, ihre Technik zu ändern, um Taron zu verwirren. Mit einem Mal streifte sie Tarons Arm, der darüber mindestens genauso überrumpelt wie sie selbst war. Durch eine Unachtsamkeit stolperte Taron und Ramona reagierte augenblicklich; bevor Taron etwas ausrichten konnte, berührte eine Degenspitze Tarons Hals.
    Ramona stach nicht zu, stand einzig schwer atmend da und bewegte sich keinen Zentimeter.
    Sie hatte es geschafft.
    Taron sitzt auf dem Boden, weil ich ihn bezwungen habe. Ich könnte ihn jeden Moment töten. Ich habe gewonnen.
    »Ich habe gewonnen«, sprach Ramona ihren Gedanken laut aus. Nun lag alles andere an ihr. Laut ihrer Abmachung war sie diejenige, die die Tür durchschreiten konnte. Oder sollte sie Taron vorsichtshalber töten?
    Bin ich dazu in der Lage?
    »Glückwunsch«, kam es von Taron und Ramona wusste nicht mehr, über was sie heute am meisten erstaunt gewesen war.
    Die Tür war nur ungefähr zwei Meter entfernt. Jetzt konnte sie gehen und würde Taron wahrscheinlich nie wieder sehen.
    Geschieht ihm recht, so egoistisch und kalt, wie er immer war.
    Und so merkte Ramona gar nicht, wie sehr sie Taron vertraute, als sie ihren Degen sinken ließ und gehen wollte. Ihre Hand berührte schon die Klinke, da spürte sie, wie sie etwas mit Gewalt zurückriss. Ein Schrei überkam ihren Lippen, als Taron sie gegen die Wand neben stieß und heftig trat.
    Ramona hörte noch kurz das Rauschen ihres Blutes in den Ohren, ihr Husten, das Aufreißen einer Tür und dann nichts mehr. Überfordert sackte sie zusammen.
    Taron hatte sich nicht an die Abmachung gehalten.
    Sie war durch den Sieg unaufmerksam geworden, hatte einen Sekundenbruchteil nicht aufgepasst, und das war ihr zum Verhängnis geworden.
    Jetzt hatte Taron ihr Todesurteil gefällt, indem er Ramona alleine zurückließ.
    Ramona schloss die Augen.

    „Nie wieder!“, sagt der Verstand.
    „Jederzeit!“, sagt die Sehnsucht.
    „Unmöglich!“, sagt die Tatsache.
    „Versuch es“, flüstert der Traum.

    Einmal editiert, zuletzt von Ameko (15. März 2016 um 16:33)