Auf der Suche nach der Schatulle von Daris

Es gibt 509 Antworten in diesem Thema, welches 124.374 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (16. April 2018 um 04:25) ist von TiKa444.

  • Am nächsten Tag begann er wie angekündigt seine Reise. Jedoch nicht zu Pferd oder in der Kutsche, gar zu Fuß, sondern in einem Boot. Eines der ganzgebliebenen Fischerboote am See suchte er sich, samt Besatzung, aus. Er wollte schon immer mal wieder auf dem Wasser unterwegs sein, bestenfalls auch in freiem Gewässer. Umso mehr beflügelte es ihn, als die Matrosen ihn mit Stolz auf ihrem Kutter aufnehmen durften. Es freute sie ungemein, den Herzog nach Delyveih zu eskortieren und vielleicht nebenbei sogar selbst ein kleines Abenteuer zu erleben. Aras konnte ihnen natürlich nicht zu viel versprechen, aber eine gute Entlöhnung war das Mindeste.
    Zu sechst waren sie an Bord, Zacharas eingeschlossen. Ein Kapitän, drei Matrosen und der Koch, den alle nur als Koch bezeichneten. Vermutlich hatte er nicht mal einen Namen, sondern tat nichts anderes als Essen zuzubereiten.

    Am Abend des zweiten Tages seiner Reise legten sie am Flussufer, nahe einer Felswand, an. Für heute sollte die Reise zuende sein, erst nach Mitternacht oder am frühen Morgen -käme auf den Zustand des Kapitäns, nach einer Flasche Rum, an- würde es weitergehen. Zacharas nahm es gelassen. Während die Matrosen das Boot festmachten, beschäftigte Aras sich abermals mit seinem Jutesack. Ungeduldig wühlte er in diesem herum und tastete ständig seine Taschen ab. "Wo ist die nur hin?" Fuchsteufelswild würde er langsam und stampfte wütend mit dem Fuß auf. Den Stoff des Sacks hart zerrend und ihn herumwirbelnd, kippte er ihn schließlich aus. Viele Utensilien plumpsten heraus, davon nicht wenige für Laien unnütz wirkend. Schreibzeug, Keramikdosen, Schriftstücke, eine Unterhose, Nadel und Garn. Etwas Brot, halbabgebrannte Kerzen, bunte Steine und Pergamentrollen.
    "Verflixt nochmal, wo ist die verdammte Karte!" Mit beiden Händen kramte er im Gerümpelhaufen umher. Und dann umklammerte seine rechte Hand die eine Schriftrolle ganz gezielt. Erleichtert atmete er auf und begutachtete sie. "Wusste ich's doch, dass ich sie mitgenommen habe."
    "Jetzt muss ich nur noch wissen, wo die anderen Karten abgeblieben sind."
    "Alles in Ordnung, Herzog?", fragte Finn der Matrose, ihn dabei leicht von der Seite anrempelnd.
    Verdutzt glotzte Aras ihn an. "Ja! Warum denn nicht?"
    Der Mann deutete nach unten. "Was genau habt Ihr denn gesucht? Ihr suchtet doch etwas, oder nicht?"
    "Meine Seekarte von Delyveih", entgegnete Aras und präsentierte sie ihm kurz. "Zwar etwas ausgefranst und angefressen, aber noch gut genug erhalten, um sie als nützlich anzusehen."
    Skeptischen Blickes erwiderte Finn: "Wenn Ihr das sagt, wird es wohl so sein..."
    Tief brummte Aras zurück: "Man möge meinen, als Seemann verstünde man den Wert einer Seekarte..."
    Plötzlich sprang die Tür zur Kajüte auf, ein Kopf kam zum Vorschein und rief: "Essen ist fertig!"
    Wie ferngelenkt schwenkte der Matrose um, setzte ein breites Grinsen auf und rieb sich die Hände. "Endlich mal eine gute Tageszeit. Die Essenszeit!" Schnurstracks stiefelte er los und beachtete den Lord nicht weiter.
    Aras wiederum runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und beugte sich dann runter. Er stopfte seine Klamotten wieder in den Jutesack, schulterte ihn anschließend und begab sich an die Reling. Er wollte unbedingt einen dieser Äpfel erhaschen, die ihm schon die ganze Zeit über ins Auge stachen. Auf Zehenspitzen und bis zum Äußersten gestrecktem Arm, erreichte er eine Frucht und zupfte sie ab. Nach kurzem Begutachten, war er sich sicher, dass dies ein Leckerbissen sein würde. Während er sich den Apfel am Stoff sauberrubbelte, begab er sich in Richtung Kajüte. Je näher er der Tür kam, umso lauter wurden die lachenden Geräusche der hungrigen Seebären. Vermutlich genauso verfressen.
    Die Tür war recht niedrig, weshalb Zacharas seinen Kopf tief senken musste. Drinnen herrschte spärliches Licht wackelnder Öllampen. Knarzende Dielen und klapperndes Gerümpel an den Wänden, erzeugten gleich die gewisse Atmosphäre für solch einen Ort, an dem man ungern länger als nötig verweilen wollte.
    Laut klapperten die ausgemergelten Bootsmänner mit ihrem Besteck auf dem zerkratzten Holztisch umher und brüllten sich gegenseitig ihren Hunger entgegen.
    "Was gibt es denn heute?", fragte Aras in den Raum hinein, sah aber bereits angedeutet die heutige Mahlzeit auf einem der Teller. "Pökelfleisch und Sauerkraut..."
    "Und dazu ein Fläschchen Rum!", fügte Kapitän Elbert an.
    Aras machte es sich bequem, sofern man dies zwischen diesen Männern so nennen konnte, und nahm sich eine große Portion Sauerkraut aus dem Topf.
    "Kein Fleisch?", kam vom Mann neben ihm, der sich genanntes gleich aus dem Topf angelte.
    "Ich nehme lieber einen Apfel dazu", erwiderte er und präsentierte den eben draußen gepflückten. "Und etwas Brot."
    Schiefe Blicke erntete er daraufhin. "Aber Rum nehmt Ihr schon einen Schluck, oder?"
    Kurz überlegte er, schob dann aber seinen Becher zum Kapitän hin und deutete hinein. "Nur halbvoll bitte."
    "Halbvoll gibt's hier nicht!", erwiderte er und goss randvoll ein. "Ganz oder gar nicht!"
    "Herzog?", verlautete der Koch und lenkte die Aufmerksamkeit auf sich. "Wie kommt es überhaupt, dass Ihr nicht wie die anderen zu Fuß unterwegs seid, sondern mit dem Boot nach Delyveih reisen wollt?"
    Sich das Kinn reibend erwiderte Aras: "Ich brauchte mal Abwechslung." Dann biss er beherzt in den knackig, spritzigen Apfel und drehte sich Krautfäden auf der Gabel zurecht. "Außerdem will ich mal ans Ziel kommen, ohne große Zwischenfälle..."
    Strinrunzelnd fragte der Koch weiter nach: "Ach, ist das sonst anders?"
    "Häufig", züngelte Aras aus dem Mundwinkel und setzte ein Schmunzeln auf. "Aber ich will nicht leugnen, dass einige Zwischenfälle... recht prikelnd waren..."
    Ein tiefes Raunen ging durch die Runde und mehrdeutig anspielerische Geräusche untermalten dies. "Erzählt uns Details, Herzog!" "Handelt es von Frauen?" "Wilde Biester?"
    Doch Aras machte nur eine tilgende Handgeste und sagte augenverdrehend: "Ich schweige lieber und genieße!"
    "Herzog?", fing nun Hug an. "Könnt Ihr uns etwas vorzaubern?"
    "Wie bitte? Was?"
    "Ähm..." Er wischte mit den Händen in der Luft herum. "Uns einen kleinen Zauber präsentieren... Eine Flamme oder so..."
    "Achso... Ja, gern!" Und prompt zückte Aras seinen Zauberstab und ließ eine kleine Feuerkugel entstehen, die er mittig über dem Tisch platzierte. Neugierig wie ein kleiner Junge griff Hug in die Flamme hinein und schrie laut auf. "Herr Gott, das brennt ja wirklich!"
    Lautes Gelächter brach aus und Aras ließ die Kugel wieder verschwinden. Mit breitem Grinsen entgegnete er dem Matrosen: "Hast du etwa wirklich an meiner Magie gezweifelt?"
    Kopfschütteln. "Nnneiiin, mmmeinnn Lorrrd", stammelte er unter ständigem Pusten seiner Hand und ruckte angestengt auf seinem Stuhl herum. Im Affekt versenkte er dann die glühende Hand im Sauerkraut seines Tellers, das zwar nicht besonders kühlte, aber trotzdem den Schmerz linderte.
    Nun meldete sich auch Michel, der jüngste im Bunde, zu Wort: "Verzeiht meine törichte Frage, aber meint Ihr wirklich, die Soldatin sollte in Eurer Burg frei herumlaufen dürfen?"
    Verwundert beäugte Aras ihn und fragte provokant zurück: "Warum sollte sie es nicht dürfen?" Messer und Löffel aufgerichtet, schaute er den Burschen schief an und animierte ihn somit zum Weiterreden. Doch seine Kameraden rochen den Braten bereits und deuteten zum Themenwechsel an.
    Aber Michels Antwort kam schon: "Immerhin gehörte sie zum Feind..."
    Mit langgezogener Schnute, vollkommen verblüfft über diese Ehrlichkeit, entgegnete der Lord: "Schön, dass es sich so schnell herumgesprochen hat. Man fragt sich nur, wem dieses lose Mundwerk gehörte."
    Da hob Michel unschuldig die Hände. "Ich habe nur wiederge..." Hugs Hand konnte ihm geradeso noch den Mund zuhalten.
    Doch Aras konnte sich den Rest ergänzen. "Ist es nicht meine Angelegenheit, mit wem ich verkehren möchte?" Neugierig wartete er auf die Antwort.
    Beschämte Blicke von der Besatzung.
    "Immerhin müsst ihr ja nicht mit ihr auskommen", sprach Aras weiter und verdrehte spitzbübisch die Augen. "Zumindest noch nicht..."
    Deren Gesichtern war anzusehen, dass deren Gedanken bereits im vollen Gange waren. Und der Lord kostete es richtig aus, alle anwesenden schaudern zu lassen.
    Doch irgendwann konnte sich Michel nicht mehr zurückhalten und plautzte es heraus: "Habt Ihr etwa vor, sie fester bei Euch aufzunehmen?"
    Ein überzeugtes Nicken des Lord bestätigte es. Daraufhin stopfte sich der junge Mann ein großes Stück Pökelfleisch in den Mund. Aras beäugte ihn eine Weile, wie auch die anderen Männer ihn beobachteten. Aber nichts weiter geschah.
    "Ist das so überraschend? Verblüfft euch nun die Tatsache, dass ich eine Frau gefunden habe, die mich auch will, oder dass es explizit diese Art Frau ist?"
    Resignierender Blick des Jungen. Nachdem er sein Essen heruntergewürgt hatte, antwortete er: "Ich werde immer im Hinterkopf behalten, dass sie mal der Feind war."
    Hart schlug der Kapitän die Faust auf den Tisch und knurrte ihn an. "Bist du jetzt still!?"
    "Aber es ist doch trotzdem meine Entscheidung, wen ich lieben will", konterte Aras gelassen und steckte sich genüsslich das Sauerkraut in den Mund. Leicht schlürfend und schmatzend sprach er weiter: "Ich meine, ich würde auf nichts gegen deine Verlobte sagen, wenn sie dich zuvor hätte ermorden wollen... Immerhin ist es dein Leben und du hättest deutlich weniger zu verlieren!"
    "Mein Lord", appelierte Kapitän Elbert an ihn mit betenden Händen. "Bitte ignoriert Michels Worte... Er ist zu jung, um das zu begreifen..."
    Darauf antwortete der Junge nicht und blickte nur beschämt auf seinen Teller. Auch die anderen drei Männer bedeckten ihre Häupter und widmeten sich ihren Tellern und Krügen.
    Zacharas war aber noch lang nicht fertig mit seiner Ansage. "Ich mag mich vielleicht in den letzten Wochen charakterlich stark gewandelt haben, aber trotzdem kann ich immer noch streng sein, wo es angebracht ist. Kuen könnte meine zukünftige Gemahlin werden und somit eure Herzogin! Behaltet das mal in euren Hinterköpfen, wenn ihr versucht, Kritik gegen sie oder mich zu üben. Auch wenn ich vorhabe, keine Sklavinnen mehr zu halten, werden trotzdem im Kerker stets Plätze frei sein... Wenn weiterhin jemand etwas dazu zu sagen hat, sollte er schweigen und bitte den Raum verlassen!"
    Dann erhob sich der Bub, blickte noch einmal ringsum und ging wortlos wieder an Deck. Finn erhob sich gleich danach und verließ ebenso die Kajüte, mit den Worten: "Ich bin auf Eurer Seite, mein Herzog, darum werde ich mir den Jungen jetzt nochmal zur Brust nehmen."
    Dann brach Schweigen aus. Alle starrten sich gegenseitig an und keiner schien wirklich zu wissen, wer nun auf wen böse war oder nicht. Zacharas selbst war nicht wütend auf die Besatzung oder jemand speziellen. Aber es kränkte ihn etwas, dass stets an seinen Entscheidungen gezweifelt wurde. Sicherlich, er wusste auch nicht, ob Kuen ihm wirklich treu bleiben würde oder sie gar die Wahrheit sprach und nicht vielleicht doch noch dem Feind angehörte. Eine Spionin, darauf spezialisiert, sich heimtückisch einzunisten und so an Informationen zu kommen.
    Aber andererseits musste er ja irgendjemanden vertrauen können und müssen, um nicht paranoid zu werden. Er wusste nicht mal mehr, ob er seiner Truppe vertrauen konnte. Ob sie ihm vertrauten, ihm vielleicht sogar deren Leben anvertrauen würden. Oft genug bewies er ja in der Vergangenheit, dass er gesellschaftlich recht verdrehte Ansichten hatte. In den letzten Tagen zweifelte er immer mehr und immer stärker an sich selbst, seinen Entscheidungen und seiner Glaubwürdigkeit. Sogar in diesem Moment zweifelte er wieder an seiner Reaktion gegenüber Michel. War der Lord zu streng gewesen, zu herrisch, zu erhaben? Konnte er überhaupt alles im Leben wiedergutmachen, was er verbrochen hatte? Würde vielleicht sogar sein Tod am Ende mehr Frieden und Ruhe bringen, als er in seinem ganzen Leben versucht hatte zu erreichen?
    Viel Leid hatte er den Menschen angetan. Frauen schlecht behandelt und Männer für Taten bestraft, die andere aus Kulanz hätten ignoriert. Alleinig zu Kindern war er nicht schlecht, jedoch auch nicht überschwinglich nett. Er hatte Autorität, die ihm keiner streitig machen wollte. Aber zu welchem Preis..?

    "Also", versuchte Hug wieder ein Gespräch aufzunehmen, "ich sehe das genauso wie Ihr, mein Herzog!"
    Elbert nickte energisch. "Ja, genau! So schlecht finde ich Kuen gar nicht." Dann versuchten sie sich verkrampft etwas aus den Fingern zu saugen, während Aras sie nur skeptisch anstarrte. "Sie sieht passabel aus... und..." "Ja... ähm... Sie ist blond..." "Gut gebaut! Schöne Zähne... Nett..."
    "Hört schon auf mit euren Schleimereien", unterbrach er sie abwinkend. "Ich habe mich nun so entschieden, also müssen wir auch alle da durch..."
    Plötzlich erklangen seltsame Gesänge. Zuerst ganz leise und unscheinbar, dann immer lauter und klarer werdend. Wie Lockrufe klangen sie.
    "Was ist das?" Sie schauten sich gegenseitig an und sprachen im Chor: "Michel!"
    Sofort sprangen sie auf, ließen alles stehen und liegen und rannten an Deck. Draußen angekommen, erblickten sie Finn halb über die Reling gelehnt, wie er seine Arme angestrengt hinausstreckte. Sofort stürmten alle zu ihm hin. Doch als sie sahen, warum er in solch einer merkwürdigen Pose dort stand, schienen sie absolut gar nichts mehr zu verstehen. Michel hing draußen am Boot und hielt sich krampfhaft an Finns Arm fest. Ohne weiter drüber nachzudenken, kamen Aras und Hug ihnen zu Hilfe und zogen den Burschen wieder hinauf. Der Kapitän schaute derweil hektisch das Boot ringsum ab.
    Kaum war Michel wieder auf sicherem Boden, kauerte er sich zusammen und krallte seine Finger ins strubbige Haar.
    "Was ist passiert?" "Was waren das für Stimmen?"
    "Fischfrauen!", stammelte Michel. "Fischfrauen!"
    "Fischfrauen?", fragte Aras verwundert nach und wagte einen kurzen Blick ins Wasser. Es war aufgewühlt, was aber auch am Boot selbst liegen konnte. Ihm kam nur eines in den Sinn. "Naga? Hier? Überlebende?"
    "Michel, was genau ist passiert? Wie genau sahen sie aus?"
    Er zitterte am ganzen Körper und kauerte sich immer mehr zusammen. Winselnd und schluchzend stieß er immer wieder dieses eine Wort aus. "Fischfrauen! Fischfrauen! Nichts ist passiert... Ich blickte ins Wasser und sie schauten mich an."
    "Wie sahen sie aus? Waren es wirklich Frauen? Oder hatten sie etwas fremdartiges an sich?"
    "Frauen! Frauen!"
    "Was denn nun?", stieß Hug genervt aus. "Fische oder Frauen? Und was hattest du überhaupt dort zu suchen?"

    "Ich habe nichts gemacht, nur reingeschaut! Die haben mich überrascht und vor Schreck bin ich abgerutscht... Es waren Frauen! Defintiv Frauen!"
    "Also keine Fische?", fragte Aras nochmals explizit nach. Und Michel bestätigte es. Frauen und keine Fische. Da Aras die Besatzung ungern beunruhigen wollte, jedoch es auch nicht drauf ankommen lassen wollte, suchte er den Kapitän auf und erklärte ihm grob die Situation. Die Anspielung auf die Naga ließ Aras dabei außen vor. Doch Elbert verstand bereits, worauf er hinauswollte und beschloss, die Reise unverzüglich fortzusetzen.

    • Offizieller Beitrag

    Mit einem etwas weniger eleganten Gang als man es von ihr gewohnt war stapfte Daphne an Thyra, Theical und Jaris vorbei aus dem Gasthaus. Linseneintopf tropfte noch immer von seinem Kinn, als Daryk damit begann, die Tische, die er bei Daphnes Verfolgung zur Seite geschoben hatte, wieder vor die Personen zu stellen, die von ihnen aßen. Wirklich böse war ihm wohl keiner, da die Unterhaltung, die sie geboten hatten in diesem Kaff wohl mehr Wert war, als ein ungestörtes Essen.
    Seit er sie kannte hatte Daryk die kleine Frau noch nie so unbeschwert lachen gesehen und er selbst hatte sich auch schon lange nicht mehr so amüsiert.
    Der Wirt kam mit einem Putzlappen zu ihm herüber und fragte lachend, was die Aktion zu bedeuten hatte.
    „Sie hat angefangen“, antwortete Daryk grinsend und bot seine Hilfe beim Aufwischen an.
    Der Besitzer des Gasthauses winkte ab. „Das ist nicht das erste Mal, dass ich hier Essen aufwische und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein“, meinte er und bedeutete Daryk, dass er sich waschen gehen konnte.
    Dankbar, nicht auch noch die Sauerei aufwischen zu müssten, folgte er Daphne in Richtung des Waschhauses vor der Tür.
    Als er an Thyra vorbeiging, die offensichtlich wieder normal reden konnte, sagte diese: „Daryk, ich glaube, wir sollten erklären, was….“
    „Nein“
    , unterbrach er sie grinsend, „ich will es gar nicht wissen.“
    Sanft schob er sie zur Seite, ging weiter und überhörte das „aber“, dass ihm Theic nachrief. Er wollte sich nicht schon wieder darüber aufregen, dass jemand Magie, die er nicht richtig beherrschte auf ihn anwenden wollte. Abgesehen davon waren die Linsen in seinem Gesicht auch nur bedingt angenehm auf Dauer. Auf dem Weg zum Badehaus strich er sich bereits so viel Eintopf wie möglich vom Schädel und aus dem Bart, um nicht in Linsensuppe zu baden.
    Da Badehaus bot bereits von weitem einen erbärmlichen Anblick, aber in einem kleinen Ort wie diesem musste man ja froh sein, wenn es überhaupt eine Möglichkeit gab, sich zu waschen.
    Kurz hielt Daryk inne und überlegte, ob er einfach so hineinspazieren konnte. Immerhin war es ein Waschhaus und Daphne hatte genau das vor. Da die Tür aber offenstand, nahm er an, dass er eintreten durfte.
    Die Heilerin hing kopfüber in einer der beiden hölzernen Wannen und strampelte mit den Beinen um nicht gänzlich hineinzufallen.
    Verwirrt kniff der Hüne die Augen zusammen als er fragte: „Was genau tust du da?“
    Mit einer Hand zog Daphne sich am Rand der Wanne nach oben und blickte ihn durch einen Vorhang aus losen Haaren an.
    „Wenn man sich in diese Dinger legt, ist man schmutziger als vorher…“
    , fluchte sie.
    „Irgendwie bezweifle ich das“, meinte Daryk grinsend, während er sich eine weitere Linse aus dem Bart pulte, „kann ich dir helfen?“
    Nachdem die Schurkin die Strähne aus ihrem Gesicht gepustet hatte, schaute sie sich im Raum um und überlegte kurz. „Erstmal brauchen wir Licht hier drin“, meinte sie dann, „Wenn wir die Tür zumachen, ist es hier drin duster, abgesehen davon, habe ich noch kein Feuer für die heißen Steine gemacht. Um die fehlenden Vorhänge kümmere ich mich, wenn ich die zwanzig Jahre Schmutz hier draußen habe. Die andere Wanne ist bereits sauber.“
    Ein flüchtiger Blick in die andere Wanne bestätigte Daphnes Aussage und lächelnd verkündete der Ritter, dass er Holz holen und Feuer machen würde.
    Bevor die kleine Frau seine Aussage bestätigen konnte, verlor sie den Halt auf dem Rand und landete leise fluchend im schmierigen Grund der Wanne.
    Sie hob ihren linken Arm, an dem sie den Armreif trug, in die Höhe.
    „Alles okay, nichts passiert ... In Ordnung“, meinte sie sofort, „was ist das ... Igitt, sind das etwa Algen?!“
    Daryk griff die erhobene Hand der Prinzessin und zog sie wieder auf die Beine.
    „Ich glaube der Fluss wäre sauberer“, meinte der Ritter, während er Daphne an der Taille nahm, aus der Wanne hob und vorsichtig wieder auf den steinigen Boden stellte.
    „Das mag sein“, lächelte sie ihn an, „aber es ist bereits so kalt geworden, dass weder du noch ich, gerne in einem Fluss baden. Mir macht das kalte Wasser nichts aus, aber die kühle Luft ist etwas Anderes.“
    „Dann geh ich mal für warme Luft sorgen“
    , teilte der Hüne der kleinen Frau ebenso lächelnd mit und verließ das Badehaus.
    Hinter sich hörte er Daphne rufen: „Beeilung, Beeilung, setz deine schweren Knochen mal in Bewegung oder muss die Prinzessin hier alles alleine machen?! Ist ja immerhin deine Schuld, dass wir so aussehen!“
    Kopfschüttelnd ging er mit einem Lachen hinaus und fand den Stapel mit dem Feuerholz hinter der Hütte und nahm eine ordentliche Ladung davon mit zurück. Auf dem Rückweg fand er einen kleinen Bach, der, offenbar von Daphne gesteuert, durch die Luft waberte. Scheinbar hatte sie beschlossen, dass es ihr zu lange dauerte die Wannen von Hand zu füllen und das Wasser aus dem Fluss umgelenkt.
    Als er das Badehaus wieder betrat begann er das Holz an der dafür vorgesehen Stelle zu stapeln und entzündete es.
    „Halt mal“, meinte Daphne und hielt ihm eine Schnur hin. Er richtete sich auf und nahm ihr mit einem fragenden Blick das dünne Seil ab.
    „Siehst du gleich“, beantwortete sie die nicht gestellte Frage nach dem „warum“ und nahm das andere Ende der Schnur in den Mund. Sie richtete ihren Blick auf einen Haken, der in etwa zweieinhalb Metern Höhe an der Wand befestigt war, nahm Anlauft und stieß sich mit zwei schnellen Schritten von der Wand ab. Im Sprung griff sie nach dem Dachbalken der Hütte und zog sich daran hoch. Mit den Beinen hielt sie sich daran fest und ließ den Oberkörper kopfüber baumeln. Ihr langer Zopf schwang hin und her, während sie eilig das Seil an dem Haken festband. Rasch war sie wieder heruntergeklettert und bedeutete Daryk, sein Ende der Schnur an einem ähnlichen Haken an der gegenüberliegenden Wand zu befestigen. Aufgrund seiner Körpergröße konnte er dies ohne akrobatische Einlagen erledigen und bald war die Schnur, über die scheinbar die Laken zum Sichtschutz zwischen den beiden Wannen gehängt wurden, gespannt.
    Nach getaner Arbeit drehte er sich wieder zu ihr und beobachtete sie dabei, wie sie versuchte, die Laken über das Seil zu werfen. Grinsend verschränkte er die Arme und wartete, bis sie es aufgab. Mit unterdrücktem Lachen kam sie schließlich zu ihm und drückte ihm die drei Laken gegen den schwarzen Brustpanzer. „Warum sollte ich mich quälen, wenn du hier rumstehst?“, fragte sie nun doch lachend, „Ich hole zwei Lampen oder was der Wirt entbehren kann, damit wir nicht im Dunklen baden müssen!“
    Tatsächlich war die einzige Lichtquelle des Raumes die Tür, die nachher mit Sicherheit verschlossen sein würde, und ein winziges Fenster, das aber dermaßen verdreckt war, dass es kaum noch Licht durchließ.
    Daryk warf die Stofffetzen über die Leine und Sorgte dafür, dass sie nicht rutschten.
    Nach kurzer Zeit kam Daphne mit zwei kleinen Öllampen, ihren Wechselklamotten und einem genervten Gesichtsausdruck zurück.
    Bevor der Ritter eine Chance hatte, zu fragen, was geschehen war, hatte sie bereits begonnen über das ständige Lachen des Wirts zu schimpfen: „Ist das zu glauben? Da schrubbe ich sein Bad wie eine Dienstmagd und er meint ‚eine Wanne reicht doch für euch beide!‘. Mal abgesehen davon, dass jeder darauf rumreitet, wenn ein Mann und eine Frau irgendwo ... irgendwo alleine sind, als hätten beide nichts Anderes zu tun, als stetig übereinander herzufallen wie die ausgehungerten Wölfe, hätte eine Wanne nicht gereicht! Ich mag ja nicht groß sein, aber ich bin keine Fee. Dieser Wirt unterschätzt bei weitem die Größe seiner Wannen ... und deren Zustand.“
    Wortlos nahm Daryk die Schimpftirade der Prinzessin zur Kenntnis und nahm ihr eine der Lampen ab. Während er sie neben die hintere Wanne stellte, regte sich Daphne weiter auf: „Und als ich dann wegen den Vorhängen anfing, hab es bei seiner Belustigung kein Halten mehr! Wie auch immer ... der hat mich zum ersten und letzten Mal hier gesehen!“
    Daryk versuchte sie zu beruhigen, indem er sie darauf hinwies, dass die Gruppe ja morgen ohnehin weiterreisen würde. Nebenbei schaffte er die Heizsteine in das Wasser und verschloss die Türe mit dem bereitgelegten Balken.
    Sie nickte bestimmt, was keinen Zweifel daran ließ, dass sie morgen wirklich die Pferde satteln würden und verkündete, die hintere Wanne zu benutzen, welche von der Tür aus nicht zu sehen war.
    „Ich will mir etwas meiner übriggebliebenen Würde bewahren!“, lachte sie, als sie hinter dem Vorhang verschwand.
    „Ja, ich stell meine Würde dann vor die Tür“, scherzte Daryk und prüfte die Temperatur seines Badewassers.
    „Wenn jemand hereinkommen würde brauchst du nur bedrohlich gucken, wenn ich bedrohlich gucke, wird das höchstens mit einer Einladung verwechselt“, stellte Daphne klar und warf ihre schmutzigen Klamotten vor den Vorhang, „also stell dich mal nicht an. Du bist doch hier der Ser von und zu Ritter!"
    Der angesprochene Ritter begann, sich aus seiner Rüstung zu schälen und erwiderte ein übertrieben höfliches „sehr wohl, Prinzessin!“
    Das Klirren und Krachen der Rüstungsteile, die auf dem Boden landeten erfüllte den Raum und Daphne wartete geschickt die Pause zwischen Brustpanzer und Beinschienen ab um etwas zu sagen.
    „Noch ein paar Tage und wir erreichen die Grenze, da kenne ich zumindest ein paar Gasthäuser, bei denen wir für meinen Bruder anschreiben lassen. Da ist das Geld nicht mehr so wichtig!“, gab sie zu bedenken.
    Daryk sah zu dem Vorhang hinüber und stellte fest, dass das Licht der Lampe ihren Schatten auf dem Stoff abbildete.
    „Sind die dann sauberer?“, fragte er, auch um sich selbst vom ihrem Schatten loszureißen, der gerade den dicken Zopf gelöst hatte.
    „Die, die ich kenne, ja ... Zu Anfang war ich noch wählerischer, bis mir das Gold ausging. Ich hatte ja keine Ahnung, wie teuer das Leben außerhalb des Schlosses war“, lautete ihre Antwort, die vom plätschern des Wassers begleitet war.
    Zur Bestätigung ihrer Aussage brummte Daryk vor sich hin und entledigte sich dem letzten Rüstungsteil.
    Befreit streckte er sich und streifte auch den Rest seiner Kleidung ab, ehe er sich ins heiße Wasser begab.
    Die Wärme tat gut und er tauchte einmal unter, um das Abendessen aus seinem Gesicht zu waschen.
    Eine Weile war es ruhig und er entfernte alle Linsen, die er finden konnte.
    Unvermittelt flüsterte Daphne: „Daryk, kennst du es, wenn man sich beobachtet fühlt?“
    Der Angesprochene zog eine Augenbraue hoch. Meinte sie etwa, er würde sie beobachten?
    „Was meinst du?“, wollte er unsicher wissen.
    „ich glaube ich werde beobachtet“, wiederholte die Heilerin, „von draußen“
    Seufzend kletterte der selbsternannte Leibwächter der Prinzessin aus der Wanne und zog seine Hose wieder an.
    „W-was tust du?“, zischte Daphne leise.
    „Augen schließen“, entgegnete Daryk knapp und hievte den Holzbalken vor der Türe weg. Er verließ das Gebäude und zog die Türe hinter sich wieder zu. Daphnes Einschätzung war richtig gewesen, es war kalt draußen. Vor allem, wenn man nass und ohne Oberteil durch die Gegend lief. Innerlich fluchte er vor sich hin, weil es immer einen Idioten gab, der meinte Frauen beim Baden beobachten zu müssen.
    Tatsächlich erkannte er einen Mann der versuchte durch das verdreckte Fenster zu blicken, als er um die Ecke der Hütte bog.
    Er verdrehte die Augen und näherte sich dem Kerl unbemerkt. Hinter ihm angekommen fragte er: „Gefällt dir was du siehst?“
    Ohne seinen Blick vom Fenster zu nehmen antwortete der Kerl: „Es ist leider zu dunkel um etwas zu erkennen.“
    „Das tut mir leid“
    , meinte Daryk, „soll ich Licht machen?“
    Der Beobachter winkte ab und nuschelte: „Haben die schon angefangen oder sind die fertig?“
    Angefangen? Was hatte der Wurm erwartet zu sehen?
    „Vielleicht waren das die zwei Minuten, in denen ich pinkeln war“, fuhr er, scheinbar ernsthaft darüber nachdenkend, fort.
    Daryk beschloss, weder Daphne, noch sich weiter beleidigen zu lassen und zerrte den Mann von seinem Ausguck.
    Überrascht schaute der Kerl in die eisblauen Augen des schwarzen Ritters und erkannte endlich, wer da vor ihm stand.
    Er wollte gerade zu einer Verteidigung ansetzen, da hatte Daryk schon seine Faust in seinem Gesicht platziert. Noch bevor der Mann eine Chance hatte umzufallen, griff Daryk ihn am Hals und starrte ihn einige Sekunden an.
    „Ich sollte gehen“, röchelte der Mann schließlich
    „Das glaube ich auch“, bestätigte Daryk mit ruhiger Stimme diese Aussage, „und wenn ich dich nochmal an diesem Fenster erwische, kannst du in Devyleih als Wache der Prinzessin arbeiten. Verstanden?“
    Der ungewollte Beobachter nickte eindringlich und schien es verstanden zu haben.
    Daryk löste den Griff um die Kehle des Mannes und ging einen Schritt zur Seite um ihn durchzulassen.
    Eilig rannte der Mann zum Gasthaus und der Hüne ging kopfschüttelnd zurück ins Badehaus.
    „War… da jemand?“, wollte Daphne zögerlich wissen, als der die Hütte betrat. Offensichtlich fühlte sie sich bei dem Gedanken beobachtet worden zu sein äußerst unwohl.
    Daryk überlegte wohl einen Moment zu lange, ob er es ihr sagen sollte, oder nicht. Inzwischen hatte die Heilerin anscheinend gelernt, auch sein Schweigen richtig zu deuten.
    „Lebt er noch?“, fragte sie amüsiert.
    „Ja“, meinte er mit einem Lachen, „aber er wird sich in Zukunft genau überlegen, durch Fenster zu schielen, die ihn nichts angehen.“
    Ein kurzes Kichern von hinter dem Vorhang zeigte Daryk, dass Daphne zufrieden war.
    „Wie immer, sehr ritterlich!“, lobte sie, gefolgt von einem Moment der Stille.
    „Ich frage mich schon die ganze Zeit…“,
    fing sie leise an, „warum du dir, nach all dem was dir passiert ist, noch Sorgen um andere machst.“
    Inzwischen war er wieder in seine Wanne geklettert und strich sich über den Kopf.
    „Ich habe genügend Menschen verloren, die mir wichtig waren... Vielleicht wenn …wenn ich Bedrohungen früher ausschalte... passiert einmal …nichts ...“, gab er schließlich leise zu.
    Wieder ein Moment der Stille, der durch die Tatsache, dass sie sich durch einen Vorhang unterhielten, und Daryk so ihr Gesicht nicht sehen konnte, unendlich lang zu sein schien.
    „Das heißt also, ich… bin dir wichtig?“, fragte die Prinzessin dann verunsichert.
    Daryk schloss die Augen und verdrängte für einen Moment alle Zweifel und alles schlechte Gewissen aus seinem inneren. Obwohl er wusste, dass sie es nicht sehen konnte, nickte er bestimmt und meinte: „Ja.“
    Nur das Plätschern des Wassers war in den endlosen Sekunden zwischen seiner Antwort und Daphnes Reaktion darauf zu hören. Dann endlich räusperte sie sich und meinte: „Soso.“
    Ihr Schatten auf dem Vorhang verriet, dass sie sich über den Rand der Wanne lehnte und nun ihm zugewandt saß.
    „Ich bin dir also wichtig?!“, wiederholte sie, aber bevor er zu einer Antwort ansetzen konnte, fuhr sie bereits fort: „Nur, dass wir uns richtig verstehen. Bin ich eher so ‚ich beschütze sie brüderlich vor Lüstlingen‘ - wichtig?“ Sie machte eine kurze Pause und ergänzte dann: „Oder ist es mehr die Variante ‚ich wäre gern selbst der Lüstling‘ - wichtig?“
    Daryk wusste die Antwort auf diese Frage. Was er aber nicht wusste, war wie er diese Antwort mit seinem Gewissen seiner Familie gegenüber vereinbaren sollte und wie sie zu dieser Antwort stehen würde.
    Gerade als er das Gefühl hatte, schon wieder einen Moment zu lange geschwiegen zu haben, klopfte es an der Tür und die Stimme des Wirts drang herein: „Hey ihr zwei! Man sucht schon nach euch, also beeilt euch mal!“
    Während er fortging setzte er noch ein ich mach die Sauerei übrigens nicht weg!“ hinterher.
    „Als ob der hier drin irgendwas sauber machen würde“, grummelte Daphne und kletterte offensichtlich aus der Wanne, „bevor hier noch jemand die Tür einschlägt, sollten wir zurückgehen.“
    Daryk brummte erneut eine Zustimmung und machte sich ebenfalls daran, sich wieder anzuziehen.

  • Kopfschüttelnd betrachtete Jaris das Chaos, das einmal der Schankraum gewesen war. Irgendjemand - offensichtlich Daryk - hatte die Möbelordnung kreativ umgestaltet und wer hatte eigentlich gesagt, dass Teller auf einen Tisch gehörten. Oder in einem Stück sein müssten. Immerhin brachte das Grün des Eintopfs ein wenig Farbe in das in tristem braun gehaltene Zimmer.
    Die Gäste und den Wirt schienen sich nicht weiter daran zu stören. Sie setzten sich entweder an einen der noch zugänglichen Plätze oder lehnten an der Wand. Ihre Bierkrüge waren zum Glück heil geblieben und vielmehr schien die meisten nicht zu interessieren. Ergeben seufzend kehrte er um und ging nach oben in Richtung der Zimmer, die der Wirt ihnen überlassen hatte. Schon komisch. Vor einem Jahr noch wäre er vermutlich im Schankraum geblieben und hätte die ausgebliebene Kneipenschlägerei ins Rollen gebracht. Jetzt war er fast schon der "Ruhige" in seiner Reisegruppe. Und das nur, weil er auf experimentelle Farbtöne und spontane Sprachstörungen verzichtete. Immerhin hatte er früher nicht so viel zu lachen gehabt.
    Als er den Raum betrat hockten Thyra und Theic auf dem Boden und blätterten in dem alten Buch.
    "Ich verstehe nicht, warum es nicht funktioniert hat?", sagte Thyra gerade und schüttelte genervt den Kopf. "Wir haben doch alles genauso gemacht wie es hier stand." Ihre Stimme war frei jeglicher Tierlaute, also schienen sie das "was auch immer" rückgängig gemacht zu haben oder die Wirkung war verflogen.
    "Naja", warf Theic ein. "Vielleicht war das ganz gut so. Sonst hätten wir uns am Ende noch verliebt, anstatt Daphne und Daryk."
    "Da hätte ich Einwände", verkündete Jaris und die beiden auf dem Boden schreckten auf. Schwungvoll ließ er sich neben ihnen nieder.
    "Und, seid ihr vielleicht jetzt bereit den Dingen ihren natürlichen Lauf zu lassen?", wollte er wissen und legte einen Arm um seine Frau.
    "Niemals", erklärte diese vehement. "Manchen Menschen muss man einen behutsamen Stoß geben, damit sie sich finden."
    "Oder in diesem Falle eher einen Tritt?", kommentierte er trocken, musste aber dennoch schmunzeln. "Habt ihr daran gedacht, dass sie gar nicht durch einen Zauber dazu gezwungen werden wollen?"
    "Davon hätten sie doch nichts bemerkt", tat Theic ab.
    "Ich bewundere euer subtiles Vorgehen", stimmte Jaris nickend zu, was ihm einen Knuff in die Seite von Thyra einbrachte.
    "Immerhin können wir jetzt auch das romantische Essen streichen", behauptete Jaris. "Wenn sie danach ein Bad brauchen."
    "Na hoffentlich", warf Theic mit einem Grinsen ein.
    "Nein, ich bin sicher das könnte funktionieren", meinte Thyra und lehnte sich vor. "Wir müssen das nächste Mal nur anders vorgehen."
    Jaris schmunzelte. Das würden noch ein paar witzige Stopps werden. Zumindest für ihn.

    Etwa eine Stunde später hörten sie die schweren Tritte Daryks auf der Treppe. Er und Daphne mussten mit dem Baden fertig geworden sein.
    "Das hat aber lange gedauert", murmelte Theic, während er die Tür abschloss. Wenig später ertönte lautes Ruckeln an der Tür. Thyra musste ein Lachen unterdrücken, während Theic besorgt die Schaniere beäugte. Bevor die Tür jedoch nachgab hörte das Rütteln auf und man hörte ein genervtes Stöhnen von der anderen Seite. Der Wirt hatte nur zwei Zimmer frei gehabt. Jaris hätte die Nach zwar lieber nur mit Thyra verbracht, doch sie und Theic hatten sich ja in den Kopf gesetzt den Ritter und die Prinzessin miteinander zu verkuppeln. Immerhin gab es drei Betten. Sie hörten weitere leisere Schritte, nachdem sie zwei der Betten aneinander geschoben hatten. Daphne versuchte erst gar nicht in das Zimmer zu gelangen sondern ging gleich weiter. Grinsend sah ihn Thyra an, während er sich zu ihr legte.
    "Siehst du", belehrte sie ihn. "Die beiden kommen zusammen, ob sie wollen oder nicht."

    Wer zu lesen versteht, besitzt den Schlüssel zu großen Taten, zu unerträumten Möglichkeiten.

    Aldous Huxley

    • Offizieller Beitrag

    Die Heilerin ahnte, als Daryk an einer versperrten Tür rüttelte, dass, egal was ihre Freunde vorhatten, es noch nicht vorüber war. Sie lief auf das Zimmer zu, was man ihr zugeteilt hatte und öffnete die Tür.
    „Natürlich ...“, nuschelte sie, als sie die zusammengeschobenen Betten sah, um die irgendwer ringsum Kerzen aufgestellt hatte. „Unauffälliger geht es nicht“, setzte sie nach, legte genervt ihren Kopf in den Nacken und seufzte, während Daryk ebenfalls einen Blick in den Raum warf. Der Hüne hob seine rechte Braue und schien ebenso entgeistert drein zu blicken wie die Heilerin.
    „Sehr dezent“, erwiderte der Ritter und blieb in der Tür stehen, während Daphne kurz zum Zimmer ihrer Freunde zurücklief.
    „Eure Versuche in allen Ehren, aber ich hätte mir da etwas mehr erwartet“, begann sie scherzhaft zu schimpfen. „Ich erwarte von einer Liebe mehr, als das Zusammenschieben zweier Betten. Ich schlage ja ein Buch auch nicht kurz vor Ende auf, sondern lese es vom Anfang.“
    Nach diesen Worten wandte sie sich wieder ab und ging in das Zimmer, in welches Daryk nun auch vollständig eintrat und die Tür hinter sich schloss. Die Kerzen um das Bett herum blies Daphne aus, ein paar jedoch ließ sie auf der Anrichte gegenüber dem improvisierten Doppelbett stehen. Die beiden Kopfenden waren an die Wand geschoben und die Fußenden der zwei Schlafmöglichkeiten ragten mittig in den Raum hinein, wodurch das dritte Bett, in der Ecke des Raumes, fast unterging. Daphne lief um das Bett herum und warf ihre schmutzigen Klamotten einfach neben ihre Tasche, die sie zuvor schon in das Zimmer gebracht hatte.
    „Dann sollten wir mal schlafen gehen!“, sprach sie und natürlich war ihr die Situation zutiefst peinlich, aber sie wollte Thyra und Theical nicht die Genugtuung geben, sie in eine unangenehme Lage gebracht zu haben. Nach dem Lagerfeuer in Ymilburg schienen sie unbedingt zu wollen, dass sich dies wiederholt, aber da so einfach war das nicht und Daphne wollte sich nicht anmerken lassen, dass das Schweigen darüber, sie irgendwie traf. Es sah so aus, als wählte der Ritter das Bett, was näher zur Tür stand, also nicht das dritte in der Ecke. Tief atmete die Schurkin aus, als konnte sie so der Röte entgehen, die in ihrem Gesicht anstieg, aber ein Spiegel besaß das Zimmer nicht, in dem sie sich dessen versichern konnte.
    Macht es dir etwas aus?“, wandte sich der Hüne an die junge Frau, die abrupt abwehrend ihre Hände hob.
    „Nein, nein“, dementierte sie seine Frage. „Es ist nur so, dass ich … Wie auch immer. Nein, es macht mir nichts aus. Es ist bloß ungewohnt.“
    Daryk lächelte bloß und legte sich hin. So eine Linseneintopf-Schlacht, musste anstrengend gewesen sein. Na schön, er hatte immerhin noch einen Dorftrottel verhauen. Aber auch bei Daphne machte sich die Müdigkeit breit und die Frage, die seit dem Bad unbeantwortet geblieben war, entschied sie vorerst totzuschweigen. Eine Antwort hätte die Situation, in der sie gerade waren, nur geringfügig verbessert – eigentlich gar nicht. Mit der Bitte, wieder einmal wegzusehen, zog sie sich um und legte sich ebenfalls auf ihre Seite des Bettes. Aber wie hinlegen? Abgewandt wirkte gewollt distanziert, zugewandt zu vertraut, auf dem Rücken irgendwie gelangweilt. Deshalb entschied sie sich dafür, sich auf den Bauch zu legen und umschlang dabei ihr Kissen, was einem Brett glich. Dabei wandte sie ihr Gesicht dem Hünen zu und schloss müde die Augen.
    „Schlaf gut!“, nuschelte sie. Obwohl sie nicht wussten, ob sie so schnell einschlafen würde. Ihr Herz hämmerte in der Brust, aber einen Rückzieher konnte sie aus dieser Situation nicht mehr machen. Immerhin hatte sie darauf beharrt alles so zu lassen, wenn Thyra und Theical schon so viel Mühe investiert hatten.
    „Gute Nacht!“, antwortete Daryk eben so leise, bevor alle Gespräche an jenem Abend erstarben.


    Die Tage vergingen und die Reise setzte sich fort, so weit, dass sie gerade noch einen Tagesmarsch von Delyveih entfernt waren, was Daphnes Nervosität nur noch ansteigen ließ. Die Gegend wurde für die anderen ungewohnt flach, auch wenn sie noch durch Wälder bestach. Allerdings waren die Bäume dort nicht mehr durchweg so groß wie die in den Wäldern um Felodun oder Ymilburg. Das lag daran, dass durch den Schiffbau der Nordmänner wieder aufgeforstet worden waren, um Nachschub zu schaffen.
    An diesem Abend legten sie ihre letzte Rast vor der Heimat der Heilerin ein und beließen es bei drei Zelten, wo sich Daryk und Theical eines teilten, Thyra und Jaris, aber wieder einmal Daphne eines für sich besaß. Diesmal war es auch schwerer eine Tür abzuschließen, wie sie es gerne in Tavernen und Gasthäuser taten. Daphne überspielte weiterhin ihre Gedanken mit Lachen und Scherzen. Aber nicht mehr nur wegen der Verkupplungsversuche oder dem Lagerfeuer, auch die Gedanken an ihre Familie verunsicherte sie zunehmen. Je mehr sie in sich kehrte, desto mehr versuchte Thyra sie aufzumuntern. Sie ahnte anscheinend, dass es ihrer Freundin nicht allzu gut ging, schließlich hatte sie die Nordmänner erlebt. Auch Theical hielt sich an diesem Tag mit Doppeldeutigkeiten zurück und half ihr das Zelt aufzubauen. Die Nächte so weit im Norden waren bereits sehr frisch. Nachts fror man ohne ausreichend Decken oder Felle und der Wind, vom Meer her, fegte über das Land. Auch Daphne hatte sich bereits einen dunklen Mantel zugelegt, dessen weite Kapuze sie sich tief ins Gesicht ziehen konnte, so wie sie ihre Vorräte durch ihr Siegel tatsächlich bei den Händlern per eine Art Schuldschein anschrieben ließ und dies ab da Tristans Problem war. In der vorerst letzten Nacht unter freien Himmel, zog Daphne ihre Decke weit über die Nase, während sie auf einem der neuen Felle lag. Es war einfach zu kalt und der Wind drückte sich durch jede Naht im Stoff. Eigentlich sollte sie es gewohnt sein, aber man war schnell von einem anderen Klima verwöhnt. Ihr fiel ein, dass es unweit ihres Rastplatzes einen Tempel gab. Normalerweise diente dieser meist der Beisetzung irgendwelcher hoher Verwandtschaften, aber man hätte ihn ja einmal zweckentfremden können. Dort begegnete man Leben und …
    Daphne hielt in ihren Gedanken inne. Da klingelte ein Glöckchen, aber noch konnte sie es nicht greifen. Tempel … Irgendwo war das Wort schon öfters gefallen.
    „Helen“, sprach sie und schreckte auf. Wenn die Nordmänner einen Gott des Lebens verehrten, dann gab es natürlich auch das Gegenstück dazu. Den Tod. Aber als unliebsame Angelegenheit befasste man sich mit ihm nur, den Zwilling, wenn es nicht anders ging. Wenn Helen und Xhar vielleicht eine Verbindung hatten, dass konnte Daryks Traum mit dieser ominösen Waffen vielleicht dort aufgeklärt werden. Schnurstracks zog sie sich an und schlich zum Zelt des Hünen. Unausgesprochen wollte sie die Tatsache nicht lassen, dass sie auch so einen Gott besaßen. Ganz vorsichtig näherte sie sich mitten in der Nacht dem Zelt und war froh, dass das Lagerfeuer noch glimmte. Dunkelheit in freier Natur war nicht ihr bester Freund. Sie lief einfach stur auf das Zelt zu, ohne nach links oder rechts zu schauen.
    „Daryk“, flüsterte sie bestimmt, aber so leise wie möglich.
    „Ja?“, erklang es neben ihr aus dem Schatten, weshalb Daphne einen Schrei unterdrücken musste. Der Ritter saß vor dem fast erloschenen Lagerfeuer, kaum sichtbar in seiner dunklen Rüstung und schnitzte an einem Stück Holz herum.
    „Willst du mich umbringen?“, krächzte die Prinzessin immer noch erschrocken.
    Monoton schaute er sie an und legte sein Werkzeug nieder.
    „Nein“, erwiderte er leise und fragte sie dann, ob etwas passiert sei. Aber das war es nicht. Naja, abgesehen von einem Fast-Herzinfarkt.
    Daphne ging auf ihn zu und hoffte niemanden geweckt zu haben, aber da niemand reagierte, war dies nicht der Fall gewesen.
    „Du hast mir doch vor längerer Zeit einmal von deinem Traum mit einer seltsamen Waffe und einem Tempel erzählt“, fuhr sie flüsternd fort. Wie so oft, drückte Daryk seine eigentlich Frage mehr durch Mimik, als durch Wort aus und beließ es bei einem einfachen: „Ja?“
    „Hier in der Nähe gibt es einen Tempel, der Rhenus gewidmet ist, aber nicht ihm allein, sondern auch seinem Zwillingsbruder Helen. So nennt man den Tod bei uns. Ich weiß nicht, aber ich dachte, du hättest vielleicht Interesse daran, das zu wissen.“
    Nun legte Daryk gänzlich seine Sache bei Seite und verschränkte die Arme vor seiner Brust. Er schien über etwas nachzudenken.
    „Wo?“, fragte er schließlich und Daphne zeigte nach Nordosten.
    „Vielleicht ein paar Minuten Fußweg. Er liegt direkt an der Grenze nach Delyveih.“
    „Kannst du mich hinführen?“
    „Wie jetzt noch?“, entgegnete die Heilerin unsicher und schaute sich um. Es war Nacht.
    „Morgen werden wir weiterreisen, oder?“, führte Daryk an und ja, der Weg würde um den Tempel herum führen.
    „Ja schon, nur ...“ Sie seufzte. „Nagut, aber wenn uns irgendetwas angreift, werde ich nicht zögern, dich zu opfern“, stellte sie scherzhaft klar.
    „In Ordnung“, erwiderte Daryk mit einem Lächeln und erhob sich von seinem Platz. Zusammen machten sie sich auf den Weg und das durch unwegsames Gelände. Der direkte Weg kam von Norden zu dem unheimlichen Ort, den Daphne gerne bei Nacht gemieden hätte und bei jedem Rascheln drehte sie sich um, bis sie die steinernen Säulen entdeckten, an denen bereits der Zahn der Zeit genagt hatten und einmal so etwas wie ein Eingang gewesen sein musste oder dies als Teile davon noch übrig waren.
    Daphne war fast fünfzehn Jahre nicht mehr in diesem Tempel gewesen. Zuletzt, als man ihre Großmutter beigesetzt hatte und selbst da mochte sie diesen Ort nicht oder war ihr in guter Erinnerung geblieben. Ihre Mutter musste dort drei Nächte übernachten, so war es Brauch, um Abschied zu nehmen, nachdem man sie verbrannt hatte. Die verrücktesten Geschichten erzählten so manche über die Nächte in diesem Gemäuer. Von Schattenspiele, bis zu göttlichen Erscheinungen oder, dass die Toten mit ihnen gesprochen hatten.
    Daphne stieg die steilen Stufen hinauf, wo nicht ein Vogel sang oder irgendein Tier gab einen Laut von sich. Und das konnte nicht nur daran liegen, dass es bereits tiefste Nacht war.
    Immer näher kam sie dem imposanten Eingang, der zwei Statuen zeigte. Einmal einen Mann zur Rechten, der Rhenus, obwohl er ihn verkörpern sollte, so gar nicht ähnlich sah. Das Haar war zu kurz, das Gesicht zu rund und eine Figur zur Linken, die einem Skelett glich. Dort reichten sich Leben und Tod die Hände. Zögerlich lief sie weiter, sodass sie von Daryk beinahe überholt wurde.
    „Vielleicht solltest du da reingehen und ich warte hier!“, murmelte die Heilerin, der immer unwohler beim Gedanken wurde, diesen düsteren Ort zu betreten. Sanft schob Daryk sie weiter die Treppen hinauf.
    „Das ist ebenso Rhenus´ Tempel“, antwortete er und zeigte, noch bevor die die Halle vor sich betraten, auf einen einsamen Brunnen, der mittig in der Halle prangte und von einem Loch in der Decke, durch den Mond beschienen wurde.
    „Gib doch einfach zu, dass du auch nicht alleine rein willst!“, schmollte die junge Frau scherzhaft vor sich hin und ging immer kleinere Schritte. Der Hüne erwiderte ihren Einwand bloß mit einem kurzen Lachen, was ihr auch nicht weiterhalf. Unter dem Rundbogen hindurch, setzte Daphne ihren ersten Fuß in die riesige Halle, deren Ecken in Finsternis getaucht waren und als sie den zweiten Fuß nachsetze, explodierten förmlich Fackeln ans den Wänden, die Daphne erschrocken Aufschreien ließen und sie instinktiv Schutz beim Hünen suchte. Aber bevor sie sich vom Schreck erholen konnte, begann laut plätschernd Wasser, durch das Loch in der Decke, direkt in den Brunnen zu fließen. Durch jede Ritze floss plötzlich Wasser und sammelte sich ringsherum um sie, wodurch nur wenige Felder zum Begehen übrigblieben. Bäume sprossen aus dem Boden, Weiden, die alles mit ihrem Vorhang aus Blättern schmückten, Blumen und Schwärme von Glühwürmchen erhellten unterhalb der Decke weiter den Raum. Als Daphne in die spiegelnde Oberfläche neben sich sah, leuchteten ihre Augen hellblau auf.
    „So sah es das letzte Mal hier nicht aus“, brachte sie nur heraus und sah sich um, wobei sie merkte, dass sie sich an Daryks linken Handschuh geklammert hatte. Der Hüne schaute zu ihr hinunter und lächelte sie an. Er schien sich nicht erschreckt zu haben.
    „Ist alles in Ordnung?“, versicherte er sich bei ihr, weshalb sie den Arm räuspernd losließ.
    „Natürlich!“, entgegnete Daphne. „Ich betrete ja jeden Tag Tempel, die förmlich zu leben anfangen, wenn man hineingeht.“
    Ihre sarkastische Antwort war ebenfalls von einem zaghaften Lächeln geprägt und sie wandte ihren Blick gerade aus, wo ein erneuter Rundbogen den Raum kennzeichnete, wo man auch ihre Großmutter aufgebahrt hatte. Dort, wo Leben und Tod sich die Hände reichten. Der Übergang.
    Wenn wir zum Tod wollen, müssen wir weitergehen“, gab sie bedenken und zeigte geradeaus. Daryk nickte und es dauerte keinen Wimpernschlag, da setzte er sich in Bewegung.
    „Dann los!“
    Dann los ...“, wiederholte Daphne in ihren Gedanken. Das sagte der furchtlose Ritter so einfach, der mit Finsternis und Schrecken keine Probleme hatte, im Gegensatz zu ihr.
    Als nächstes betraten sie einen fast leeren Raum, wo die Decke so weit hoch reichte, dass man diese kaum sehen konnte. Nur die riesigen Statuen vom Leben und Tod beherrschten die Dunkelheit und durchbrachen jene mit ihrem hellen Marmorgestein. Beide waren einander zugewandt, und wo bei Rhenus das Wasser zu Boden fiel, brannte bei Xhar, den sie in Delyveih nur Helen nannten, ein Feuer in einer Wanne. Dies signalisierte den Nordmännern ihr Vorgehen. Sie übergaben der See die Toten und verbrannten sie mit brennenden Pfeilen. Dort standen sich die Zwillinge direkt gegenüber, die gegensätzlicher nicht sein konnten, aber zutiefst verbunden waren.
    Als sie auch diese Halle durchquerten, fragte sich Daphne, ob es eine gute Idee war, dort hinzugehen.
    „Daryk, vielleicht sollten wir umkehren“, wandte sie sich daher an den Hünen. Daryk drehte sich um und blieb kurz stehen. Ein Lächeln zierte sein Gesicht und er antwortete: „Ich passe schon auf dich auf!“
    Normalerweise hätte sie das beruhigt, aber angesichts dessen, dass sie an einem seltsamen Ort mit seltsamer Magie waren, befürchtete sie, dass selbst seine Kraft dagegen machtlos sein würde, was da kam. Sie lief weiter und bevor sie unter den Statuen hindurch waren, stieg Wasser neben ihnen, aus einer Rinne, empor und formte die Gestalt von Rhenus, der umgehend seine Urenkelin am Weitergehen hinderte. Er streckte seinen Arm aus und versperrte damit Daphne den Weg.
    „Nicht“, sprach der Gott des Lebens und sein Blick haftete dabei auf den Hünen. „Das dort ist kein Platz für uns.“
    Verwirrt schaute die Heilerin drein, als der Gott auftauchte.
    „Großvater …“, entwich ihr, für was sie sich am liebsten selbst geohrfeigt hätte. Er war ihr Ahne, aber dann doch nicht so nah. Rhenus entlockte dies nur ein Lächeln. Vermutlich war er lange nicht mehr so genannt worden, sah er ja nur wenige Jahre älter aus als Daphne.
    Daryks Blick haftete auf beiden und Verwirrung machte sich darin breit.
    „Großvater?“, wiederholte er den Ausrutscher der Heilerin. Rhenus nickte.
    „Im Grunde bin ich das“, antwortete der Gott des Lebens, „wenn auch etwas entfernter. Sie ist mein Blut und deswegen solltest du dir genau überlegen, was du tust. Mein Bruder gibt nichts umsonst her, das hat er mir mit Daphne allein bewiesen.“ Betreten nickte Daryk.
    „Dann gehe ich wohl alleine weiter“, erwiderte er, was Daphne dazu brachte, sich dem Arm ihres Großvaters zu widersetzen.
    „Das kommt gar nicht infrage!“, entgegnete sie. „Wir kamen zusammen her und gehen zusammen.“
    „Es ist seine Prüfung“, sprach Rhenus, als sich Daphne vor Daryk stellte. „Xhar wird unsere Anwesenheit nicht dulden!“
    "Hör auf deinen ... Großvater“, wandte Daryk ein. „Der Tempel des Todes ist kein Platz für dich."
    „Das ist mir egal!“, begann Daphne zu schimpfen. „Ich kenne den Tod besser als ihr beide zusammen, also erzählt mir nicht, wohin ich gehöre.“
    „Eben drum“, meinte Rhenus. „Es hat mich sein Leben gekostet, dich zu retten. Lass ihn gehen!“
    Daphne erinnerte sich an seine Worte an der Mauer. Dass Daryk und er in anderer Verbindung miteinander standen, als miteinander verwandt zu sein. Es gab nur eine Verbindung, die in diesem Fall griff – Rhenus hatte ihn vor dem Tod bewahrt.
    „Mein Leben?“, unterbrach Daryk die Blicke der beiden, die sich ihm zuwandten.
    „Als Säugling rettete ich dich, dafür versprach mir mein Bruder ein Leben. Ich habe meine Enkelin gewählt, nun ist es an dir, deinen Weg zu suchen, aber behalte die Worte an der Mauer in deinem Gedächtnis. Enttäusche mich nicht!“
    Daryk konnte wohl mit den Fetzen an Informationen nicht viel anfangen, ebenso wenig wie Daphne selbst. Der Hüne wandte sich bloß von ihnen ab und ließ ein kurzes: „Bis gleich“, folgen, ehe er sich in Bewegung setzte.
    „Nein!“, stieß die Heilerin aus, wurde aber an ihrem Arm von Rhenus festgehalten.
    „Vertraue uns etwas!“, flüsterte der Gott seiner Nachfahrin zu, die absolut nicht mit dessen Vorgehen einverstanden schien.
    „Warum tut ihr das?“, schrie sie.
    „Weil uns keine Wahl bleibt!“, erwiderte er geradezu verzweifelt. „Ich habe tausende Leben gesehen, tausende Möglichkeiten, aber diese ist die beste von allen.“
    „Du kommst daher und mischst dich in mein Leben ein!“, dementierte sie seine Ansicht. „Du gibst mir diese Kräfte und stellst einen Kampf in Aussicht, den ich anscheinend nicht gewinnen kann.“
    „Einen Kampf?“, verlangte Rhenus zu wissen.
    „Den in Delyveih“, sprach Daphne. „Den von dem du mir nichts erzählt hast, aber die Frau hinter der Schranktür. Die, die behauptet ich sei eine Tochter.“
    „Isidora ...“, nannte Rhenus die Frau beim Namen und schloss dabei seine Augen, als ihm klar wurde, dass sie es gewesen sein musste, die Daphne dies verraten hatte. „Du verstehst das falsch. Du hast sehr wohl eine Chance, aber dazu musst du mir vertrauen.“
    Wütend schaute die Heilerin den Gott in die traurigen Augen. Sie schwieg zunächst, nickte aber zum Schluss.
    „Vertrauen, na schön, aber dies stelle ich dir voraus. Verdient habt ihr alles es nicht.“
    Sie wäre wohl keine Götter, wenn sie nicht richtig entschieden.
    Xhar hat ihn vor langer Zeit auserwählt, mich gebeten, ihn zu retten … Er wird ihn nicht ohne Weiteres sterben lassen“, ergänze Rhenus und ließ ihren Arm los. „Deine Kräfte werden mit dir wachsen, du musst nur genau hinsehen. Heilen bedeutet nicht nur Wunden zu schließen. Dein Einfluss auf andere kann größer sein, als du glaubst, du musst es nur wollen und spüren lernen.“
    Kaum merklich schüttelte sie ihren Kopf und verstand nicht, was er damit meinte.
    „Du hast bereits begonnen Albträume zu verdrängen, baue darauf auf und du kannst noch mehr bewirken. Baue Dämme, wo keine mehr sind, reiße Mauern ein, um andere von ihnen zu befreien. Nicht der Krieg ist meine Gabe an dich, sondern das Heilen der Übriggebliebenen. Manchmal geht es nicht anders, das weiß ich, aber zum Töten sind wir nicht gemacht und waren es nie.“
    Daphne warf ihre Stirn in Falten. Albträume verdrängen? Meinte er etwa damit die von Daryk? Sonst kannte sie niemanden, der unter solchen Schlafstörungen litt wie der Hüne. Sie hatte Einfluss darauf? Aber sie hat nie irgendetwas Derartiges vernommen oder absichtlich angewandt, geschweige daran gedacht.
    Plötzlich unterbrach ein markerschütternder Schrei die beiden, die Daphne sofort bekannt vorkam. Es war die Stimme von Daryk, die sich anhörte, was erlitt er Schmerzen.
    „Nicht ohne Weiteres, hast du gesagt“, spie ihm Daphne entgegen und wandte sich schnurstracks von ihm ab.
    „Bleib hier!“, rief Rhenus ihr nach, aber sie dachte nicht daran. Sie hielt erst an, als sie, nach einem düsteren Tunnel, vor der steinernen Wand stand, hinter die Daryk verschwunden war. Ein Becken und Blut deutete an, dass dort irgendwas gemacht werden sollte, aber die Heilerin trug weder ein Messer mit sich noch etwas anderes Spitzes. Zu ihrem Glück spürte sie einen Luftzug an ihren Beinen. Der Durchgang war nich gänzlich dicht, was sie umgehend dazu brachte, sich aufzulösen und durch den schmalen Spalt zu fließen. Auf der anderen Seite brannten mehrere Schalen am Ende eines von einem Abgrund begleitenden Weges, wo sie sich noch in Wasserform hinbegab, ehe sie sich an dessen Ende wieder zurückverwandelte. Eine berennende Schale mit einer skelettartigen Figur begrüßte sie auf einer Art Plattform, ehe sie den rauchenden Hünen am Boden entdeckte. Geschockt stand sie einige Sekunden da, ehe sie sich sicher war, dass dies Xhar sein musste. Der Tod. In Sekundenschnelle versuchte sie sich die Worte ihres Urgroßvaters ins Gedächtnis zu rufen, dass man Daryk nicht töten würde, aber das sah irgendwie anders aus. Die Furcht vor der Gestalt hinunterschluckend, rannte sie auf Daryk zu und kniete sich zu ihm hinunter. Sie fasste umgehend die schimmernde, schwarze Rüstung an, wobei sie sich verbrannte.
    „Was hast du mit ihm gemacht?“, schrie sie den Gott des Todes mit recht wenig Ehrfurcht an und betrachtete ihre geröteten Hände. Bei einem Blick auf Daryk, kam sie nicht umhin zu bemerken, dass man ihn irgendwie erneut gebrandmarkt hatte. Eine dunkle Linie setzte sich an seinem Hals ab, die bis zum Kinn führte, der Rest wurde von der glühend heißen Rüstung verdeckt. Eilig legte sie ihm ihre Hand auf die Stirn, aber da war weder ein Fluss noch etwas anderes. Erneut konnte sie den Mann vor sich nicht heilen, der kaum noch zu atmen schien.
    „Hilf ihm!“, brüllte Daphne erneut die hagere Gestalt an, die sie und Daryk bei Weitem überragte.
    „Ich kann nicht!“, raunte die Stimme des Gottes, woraufhin sich sie sich die Ohren zuhalten musste. Xhar klang für sie wie das Kratzen mit einem Stein auf Porzellan.
    Du hast es ihm doch angetan, also hilf ihm!“, erwiderte sie lautstark und befürchtete, seine Stimme wieder zu hören.
    „Ich gab ihm die Wahl. Leben oder Tod. Er muss selbst entscheiden!“
    Daphne riss ihre Augen auf. Eine Wahl? Umgehend prüfte sie die Rüstung noch einmal, die irgendwie bereits erkaltet war. Vermutlich deswegen, weil er nicht von einem normalen Feuer ergriffen worden war. Vorsichtig nahm hob sie Daryks Kopf an und legte ihn auf ihren Schoß.
    „Ich habe dich nicht so oft vor dem Tod bewahrt, dass du dich jetzt vor so eine dämliche Wahl stellen lässt und die falsche Seite wählst, hast du verstanden?! Dann hätte ich dich schon bei unserer ersten Begegnung sterben lassen können, lange Zeit bevor ...“ Sie brach ab und richtete ihren Blick wieder Xhar zu.
    „Man muss doch irgendetwas tun können?“, wich ihr verzweifelt über die Lippen.
    Ich bin nicht derjenige mit dem Einfluss“, entgegnete ihr der Tod kalt und spielte anscheinend auf die Worte seines Bruder an. Aber wie konnte ...
    „Ich spüre aber nichts!“, wurde ihr Ton immer wimmernder.
    „Du fühlst genug. Zeig ihm den Weg!“
    Xhars Blick ruhte auf ihr, als sie wieder hinuntersah und nachdachte.
    „Nur“, fuhr der Gott fort. „sollte ihm bei Gelingen deiner Tat, nicht das blanke Leben begrüßen! In meinen Hallen trägt man schwarz!“
    Aus den Fingern seiner ausgestreckten, rechten Hand waberte umgehend Rauch, der Daphne wie ein Schleier umgab, ehe er sich wie eine zweite Haut an ihren Körper legte. Als sich dieser verflüchtigte, trug sie ein pechschwarzes Kleid, welches weniger bedeckte, als es zeigte. Nur an den wichtigsten Stellen, war der Stoff so dick, dass man nichts sah, der Rest mehr in Spitze gehüllt, die sich bis zur pechschwarzen Schleppe zog.
    Ohne Widerworte, nahm sie die Kleiderwahl des Todes hin, dem sie eigentlich hätte dankbar sein müssen.
    Vorsichtig strich sie sich ein paar Strähnen hinter ihr Ohr, um sich dann zum Hünen hinunter zu beugen und ihm etwas zuflüstern zu können.
    Kaum hatte sie das getan, atmete Daryk plötzlich tief ein und riss seine Augen auf. Daphne schreckte kurz zurück und sah ihn dann an, wobei ihr vereinzelt Tränen der Erleichterung über die die Wange rannten.
    Warum muss man sich um dich ständig sorgen?!“, fragte sie wimmernd und sah, dass er angestrengt lächelte.
    „In meinem Traum hat das weniger wehgetan“, nuschelte er und ließ sich beim langsamen Aufstehen helfen.

    • Offizieller Beitrag

    Nach nur wenigen Schritten durch den Torbogen zum hinteren Teil des Tempels war von dem bisschen Licht, dass die Hallen des Lebens erleuchtet hatte nichts mehr zu sehen und Daryk stand in der Finsternis. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Angst vor der Dunkelheit hatte er nicht, aber das war noch kein Grund gegen eine Wand zu laufen, oder eine Fallgrube zu übersehen. Schritt für Schritt schob er sich durch den finsteren Gang vorwärts, die Arme nach vorn gestreckt, um Hindernisse zu ertasten.
    Nach einiger Zeit wusste er nicht mehr, wie lange, oder wie weit er schon gegangen war, aber ein Blick über die Schulter zeigte den Rest des Lichts dass durch den Torbogen fiel. Klein und unbedeutend schien der Eingang zu Xhars Tempel nun zu sein, war er doch vorhin noch so imposant.
    Unvermutet trafen die Hände des Ritters auf etwas Festes. Sofort blieb er stehen, zog den rechten Handschuh seiner Rüstung aus und strich mit der Hand über die Fläche, die sich vor ihm aufgetan hatte. Holz. Daryk führ am hölzernen Hindernis entlang und stellte bald fest, dass es eine Tür war, welche allerdings keine Klinke besaß. Mit einem kurzen Rütteln bestätigte der Hüne seine Vermutung, dass sie sich nicht ohne weiteres öffnen lassen würde. Im Zentrum der Pforte ertastete er einen schweren, metallenen Ring. Ohne zu zögern hob er ihn an und lies ihn dreimal gegen die Türe krachen. Kaum war der Türklopfer das dritte Mal an das Holz geschlagen, entzündete sich ein kleines Kohlebecken rechts neben der Türe und das blutrote, schwarz durchzogene Höllenfeuer des Herrn des Todes tauchte den Gang in ein unnatürlich dunkles Licht. Ebenso blutrote Runen erschienen auf der Tür und Daryk erkannte sie sofort. Es waren die Zeichen für „Feuer“, „Blut“, und „Opfer“. Lächelnd zog er den Dolch aus seinem Stiefelschaft. Er wusste was zu tun war.
    Da die übliche Stelle für den Schnitt von seiner Rüstung verdeckt war, nahm er den Dolch in die linke Hand und führte die Klinge über den Ballen der rechten. Schnell hielt er die verletzte Hand über das Kohlebecken und lies einige Tropfen in hineinfallen. Mehrmals öffnete und schloss er die blutende Hand um seine Opfergabe darzubringen.
    Als die ersten Tropfen im Höllenfeuer verdampften ertönte ein tiefes Dröhnen aus dem inneren des Tempels und die hölzerne Türe zitterte. Nach einigen weiteren Tropfen schwang sie plötzlich auf und gab den Weg frei. Daryk ließ die Hand sinken und schritt hindurch.
    Sofort knallte die Tür hinter ihm wieder ins Schloss und sperrte das bisschen Licht, welches das Kohlebecken gespendet hatte wieder aus. Die Finsternis im Tempel war unbeschreiblich. Beinahe greifbar war sie, ebenso wie die Stille.
    Einen Schritt tat Daryk nach vorne und der Klang seines Stiefels auf dem steinernen Boden schallte durch die Luft. Dem Echo nach zu urteilen, befand er sich in einem riesigen Raum und er ahnte, dass das Herz des Tempels noch eine Überraschung für ihn bereithielt.
    Vorsichtig machte er einen zweiten Schritt und prüfte den Untergrund, bevor er sein Gewicht auf den Fuß verlagerte.
    Plötzlich entzündeten sich mehrere Fackeln und Kohlenbecken mit Xhars unheiligem Feuer und erleuchteten den Tempel. Das Gewölbe war in der Tat riesig und wurde von sechs mächtigen Säulen getragen, jeweils drei auf jeder Seite. Ein einzelner, etwa zwei Meter breiter Steg führte von der Plattform auf der Daryk gerade stand zu einer zweiten im hinteren Drittel des Raumes, auf welcher ein riesiges Kohlebecken vor einer Statue Xhars stand. Zögerlich trat Daryk an den Rand des Stegs und sah hinab in den Abgrund. Wenige Meter weit reichte das Licht der Fackeln, bevor die Dunkelheit wieder die Oberhand gewann und den Weg ins Nichts verschleierte. Er hatte keine Ahnung, wie tief es da hinunterging, oder was dort unten war, aber er hatte nicht vor, es herauszufinden. Schnell machte er einen Schritt zurück und bemühte sich, in der Mitte des Stegs zu bleiben. Mit bedächtigen Schritten ging er auf die Statue seines Gottes zu, welche die Arme, wie zum Empfang, ausgebreitet hatte. Je näher er kam, desto imposanter ragte die Statue vor ihm in die Höhe. Als er am Kohlebecken angekommen war, hob er wieder die verletzte Hand und hielt sie über die Flammen. Bereits der erste Tropfen seines Blutes genügte, um das Erscheinen des Herrn des Todes einzuläuten.
    Wie einst in Habgers Haus erwuchs eine Feuerkugel aus dem Flammen, welche aber zu einer ungeahnten Größe Anwuchs. Erneut pulsierte der Feuerball und Xhars schattenhafte Gestalt erwuchs aus ihr. Gewaltig, wie ein Berg über das Tal, ragte der brennende Körper des Gottes über der Plattform in das Gewölbe. Ehrfürchtig betrachtete Daryk das Spektakel und kniete nieder. Mit gesenktem Kopf wartete er, bis Xhar sich seiner annahm.
    „Erhebe dich, Todesritter“, sprach er mit seiner dämonischen Stimme, die trotz allem irgendwie schön klang.
    Schweigend folgte der Ritter dem Befehl seines Herrn und blickte hinauf in das Antlitz des Todes.
    „Die Zeit ist gekommen“, meinte Xhar und mit einer kleinen Bewegung seiner Hand ließ er Seelenspalter in seiner Hand erscheinen. Auch wenn die Waffe in den Fingern des Gottes wie ein Spielzeug aussah, konnte Daryk die Macht, die in dieser Waffe steckte, spürten. Langsam schwebte der Sponton zu Boden und blieb vor dem Ritter in der Luft stehen. Andächtig musterte dieser die blutrot leuchtenden Runen, die in dem schwarzen Stahl der Klinge eingraviert waren. „Feuer“, „Tod“, „Feind“ und „Seele“ stand dort geschrieben. Xhars unheiliges Feuer loderte um die Klinge herum und Daryk spürte die Hitze, die von ihm ausging.
    Als er nach dem schwarzen Schaft der Waffe greifen wollte, erlosch das Feuer und das Leuchten der Runen plötzlich und Daryk zog die Hand zurück. Irgendetwas stimmte nicht.
    „Die Macht über Feuer und Tod hat ihren Preis!“, mahnte Xhar seinen Auserwählten, „eine Seele muss geopfert werden um die Waffe zu entzünden!“
    Verwirrt blickte Daryk zu seinem Gott auf und fragte: „Welche, Herr?“
    „Das ist deine Entscheidung, Todesritter“
    , erwiderte Xhar, „triff deine Wahl und bring mir, was mein ist!“
    Der schwarze Ritter richtete seinen Blick auf den Boden. Xhar konnte nur Daphne meinen, denn sie war gestorben und damit rechtmäßig „sein“. Dass sie noch im Reich der Lebenden wandelte, kam einer Beleidigung des Herrn des Todes gleich.
    „Nein“, flüsterte er, „das darf nicht sein!“
    Fieberhaft überlegte er, suchte nach einer Möglichkeit, es zu verhindern und dachte an die Worte, die Rhenus in der Schlacht an ihn gerichtet hatte. „Enttäusche meinen Bruder nicht. Aber vor allem, enttäusche mich nicht!“, hatte der Gott des Wassers und des Lebens gefordert. Nachdenklich kratzte Daryk sich am Kopf. Beides gleichzeitig zu erfüllen war unmöglich, denn er glaubte nicht, dass es im Sinne von Xhars Bruder war, Daphnes Seele zu opfern. Oder hatte er sie etwa genau deshalb zurückgeschickt? Nein, das machte auch keinen Sinn. Die Wasserleiche in Daphnes Zimmer hatte ihm gesagt, er solle sie nicht alleine lassen und dass ihr ein Kampf bevorstünde. Das machte ebenso keinen Sinn, wenn er sie nun opfern sollte. Es blieb also nur eine Möglichkeit: Daphne war nicht gemeint.
    Doch eine andere Seele war hier nicht und Daryk blickte seinen Herrn erneut fragend an. „Hier ist keine Seele, die in Frage kommt, Herr“, flüsterte er unsicher.
    Xhars lachen erfüllte den Raum. „Gut erkannt, Todesritter“, lobte er und warf eine Nebelwolke neben Daryk auf den Boden. Wenige Sekunden später standen Khyla und Lyenne neben ihm und lächelten ihn an. Mit offenem Mund starrte er seine Familie an und fragte sich, ob er schon wieder träumte. Wie versteinert stand er da und wartete ab, was geschehen würde.
    „Hallo, Liebster“, flüsterte Khyla schließlich, aber er konnte noch immer nicht glauben, dass sie vor ihm standen. Erst, als Lyenne zu ihm gelaufen kam und sein Bein umklammerte, wie sie es immer getan hatte, wenn er nach Hause gekommen war, löste er sich aus der Starre. Vorsichtig, als wäre sie zerbrechlich, streichelte er ihr über den Kopf und langsam begriff er, dass Xhar ihm wirklich gestattete seine Familie zu sehen. Seine Tochter lies sein Bein los und er kniete sich zu ihr hinunter und nahm sie in den Arm. Stumm stand sie da, erwiderte die Umarmung und Daryk spürte eine Hand auf seiner Schulter. Khyla stand lächelnd neben ihm und er erhob sich wieder, um sie ebenfalls in die Arme zu schließen.
    Nach all der Zeit war er wieder mit ihnen vereint, aber dennoch spürte er, dass dies nicht so bleiben würde.
    „Triff deine Wahl!“, forderte Xhar erneut und Daryk sah zu der brennenden Gestalt auf, „Leben oder Tod?“
    Khyla sah ihm in die Augen und meinte sanft: „Du weißt, wohin du gehörst!“
    Sofort wurde er an den Alptraum zurückerinnert, in dem seine Tochter gefordert hatte, dass er zu seiner Familie kommen sollte.
    „Nein“, hauchte das kleine Mädchen mit einem Kopfschütteln, „deine Zeit mit uns ist vorüber!“
    Es schien fast, als wüsste sie, was er dachte, aber wie konnte sie? Allerdings stand sie auch vor ihm, was ebenso unmöglich sein sollte.
    „Warum quälst du dich selbst so, Daryk?“, fragte Khyla liebevoll, „Warum kannst du uns nicht loslassen?“
    Betreten sah der Hüne zu Boden. „Ihr wart mein ein und alles…“, flüsterte er, „und wenn ich euch gehen lasse…“
    „…bist du frei, dein Leben ohne Kummer zu leben!“, unterbrach ihn seine Frau, „du verrätst uns nicht! Du hast dein Leben noch vor dir, wirf es nicht weg!“
    Lyenne nahm seine Hand und lehnte ihre Wange dagegen. An seine Hand gekuschelt flüsterte sie: „Es ist nicht deine Schuld, was mit uns geschehen ist.“
    Unsicher sah Daryk seine Tochter an und antwortete: „Wenn ich damals gestanden hätte, wenn ich getan hätte, was sie von mir verlangt haben, dann…“
    „…hätte das nichts geändert“
    , unterbrach Khyla ihn wieder, „glaubst du sie hätten uns leben lassen? Uns, die Familie eines geständigen Verräters und Königsmörders?“
    Der Ritter wusste, dass sie Recht hatte, denn Verrat an der Krone war das am schwersten bestrafte Verbrechen in seiner Heimat und verdammte nicht nur den Täter, sondern auch seine Familie. Dennoch hatte er sich all die Jahre eingeredet, dass er es hätte verhindern können.
    Er spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen als er zögerlich den Kopf schüttelte und endlich die Erleichterung seines Gewissens verspürte, nach der er sich so lange gesehnt hatte.
    Khyla löste sich sanft aus seiner Umarmung, nahm ihn an der Hand und ging mit ihm zusammen zu dem immer noch in der Luft schwebenden Sponton hinüber.
    „Es ist Zeit“, sagte sie mit Blick in seine Augen.
    Verwirrt blinzelte er sie an. „Zeit? Wofür?“, hörte er sich sagen.
    Der Blick seiner toten Ehefrau wanderte zu der Waffe. „Deine Wahl zu treffen“, meinte sie lächelnd und versprach: „Wir werden immer bei dir sein!“
    Daryk brauchte einige Sekunden, bevor er erkannte, was seine Frau da von ihm verlangte.
    „Ich kann euch nicht opfern!“, widersprach er und schüttelte vehement den Kopf.
    Nachdem sie auch seine andere Hand ergriffen hatte, sah Khyla noch einmal zu ihm auf, lächelte und flüsterte: „Es ist die einzige Möglichkeit, sie zu retten.“
    Sofort wusste Daryk, dass Daphne gemeint war. Er wollte etwas dagegen sagen, aber seine Tochter kam ihm zuvor: „Wir werden immer bei dir sein Vater.“
    Nun erhob auch Xhar seine tiefe Stimme und beruhigte Daryk: „Sie werden nicht vergehen. Du wirst sie bei jedem deiner Schritte mit dir tragen.“
    Langsam begann der Ritter, das unvermeidbare zu akzeptieren und nickte unmerklich.
    „Du musst es sagen“, forderte Khyla und drückte seine Hände.
    Er nahm einen tiefen Atemzug und blickte zu Xhars beeindruckender Gestalt auf.
    Er verdrängte den letzten Zweifel und sagte mit zitternder Stimme: „Ich wähle die Seelen meiner Familie um die Flamme zu nähren.“
    Xhar hielt seine Hand über die drei und meinte: „So sei es!“
    Sofort wurde Daryks Familie von dem blutroten Höllenfeuer umschlossen und ohne, dass die beiden noch ein Wort von sich geben konnten, verschlangen die Flammen alles, was von Daryks altem Leben noch übrig war.
    Mit Tränen in den Augen starrte Daryk die Klinge der Waffe an. Die Runen begannen wieder zu leuchten und das Feuer entzündete sich von neuem.
    „Nimm, was dir zusteht!“, hörte er die Stimme seines Herrn sagen und machte einen Schritt auf den Sponton zu. Wieder streckte er die Hand danach aus, aber diesmal erloschen die Flammen nicht und als seine Hand den Schaft der Waffe umschloss, spürte er umgehend die Anwesenheit seiner Familie.
    Daryk wollte sein neues Eigentum zu sich nehmen, konnte Seelenspalter aber kein Stück bewegen. Loslassen allerdings, konnte er den Griff auch nicht, denn schwarze Tentakel waren aus dem Schaft gewachsen und umschlungen seine Hand. Langsam krochen sie seinem Arm hinauf, über die Rüstung und als sie an seiner Schulter angekommen waren, begannen sie, nach Brust, Rücken und Hals zu greifen.
    Der Todesritter wusste nicht, was das bezwecken sollte, aber er akzeptierte es.
    Ruckartig zogen die Tentakel den Griff um seinen Arm und Oberkörper enger, was einen stechenden Schmerz durch den Körper des Hünen schickte.
    Plötzlich entzündeten sich die schwarzen Tentakel und brannten mit Xhars unheiligem Feuer. Unerwartet kam der sengende Schmerz und ließ Daryk schreiend auf die Knie fallen.
    Keine Folter dieser Welt war mit den Qualen, die das Höllenfeuer brachte zu vergleichen.
    Die Hitze ließ den Stahl der Rüstung schmelzen und Daryk sah das glühende Metall zu Boden tropfen.
    Noch immer kniete er mit brennendem Arm vor dem Sponton und seine Schmerzensschreie schallten durch den Tempel des Todes.
    „Nun wähle!“, rief Xhar über das brüllen der Flammen hinweg, „Leben oder Tod?“
    Kaum hatte der Gott zu Ende gesprochen, breitete sich das Feuer über Daryks ganzen Körper aus und die peinigenden Flammen raubten ihm langsam das Bewusstsein. Immer heißer spürte er das dunkle Feuer auf seiner Haut, hörte das toben der Flammen und sah Xhars Antlitz verschwimmen, bis sein Bewusstsein einmal mehr in Dunkelheit versank.

    Diesmal war es anders. Er sah keine Alpträume, keine schrecklichen Visionen seiner Familie oder anderer geliebter Menschen wie sie starben oder auf andere Weise zu Schaden kamen. Er sah nichts. Absolut gar nichts. Nur Dunkelheit umgab ihn, kein Leuchten, kein kleines Licht das ihn irgendwo hinführen konnte. Daryks Sinne waren wie betäubt, denn er spürte auch keinen Schmerz des Feuers, das ihn verbrannt hatte, oder hörte die Flammen um sich lodern.
    Einzig die Stimme des Herrn der Toten war zu hören: „Wähle! Leben oder Tod? Akzeptiere das Feuer als einen Teil von dir, oder werde von ihm verzehrt!“
    „Ich akzeptiere es!“
    , brüllte Daryk in die Finsternis und fühlte sofort eine Hitze in sich aufsteigen, die sich aber machtvoll anfühlte.
    „Wähle! Leben oder Tod?“, forderte Xhar erneut, diesmal energischer.
    Daryks Gedanken drehten sich darum, wie er sich vor ein paar Wochen nichts sehnlicher gewünscht hatte, als diese Frage gestellt zu kriegen, um sie dann mit einem „Tod“ zu beantworten. Aber seitdem hatte sich einiges geändert. Er war nicht mehr alleine und hatte neue… Freunde gefunden. Dennoch fragte er sich, ob er sich den Schmerz der Abweisung und des erneuten Verlusts antun wollte.
    Dann hörte er eine Stimme aus der Ferne. Dumpf und leise drang sie, wie durch Wasser an seine Ohren. Er konnte keine Worte ausmachen, aber war sich sicher, dass es Daphnes Stimme war, die mit ihm redete.
    „…Daryk“, hörte er Daphne gedämpft seinen Namen sagen. Sie rief nach ihm, warum wusste er nicht, aber es genügte ihm.
    „Leben!“, rief er Xhars körperloser Stimme bestimmt zu.

    Er nahm einen tiefen Atemzug, riss die Augen auf und blickte in die braunen Rehaugen der kleinen Heilerin, die ihn durch einen Schleier aus Tränen anglitzerten. Er bemerkte, dass sein Kopf auf ihrem Schoß lag und sie stieß ein befreites Lachen aus.
    „Warum muss man sich um dich ständig sorgen?!“
    , fragte sie sichtbar erleichtert.
    Mühsam lächelte er sie an und krächzte: „In meinem Traum hat das weniger wehgetan.“
    Daphne half ihm, sich aufzusetzen und er betrachtete seine Arme und seine Brust. Überrascht stellte er fest, dass er seine Rüstung trug, obwohl er hätte schwören können, dass sie zerstört worden war. Ebenso überraschend war aber die Tatsache, dass er sie nicht spürte und weder ihr Gewicht, noch ihre Berührungen wahrnahm. Der schwarze Plattenpanzer, der ein Geschenk von Daphne gewesen war, fühlte sich an, wie ein Teil von ihm, als wäre er ein Teil seines Körpers. Der Todesritter starrte seine gepanzerte rechte Hand an und stellte sich vor, wie der Panzerhandschuh verschwand.
    Kaum hatte er den Gedanken gefasst, geschah genau das und der Handschutz verbrannte förmlich an seiner Hand, welche schwarz und mit blutroten Runen verziert war. Bedächtig öffnete und schloss er die Finger und mit einem weiteren Gedanken hatte er eine kleine Kugel aus Xhars unheiligem Feuer in der Hand.
    Daphne wich einen Schritt zurück und sah ihn fragend von der Seite an. Erst jetzt bemerkte er, dass sie ein schwarzes Kleid, anstelle ihrer Alltagskleidung trug. Schnell ließ er den Feuerball erlöschen und den Handschuh seiner Rüstung aus dem Höllenfeuer erscheinen.
    „Die Macht über Feuer und Tod…“, wiederholte Daryk die Worte, die Xhar in Habgers Haus an ihn gerichtet hatte, „er hat sie mir … gegeben.“
    Er stand vom Boden des Tempels auf, richtete seinen Blick zurück zu Daphne und betrachtete das Kleid, das Daphne ausgezeichnet stand.
    Die Heilerin schien seinen verwirrten Blick zu bemerken und erklärte: „Die Tür war verschlossen, also nutzte ich die Spalten, um hierher zu gelangen.“ Sie pausierte kurz und warf ihm einen Blick zu, der aussagte, dass er wisse, was das bedeutete. Er hatte mitbekommen, dass sich ihre Kleidung nicht mit verflüssigte, also war sie wohl ohne reingekommen.
    „Helen oder eher Xhar war nicht davon begeistert, dass das blanke Leben in seinen Hallen stand!“, fuhr sie leicht errötend fort, was Daryk mit einem unterdrückten Grinsen quittierte. Ein kurzen räuspern später kam sie zum eigentlichen Thema zurück: „Die Götter besitzen seltsame Arten, ihre Kräfte weiterzugeben. Einen lassen sie sterben, den anderen brennen ...“
    Der schwarze Ritter nickte kurz und testete, ob der Rest der Rüstung sich ebenso kontrollieren ließ. Sofort verschwanden auch die anderen Rüstungsteile im Feuer und Daryk stand mit nacktem Oberkörper vor Daphne, die ihn mit weit aufgerissenen Augen musterte. An den Stellen, an denen die Tentakel gesessen hatten, war die haut schwarz verfärbt und von den gleichen blutroten Runen verziert, wie seine Hand und die Klinge des Spontons. Sie kam zu ihm gelaufen und fuhr fasziniert mit der Hand über die Zeichnungen Xhars.
    „Was hat er mit dir gemacht?“, wollte sie leise wissen, drehte sich dann zu Xhar um und fragte: „Was habt ihr vor? Noch nie haben sich Götter dermaßen in die Geschicke der Menschen eingemischt!“
    Der Gott des Todes sprach mit seiner dämonischen Stimme, aus der alles schöne verschwunden war: „Bist du sicher, Prinzessin?“ Eine kurze Pause folgte, um Daphne Zeit zum Nachdenken zu geben, aber bevor sie dazu kam auch tatsächlich zu antworten wandte er sich an Daryk und fuhr er fort: „Ich habe dir die Macht über Feuer und Tod gegeben. Mein unheiliges Feuer wird dir gehorchen und Seelenspalter nach deinen Wünschen erscheinen und verschwinden, ebenso wie deine Rüstung.“
    Als Xhar die Rüstung erwähnte, wandte er sich noch einmal an Daphne und meinte: „Gute Wahl, Prinzessin.“ Diese lächelte verlegen und murmelte etwas über Xhars Auswahl für Daphnes Kleid. Daryk zeigte keine Reaktion. Er fand das Kleid gut gewählt.
    „Ebenso wirst du durch das Reich der Toten wandeln können und die lebenden Toten… befreien. Was das bedeutet wirst du selbst herausfinden“, ergänzte Xhar, wieder an Daryk gerichtet.
    Was unser Vorhaben angeht, Prinzessin“, fuhr er zu guter Letzt noch einmal an Daphne gewandt fort, „das wird sich euch noch früh genug erschließen.“
    Beleidigt, keine befriedigende Antwort erhalten zu haben, verschränkte die Heilerin die Arme und schaute demonstrativ weg.
    „Wie…kontrolliere ich es?“, wollte Daryk mit einem Blick auf seine Hände wissen.
    „Es ist dein Wille, der das Feuer kontrolliert“, erklärte Xhar, „er muss ungebrochen bleiben, oder das Feuer wird auch dich verzehren!“
    Nickend bestätigte der Ritter seinem Herrn, dass er verstanden hatte.
    „Geht nun“, forderte der Gott, „ihr habt einen langen Weg vor euch.“
    Kaum hatte er ausgesprochen, begann er sich langsam in schwarzen Rauch aufzulösen und kurz, bevor er gänzlich verschwunden war, meinte er noch: „Vergiss deinen Helm nicht, Todesritter!“
    Als die imposante Gestalt des Herrn des Todes nicht mehr zu sehen war, richtete Daryk seinen Blick wieder auf Daphne, welche ihn ebenso unsicher erwiderte.
    „Na los, zeig schon!“, drängte sie ihn.
    Daryk zog eine Augenbraue hoch und fragte, was sie meinte.
    „Na dein Ding“, erwiderte sie und errötete, als sie merkte, was sie gesagt hatte. „Waffe!“, stellte sie mit einem unterdrückten Grinsen klar.
    Ein kurzes Lachen später konzentrierte er sich darauf, Seelenspalter zu beschwören und tatsächlich erschien die Waffe in seiner Hand. Noch ohne das glühen der Runen und die brennende Klinge war der schwarze Stahl trotzdem schon ein beeindruckender Anblick.
    Jetzt wollte er es wissen und forderte seine komplette Ausrüstung vom Höllenfeuer.
    Der Plattenpanzer erschien und er spürte die Wärme des Feuers in seinem Gesicht, die ihm sagte, dass er nun auch seinen Helm trug. Auch hier verspürte er keinerlei Einschränkung, wie sie ein Helm normalerweise mit sich brachte. Er konnte normal atmen und sein Sichtfeld war uneingeschränkt. Zu guter Letzt entzündete er das Feuer an der Klinge der Waffe und konnte im Blick der Prinzessin erkennen, dass er ein mächtiges Erscheinungsbild abgeben musste.
    „Unauffällig ist das nicht“, meinte sie nach einem kurzen Moment des Schweigens etwas verunsichert.
    „Nein“, erwiderte Daryk kopfschüttelnd und erschrak beinahe vor seiner eigenen Stimme. Er war es gewohnt, dass das Tragen eines Helms die Stimme verzerrte, aber nun war sie der von Xhar ähnlicher, als seiner eigenen.
    Daphne starrte ihn verunsichert an und schien nicht so recht zu wissen, ob er wirklich der war, für den sie ihn hielt.
    Schnell ließ er Waffe und Helm verschwinden und stellte dankbar fest, dass seine Stimme auch wirklich wieder normal war als er sagte: „Keine Sorge, das liegt nur am Helm.“
    Immer noch skeptisch blickte die kleine Frau zu ihm auf.
    „Lass uns hier verschwinden“, schlug er vor und zeigte zur Tür, die inzwischen wieder offen stand. Vermutlich hatte Xhar sie geöffnet, bevor er verschwunden war.
    Sichtlich unwohl war Daphne, als sie auf den dunklen Gang hinter der Tür zuging und auch Daryks „Ich bin bei dir“, führte nur zu einem unsicheren Lächeln.
    „Im Wasser fühle ich mich wohler, als im Dunkeln“, gab sie schließlich zu.
    Lächelnd erinnerte Daryk sie daran, dass es bei ihm anders herum war und sie ihn auch nicht hatte ertrinken lassen.
    Sie erwiderte das Lächeln und ging zögerlich vor ihm her durch die Tür.

    Draußen brannte noch immer das Kohlebecken und Daphnes Kleidung lag in einem unordentlichen Haufen daneben. Schnell sammelte sie ihre Kleidung auf, die sie jetzt wohl anziehen würde, wenn Xhar ihr nicht das Kleid geschenkt hätte.
    Den Armreif, den Daryk ihr geschenkt hatte, streifte sie sich wieder über den linken Arm und faltete den Rest flüchtig zusammen.
    Das Kohlebecken erlosch plötzlich und das krachen der Tür, welche wieder ins Schloss fiel war deutlich zu hören. Sofort war die Dunkelheit wieder allumfassend und Daphne wurde merklich unruhiger neben Daryk.
    Er fühlte, wie sie seine Hand nahm und sich daran festklammerte. Er erlaubte sich, dieses Gefühl kurz zu genießen, bevor er in der anderen Hand einen kleinen Feuerball aufflammen ließ, welcher wenigstens etwas Licht in den Gang warf.
    Da die Prinzessin die Hand des Ritters nicht losließ, ging er los und zog sie sanft hinter sich her.
    In der Ferne war das Licht am Ende des Tunnels zu sehen, welches auf den Ausgang hinwies. Je näher das ungleiche Paar dem Licht kam, desto lockerer wurde Daphnes Griff um seine Finger, bis sie sie schließlich losließ.
    Als sie endlich die Finsternis hinter sich gelassen hatten und die Halle von Leben und Tod betreten hatten, atmete die Schurkin deutlich hörbar durch und entspannte sich wieder etwas.
    Wortlos eilten die beiden durch den Tempel und kamen endlich an den Treppen an, welche nach draußen führten.
    Ohne darüber nachzudenken ging Daryk die Stufen hinab, bis er Daphnes Stimme zu weit hinter sich vernahm.
    „Daryk… warte!“
    , rief sie ihm nach und er drehte sich herum und stellte fest, dass sie noch immer am oberen Ende der Treppe stand.
    „Was ist?“, wollte er wissen, aber sie winkte ihn nur mit beiden Händen zu sich.
    Er folgte ihrer Aufforderung und ging die Stufen wieder hinauf, bis er vor ihr stand. Obwohl er zwei Stufen unter ihr stehen blieb, war er immer noch größer als sie.
    Daphne legte den Kopf schief, lächelte ihn an und legte ihre Hände auf seine Schultern. Dann machte sie einen kleinen Hüpfer und sprang ihm in die Arme. Daryk fing die Heilerin auf und hielt sie nun vor sich, als würde er seine Ehefrau über die Schwelle tragen wollen.
    „Ich kann mit dem Kleid keine Treppen steigen“, erklärte sich Daphne und zeigte auf ihre Beine.
    Tatsächlich war der Stoff an ihren Beinen nicht nur quasi durchsichtig, sondern auch sehr eng und erlaubte keine Bewegungen, die zum Bezwingen von Stufen nötig gewesen wären.
    Daryk lächelte, drehte sich vorsichtig um und verließ den Tempel mit seiner wertvollen Fracht, welche in seinen Armen lag und sich an seinem Hals festhielt.
    Unten angekommen ging Daryk einfach weiter und kam gar nicht auf die Idee, sie wieder hinzustellen.
    Nachdem er einige Schritte gegangen war, sah sie zu ihm auf und meinte: „Ehm… Daryk?“
    Ohne stehenzubleiben sah er sie an, merkte was sie meinte und zuckte die Schultern.
    „Ja, du hast recht“, sagte sie beiläufig, „mit dem Kleid kann ich wirklich nicht durch den Wald laufen.“
    Sie grinste ihn frech an und forderte: „aber wenn ich zu schwer werde, sagst du es!“, was er mit einem Lächeln quittierte.
    Schritt für Schritt trug der Todesritter die Prinzessin des Lebens durch den Wald.
    „Was ist da drin passiert?“, fragte die kleine Frau in seinen Armen in die Stille.
    Daryk überlegte, wie viel er ihr verraten sollte und kam zu dem Schluss, dass es Dinge gab, die sie nicht zu wissen brauchte. Eines dieser Dinge war die Tatsache, dass seine Familie vor seinen Augen geopfert wurde und nun seine neuen Kräfte nährte und nun immer bei ihm sein würde.
    „Xhar gab mir die Wahl zwischen Leben und Tod“
    , erzählte er, „und den Rest hast du gesehen.“
    Sie nickte nachdenklich.
    „Gab es irgendwas, was dir die Wahl ... erleichtert hat?“, wollte sie zögerlich wissen.
    Daryk konnte spüren, wie ihr Blick ihn durchbohrte, weshalb er zu ihr hinuntersah und den Blick erwiderte.
    Kurz schwieg er. Er hatte ihre Stimme gehört, hatte sie seinen Namen rufen hören. Sie war der Grund, warum er Leben gewählt hatte und er nahm an, dass sie das wissen sollte.
    „Ja“, gab er leise zu, „dich.“
    Mit großen Augen starre die Prinzessin den Ritter an und das Mondlicht in ihrem Gesicht zeigte deutlich, dass sie errötete.
    „I-Ich?“, fragte sie leise und schien es gar nicht glauben zu können, was sie gerade gehört hatte, „das, was ich gesagt habe, dass ... dass kann ich erklären. Ich will nicht, dass du dich zu irgendetwas verpflichtet fühlst, nur, weil …“
    Daryk schüttelte, noch immer laufend, sanft den Kopf und unterbrach sie: „Ich weiß nicht, was du gesagt hast. Ich habe nur deine Stimme gehört, nicht deine Worte.“
    Etwas verwirrt wanderte ihr Blick von seinen Augen in den Nachthimmel und wieder zurück.
    „Aber… wie kann ich dann der Grund…“, fing sie an, unterbrach sich aber selbst, als sie sein Lächeln bemerkte.
    „Was glaubst du, Prinzessin?“, wollte er antworten, als er mit dem Fuß an einer Wurzel hängen blieb und das Gleichgewicht verlor. Schnell zog er Daphne fest an sich, um sie nicht fallen zu lassen und schaffte es irgendwie, nicht nach vorne, sondern nach hinten zu fallen.
    Noch immer hielt er sie fest umschlungen im Arm als er hart auf dem Hintern landete. Vielleicht hätte er zwischendurch mal auf den Weg schauen sollen, anstatt nur auf Daphne.
    „Sehr elegant“, lobte sie grinsend, „ich hab doch gesagt, du sollst sagen wenn ich zu schwer werde.“
    Schmunzelnd und mit einem Husten fragte er, ob bei ihr alles in Ordnung war.
    „Ja“, meinte die kleine Frau lachend, „und bei dir?“
    Erleichtert, sie nicht verletzt zu haben nickte er.
    Ihr Blick wirkte wieder leicht verunsicherter, als sie erneut zu ihm aufsah und mit leiser Stimme fragte: „Was wolltest du sagen?“
    Zögerlich erwiderte der sitzende Ritter ihren Blick und sah ihr in die Augen.
    Erwartungsvoll schaute sie ihn an und wie am Lagerfeuer, wurden seine Gedanken von einem einzigen überschattet: „Küss sie!“
    Daphne schloss ihre Augen, als würde sie ihn auffordern es zu tun. Daryk hörte auf, über das Wenn und Aber nachzudenken und tat es ihr gleich.
    Diesmal kam kein schlechtes Gewissen dazwischen, kein Störenfried, der nach ihm rief und als ihre Lippen sich endlich trafen, fühlte er, wie all die Anspannung von ihm abfiel. Als sie den Kuss erwiderte, zog er sie noch fester zu sich und verlor sich in diesem Moment.
    So schön er auch war, der Moment ging zu Ende und sie ließen voneinander ab.
    Daphne strahlte ihn kurz an und lehnte dann ihren Kopf an seine Wange. Ein wenig lockerte Daryk den Griff um die junge Frau in seinen Armen und genoss ihre Anwesenheit.
    Eine Weile saßen beide schweigend und auf dem nächtlichen Waldboden und er hatte kein Bedürfnis, das in absehbarer Zeit zu ändern.
    Plötzlich brach Daphne das schweigen. „Daryk ... was hier gerade geschehen ist, darf niemand wissen“, flüsterte sie mit gebrochener Stimme. Sie setzte sich auf und sah ihm in die Augen, bevor sie schnell fortfuhr: „Nicht, dass ich das nicht gewollt habe oder will, aber wir reisen in meine Heimat.“
    Daryk zog eine Augenbraue hoch und wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er wandte den Blick von ihr ab und schaue auf den Waldboden neben sich.
    Sanft umfasste sie seine Wange mit ihrer Hand und wandte sein Gesicht wieder dem ihren zu.
    „Ich weiß nicht, was sie mit mir machen, also will ich mir nicht ausmalen müssen, was sie mit dir machen würden, wenn sie… wenn sie es wüssten“
    , erklärte sie weiter. Er erkannte einen Anflug von Verzweiflung in ihrem Blick.
    In Ymilburg hatte er ihre Brüder erlebt und Daphnes Behandlung durch die Zofen mitbekommen und konnte sich denken, dass es bei ihr zuhause noch viel schlimmer sein würde.
    Leicht geknickt akzeptierte er es und nickte leicht. „Ich… verstehe.“
    Noch immer hatte sie ihre Hand an seiner Wange und musterte sein Gesicht.
    „Wirklich“, ergänzte er mit einem, wenn auch traurigen, Lächeln.
    Der Blick der Heilerin wurde wieder etwas hoffnungsvoller. Sie nahm legte nun auch eine Hand auf Daryks andere Wange und zog seinen Kopf zu einem zweiten Kuss heran, als wollte sie ihm klarmachen, dass sie es ernst meinte.
    Der Ritter erfreute sich an jeder Sekunde mit seiner Prinzessin und als sie zum zweiten Mal voneinander abließen, lächelte sie ihn glücklich an.
    Dann schälte sie sich sanft aus seiner Umarmung und stand auf. Mit dem Rücken zum Hünen stand sie da, zeigte auf die Schnürungen am Rücken von Xhars Kleid und meinte: „Hilfst du mir das auszuziehen?“
    Irritiert erhob er sich vom Waldboden, öffnete die Schleife und lockerte die Schnüre, bis das Kleid zu rutschen begann. Daphne hinderte es daran, und presste es mit der linken Hand an ihre Brust.
    „Danke“, sagte sie leise.
    Mit nacktem Rücken stapfte die kleine Frau mit ihren Klamotten hinter den nächsten Baum und begann sich umzuziehen.
    Nach kurzer Zeit kam sie, in gewohnten Klamotten und dem Kleid über dem Arm, wieder hervor. Sie hängte das Kleid über einen Ast und lächelte ihn an.
    „Komm, wir gehen Holz sammeln“, forderte sie Daryk auf, welcher fragend eine Augenbraue hochzog.
    „Für das Lagerfeuer“, führte Daphne grinsend aus, „es sei denn, du willst schon zu den anderen zurück?“
    Als er verstand, was sie meinte half er gerne sammeln und bald war ein stattliches Lagerfeuer errichtet.
    Daryk ließ es sich nicht nehmen, seine neuen Kräfte zu nutzen, um es zu entzünden und setzte sich anschließend zufrieden auf einen Baumstumpf neben der Feuerstelle.
    Mit auf dem Rücken verschränkten Armen stellte Daphne sich vor ihn und blinzelte ihn unschuldig an.
    Er konnte sich denken, was sie vorhatte, weshalb er seine Hände vom Schoß nahm und sich Aufrecht hinsetzte.
    Lächelnd setzte sich Daphne auf seinen Schoß und nahm seine Hände in den ihren. Wie vor einigen Tagen schon am Lagerfeuer lehnte sie sich an ihn an.
    Sie strich mit den Fingern über die schwarze Hand des Ritters und zeichnete die Runen des Totengottes nach.
    „Ich bin froh, dass du Leben gewählt hast“, flüsterte die Heilerin und drehte ihr Gesicht zu Daryk.
    Lächelnd nickte der Hüne die Prinzessin an und küsste sie zum dritten Mal an diesem Tag.
    Die ganze Nacht saßen sie am Feuer und erfreuten sich an der Zeit zu zweit. Erst kurz vor Sonnenaufgang, als die anderen noch schliefen, kehrten sie in das Lager zurück und stellten sicher, dass sie keiner bemerkte.

  • Thyra hatte sich schon Sorgen gemacht, als Daphne und Daryk am nächsten Morgen nirgends aufzufinden waren.
    Zuerst hatten sie noch gewitzelt, dass sie sich zu einem Schäferstündchen im Stall hatten hinreißen lassen, doch als sie die beiden in der näheren Umgebung nirgends hatten finden können, begannen sie unruhig zu werden.
    Lustlos stocherte sie in ihrem Essen herum, das der Wirt ihnen gebracht hatte.
    "Der Hüne wird die Kleine schon beschützen", hatte er versucht sie aufzumuntern, dennoch hatten alle drei noch nicht viel gegessen, als endlich die Tür zum Gasthaus aufschwang und Daphne und Daryk eintraten.
    Thyra sprang sofort auf und stürmte auf die beiden zu. "Gott sei Dank", sagte sie und schloss Daphne in die Arme, ehe sie sie auf Armeslänge wegschob und von oben bis unten musterte. Ihr schien nichts passiert, aber ihre Wangen waren gerötet.
    "Dann haben wir ja nicht so falsch gelegen", sagte sie scherzhaft, dennoch hörte man aus ihrer Stimme eine Spur Schärfe.
    "Womit?", fragte Daphne verwirrt und gleich darauf: "Willst du nicht wissen, wo wir waren?"
    "Ich kann es mir denken", raunte Thyra schelmisch.
    "Was zum-", unterbrach Theical die beiden Frauen. Thyra drehte sich um und folgte seinem Blick. Daryks Hand war schwarz. Von ihr zog sich ein ebenfalls schwarzes Muster den Arm hinauf, verschwand unterm Hemd und tauchte unter dem kragen wieder auf, um an Hals und Nacken auszulaufen.
    "Okaaaaay, jetzt will ich doch wissen wo ihr beide wart..."
    Sie folgte Daphne und Daryk zum Tisch und hörte zu, als die beiden zu erzählen begannen.
    Thyra warf immer wieder einen Blick auf Daphne und auch Daryk schien gelöster zu sein. Irgendetwas verschwiegen die Beiden und sie ahnte auch schon was. Innerlich freute sie sich einen Zehn-Jahresvorrat an Keksen zusammen und hoffte, dass ihre Vermutung stimmte. Sie musste unbedingt mit Daphne reden.
    Sie blieben noch eine geraume Weile am Tisch sitzen und hörten sich Daryks Geschichte von Xhar an, die von Daphne ab und zu ergänzt wurde, doch am entscheidenden Punkt war sie von Rhenus zurückgehalten worden, sodass sie mit Daryk knappen Erzählungen vorlieb nehmen mussten.

    ******

    Thyra ritt neben Jaris her.
    "Undglaublich", murmelte sie.
    "Was?", fragte der Söldner und warf ihr einen schiefen Blick zu.
    "Dass wir offensichtlich alle in der Gunst der Götter stehen ... Das hat doch sicherlich was zu bedeuten."
    Jaris nickte. "Ich könnte die aber auch nicht sagen was."
    Thyra schwieg und versank in Gedanken. Über die Götter, über sich selbst, über Jaris, über Delyveih ... Was noch alles kommen mochte.
    Sie merkte erst, dass Jaris ihr Pferd dichter neben ihres gelenkt hatte, als seine Hand sie unterm Kinn fasste und ihren Kopf zu ihm drehte. Er küsste sie und sagte: "Denk nicht so viel nach. Es wird alles gut werden."
    "Ich hoffe es", mischte Daphne sich ein und deutete nach vorn. Hinter einer Wegbiegung konnten sie Delyveih, Daphnes Heimat erkennen. Und je näher sie der Stadt kamen, desto nervöser wurde die Heilerin.

    Writers aren't exactly people ... they're a whole bunch of people trying to be one person.
    - F. Scott Fitzgerald

    • Offizieller Beitrag

    Theic konnte Thyra nur zustimmen. Sie waren wirklich ein seltsamer Verein. Und als normal konnte man dies sicher auch nicht betiteln. Aber wer war schon gern normal? Obwohl...normal groß wäre schon nicht übel.
    "Wir sind viel schneller vorangekommen, als ich gedacht hätte", meinte Daphne als sie noch keine Stunde geritten waren. Die Sonne stand noch nicht einmal sonderlich hoch am Himmel und begann gerade mal, etwas wärmer zu werden. Wobei von Wärme nicht unbedingt die Rede sein konnte. Die Luft war dennoch eiskalt. Theic war einer der ersten gewesen, der sich wärmer hatte anziehen müssen.
    Als er dem Blick der anderen folgte, erkannte er in der Ferne die riesige Stadtmauer von Delyveih. Schon allein die Mauern waren viel imposanter als die von Ymilburg. Eine solche Mauer hätten die Feinde sicher nicht so leicht einreißen können.
    "Willkommen in meiner Heimat", murmelte Daphne wenig begeistert. Die Nervosität klang förmlich in ihrer Stimme mit. Und Theic konnte sie verstehen. Schon die wenigen Tage, die das halbe Nordvolk vor Ymilburg gelagert hatte, hatte man die Prinzessin förmlich erstickt. Es musste nach den vielen Jahren Freiheit erdrückend für sie sein, zurückzukehren. Und dann war auch noch ihr Vater krank. Auch, wenn die Schurkin nichts sagte, man konnte ihr ansehen, dass sie liebend gern einfach gewendet und davon geritten wäre.
    "Stehen geblieben", meinte eine Torwache, als sie kurz vor der Mauer standen. Sie kam etwas auf sie zu und sprach mit ruhiger und tiefer Stimme weiter. Dabei behielt er sein Visier unten, weshalb man die Augen nur durch das schmale Sichtfeld sehen konnte. Er wirkte bedrohlich aber nicht unfreundlich. "Die Stadt ist für Fremde derzeit nicht zugänglich. Habt ihr eine Erlaubnis, durch das Tor zu gehen?"
    "Ich denke doch", meinte Daphne. Sie fischte den Siegelring, der an der Kette um ihren Hals hing hervor, und hielt ihm den Mann vors Gesicht. "Wir werden erwartet." Von der vorherigen Nervosität war nichts mehr zu hören.
    Für einen Moment erstarrte der Soldat, merkte er erst jetzt, wen er da vor sich hatte.
    "Prinzessin", stieß er aus, verbeugte sich eilig und beinahe hatte Theic geglaubt, der Mann würde auf die Knie fallen und sich vor Daphne in den Dreck werfen. Er blieb jedoch stehen. Stattdessen wandte er sich eilig ab und lief zu seinen Kameraden. Diese gestikulierten etwas herum, dann kam er mit drei weiteren Wachen auf sie zu.
    "Wir werden Euch und Eure Begleiter durch die Stadt zur Burg geleiten." Bei dem Wort "Begleiter" drehte er seinen Kopf in die Runde. Was er dachte, konnte sich Theic nicht erschließen, da er sein Gesicht nicht erkennen konnte. Aber in der Art wie er es aussprach, bemerkte er eine gewisse Skepsis.
    Langsam damit die Wachen zu Fuß nachkamen, folgte Daphne den Soldaten und die anderen tasten es ihnen gleich.
    Hinter dem Tor kam eine riesige Stadt zum Vorschein. Die Luft roch nach Salz und hohe Steingebäude mit Säulen flankierten die Straße. Über den fielen Balkonen hingen Decken und andere Kleidungsstücke zum Auslüften.
    "Aras sollte sich eine Scheibe von dieser Stadt abschneiden", sprach Thyra. Mit leuchtenden Augen musterte sie die Gebäude mit den vielen aufwendigen Verzierungen. "Hier sieht es viel freundliche raus."
    "Lass' ihn das ja nicht hören", meinte Jaris. "Ich bin froh, dass er sich endlich etwas beruhigt hat."
    "Ja, hebe dir das lieber für schlechte Zeiten auf." Theical blickte die Jägerin kühl an. "Wenn er wieder nervt, kannst du eh nichts falsch machen. Bis dahin genießen wir die Tage, die er ruhiger ist."
    Vor ihnen tauchte zuerst der Palast auf, und dahinter das endlose Meer. Da sie sich vom Land her genähert hatten, hatten sie noch keine Gelegenheit gehabt, einen Blick darauf zu erhaschen.

  • Staunend betrachtete Jaris den endlosen blauen Horizont - nur durchbrochen von den Silhouetten der Türme des Palasts, der sich imposant vor ihnen auftat. Erbaut war er aus grauem Sandstein, der selbst auf diese Entfernung irgendwie rau aussah. Zusammen mit dem Meer bildete er einen auffallenden Kontrast und vollbrachte das Wunder die ohnehin bereits beeindruckende Stadt aus ihren Gedanken zu fegen wie ein Sturm einen Stapel Blätter. Möwen krächzten über ihn und umkreisten die spitzen Dächer der Türme, bevor sie sich auf einem der vielen Vorsprünge oder Fenstersimse niederließen.
    "Aus dem Weg", schrie eine der Wachen, die sie - nicht gerade subtil - ins Zentrum der Stadt geleiteten. Die Menge teilte sich zwar widerspruchslos, warf jedoch neugierige Blicke auf die Prozession und nach und nach erhob sich erstauntes Gemurmel.
    "Ist sie es? - Prinzessin? Prinzessin Daphne?" Während es anfangs noch Fragen waren, so begleiteten sie alsbald Rufe und schließlich Jubel. Daphne saß scheu auf ihrem Pferd und hatte den Kopf eingezogen, während Jaris starr nach vorne blickte. Immer mehr quollen aus den Gebäuden, während sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitete, während sich auch immer weitere Soldaten, die ihnen über den Weg liefen, ihrer Eskorte anschlossen, so dass es schließlich ein regelrechter Triumphzug war, der sie durch die Straßen geleitete. Jaris war erleichtert, als sie endlos das Tor zum Palasthof durchschritten und sich die riesigen Flügel hinter ihnen vor der drängenden Menge verschlossen. Sofort war der Lärm gedämpft, die Rufe verklungen, doch an den bohrenden Blicken hatte sich nichts geändert. Die Soldaten um sie herum waren zusammen mit denen auf den Wehrgängen bestimmt hundert Mann, in deren Gesicht die selbe Mischung aus Freude und Verwirrung stand, die schon auf denen der Bürger draußen zu sehen gewesen war.
    "Daphne Maria Franziska von Braun", ertönte plötzlich eine Stimme, die gewohnt zu sein schien, dass man ihr zuhörte. "Folgt mir. Euer Vater erwartet euch bereits." Ein großer Mann stand vor dem Eingang. Er war gekleidet und sprach wie ein Beamter, sein Aussehen und seine Körperhaltung waren jedoch die eines Soldaten. Suchend sah sich Jaris im Hof um. Er hatte Daphnes Brüder erwartet, zumindest einen ihrer inoffiziellen, doch die Raubeine hatten offenbar anderes im Sinne. Vermutlich erwarteten sie sie im Inneren des Anwesens.
    "Was ist mit meinen Begleitern?", fragte Daphne, die jetzt, da die Menge fort war, deutlich gefasster wirkte.
    "Sie werden später eine Audienz erhalten", entgegnete der verbeamtete Soldat, als sei dies alles auf das ein jeder hoffen konnte. Daphne atmete jedoch erleichtert aus. Hatte sie etwas anderes befürchtet? Und eine Audienz hieß nicht gerade Sicherheit oder gar eine Unterkunft. Zu den Geschichten, die er von den Nordmännern gehört hatte - oder selbst erlebt - würde das ja passen, aber immerhin hatten sie ihre geliebte Prinzessin sicher hier her eskortiert. Es spürte den fragenden Blick von Thyra und erwiderte ihn mit einem zuversichtlichen Lächeln. Daphnes Brüder - Yorrick natürlich ausgeschlossen - hatten ihnen gegenüber auch erst auftauen müssen, vermutlich war das eben so, wenn man in einer Kühlkammer wie Delyveih aufwuchs, da würde man sie früher oder später auch hier freundlicher behandeln.
    "Wir wollten uns hier mit Herzog Zacharas van Júmen treffen", ergänzte die Prinzessin noch. Aras hatte vorgehabt ihnen auf dem Seeweg nachzufolgen.
    "Ich bin mir sicher er wird noch eintreffen", beantwortete der Mann mit mittlerweile kaum verholener Ungeduld in der Stimme. "Kommt nun. Euer Vater wartet nicht gerne." Daphne schnitt eine Grimasse, was so gar nicht in das steife Umfeld passen wollte.
    "Als wüsste ich das nicht", murmelte sie, jedoch kaum hörbar außer für sie, und stieg mit einem Zwinkern in ihre Richtung von ihrem Pferd.
    "Bis später", gab sie ihnen noch mit und in ihrer Stimme lag Hoffnung statt Gewissheit, was besorgte Blicke zufolge hatte. Unbeirrt wandte sich die Prinzessin jedoch um und folgte dem Mann in den Palast. Die schwarze Öffnung verschluckte sie wie eine Höhle im Waldboden.
    Etwas unruhig rutschte Jaris auf dem Pferderücken hin und her. Daphne ließ sie nicht vergessen, dass sie von zuhause weggelaufen war und dem Prinzessinensein so gut es eben ging abgeschworen hatte, doch immerhin hatte ihr Vater sie gebeten zu kommen. Er würde sie schon nicht wieder in seinen goldenen Käfig sperren, oder etwa doch? Außerdem hatten sie vielleicht nicht erwartet Zacharas bereits hier vorzufinden, immerhin wollte er ihnen nachfolgen, doch wäre es, trotz all dem Zwist, beruhigend gewesen. Keiner von ihnen hatte die Wasserwesen vergessen, die die Schiffe der Nordmänner attackiert hatten. Klar. Sie hatten ihre Streitereien gehabt, doch der Herzog hatte ihnen immerhin versprochen sich zu bessern und mittlerweile hatten sie soviel zusammen erlebt. Auf jeden Fall könnten sie ihn brauchen, was auch immer diese Stadt für sie bereit hielt. Diese Vermutung hatte ihre Ankunft hier nur verstärkt.

    Wer zu lesen versteht, besitzt den Schlüssel zu großen Taten, zu unerträumten Möglichkeiten.

    Aldous Huxley

    • Offizieller Beitrag

    Daphne folgte dem Mann, den sie noch unter dem Namen Erik kannte. Leicht gealtert war er, als dieser sie zum Schlafgemach des einstigen Herzogs brachte.
    „Eurem Vater geht es wirklich schlecht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Eure Rückkehr ihn nicht zu sehr aufwühlt.“
    Die Prinzessin blieb stehen, die ihre Freunde äußerst ungern alleine gelassen hatte. Die Nordmänner waren gastfreundlich, aber alles nur bis zu einem gewissen Punkt. Das Begleiten der Prinzessin war da so eine Sache.
    „Dann werde ich das herausfinden müssen oder nicht?“, wandte sie daher ein und dachte nicht daran, sich erst anmelden zu lassen, als sei sie eine Fremde. Eilig waren wie in einem der imposanten Türme angekommen und Daphne kam es wie eine Ewigkeit vor, die sie vor der Tür ihres Vaters verbrachte, ehe sie sich getraute diese zu öffnen, aber kaum offen, kam ihr der Geruch von Tod entgegen. Sie wusste nicht warum, aber sie roch es, als wäre dieser Raum seit Monaten nicht mehr gelüftet worden.
    Vorsichtig streckte sie ihren Kopf durch den Spalt der immens hohen Tür, die selbst Daryk um das doppelte überragt hätte.
    „Vater?“
    „Daphne?“, hörte sie es schwach aus dem Bett. „Bin ich schon tot, dass ich deine Stimme höre?“
    Zögerlich trat die junge Frau ein und wandte sich noch einmal an Erik.
    „Seid so nett und weist meinen Freunden Zimmer zu. Sie sind unsere Gäste.“
    „Unsere ...“
    „Gäste und genau so werden sie behandelt, ausnahmslos!“
    Nickend machte sich der Mittvierziger davon und Daphne verschloss die Tür.
    Mit den Worten: „Du bist nicht tot“, näherte sie sich dem Bett und sah auf die graugelbe Gestalt nieder, die ihr Vater sein sollte. Ausgemergelt und nur noch ein Schatten seiner selbst. Knochige Finger griffen nach Daphne und zuerst wollte sie zurückschrecken, aber dies unterdrückte sie bitterlich. Sie nahm seine Hand und drückte sie sich gegen ihre Wange, um ihm deutlich machen, dass sie es wirklich war.
    „Du bist wieder zu Hause!“, nuschelte Willfred und ihm rannten Tränen über die Wange.
    Daphne nickte und unterdrückte ihre eigenen Tränen, ihren Vater so zu sehen.
    „Ich habe Rufe gehört ...“, krächzte der sechzig Jahre alte Mann und blickte schwach zum Fenster.
    „Meine Ankunft schien nicht lange geheim zu bleiben.“
    „Ich würde auch gerne rufen und jubeln, aber … es reicht nur einen sterbenden Mann weinen zu sehen.“
    „Nein, ist gut, Vater ...“, wimmerte Daphne schließlich. „Das alles ist nicht nötig. Ich bin aus einem bestimmten Grund hier. Ich werde dich heilen ...“
    „O Kind, das haben schon viele versucht.“
    „Aber niemand war wie ich“
    Daphne verlor keine weitere Zeit mehr, denn irgendwie befürchtete sie, er würde umgehend sterben, als sie sein rasendes Herz bemerkte. Sie drückte seine Hand noch fester gegen ihr Gesicht und tat das, was sie am besten konnte, seinen Fluss suchen. Ihr Vater atmete tief ein, als sei es sein letzter Atemzug, als sie begann seine Leber zu heilen und Gebrechen, die ihn schon immer geschmerzt hatten, seit sie ihn kannte. Eine Reitverletzung am Rücken, ein lahmer Arm durch einen Schwertkampf als junger Mann. Ähnlich wie Daryk, hatte er etliche Verletzungen über die Jahre gesammelt, die somit der Vergangenheit angehörten. Haut polsterte sich auf und die kranke Farbe wich. Wenige Augenblicke später, erhob sich der Mann, als sei nie etwas gewesen.
    „Wie ist das …?“, fragte er mit fester Stimme, während seiner Tochter die Schweißperlen auf der Stirn standen.
    „Rhenus … er gab mir seinen Segen.“
    „Der Rhenus? Unser Gottvater?“
    Wieder blich dem Mann die Farbe aus dem Gesicht, aber diesmal aus anderen Gründen.
    „Eine unheimlich lange Geschichte“, erwiderte die Prinzessin, die sich müde erhob. Die Heilung war anstrengender gewesen, als sie dachte.
    „Meine einzige Tochter, auserwählt vom Gott des Lebens und des Meeres?“
    Ein Schulterzucken folgte seitens von Daphne. Willfred ließ sie nicht gehen, bevor sie alles soweit erzählt hatte, mit Auslassen einiger Details. Vor allem Details, die sie und Daryk betrafen oder dem wahren Ausgang von Heinrich. Sie glaubte nicht, dass dies zu dem Zeitpunkt sehr förderlich war.
    „Und du bist zurückgekommen, weil ich krank war? Dann hätte mich dieses Leiden schon viel früher ereilen sollen“, sprach Willfred und rieb sich den weißen Bart, den er kürzer als sonst trug.
    „Wie hätte ich nicht? Du bist mein Vater und warst einst der größte und stärkste Mann, den ich kannte.“
    „War?“, mischte sich der ehemalige Herzog ein und musterte seine Tochter. Daphne atmete tief ein.
    „Naja“, setzte sie an. „Meine Freunde überragen die Stärken eines normalen Menschen. Jaris ist mit dem Schwert so gut wie unschlagbar und seine Blitze … Thyra kann Ziele aus Entfernungen treffen, die ich nicht einmal sehe, Theical kann Schatten anderer Menschen und Tiere steuern, Aras beherrscht Magie und Daryk ...“
    „Ich verstehe schon“, unterbrach sie ihr Vater lachend. „Vielleicht sollten wir unsere Gespräche nach einem ausgiebigen Essen weiterführen. Ich habe schon lange nichts Richtiges mehr zu mir genommen und mein Hunger ist so riesig wie das Meer!“
    Nun musste Daphne lachen und nickte zustimmend. Auch sie musste sich erst einmal erholen.
    „Und ich bin gespannt deine `Freunde´ kennenzulernen. Sie sind natürlich eingeladen.“


    Kaum zu Hause angekommen, spielte man die alten Lieder. Daphne wurde gleich von ihrer Mutter angewiesen, die sie mehr als unterkühlt begrüßte, sich umziehen und dem Seelenheil ihres Vaters zuliebe, kam sie dieser Bitte nach. Nur fand man schnell heraus, dass sie nicht mehr gänzlich in ihre Kleidung passte. Den vielen Kleidern in ihrem Schrank war sie entwachsen, was Daphne kaum für möglich gehalten hätte. Eines passte noch, was dem Schneider früher zu groß geraten war. Blau mit silbernen Nähten und Stickereien, schulterfrei und bis unter die Schulterblätter ausgeschnitten am Rücken. Es grenzte einer Tortur so etwas wieder zu tragen. Während die Zofen an ihren Haaren herummachten, um silberne Fäden hineinzuziehen, die einen lockigen, geflochtenen Zopf zierten, versank sie immer weiter in Gedanken, die hin und wieder von einem Laut des Schmerzen unterbrochen wurden. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihrem Bauch breit, was nicht von der zu eng geschnürten Korsage kam. Ihre Freunde kannten sie als Schurkin, Heilerin und nur selten ließ sie etwas höfisches durchblitzen. Sie fühlte sich als eine von ihnen, weder besser noch schlechter. Aber nun begann man an diesem Bild zu rütteln. Erstrecht was Daryk anging. Er war ein Ritter, ein Rang, den es in ihrem Land nicht einmal gab, auch wenn es mit einem bereits vollständig tätowierten Krieger gleichzusetzen war. Trotzdem … sie wollte in seiner Gegenwart nicht die gutbetuchte Prinzessin sein. Für sie spielte das alles keine Rolle, was ihre Familie wahrscheinlich anders sah. Zacharas hatte dahingehend Glück, selbst wenn er das mit Kuen bekanntgegeben hätte. Er war selbst ein Herzog, kann demnach machen was er wollte, aber bei ihr sah das anders aus. Sie repräsentierte ihr Land, trug deren Traditionen weiter und sollte Vorbild für nachfolgende Generationen sein, weshalb viel Wert auf Gehorsamkeit gelegt wurde. Naja, das hatte sich bereits mit ihrer Flucht gegeben – warum eigentlich dann damit aufhören?! Der einzige Lichtblick war, dass man Thyra zu ihr durchgelassen hatte, die vor ihr saß und mit großen Augen die Schmuckschatullen durchwühlte.
    „Das gehört alles dir?“, fragte die Jägerin teils erstaunt und teils überrascht. Es war eben etwas anders immer nur Prinzessin genannt zu werden, als es leibhaftig zu sein.
    „Wenn du willst, kannst du alles geschenkt haben“, erwiderte Daphne und lächelte Thyra schüchtern an. Ihre Freundin lachte laut los und legte alles beiseite. Mit einem „Nein, danke“, verwarf sie das Angebot. „Sowas brauche ich nicht. Es sieht hübsch aus, aber … das ist nichts für mich.“
    „Für mich auch nicht“, stimmte Daphne zu, während man ihr eine Kolje mit hellblauen Edelsteinen umlegte – ihren Holzarmreif trug sie weiterhin. „Aber für meinen Vater werde ich das einen Tag ertragen.“
    „Daryk wird es bestimmt gefallen“, frotzelte die Jägerin, was Daphne nicht nur einen roten Kopf bescherte, sondern sie auch aufschrecken ließ.
    „Nicht jetzt“, nuschelte Daphne und schaute hin und her, um auf die Zofen aufmerksam zu machen. Thyra verstand umgehend und räusperte sich.
    „Ich meine, sowas gefällt doch jedem Mann. Eine Frau in einem schönen, unbequemen Kleid … Schmuck.“
    Die Prinzessin lächelte zufrieden, aber kam auf eine Idee.
    „Glaubst du wirklich?“, hakte sie deshalb nach und Thyra schluckte. Eine leicht verspätete Rache für die Taverne. Es verging nicht einmal genug Zeit, die Normadin antworten zu lassen, da hatte Daphne schon allerhand Kleider zusammengesucht und die Jägerin in ein zartgrünes Kleid gesteckt, während sich nun die Zofen an ihrem etwas kürzeren Haar zu schaffen machten und die Heilerin diejenige war, die nun den Schmuck auswählte.


    So begab sich Daphne, zusammen mit Thyra, zum Essen, was ihr Vater eilig hatte herrichten lassen. Vor der Tür, an denen zwei Krieger in voller Montur standen, hielt sie inne. Sie wollte dort nicht hineingehen und so die Fassade der „Daphne“ zerstören. Einer jungen Frau, die mehr mit ihrem Leben experimentierte, als strikten Regeln und Traditionen zu folgen, frei war und von jedem angesprochen werden konnte, wie sie wollten. Das war dort anders und auch ihre Freiheit stand auf dem Spiel. Die Entscheidung, die Tür zu öffnen, wurde ihr jedoch von den beiden Wachen abgenommen und Thyra stieß sie regelrecht in den riesigen Speise – und Festsaal hinein. Die Blicke aller ruhten auf den beiden Frauen und wie sie an Jaris´ Gesicht erkennen konnte, hatte Thyra mit ihrer Aussage nicht mal ganz unrecht behalten. Resigniert schaute der Söldner aus der Wäsche und seine rote Gesichtsfarbe war mehr als deutlich, selbst aus der Distanz. Daphne sah den Rest eher schüchtern aus dem Augenwinkel an und nahm dann an der langen Tafel Platz, wobei ihr Stuhl von Yorick zurechtgerückt wurde, der direkt neben ihr saß. Daryk räusperte sich kurz, was ihm Daphnes Aufmerksamkeit einbrachte und sie sah, wie kurz ein Lächeln über sein Gesicht huschte, bevor sich ihm andere zuwandten. Die Sitzaufteilung war klar strukturiert. Am oberen Kopf saß eigentlich der Herzog, im Grunde Tristan, der aber aufgrund seiner Arbeit verhindert schien, selbst bei der Rückkehr seiner Schwester. Deshalb hatte Willfred diesen Platz eingenommen, zu seiner Linken Yorick und Daphne, auf der rechten Seite seine Frau. Etwas weiter unten saßen sich die vier Gäste gegenüber, auf der rechten Seite Theical neben Daryk, da Jaris und Thyra verheiratet waren. Kaum saßen alle, wurde das Essen aufgetragen, was von Wild bis zu Fisch alles zu bieten hatte. Wein und Met wurden ebenfalls aufgetischt, wovon Daphne umgehend trank, um die Scham zu verbergen.
    „So ...“, setzte Maria umgehend neugierig an. „Diese Personen begleiten also unser verlorenes Lamm! Du bist doch noch ein Lamm und kein Schaf, oder?“
    „Mutter“, mischte sich Daphne ein, da der Ton ihrer Mutter wie immer abwertend klang.
    „Maria, beherrsche dich“, erwiderte auch der Vater.
    „Man wird ja mal fragen dürfen“, moserte die Herzogin. „Immerhin war sie sieben Jahre verschollen. Wir können somit froh sein, dass sie nicht mit einer Horde Bastarde aufgetaucht ist.“
    „Ist euch auch plötzlich so kalt?“, kam von Theical, der sich die Arme rieb. „Da bekommt man ja Frostbeulen.“
    Der Rest der Gruppe unterdrückte ein Lachen und versuchte sich auf das Essen zu konzentrieren. Daphne war das mehr als peinlich.
    „Unsere Mutter ...“, stellte sie Yorick leise noch einmal vor. „Und heute hat sie gute Laune.“
    „Ich meine ja nur, man darf ja wohl fragen“, wiederholte sich Maria und musterte die Freunde. „Immerhin sind zwei der Gruppe verheiratet und das noch ganz frisch. Wer weiß, mit wem unsere Tochter alles fraternisiert hat.“
    „Ich habe nicht fraternisiert, sondern Städte gerettet“, rechtfertigte sich Daphne. „Oder eine Stadt gerettet und das mehrfach.“
    „Erstaunlich wie oft Ymilburg Probleme hat“, ergänzte Jaris trocken und unterdrückte ein weiteres Lachen.
    „Davon hörte ich“, versuchte Willfred vom Thema abzulenken, aber vergebens.
    „Und fett ist sie geworden“, erklang es bereits von Maria, während Thyra augenblicklich ihren Met, per Fontäne, ausspuckte.
    „Das tut mir leid“, entschuldigte sich die Jägerin, während sich Theical den Met aus dem Gesicht wischte und Daryk die Mutter mit einem fragenden Blick strafte.
    „Ich bin nicht fett, sondern einfach eine Frau!“, wimmerte derweil Daphne und fuhr sich genervt über die Stirn.
    „Deine Base Elvira ist nicht so gebaut und bereits verheiratet.“
    „Was daran liegt, Mutter, dass sie nicht schnell genug weglaufen konnte, weil ihr, so dünn wie sie ist, die Kraft dazu fehlt.“
    Willfred versteckte sein Lachen aufgrund der Antwort nicht und wurde daher von seiner Frau mit einem wütenden Blick behaftet.
    „Was ist, Weib?“, forderte er zu wissen. „Das war gut gekontert.“
    „Wir werden ja wohl dort weitermachen, wo wir aufgehört haben, Gatte, daran ändert Heinrichs Ableben nichts. Konnte ja keiner ahnen, dass er einer Herzattacke erlag.“
    Daphne sah im Augenwinkel, wie die Blicke ihrer Freunde zu Daryk wanderten, der unbeeindruckt weiter aß.
    „Das hat Zeit, Gattin“, wurde der Herzog energischer.
    „Zeit? Sie ist vierundzwanzig. Noch eins, zwei Jahre mehr und niemand will sie mehr.“
    Das gleiche Spiel wieder. Die Blicke wanderten von der Mutter zu Daryk, während Daphne, wie er, nur starr auf ihren Teller sah. Der Hüne leerte aber im Gegensatz zur Prinzessin seinen Teller und nahm sich nach.
    „Sagt mal“, flüsterte Yorick seiner Schwester zu. „Täusche ich mich oder schauen deine Freunde ständig zum Ogerschlächter?!“
    „Keine Ahnung, was du meinst“, murmelte Daphne und entschied noch einen großen Schluck aus ihrem Kristallglas zu nehmen.
    „Wie ich hörte, seid Ihr ein Halbelf“, wandte sich Willfred Jaris zu und dieser nickte, kaute zu ende und bejahte es noch einmal.
    „Ich bin noch nie einem Halbelf begegnet“, gestand der Herzog fasziniert. „Ihr seht jung aus, aber nicht unbedingt elfisch.“
    „Das scheint immer unterschiedlich zu sein, Hoheit, je nachdem wie es vererbt wird.“ Nickend fuhr der Daphnes Vater fort und schaute sich die Personen aus ihren Erzählungen an.
    „Und Ihr müsst die überaus hübsche Freundin meiner Tochter sein“, widmete er sich Thyra, die anscheinend merkte, dass der Herzog selbst eine anderer Schlag Mensch war, als die Mutter.
    „Danke sehr und ja, wir sind wie Schwestern.“
    Die Antwort der Normadin ließ Daphne ehrlich lächeln und munterte sie etwas auf.
    „Pass auf, dass du nicht gleich sabberst“, erwiderte Maria wütend und stocherte laut in ihrem Essen herum. Willfred sah sie an und zuckte mit den Schultern.
    „Gestern noch lag ich im Sterben. Wenn ich sabbere, dann sabbere ich, das ist dann immer noch ein Kompliment an die Dame und den Gatten.“
    „Hat er sich tätowieren lassen?“, riss Yorick Daphne aus ihren Beobachtungen und redete fernab des eigentlichen Themas.
    „Was?“, fiepste die junge Frau ihren Bruder an, der mit seiner Gabel erneut auf Daryk zeigte.
    „Sein Hals und seine Hand … Hat er sich ...“
    „Nein!“, unterbrach Daphne ihn lauthals. „Das ist schwer zu erklären!“
    Willfred fuhr mit Theical fort.
    „Und ihr der Magier mit dem Schatten kontrollieren, nicht wahr?“
    Kauend betrachtete Theic den Herzog.
    „Ja, aber ...“, er schluckte, „ich bin noch nicht sonderlich geübt.
    „Naja, es ist ja noch kein Meister vom Himmel gefallen“, gestand Willfred und schien nach seiner Heilung, Magie etwas anders zu betrachten, als es üblich war.
    „Und Ihr dann wohl der Mann aus dem Norden?! Es muss Euch seltsam erscheinen, obwohl südlicher, dass wir uns Nordmänner schimpfen“, richtete sich der Herzog nun an Daryk.
    „In der Tat“, stimmte dieser Daphnes Vater zu.
    Eine ganze Weile herrschte Ruhe am Tisch und die Blicke der Gruppe wanderten umher. So still hatten sie noch nie beieinander gesessen und gespeist, aber keiner wusste so recht, wie er sich verhalten sollte.
    „Wenn ich darf“, unterbrach Yorick irgendwann die Stille. „Würde ich unsere Gäste morgen gerne etwas herumführen. Die Stadt zeigen, den Hafen besuchen, immerhin wird ein neues Schiff zu Wasser gelassen! Das könnte man etwas mitfeiern.“
    „Das ist eine gute Idee“, stimmte Willfred seinem Sohn zu. „Ein großartiges Schiff sogar. Eines der größten, die wir jemals anfertigen haben lassen.“
    „Sieben Jahre hat die Anfertigung gedauert“, wandte sich Yorick an die Gruppe. „Es besitzt mehrere Decks, insgesamt achtzig Kanonen und ist dreimastig.“
    „Eine Galeone?“, mischte sich Daphne ein und ihr Vater nickte.
    „Sie war eigentlich als dein Hochzeitsgeschenk gedacht, aber … dazu kam es ja nicht“, fügte der alte Mann hinzu,
    „Mein eigenes Schiff?“ Daphne riss die Augen auf. „Aber warum? Ich ...“
    „Du wolltest doch frei sein“, unterbrach der Vater sie. „Ich konnte zwar nicht alle Traditionen ändern, aber dir zumindest die Möglichkeit zu reisen geben, wenn es dir Heinrich gestattet hätte. Nach unserem Streit gab ich sie in Auftrag, aber wie wir wissen ...“
    Daphne schluckte trocken. Das hatte sie nicht gewusst, auch wenn das an ihrer Flucht nichts geändert hätte.
    „Das hätte er ihr bestimmt nicht gestattet!“, murmelte Thyra dem Rest kaum hörbar zu. „Nicht ohne Kerker.“
    „Gehört es immer noch mir?“, wollte Daphne wissen.
    „Wenn du es haben willst!“, bejahte ihr Vater indirekt.
    „Für was?“, mischte sich die Mutter ein. „Damit sie wieder abhauen kann. Sie kann gerne an den Strand gehen, aber über den Ozean reisen?“
    „Wenn sie zu halten bedeutet, sie gehen zu lassen, dann bin ich bereit diesen Preis anzunehmen“, entgegnete der Vater kalt seiner Frau. „So habe ich die Chance, dass sie freiwillig zurückkehrt.“
    Dann ist ja gut, dass nach deiner Abdankung Tristan das Sagen dahingehend hat. Immerhin habe ich ihn heute mit dem Anschreiben der Adelshäuser beauftragt, die, mit viel Glück, einen Gatten zu Folge haben werden!“
    Daryk verschluckte sich in dem Moment und Thyra fiel kommentarlos ein Stück Fisch aus dem offenstehenden Mund.
    „Soll ich ihren Schatten kontrollieren und sie von der nächsten Klippe jagen?“, erklang es hingegen von Theical leise, der dies an den Hünen und Jaris wandte.
    „Ich hab es leider geahnt“, gestand der Söldner an seine Gegenüber.
    „Du hast was?“, schrie Daphne und fuhr hoch. „Dann kannst du meinem Vormund ausrichten, dass noch immer ich das Sagen über mich habe. Ich lasse mich nicht verschachern wie Vieh!“
    „Gewöhne dich dran!“, nuschelte die Mutter mit vollem Mund.
    „Nicht in tausend Jahren und nicht in weiteren hundert Leben!“
    Wie wäre es mit einem anderen Thema?“, versuchte Yorick zu schlichten. „Den Krieg, den wir gewonnen haben? Sind Ritter eigentlich auch adlig? Ich bin mit Lyc nicht so bewandert.“
    „Yorick?!“, schrie Daphne ihren Bruder ebenso laut an. „Das ist jetzt nicht der Augenblick für dämliche Bemerkungen.“
    „Ja, sind sie!“, kreischten Thyra und Theic mit einer Stimme dazwischen.
    „Nein, dass ist genau der richtige Moment für dämliche Bemerkungen!“
    „Es ist zumindest der richtige Moment für eine Herzogin sich zu erheben und ihr Gemach aufzusuchen. Ich habe alles gesagt, was es von meiner Seite zu sagen gibt“, antwortete Maria und trank ihren Kelch leer.
    „Das ist, glaube ich, besser“, flüsterte selbst Willfred und sah mit mürbe Blick dabei zu, wie seine Frau sich erhob und ging. Kleinlaut entschuldigte er sich bei seinen Gästen für den Aufstand.
    Früher war sie einmal anders gewesen!“, fügte er hinzu und schüttelte seinen Kopf. Daphne konnte nur sagen, dass sie ihre Mutter, im Gegensatz zum Vater, nicht anders kannte. Alle aßen noch fertig, bevor man beschloss Daphne wieder auf ihr Zimmer zu bringen und den Gästen eigene zuzuweisen. Sie kam nicht umhin zu bemerken, dass ihr Vater einen musternden Blick durch die Gruppe schweifen ließ, bevor er einen Diener leise zu sich zitierte und dann wiederum fortschickte. Sie konnte nur hoffen, dass der alte Herzog nicht mehr allzu streng nach Traditionen handelte, aber wirklich Einfluss hatte sie darauf nicht.

    • Offizieller Beitrag

    Schweigend folgten Daryk, Thyra Jaris und Theic nach dem Essen dem Hausdiener, der sie durch die geräumigen Gänge des Schlosses führte. Im Vorbeigehen betrachtete der Ritter die gewaltigen Säulen die das Gewölbe trugen. Selbst er fühlte sich klein und unbedeutend während er durch diese Hallen schritt und er fragte sich, wie es wohl Daphne gehen musste, wenn sie durch ihr ehemaliges Gefängnis wandelte. Die Gruppe wurde von zwei Wachen verfolgt, deren Blicke Daryk selbst durch ihre Visiere hindurch in seinem Rücken spüren konnte.
    „Also Daryk, was läuft da?“, fragte Thyra unvermittelt in die Stille hinein.
    Einen Seufzer unterdrückend antwortete Daryk nur: „Wo?“
    Auch wenn er es bezweifelte, hoffte er dennoch, dass er dem Gespräch so entkommen konnte.
    „Na bei dir und…“, fing sie an, wurde aber von Theics Ellenbogen in ihren Rippen unterbrochen. Sie erkannte, dass Daphne in diesem Zusammenhang anzusprechen keine gute Idee war und fuhr mit „…deiner Ärztin“ fort.
    Daryk fühlte sich wieder wie in einem Verhör, merkte aber, dass es ihm deutlich schwerer fiel diese Wahrheit für sich zu behalten.
    „Sie ist Heilerin, was soll da laufen“, fragte er deshalb und bemühte sich beiläufig zu klingen.
    Theical schloss zu ihm auf und meinte, nun neben Daryk laufend: „Sie hat drei Tage quasi deine Hand gehalten! Ich kenne keine normale Heilerin die das tut.“
    „Sie ist auch keine normale Heilerin!“,
    entgegnete der Ritter, „sie ist… besonders.“
    Das Grinsen des kleinen Mannes und der Jägerin zeigten ihm deutlich, dass sie seine Aussage nicht in der Weise, dass sie eine vom Gott des Lebens gesegnete Heilerin war, interpretierten, sondern eher so, dass sie für ihn besonders war. Auch wenn in diesem Fall beides stimmte, ergänzte er schnell: „Ihr wisst genau was ich meine!“
    „Oh ja“
    , stimmte Thyra ihm zu, „das tun wir!“
    Daryk verdrehte die Augen und meinte nur: „Denkt was ihr wollt, das macht es noch lange nicht wahr!“
    Darauf schienen die beiden keine Antwort zu haben denn sie sagten nichts weiter. Obwohl Daryk genau wusste, dass dieses Thema noch lange nicht beendet war, war er zunächst froh, in Ruhe gelassen zu werden. Es fiel ihm schwer genug, zuzusehen, wie Daphne wieder eingesperrt und von allen anderen getrennt wurde, da wollte er nicht auch noch dauernd darüber reden müssen und so tun, als wäre es ihm egal.

    Eine ganze Weile wanderten sie dann stumm durch das Schloss, bis der Diener schließlich vor einer Türe stehen blieb.
    „Für das Ehepaar“, verkündete er mit einer kleinen Verbeugung und öffnete die Tür, durch die selbst Daryk mit erhobenen Armen hätte gehen können.
    „Vielen Dank“, antwortete Thyra höflich und ging zusammen mit Jaris, der sich ebenfalls kurz bedankte hinein.
    Der Diener schloss die Tür hinter ihnen und ging weiter durch den Gang. Theical und Daryk folgten dem älteren Herrn weiterhin durch das Gebäude. Nur eine Tür weiter wiederholte sich das Ganze und Theical bekam ebenfalls ein Schlafzimmer zugewiesen. Nun wurde der Todesritter alleine weitergeführt. Nachdem er an der nächsten Tür vorbeiging wunderte er sich kurz, nahm dann aber an, dass das das Zimmer für Aras war.
    Daryks schwere Schritte hallten durch die Gänge und obwohl Daryk prinzipiell in der Lage war, sich leise fortzubewegen, wurde jeder solcher Versuch vom Echo des kleinsten Geräuschs unterbunden. Es war eine interessante Sicherheitsmaßnahme, jedwedes Anschleichen schon im Keim zu ersticken.
    Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als der kleine Mann vor ihm tatsächlich vor der nächsten Tür stehen blieb und öffnete.
    „Für den Krieger“, sagte er mit einer weiteren Verbeugung, „ich hoffe es ist alles zu Eurer… Zufriedenheit.“
    Das unterdrückte Grinsen im Gesicht des Mannes entging dem Hünen nicht, aber er dachte sich nichts dabei, nickte dankend und betrat das Zimmer. Sofort wurde die Türe hinter ihm wieder geschlossen, was Daryk an einen Kerker erinnerte. Er sah sich um und erkannte, dass er sich wohl in einem Vorraum befand. Außer einem Tisch mit zwei Stühlen, einem bequem aussehenden Sessel und einem Kleiderhaken befand sich nichts in dem kleinen Zimmer. Links von Daryk führte eine offenstehende Türe offensichtlich in ein Badezimmer. Demnach würde die andere vermutlich zum Bett führen. Nach dem Abendessen war Daryk nicht nach Alpträumen, aber seit dem Tempel hatte er nicht mehr schlecht geträumt und er hoffte, dass sein erleichtertes Gewissen ihm nun ruhige Nächte verschaffen würde. Er beschloss, schlafen zu gehen, ließ seine Rüstung im Höllenfeuer verschwinden und rieb sich die brennenden Augen, als er die Türe öffnete und hindurchging. Hinter sich hörte er die Tür ins Schloss fallen und öffnete die Augen wieder.
    Wie erwartet sah er vor sich ein großzügig bemessenes Bett. Entgegen seinen Erwartungen waren aber die beiden nackten Frauen, die sich auf ebendiesem Bett räkelten.
    „Hallo, starker Mann!“, flötete die blonde, während sie sich vom Bett erhob und auf ihn zukam.
    Daryk erkannte die zwei als die Zofen, die Daphne vor der Schlacht bemalt hatten und ihm damals noch weitaus weniger freundlich gesinnt waren.
    Unsicher, was das zu bedeuten hatte, zog er eine Augenbraue hoch und versuchte einen Schritt zurück zu machen, stieß aber gegen die Tür.
    „Hast du Angst, mein großer?“, fragte nun auch die Brünette, die noch auf dem Bett saß und mit ihren langen Haaren spielte, „gefällt Svenja dir nicht?“
    Schweigend betrachtete Daryk das Schauspiel und begann sich unwohl zu fühlen. Schon in seiner Heimat wollte er keine zweite und dritte Frau haben und das würde sich jetzt nicht ändern.
    Svenja war bei ihm angekommen und strich mit der Hand über seine Brust. Sie blickte zu ihm auf und sah ihm in die Augen. Zärtlich nahm sie seine schwarze Hand und fuhr, wie Daphne, die Runen nach.
    „Ein mächtiges Tattoo für einen mächtigen Krieger!“, flüsterte sie beeindruckt.
    „Du hast keine Ahnung, was diese Zeichen bedeuten, oder?“, brummte Daryk und starrte ihr ebenso in die blauen Augen.
    „Oh er kann ja doch reden“, kicherte Svenja, „nein, das weiß ich nicht, aber du kannst es mir ja erklären.“ Sanft versuchte sie ihn in Richtung des Bettes zu ziehen.
    Keinen Millimeter bewegte er sich von seinem Platz weg, was die Blonde mit einem vielsagenden Grinsen bedachte.
    „Kassandra, ich glaube du musst mir beim Überzeugen helfen!“, meinte sie dann, ohne dem Blick aus Daryks Augen zu nehmen.
    Die angesprochene hörte auf, sich eine Haarsträhne um die Finger zu wickeln und erhob sich nun ebenfalls vom Bett. Mit langsamen und eleganten Schritten näherte sie sich den beiden und ließ ihre Hand im Vorbeigehen über Svenjas Schulter wandern. Dann nahm sie Daryks andere Hand und legte sie auf ihren Bauch.
    Er zog die Hand zurück und blickte sie emotionslos an.
    „Wir sind heute aber beherrscht“, lobte Kassandra, immer noch lächelnd, während Svenja sich verführerisch auf die Unterlippe biss.
    Scheinbar waren die beiden es nicht gewohnt, abgewiesen zu werden und waren fest entschlossen den Ritter für diese Nacht zu erobern.
    Er überlegte, wie er aus dieser Situation entkommen sollte, ohne die Nordmänner aus dem Süden zu beleidigen. Allerdings war er sich nicht sicher, ob das Ganze eine Art Gastgeschenk darstellen, oder eine Prüfung für ihn sein sollte. Innerlich fragte er sich, was wohl unhöflicher wäre: Das Geschenk abzulehnen oder eine eventuelle Prüfung nicht zu bestehen.
    Er hoffte, auf die Prüfung, da er nicht vor hatte, den beiden nachzugeben, auch, wenn ihm inzwischen klar war, dass die beiden ein „nein“ nicht akzeptieren würden.
    Abgelenkt von seinen Gedanken, war ihm entgangen, dass Svenja begonnen hatte sein, von Daphne genähtes Hemd aufzuknöpfen. Kurz starrten die beiden Frauen die Muster auf seiner Brust an, bevor sie mit ihrer Arbeit fortfuhren und wieder versuchten ihn mit sich zum Bett zu führen.
    Erneut ließ er sich nicht vom Fleck bewegen, was die zwei Zofen nur noch weiter anspornte.
    „Vielleicht möchte er lieber stehen?“, raunte Svenja ihrer Freundin zu.
    „Finden wir es heraus“, schlug Kassandra frech grinsend vor und kniete sich hin.
    Jetzt wurde es Daryk langsam zu blöd und er überlegte, ob er nicht einfach seine Rüstung beschwören sollte um dem Ganzen ein Ende zu setzen. An der würden sich selbst die beiden Raubtiere vor ihm die Fangzähne ausbeißen.

    Bevor irgendetwas weiteres passieren konnte, spürte er einen Schlag in seinem Rücken. Nach kurzer Verwirrung erkannte er, dass jemand die Türe hinter ihm hatte öffnen wollen. Schnell machte er einen Schritt nach vorn und drehte sich herum. Kassandra war von seiner Bewegung überrascht worden und fiel nach hinten um, während Svenja versuchte sie zu fangen. Jetzt sahen die beiden gar nicht mehr so elegant aus wie zuvor, stellte Daryk belustigt fest und richtete seinen Blick wieder zur Tür.
    Erneut versuchte jemand sie zu öffnen, was diesmal auch gelang und Thorvid kam herein. Wortlos rieb er sich die Stirn und warf Daryk einen bösen Blick zu, als ob dieser etwas dafürkonnte, dass Daphnes Bruder gegen die Tür gelaufen war. Der Ritter zuckte mit den Schultern und deutete mit einer Bewegung seines Kopfes auf die Zofen die sich wieder aufrappelten.
    Thorvid nickte, als wüsste er, was Daryk meinte.
    „Mein Lord, wie können wir…“, begann Kassandra zu reden, wurde aber von Thorvids Geste unterbrochen, welcher nur auf das Bett deutete.
    Erneut zeigte sich ein Grinsen in der Gesichtern der beiden und sie fügten sich dem Befehl nach einer kurze Verbeugung. Sie lagen wieder auf dem Bett, wie sie es getan hatten, als Daryk den Raum betreten hatte.
    Immer noch wortlos verlies Thorvid das Zimmer wieder und bedeutete dem Ritter kurz ihm zu folgen.
    Daryk knöpfte sein Hemd wieder zu, während er dem Namenlosen folgte. Er hatte keine Ahnung wohin Thorvid ihn führen würde, oder was er vorhatte. Er schätzte Thorvid nicht so ein, dass er einen offenen Kampf mit ihm suchen würde. Zudem hatte er bereits genügend Nächte in dessen Nähe verbracht, um dem Barden die Chance zu geben Daryk im Schlaf zu töten, weshalb er nicht annahm, dass Thorvid etwas in dieser Richtung vorhatte.
    Stumm folgte er dem Mann und war überrascht, als sie das Schloss verließen und sich in Richtung Strand bewegten. Thorvid führte den Ritter zum Eingang einer kleinen Grotte, welcher kaum zu finden war, wenn man nicht wusste, dass er dort war. Er schlüpfte hindurch und Daryk folgte ihm. Der Felsspalt war eng, aber erlaubte es auch dem Hünen die Grotte zu betreten.
    Das wenige Licht, das durch den Eingang schien reichte nicht weit in die Höhle, zeigte aber einen kleinen Bach, der aus dem inneren herausströmte. Der Namenlose schritt voran und war bald in der Dunkelheit verschwunden. Daryk ging hinterher und ließ eine kleine Flamme in seiner Hand aufflammen, um nicht in ein Wasserloch zu fallen. Er spürte, wie Xhars Höllenfeuer seine Kraft aus seiner eigenen Lebensenergie zog. Mit der Zeit würde es ihn schwächen aber er war sich sicher, dass er sich auch wieder erholen würde. Die kleine Flamme in seiner Hand konnte Daryk sogar unbegrenzt brennen lassen, ohne spürbar schwächer zu werden.
    Überrascht starrte Thorvid das Feuer in seiner Hand und die glühenden Runen auf seiner Haut an.
    „Lange Geschichte“, meinte Daryk knapp und erinnerte sich daran, dass diese Geschichte Details enthielt, die der Barde besser nicht erfuhr.
    Kurz nickte Thorvid, bevor er sich wieder dem Weg zuwandte. Nach wenigen Metern kamen sie an einem Fackelhalter vorbei, dessen Fackel Daryk entzündete und die magischen Flammen wieder erlöschen ließ. Er reichte die Fackel an Thorvid weiter, welcher kurz nickte und dann weiter in die Höhle marschierte.
    Je weiter sie vordrangen, desto mehr menschliche Bauelemente stützten die Wände und Decken. Nach kurzer Zeit war die natürliche Umgebung einem gemauerten Gewölbe gewichen und die beiden ähnlich gesprächigen Männer wandelten durch einen Gang, der sich ebenso im inneren des Schlosses hätte befinden können.
    Abrupt endete der Weg und eine steile Wendeltreppe schraubte sich nach oben.
    Ohne stehen zu bleiben begann Thorvid die Stufen zu erklimmen und Daryk tat es ihm mit einem inneren Seufzer gleich.

    Oben angekommen standen sie in einem scheinbar leeren Raum. Verwundert blickte der Hüne sich um und sah Thorvid, wie er etwas in einer Nische herumfummelte.
    Plötzlich schwang ein Teil der Wand auf und offenbarte einen Raum im Schloss. Offensichtlich hatte Thorvid Daryk durch einen Geheimgang geführt. Er schob den Ritter durch die Öffnung in das Zimmer, welches neben einer Badewanne eine ganze Reihe Kleiderschränke aufwies. Der Namenlose ging zu einer Blumenvase, welche auf einer Kommode stand und nahm drei Rosen heraus. Eine davon drückte er Daryk mit den Worten „wir waren nie hier!“ in die Hand und nahm die verbleibenden zwei mit sich durch den Geheimgang, dessen Türe sich hinter ihm schloss.
    Verdutzt blinzelte Daryk die Rose in seiner Hand an, während er versuchte, zu verstehen, was soeben geschehen war. Wie sollte er hier wieder herauskommen? Er hatte keine Ahnung wie der Gang zu öffnen war.
    Sanfte Klänge unterbrachen seine Gedanken und er folgte dem Geräusch bis zu einer Türe. Noch mit der Rose in der Hand öffnete er diese vorsichtig und spähte hindurch.
    Er konnte es fast nicht glauben, als er Daphne sah, wie sie in ihrem Nachthemd an einem Cembalo saß und ein Lied spielte.
    Im Gegensatz zu den Gängen des Schlosses waren die Räume durch die Möbel und Teppiche nicht so hallend, sodass Daryk sich ihr nähern konnte, ohne dass sie ihn bemerkte. Als er direkt hinter ihr stand lauschte er ihrem Spiel noch ein paar Sekunden, bevor er ihr rasch die Hand über den Mund legte, um ihren Schrei der Überraschung zu unterdrücken, welcher mit Sicherheit Wachen angelockt hätte.
    Sie griff an seine Hand, um sich von ihrem Griff zu lösen, erkannte sie aber scheinbar als Daryks und nuschelte ungläubig seinen Namen.
    „Schönes Lied“, erwiderte er ehrlich lächelnd und nahm die Hand aus ihrem Gesicht.
    Sie wandte sich ihm zu und auch im Halbdunkel des Musikzimmers, in dem sich auch noch eine Harfe und Violine befanden erkannte er, dass sie errötete.
    „W-Wie…?“, stotterte sie ihn mit einer Mischung aus Unglauben und Freude in der Stimme an.
    Daryk reichte ihr die Rose und erklärte: „Thorvid hat mich vor deinen Zofen ...gerettet und mir einen Geheimgang gezeigt“
    „Zofen?“
    , fragte sie vorsichtig nach und spielte nervös mit der Rose in ihren Händen.
    Er nickte kurz und antwortete: „ja, deine Zofen... die waren in meinem Zimmer“
    Eine kurze Pause erlaubte er sich, bevor er sich wahrheitsgemäß zu „…Bett“ korrigierte.
    Daphne ließ die Rose fallen und zwang sich leise zu reden als sie ein leicht entsetztes „Bett?!“ zischte.
    Schnell hob Daryk die Rose wieder auf und reichte sie ihr erneut.
    „Bett“, bestätigte er nickend und fügte nach einer kurzen Pause ich habe sie da nicht hingebracht!“ hinzu.
    Sie legte die Rose auf das Cembalo und fuhr sich durch die Haare
    „Ich weiß, das sind ... Gastgeschenke“, erklärte sie, „mein Vater muss angenommen haben, dass ihr Kriegsgebeutelten etwas Ablenkung gebrauchen könnt.“
    Belustigt zog er eine Augenbraue nach oben und meinte grinsend: „Sehr Gastfreundlich.“
    Ob diese Gastfreundschaft wohl nur ihm zuteilwurde oder auch Theical und später dem Herzog?
    Leise lachend nickte Daphne.
    „Ja, aber nicht ohne Hintergedanken“, führte sie aus, „die Frauen werden einem starken Krieger auch zur Verfügung gestellt, um sich seiner Nachhaltigkeit zu bemächtigen. Seine Stärke und Kampfkraft soll im Volk … fortgeführt werden.“
    „Auf meine… Nachhaltigkeit müssen sie wohl verzichten“
    , versicherte der Ritter seiner Prinzessin.
    Mit einem frechen Grinsen im Gesicht stand sie auf und stellte sich vor ihn.
    „Ist dem so?“, fragte sie herausfordernd und legte den Kopf schief.
    Daryk verschränkte die Arme und sah zu ihr hinunter.
    „Deine Zofen meinte ich, nicht dein Volk“, entgegnete er bestimmt.
    Ein ehrliches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie seine Hand aus der Verschränkung löste. Wie zuvor Svenja es getan hatte, hielt sie seine Hand und sah ihm in die Augen. Diesmal allerdings fühlte er sich deutlich wohler dabei und lächelte zurück.
    „Darüber bin ich sehr froh“, flüsterte sie mit rotem Kopf „dass nur die beiden auf deine Anwesenheit verzichten müssen.“
    Ohne Widerstand ließ sie sich zu ihm ziehen und in den Arm nehmen. Kurz genossen beide den Moment, bevor Daryk sich im Zimmer umsah. Es war ein großer Raum mit mehreren Türen, die vermutlich zu angrenzenden Räumlichkeiten wie dem Ankleidezimmer mit dem Geheimgang führten. Daphnes Wohnbereich war schöner eingerichtet und weitaus geräumiger und heller als der Kerker in Lyc, aber dennoch genau das – ein Gefängnis.
    „Hier hast du gewohnt?“, wollte er schließlich wissen ohne sie loszulassen.
    „Gelebt!“, verbesserte sie ihn traurig, „verlassen durfte ich diese Räumlichkeiten selten. Mit fortschreitendem Alter immer weniger.“
    Daryk konnte spüren, wie Daphne sich näher an ihn heranzog und ihre Wange an seine Brust presste, als wollte sie den Erinnerungen an früher entfliehen.
    Sanft streichelte er ihr über den Kopf und sagte leise: „Ich kann verstehen, warum du weggelaufen bist.“
    Sie lockerte ihren Griff etwas und sah zu ihm herauf.
    „Und bleiben werde ich jetzt auch nicht“
    , stellte sie bestimmt fest, „Es beginnt von vorne, wie du gesehen hast!“
    Ein leises Lachen entfuhr ihm, woraufhin sie ihn verwirrt anstarrte.
    „Wo ich herkomme sind die Frauen froh, wenn sie das Haus nicht verlassen müssen und müssen es trotzdem tun“, erklärte er sich rasch und mit nachdenklicher Stimme, „und hier ist es genau anders herum.“
    Nun lachte auch die Heilerin und zog ihn an der Hand hinter sich her.
    „Bei dem Wetter verständlich“, meinte sie, als er widerstandlos zu einem bequem aussehenden Sessel folgte, „aber als Ehemalige Königswache… frag die Prinzessinnen.“
    Sie wies mit der Hand auf den Sessel. Gern folgte er der Einladung und setzte sich.
    Die mussten nicht raus…“, gab er zu und wusste auch, dass er das „mussten“ ebenso gut durch „durften“ hätte ersetzen können. Auch wenn diese Tatsache in Lyc aufgrund des dort herrschenden Klimas nicht ganz so schwer wog, wie hier in Devyleih.
    „Wählen oder entscheiden dürfen sie auch nicht“, merkte Daphne noch zusätzlich an, was Daryk mit einem Kopfschütteln bestätigte.
    Kurz schaute er die kleine Frau vor sich an und nahm dann ihre Hand.
    „Darfst du jetzt?“, fragte er leise.
    Ihr Blick wurde traurig und nachdem sie sich kurz umgesehen hatte fragte sie mit einem bedauernden Unterton: „Sieht es so aus?“
    Daryk ahnte, was das für ihn als mittellosen Ritter bedeutete und blickte mit einem weiteren Kopfschütteln zu Boden.
    Vorsichtig kletterte Daphne auf seinen Schoß und saß ihm zugewandt da. Wie schon nach dem Tempel legte sie ihre Hand auf seine Wange und hob seinen Kopf wieder an. Ihre braunen Augen schauten ihm entschlossen in die seinen, als sie sagte: „Aber ich werde mir nichts mehr nehmen lassen!“
    „Nichts?“
    , fragte er fordernd und blickte ihr wieder in die Augen.
    Daphne schüttelte den Kopf.
    „Nichts!“, bestätigte sie ohne zu zögern und küsste ihn.
    Eine ganze Weile saßen sie danach einfach nur da und Daphne begann, sich auf seinem Schoß einzurollen. An seine Brust gekuschelt lag sie da und schien langsam einzunicken.
    „Willst du schlafen?“, fragte er vorsichtig.
    Mit müden Augen blinzelte sie ihn an. „Ich glaube schon, es war ein langer Tag.“
    Daryk nickte lächelnd.
    „Soll ich gehen?“
    , fragte er unsicher.
    Die Prinzessin schaute ihn überrascht an. Willst du gehen?“
    Mit einem schnellen schütteln des Kopfes verneinte er diese Frage.
    „Dann bleib“, verlangte sie freundlich und legte ihren Kopf wieder auf seine Brust, „abgesehen davon stehen zwei meiner Brüder vor meiner Tür und so wie ich Thorvid kenne hat er bestimmt „vergessen“ dir zu sagen, wie der Geheimgang von dieser Seite aufgeht.“
    Leise lachend musste Daryk ihr zustimmen und noch bevor er fragen konnte fügte sie hinzu, dass sie es auch nicht wusste und es ihm auch nicht sagen würde wenn sie es wüsste.
    Zufrieden lächelnd gab er auf und lehnte seinen Kopf am Sessel an.
    Es gab wahrlich schlimmeres, als die Nacht bei Daphne zu verbringen, zumal er ein Gefühl hatte, dass sein eigenes Bett diese Nacht anderweitig benutzt werden würde.
    „Komm mit“, meinte Daphne plötzlich und erhob sich von seinem Schoß. Wieder nahm sie seine Hand und zog ihn sanft durch das Zimmer. Die Prinzessin stapfte auf die Schlafzimmertür zu und führte Daryk an der Hand mit hinein.
    Wortlos ging sie zu dem großzügigen Himmelbett, kletterte hinein und nahm ihn mit sich.
    Als er neben ihr auf dem Bett saß zog sie die Vorhänge der Schlafstatt zu und meinte: „Muss ja nicht gleich jeder sehen, dass ich nicht alleine hier bin.“
    Zustimmend nickte Daryk ihr zu, zog sein Hemd aus und legte sich hin. Sie kam zurückgekrabbelt, warf die Decke über sich selbst und ihn und küsste ihn noch einmal.
    Dann legte sie sich wieder auf seine Brust und fuhr wieder über die schwarzen Linien auf seiner Haut. Mit der Zeit wurden ihre Berührungen immer langsamer und bald konnte er den regelmäßigen Atem der schlafenden Frau spüren. Ihre Wärme und Nähe beruhigten ihn und er merkte wie er auch langsam in den Schlaf abdriftete.

  • Thyra schob sich an Jaris vorbei und betrat neugierig ihr zugewiesenes Zimmer.
    Der erste Raum war klein. Ein Tisch und zwei Sessel. Auf dem Tisch eine Karaffe Wein und zwei Gläser. Daneben lag eine Rose. Thyra drehte sich um und stellte sich kokett in den Türrahmen. "Die Nordmänner wissen wie es läuft."
    Jaris kam grinsend auf sie zu, fasste sie an der Hüfte und gab ihr einen Kuss. Sie löste sich lachend und fuhr mit der Erkundung der Räumlichkeiten fort. Sie öffnete die Tür zu ihrer linken. Aus diesem Raum führte eine weitere Tür ab, wohl ins Badezimmer. Sie ließ den Blick schweifen und blieb an einem großem Himmelbett hängen, welches vor einer verglasten Front stand. Der Blick war einzigartig. Er offenbarte die nachtschwarzen Weiten des Meeres und den Mond, der sich silbrig auf der Gischt der Wellen spiegelte.
    Mitten auf dem Bett lag ein dunkelblaues Kleid mit silbernen Verzierungen und einem tiefem Rückenausschnitt.
    Daneben eine passende Hose samt Hemd für Jaris.
    "Warum kriegen Frauen immer Kleider?", moserte Thyra im Spaß. Aber sie fühlte sich in ihrer Lederhose wirklich wohler. Jaris grinste, kam abermals auf sie zu und schloss sie in die Arme. "Vielleicht, weil sie in Kleidern umwerfend aussehen." Er wollte sie küssen, aber sie entzog sich ihm. "Heißt das, ich sehe sonst nicht umwerfend aus?", neckte sie ihn. "Na dir werd ich helfen ..."
    Sie wand sich aus seinen Armen, was diesmal schwieriger war, als beim ersten Mal, aber schließlich ließ der Söldner sie gewähren. Dann drehte sie sich um und machte sich auf den Weg ins Bad. Dabei streifte sie das Kleid, das sie von Daphne bekommen hatte, erst von der einen und dann von der anderen Schulter, bis der Stoff schließlich gänzlich an ihr hinabglitt und raschelnd zu Boden fiel. Ohne im Gehen zu stocken schritt sie weiter aus und ließ die Hüften provokant schwingen.
    Sie hörte Jaris noch tief Luft holen, ehe sie im Badezimmer verschwand. Es dauerte nicht lange bis er ihr folgte und diesmal wehrte sie sich nicht gegen seine Küsse und Berührungen.

    Writers aren't exactly people ... they're a whole bunch of people trying to be one person.
    - F. Scott Fitzgerald

    • Offizieller Beitrag

    Theical wälzte sich auf die andere Seite und zog sich die Decke über den Kopf. Etwas blendete ihn.
    „Ich will noch nicht aufstehen“, brummte er in die Kissen.
    Eine ganze Weile blieb er regungslos liegen, bis er seinen Kopf doch wieder aus dem Laken streckte und mit verkniffenen Augen in den Raum spähte. Er war viel zu hell und durch die Sonne, die direkt durch das Fenster ins Zimmer schien, wurde der Umstand nur wenig gemindert. Aber das war es nicht, was ihn geweckt hatte. Es dauerte etwas, bis sich die Gedanken klärten, dann aber streckte er sich ausgiebig und wollte sich wieder drehen, kippte dabei aber über die Kante des Bettes und klatschte wenig elegant samt Kissen und Decke auf den Boden. Dabei verfing er sich so stark im Stoff, dass er sich nicht einmal abfangen konnte und wie ein Fisch im Netz zu zappeln begann.
    „Ah, Ihr seid wach“, meinte eine weibliche Stimme von der Tür. „Das trifft sich gut.“ Die Frau trat breit lächelnd ins Zimmer und legte ein Bündel Kleidung auf das Bett. „Meine Schwester bereitet das Bad vor.“
    Theical hielt kurz in seinem Tun inne und sah zur Tür, ehe er sich mit der Decke in eine sitzende Position kämpfte. Es war die gleiche hellhaarige Frau wie am Abend zuvor. Nur trug sie diesmal mehr Kleidung. Am Rande bemerkt, musste er dringend den Spaßvogel finden, bei dem er sich für diesen Schreck bedanken konnte, den er erlitten hatte, als er das Schlafzimmer betreten hatte.
    „Schwester? Bad?“, brachte er immer noch müde hervor, während er sich den Schlaf aus den Augen wischte.
    Die Dienerin hob die Brauen. „Ihr habt uns doch die Erlaubnis gegeben, Euch eine Frisur nach dem Vorbild unseres Volkes zu geben. Und das geht besser, wenn die Haare nass sind.“
    Wenn er so darüber nachdachte, dann war da wirklich was.
    Die Frau musste die Stille fehlinterpretieren, denn der fröhliche Ausdruck verschwand aus ihrem Gesicht. „Oder habt Ihr es Euch anders überlegt?“
    Theical winkte ab.
    „Schon in Ordnung.“ Etwas unsicher blickte er sich um. „Wo sind eigentlich meine anderen Sachen?“
    „Wir haben sie eingesammelt und in die Waschküche gebracht. Das hier“, die deutete wieder fröhlich auf das Bündel auf dem Bett. „habe ich Euch herausgesucht. Es müsste Euch eigentlich passen.“
    Erst jetzt merkte Theical, dass er vollkommen nackt war und nur von der Decke verhüllt wurde. Panisch versuchte er sich einen Plan zurecht zu legen, wie er von neben dem Bett zu der Kleidung kommen sollte. Bzw. wie er die Frau aus dem Zimmer bekam. Diese kicherte.
    „Tut Euch keinen Zwang an. Da ist nichts, was wir nicht schon gesehen haben“, lachte eine zweite Frau beherzt, die nun ebenfalls in den Raum trat. „Das Bad wäre fertig.“
    Nur schwerlich konnte Theic den Impuls zurückkämpfen, sein wohl knallrotes Gesicht in der Decke zu verstecken. Es wäre ihm lieber gewesen, er hätte seine „Gastgeschenke“ nicht noch mal wiedergesehen.
    „Ich hoffe, das ist keine Kinderkleidung“, grummelte er um sich selbst abzulenken.
    Die beiden Frauen warfen sich einen kurzen Blick zu. Allein das sagte schon genug aus. Und bei der Größe der Norder war das nicht mal unwahrscheinlich.
    „Naja also“, begann die jüngere der beiden.
    „Wir haben extra welche herausgesucht, die zu Euch passen“, ergänzte die andere.
    „Wehe es ist eine Narrenkappe dabei“, mitsamt Decke stolperte Theic am Bett vorbei und schnappte die Kleidung. Was auch immer die beiden Frauen letzte Nacht gesehen hatten, sollte dort auch in der Vergangenheit bleiben.
    Anschließend drängte er sich an den beiden Frauen vorbei, durchquerte das kleine Vorzimmer seiner Räumlichkeiten und betrat das Bad. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, warf er die Kleidung erst einmal in die Ecke und ließ sich in die Wanne fallen. Das Wasser war nicht sehr warm, aber dennoch angenehm.
    Er tauchte unter und wusch sich dann gründlich mit der Seife. Erst dann warf er einen genaueren Blick auf die Kleidung. Es handelte sich um eine helle Hose und ein weißes Hemd. Dazu irgendein mantelähnlicher Überzug aus einem hellbraunen Stoff auf der Außenseite und rötlicher auf der Innenseite. Der Mantel sollte auf der rechten Seite mit Knöpfen geschlossen werden. Dazu ein Gürtel und sogar Stiefel gehörten zu den neuen Sachen. Das waren definitiv keine Kleider für normale Bauern.
    „Jetzt wäre mir der Narrenhut lieber“, grummelte der Taschendieb vor sich hin, während er die Kleidung argwöhnisch musterte. Allerdings hatte er im Moment nichts anderes und wenn er es sich recht überlegte, so schlimm sah es nicht aus.

    Wenige Minuten später hockte er auf einem Stuhl, die beiden Frauen schräg hinter sich und wusste nicht, ob er sich sonderlich sicher fühlen sollte, bei dem Gedanken daran, dass jede von ihnen eine Schere in den Händen hielt.
    „Von der Länge nicht so viel wegnehmen, nur etwas und den Bart stutzen“, meinte die eine.
    „Nein, die Seiten kurz schneiden und den Bart stehen lassen.“
    Theical verzichtete darauf, sich in die Diskussion der Schwestern einzumischen, stattdessen gähnte er ausgiebig und schloss die Augen. Solang er zum Schluss überhaupt noch Haare auf dem Hof hatte.
    „Okay, dann nehmen wir an den Seiten nicht ganz so viel weg“, einigten sie sich dann.
    „Und den Bart auch nur formen“, fügte die Schwester hinzu. Bevor Theic noch etwas sagen konnte, fielen schon die ersten Haarsträhnen zu Boden. Irgendwie erinnerte ihn das an die Zeit, in der seine Großmutter noch begeistert seine Haare geschnitten hatte. Wie eine Puppe hatte Jamir an ihm herumexperimentiert.
    Ein Klopfen an der Tür unterbrach die beiden Frauen.
    „Theic, kommst du mit? Daphne will uns die Stadt zeigen!“, erklang Thyras Stimme von draußen.
    Mit einem Ruck stand der Taschendieb auf.
    „Ich bin gleich fertig!“ Das war seine Chance, den beiden Frauen zu entkommen. Noch länger und er würde aussehen wie Daryk. „Ihr seid doch fertig, oder?“
    „Ähm ja“, meinte die Ältere etwas überrascht.
    „Sehr gut.“ Und damit war er aus dem Raum verschwunden und trat neben Jaris und Thyra auf den Gang. Auf dem gleichen Weg band er den Teil seiner Haare wieder zusammen, was noch zusammenzubinden ging, was nicht mehr so viel war, hauptsächlich deshalb, weil an den Seiten die Haare zu kurz waren.
    „Sag ein Wort und ich lasse dich gegen die nächste Wand rennen“, meinte Theic, als er den Blick der Jägerin bezüglich seines Aufzuges sah.

    • Offizieller Beitrag

    Zusammen betraten sie das angrenzende Übungsgelände vor dem Schloss. Ein riesiges, flaches Areal, auf dem allerhand Gerätschaften standen und Arthur gerade den jüngsten Nachwuchs zurechtwies. Alles junge Männer von zirka fünfzehn oder sechzehn Jahren, die sich für diesen Weg und gegen ein Leben als Bauer oder Fischer entschieden hatten. Diese Gruppe verschrieb sich dem Kampf mit dem Schwert und Schild. Etwas, was Arthurs Aufgabe war zu lehren, wenn er keine Wache hielt.
    Jaris und der Herzog unterhielten sich angeregt über die Übungsweise, während Thyra und Theical die Strohziele für die Bogenschützen begutachteten. An diesem Ort merkte man, wie viel Wert die Nordmänner auf eine kämpferische Ausbildung legten. Die steinernen Gebäude, die sich, von Säulen getragen wie überall, weit nach oben erstreckten, waren die Unterkünfte derer, die vom Inland kamen und deren Familien nicht in der Stadt ansässig waren. In einem großen Kreis, zogen sie sich um den gesamten Platz. Daphne hatte diesen Ort selbst noch nie gesehen. Wie auch? Es war ihr verboten gewesen, alleine das Schloss zu verlassen und bei ihrer Flucht war die Kaserne nicht gerade ein bevorzugtes Ziel.
    Daryk lehnte sich an einen Fahnenmast vor den jungen Männern und verschränkte seine Arme vor der Brust, während Yorick und Daphne neben ihn traten.
    „Warum machen sie das?“, verlangte Daphne zu wissen und zeigte auf die jungen Männer. Was sie meinte, war die immer gleiche Bewegungsabfolge derer. Sie schienen ein und die selbe Bewegung immer und immer wieder gegeneinander auszuführen.
    „Warum was?“, hakte Yorick nach.
    „Ein Gegner macht doch auch nicht immer die gleiche Bewegung. Das hätte ich in Ymilburg gemerkt.“
    „Weil immer gleiche Bewegungen schneller trainiert werden können. Vor allem in Formationen sind sie sehr effektiv“, antwortete Daryk statt Yorick und Daphne verstand, was er meinte. Die Formationen, in denen sich die Nordmänner voran gekämpft hatten, hatte sie ganz vergessen.
    „Wenn es ums Kämpfen geht, bekommt der Schlächter sogar mal Sätze zusammen, ich bin begeistert“, frotzelte der Prinz neben seiner Schwester, die zwischen den beiden Männern stand. Daryk wandte sich Yorick zu und hob nach alter Manier seine Braue.
    „Oweiha“, dachte sich Daphne. „Gleich geht es wieder los. Er hat ein neues Opfer zum Sticheln gefunden.“
    Ich spreche nur, wenn ich etwas zu sagen habe!“, antwortete unterdessen der Ogerschlächter und Yorick lachte kurz.
    „Nicht immer“, erwiderte Daphnes Bruder und schaute ihn mit gleichem Blick an. Daryks hingegen wurde fragend.
    „Nein, was macht ihr denn da?“, brüllte plötzlich Arthur und als Daphne sich zu den jungen Männern herumdrehte, hatten diese sich verbeugt und ihren Blick auf den Boden gerichtet. Einer, der die Anwesenheit der Hoheiten, gerade der Prinzessin, zu spät bemerkte, schlug seinem Übungspartner noch das Holzschwert auf den Kopf, weshalb dieser wütend zu ihm aufblickte und es ihm abnahm.
    „Die Sache mit dem Ansehen, was“, murmelte Theical im Hintergrund und die Heilerin schlug sich hörbar die flache Hand gegen die Stirn. „Ein Wunder, dass sie sich nicht in den Staub werfen.“
    „Das würde noch fehlen … Es ist alles in Ordnung, ihr dürft weitermachen“, rief Daphne aus, was der Herzog Vater bestätigte.
    „Hoher Besuch“, begrüßte Arthur alle anwesenden, deren Taten man sich selbst in Delyveih erzählte. „An dem da hinten“, Arthur verwies auf Jaris, „könnt ihr euch ein Beispiel nehmen, was das Schwert angeht.“
    „Ich bin ihnen auch ein paar Jahre voraus!“, antwortete der Söldner lachend.
    „Nachher kommen die Bogenschützen, wenn Ihr Interesse habt ...“, stellte er Älteste der Namenlosen in den Raum und meinte damit Thyra, aber diese verneinte dankend.
    „Ich erhole mich gerade so gut. Vielleicht ein anderes Mal.“
    Nickend nahm Arthur diesen Beschluss hin. Die Blicke der jungen Männer, die sich getrauten zu erheben, wanderten zu Daryk. Er war einer derjenigen, die mit der schwarzen Rüstung umgehend auffielen, wozu seine Körpergröße noch beitrug.
    „Und das ist der Ogerschlächter“, flötete der Namenlose heraus. „Einen Oger besiegt er, aber euren Meister nicht.“
    Daryk seufzte und brachte nur ein: „Schwätzer!" , auf seiner Muttersprache heraus. Daphne lächelte und schaute zu Boden. Ein paar Sachen kannte sie in dieser Sprache. Nicht unüblich, wenn man nie wusste, wohin man verheiratet wurde.
    „Lügt er etwa?“ , antwortete sie auf Selbiger.
    Der Hüne fuhr zu ihr herum und schaute sie überrascht an.
    Guck nicht so“, entgegnete sie immer noch lachend. „Ich bin eine Prinzessin. Man weiß ja nie, wen man heiratet.“
    „Genau“ , stimmte Yorick auf Daryks Sprache zu. Den Folgesatz allerdings verstand sie nicht mehr. Der Ogerschlächter antwortete gewohnt knapp in seiner Sprache, aber auch das erkannte sie nur als Zustimmung zu etwas. Danach schaute Daryk zu ihr, während Yorick höhnisch auflachte.
    „Nein, er lügt nicht!“, meinte der Hüne schließlich.
    „Was habt ihr geredet?“, verlangte Daphne zu wissen.
    „Nichts“, wandte Yorick ein.
    „Es ging bestimmt um dich“, meinte Theical und trat neben den Bruder. „Sonst würde er nicht so dreckig lachen.“
    Schmollend schaute Daphne zwischen den Männern hin und her, die sich zu dem Thema ausschwiegen, aber selbst Daryk grinste. Noch immer schauten die jungen Krieger zu dem Schlächter, was selbst Daphne nicht verborgen blieb.
    „Ich glaube, du hast neue Freunde“, scherzte Theical, der ebenfalls nicht umhin kam, die Anstöße und Fingerdeutungen zu bemerken.
    „Warum starren die mich so an?“, fragte Daryk irgendwann und nun verschränkte auch Yorick seine Arme vor sich.
    „Ja“, setzte er gedehnt an. „Sie starren nicht Euch an, sondern Eure Rüstung.“
    Wiederholt hob Daryk seine Braue und blickte fragend zum Prinzen.
    „Der rote Jaspis. Die meisten dieser jungen Männer würden ihre Mütter dafür verkaufen, diesen Stein tragen zu dürfen“, erklärte Yorick und in diesem Moment begann Daphne, die Hitze in ihrem Gesicht zu bemerken.
    „Warum?“, bohrte Daryk weiter und die Heilerin hatte gehofft, er würde es damit einfach gut sein lassen.
    „Dieser Stein ist selten und wird grundsätzlich verschenkt, das ist Gesetz. Niemand darf ihn ohne Erlaubnis tragen, denn er wird ausschließlich von der Herzogsfamilie verschenkt. Wie eine Art Auszeichnung und ...“
    Jetzt war es ohnehin zu spät, nachdem Yorick gestoppt hatte.
    „Er soll seinen Träger widerstandsfähiger machen und ihn vor bösen Geistern bewahren, wie Flüche. Abgesehen davon … verkörpert er Zuneigung und Liebe gegenüber dem Träger!“
    „Aha ...“, nuschelte Theical über beide Ohren grinsend.
    „Flüche?“, wandte Daryk ein, was wohl ein versucht in ihren Augen war, von der letzteren Bedeutung abzulenken.
    „Du hast die Rüstung nicht getragen, als du in Ohnmacht gefallen bist.“
    „Verstehe“, antwortete Daryk knapp.
    Er schaute ihr in die Augen und sie versuchte die Röte in ihrem Gesicht, gekonnt durch einen tiefen Atemzug weg zu atmen, aber viel Hoffnung hatte sie nicht, dass ihr das gelungen war. Irgendwann traten auch Willfred, Jaris und Thyra an ihre Seite und der Vater musterte seinen namenlosen Sohn auf dem Feld.
    „Du hast den Hünen hier geschlagen?“, verlangte er zu wissen und Arthur schulterte nickend sein Übungsschwert.
    „War er da betrunken?“, verlangte Willfred weiter zu wissen und schaute den Rest an. Immerhin überragte Daryk Arthur gut um einen halben Kopf. „Was hat Euch abgelenkt?“
    Daryks Blick schweifte zu Daphne, die ihre Brauen hochzog, als sie verstand, dass sie die Ablenkung gewesen war. Der Rest der Gruppe folgte dem Blick des Hünen, wobei manche grinsten und andere, wie der Herzog, erstaunt ihre Stirn in Falten warfen.
    „I-Ich?“, brachte Daphne nur stotternd hervor und zeigte auf sich selbst. Daryk nickte ganz selbstverständlich, während die Prinzessin glaubte, dass er etwas zu mutig wurde.
    „Es sah aus, als hattest du … Schwierigkeiten!“, fügte jedoch hinzu und ihr fiel es wieder ein. Yorick hatte sie wegen des Armreifs ausgefragt, als plötzlich das Rauen über den Platz gegangen war.
    „Dann war es eine Schuld“, fuhr sie zu ihrem Bruder herum. „Du hast mich damals mit deinen albernen Fragen bedrängt.“
    „I-Ich?“, kam es gleichermaßen von Yorick zurück. Der Herzog begann zu lachen und wandte sich wieder Arthur zu.
    „Er war von deiner Schwester abgelenkt!“, rief er und hielt sich gleichauf den Mund zu. „Ich meine von der Prinzessin“, korrigierte er sich selbst. „Verratet das nicht meiner Frau!“
    Grinsend setzte sich der ältere Mann in Bewegung und stieg unter dem Holzgatter hindurch, was den Übungsbereich abgrenzte.
    „Erinnere mich daran, dir demnächst einen Vortrag über Frauen und Schwächen zu halten“, witzelte derweil Jaris, was dem Ritter ein Lächeln entlockte.
    „Und was soll ich jetzt machen?“, verlangte Arthur zu wissen. „Er wird es nicht wiederholen wollen!“
    Daryk stieß sich von dem Holzmast ab und grinste. Daphne ahnte, was das zu bedeuten hatte.
    „Und wenn doch?“, rief der Hüne und der Herzog ließ diesen Worten eine ausladende Handgeste folgen, während er Daryks Worte wiederholte.
    Arthur seufzte hörbar.
    „Dann werde ich der Ehre Willen den Zweikampf wiederholen!“
    „Dann los!“, verkündete der Ritter und Daphne glaubte sich verhört zu haben.
    „Jetzt gleich? Hier? A-Aber lass ihn am Leben, hörst du. Er ist älter als du!“
    „Das hab ich gehört!“, brüllte Arthur aus er Ferne.
    Der Herzog winkte den Rest zu sich und wollte an einer steinernen Tribüne Platz nehmen, während sein unehelicher Sohn auf Daryk wartete. Dieser positionierte sich genau vor den Namenlosen.
    „Wähle deine Waffe! Diesmal brauch auch kein Übungsstab zu sein.“
    „Richtige Waffen?“, verlangte Arthur zu wissen und der Ogerschlächter nickte. Die jungen Männer traten allesamt aus dem Gelände heraus und beobachteten tuschelnd, was da vorging.
    „Versuch ihn nicht wieder abzulenken!“, frotzelte derweil Theical neben Daphne, die ihn nur wütend ansah.
    „Sie kann ja ihren Halbbruder danach wieder zusammensetzen“, pflichtete Thyra bei. Damit hatte ihre Freundin immerhin recht. Arthur zog sein Schwert und schaute Daryk erwartungsvoll an.
    „Jetzt sein Ihr an der Reihe!“
    Urplötzlich beschwörte Daryk seine Waffe und seinen Helm, unter welcher die düstere und leicht verzerrte Stimme sich erhob.
    „So sei es!“, brüllte er regelrecht dem Namenlosen entgegen, der dastand, als hätte ihm ein Pferd gegen den Kopf getreten.
    „Da brat mir einer doch eine Möwe“, maulte Arthur, während auch die jungen Krieger vom Holzzaun wegtraten. „Ich bin doch nicht lebensmüde! Mein Rücken ...“
    Mürrisch warf er sein Schwert vor sich und gab somit freiwillig auf.
    Daryk stand regungslos da, als eine andere Stimme am Fuße der Tribüne erklang.
    „Du wirst wirklich alt!“, schimpfte diese amüsiert und der jüngste, leibliche Bruder von Arthur tauchte, nach seiner Nachtwache vor Daphnes Zimmer, auf. „Machst du dir vor ein bisschen Größe ins Hemd?“
    Der Namenlose band sich seine langen, blonden Haare zusammen und sprang danach, ohne viel Mühe, über den Holzzaun.
    „Du hast leicht reden“, antwortete Arthur. „Kämpfe du doch gegen ihn. Ihr müsstet ein Alter haben!“ Der Ritter ließ seine Waffe offensichtlich stehen und wartete die Situation ab. Daphne ließ hingegen immer mehr ihre Schultern hängen.
    „Wie viele Brüder hast du nochmal?“, fragte Theical.
    „Sieben insgesamt!“
    „Naja, wenn das so weitergeht, bist du bald einige los“, führte Thyra an und lehnte sich an Jaris, was die Prinzessin zum Lachen brachte. Weniger Wachen vor ihrem Zimmer konnten nicht schaden.
    „Kein dummer Gedanke!“, murmelte derweil Willfred und flüsterte Yorick etwas zu, der sich umgehend in Bewegung setzte. Sören schnappte sich Arthurs Schwert und ließ sich einen Schild geben.
    „Alles muss man hier ...“ Er hielt kurz inne und musterte Daryk. „selber machen.“
    Sören ließ sein Schwert rotieren und stabilisierte seinen Stand.
    „Willst du da ewig rumstehen?“, fragte Daryk, der die Auseinandersetzung immerhin nicht gesucht hatte. Umgehend hielt Sören mit dem Schild voran, auf den Hünen zu, der ihn wiederum um einen ganzen Kopf überragte. Er holte mit dem Schwertarm aus, aber Daryk parierte ohne Weiteres den Schlag.
    „Ist das alles?“, spottete der Ogerschlächter. Immer und immer wieder schlug Metall auf Metall, aber für den Namenlosen war da nicht viel zu machen. Entweder wurden seine Hiebe abgeschmettert oder Daryk wich dem Altersgenossen aus. Irgendwann hing Sören gebeugt da, völlig außer Puste und die Schweißperlen auf der Stirn.
    „Willst du aufgeben?“, erwiderte der Schlächter auf die Verfassung seines Gegenübers. Da hatte der Namenlose den Mund wohl zu voll genommen, aber anders kannte Daphne ihren Halbbruder nicht.
    „Wenn du mich so fragst … Nein!“
    Der Blonde richtete sich auf und stieß einen lauten Pfiff aus, woraufhin drei andere Soldaten das Gelände betraten. Thorvid in seiner vollen Montur und Kapuze über den Kopf, der sich seine ledernen Teilhandschuhe festzog. Ole in Rüstung und auch Arnrich in voller Ausstattung mit seinem metallenen Kampfstab.
    „Eine Familienzusammenkunft, wie schön!“, bemerkte Theical amüsiert, während Daphne immer tiefer rutschte.
    „Hast du jetzt vielleicht Lust mitzumachen?“, wandte sich Sören an Arthur.
    „Ist das nicht etwas unfair?“
    „Tut euch keinen Zwang an“, entgegnete Daryk gelassen.
    „Kann mich einer kneifen, das ist ein Albtraum!“, wimmerte Daphne und begann gekünstelt zu weinen.
    „Ist doch lustig“, widersprach Thyra gähnend. „Der andere Kampf war lahm.“
    „Wir wollen doch nicht, dass unsere Gäste sich langweilen“, stellte Willfred klar und faltete in voller Erwartung seine Hände ineinander.
    „Mir ist neu, dass wir Gäste verhauen, aber gut, Daryk scheint ja nichts dagegen zu haben!“, antwortete die Prinzessin ihrem Vater spitzzüngig und verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Die fünf Namenlosen stellten sich vor den Ritter und Thorvid fing den Blick seines Gegenübers ein.
    „Entschuldigt, aber Blut ist dicker als …“
    Just in diesem Moment beschwor Daryk seine Magie und stand lichterloh in blutroten Flammen gehüllt da.
    „Feuer …“, beendete der sonst so stumme Krieger seinen Satz.
    „Gibt es noch mehr so Tricks?“, maulte Arthur lautstark. „Denn wenn ja, wüsste ich das gerne, bevor ich mich zu einem Kampf bequatschen lasse!“
    Sie alle stürmten auf den Hünen zu, aber mussten sich vor seinem Feuer in Acht nehmen. Daphne konnte, trotz ihres Moserns, nicht verbergen, dass irgendwie Stolz mitschwang. Immer waren ihre Brüder die Krieger gewesen, an denen sie andere messen konnte, aber diese verzweifelten an der Magie eines einzelnen. Daryk bekam auch Schläge ab, aber die wurden eben fast vollständig von seiner Rüstung abgefangen. Tritte und Schläge wirbelten die jungen Männer über das Feld. Irgendwann wurde Daryk plötzlich von Wasser übergossen und man sah Thorvid mit dem Holzeimer starr neben dem Hünen stehen, der inne hielt und fast schon überrascht zu dem Namenlosen hinunterblickte. Thorvid schmiss den Eimer emotionslos hinter sich und nahm sofort metaphorisch seine Beine in die Hand, als Daryk sich, immer noch brennend, auf ihn zubewegte. Es ergab sich das Bild, dass Thorvid vorwegrannte, Daryk hinter ihm her und im Schlepptau die übrigen vier nacheilten.
    „Hängt da Ole an seinem Bein?“, fragte Theical und zeigte mit dem Finger auf die Person, die vom Hünen über den staubigen Boden gezogen wurde.
    „Nein, nein“, korrigierte Daphne ihren Freund trocken. „Das ist Arnrich.“
    „Wollt ihr Schisser vielleicht mal helfen?“, rief Arthur völlig fertig die jungen Männer herbei, die nur zögerlich das Kampffeld betraten. Ungefähr vierzig zukünftige Krieger sprangen über oder stiegen unter den Holzzaun und ergriffen ihre Übungswaffen, wobei ihnen der Zweifel ins Gesicht geschrieben stand, dass sie mit diesen etwas gegen „Feuer“ ausrichten konnten.
    „Also jetzt wird es unfair“, sprach Jaris und erhob sich von seinem Platz.
    „Was hast du vor?“, fragte Daphne erschrocken. Lässig ließ der Söldner seinen Nacken kreisen.
    „Ich habe lange nicht mehr trainiert. So ein paar Übungen am Morgen können nicht schaden!“
    „Uh ja“, stimmte Thyra zu. „Verhau sie alle!“
    „Sag mal, war irgendetwas in eurem Frühstück?“, japste Daphne mit hoher Fistelstimme und erschrak noch mehr, als auch Theical stöhnend aufstand.
    „Scheiß Gruppenzwang!“, moserte dieser gespielt und grinste Jaris an. „Wenn ich besser werden will, sollte ich wohl jede Möglichkeit nutzen, nicht?!“
    „Wenn das so ist ...“, gab Thyra von sich und stand auch auf.
    „Du auch?“, brachte Daphne nur noch kleinlaut hervor. „Du wolltest dich doch erholen!“
    „Hey ...“, begann die Jägerin sich zu rechtfertigen und zeigte auf einen vollen Köcher am Rand des Übungsfeldes. Dieser war mit Pfeilen gefüllt, die kleine Farbbeutel enthielten, um Ziele nur zu markieren. Das Holz aus einem bestimmten Schilf, damit sich niemand verletzte, samt Bogen. „Der steht da regelrecht absichtlich.“
    Die drei stapften die Tribüne hinunter und betraten das Feld. Schon unterwegs hatte Jaris sein Schwert gezogen und zerrte den ersten jungen Mann an seinem Kragen zu Boden. Theical blieb gelassen am Rand stehen und suchte anscheinend umgehend nach passende Ziele, während sich Thyra den Köcher samt Bogen schnappte und sich an die Seite ihres Ehemannes begab.
    „Das ist nicht zu fassen“, nuschelte Daphne und auch Willfred stand plötzlich neben ihr.
    „Ja, nicht wahr? Mich fragt niemand!“
    „Du bist viel zu alt!“, krakeelte die Tochter, aber Willfred hielt sich nur lachend seinen Bauchansatz.
    „Zu alt für was? Ein paar jungen Männern das Fürchten zu lehren?“ Er drehte sich zu Yorick, der in diesem Moment mit einer Mischung aus Entsetzen und Belustigung zurückkehrte. „Gib mir mal dein Schwert, Sohn.“ Widerstandslos überreichte dieser seinem Vater die Waffe und musste zuschauen, wie sich der alte Mann unter dem Zaun durchbeugte. So mischten sich alle ein und eine Massenprügel fand an diesem Morgen statt, anstelle sich die Stadt anzusehen und umgehend den Hafen zu besuchen.
    Und kaum war Daphne der Meinung, das wäre alles gewesen, stürmten die Bogenschützen, mit ihren Übungsbögen, zum riesigen Tor hinein und überblickten die Situation.
    „Aufstellung beziehen!“, schrie Thorvid mit seiner tiefen Stimme und lenkte die Burschen, die das Alter derer auf dem Feld teilten, um das Gelände herum.
    „Ach verdammt!“, nuschelte die Prinzessin und erhob sich von ihrem Platz. Ein fragender Blick von Yorick folgte, als sie an den Schnüren ihres Kleides zu schaffen machte. „Ich kann sie ja nicht alleine lassen!“, gestand Daphne und streifte das silberne Kleid an ihren Hüften hinunter, was ein weißes Unterkleid mit Rüschen besetzten Hosenbeine offenbarte, die bis zu ihren Knien reichten. Gerade noch schlugen zwei junge Krieger mit ihren Schwertern auf Jaris ein, der ihre Schläge geradezu gelangweilt parierte, da hielten sich die beiden Jungen plötzlich an den Händen und tänzelten kreisend davon. Kopfschüttelnd lachte Daphne und schaute zu Theical, der grinsend mit den Schultern zuckte.
    „Was genau übst du?“, verlangte der Taschendieb höhnisch zu wissen und verwies auf ihren Aufzug.
    „Ablenken“, antwortete Daphne und streckte ihm die Zunge raus. Die Prinzessin stieg auf den Zaun, balancierte darauf und schaute sich um. Thyra stand auf einem gegenüberliegenden Pfosten.
    „Raus, raus und auch raus!“, brüllte die Jägerin, die einen Krieger nach dem anderen mit dem roten Pulver markierte. Daphne atmete tief ein, während ein Pfeilhagel in die Luft stieg. Zuerst vorsichtig, dann immer schneller setzte sie sich in Bewegung, wich den leichten Stöcken aus und rannte auf dem schmalen Holz des Zaunes entlang. Neben ihr zwei Männer, die sich gegenseitig ohrfeigten.
    „Hör auf mich zu schlagen ...“
    „Hör du auf, mich zu schlagen!“
    Daphne materialisierte ihre Wassertentakel und nahm der ersten Reihe der Bogenschützen ihre Bögen ab und schleuderte sie in die Luft. Ihr Vater schaute ihr nach und ließ sein Schwert sinken. Die Prinzessin war sich nicht schlüssig, ob es an ihrem Aufzug lag oder daran, dass sie mehr konnte als nur heilen. Doch lange ließ sie sich nicht vom Blick des Herzogs ablenken, der ihr lediglich ein Grinsen entlockte und ergriff zwei junge Männer an ihren Beinen, die auf Theical zu rannten. Schreiend, wie kleine Mädchen, zerrte Daphne sie über den Boden, wo sie den Sand schluckten.
    Das Feld leerte sich zunehmend, da alle von Pfeilen Getroffenen oder jene, die über den Zaun geworfen wurden, ausgeschieden waren. Diese Regel hatte sich im Getümmel irgendwie ergeben, so wie einige sich freiwillig ergaben und einfach die Flucht ergriffen. Irgendwann kam man wieder zum Ausgangspunkt und die fünf Brüder erhoben sich vom Boden. Anscheinend dachten sie noch immer nicht daran, aufzugeben, vor allem nicht Arthur, der Daphne ständig anschrie, sie sollte sich etwas anziehen. Gerade, als sich die Namenlosen Daryk, Jaris und Thyra zuwenden wollten, stieß Daphne einen lauten, röhrenden Gesangston aus, was ihre Brüder dazu brachte, sich umzudrehen. Kurz pausierte sie, versicherte sich deren Aufmerksamkeit und begann einfach ein Lied zu singen. Egal wie klein sie war, laute Töne konnte sie von sich geben. Ihre Sirenenstimme hallte über den Platz und die Waffen sanken, als sie zusätzlich begann zu tanzen.
    „Was, bei Rhenus, machst du da?“, verlangte Sören zu wissen und während sie sang, zeigte sie hinter ihre Brüder, wo sich bereits ihre vier Freunde platziert hatten. In einer Umdrehung, schnappte sie sich Arthurs Bein und zog es weg. Jaris hielt Sören sein Schwert unters Kinn, Thyra zielte auf Arnrich und Theical zwang Ole auf die Knie. Daryk hingegen hielt seine Waffe ausgestreckt Thorvid entgegen. Abgeschafft trat Willfred neben die Gruppe und atmete tief durch, während er sich müde auf seine Beine abstützte.
    „Da waren die Gäste wohl überlegen!“
    Theical streckte augenblicklich seine Hände in die Luft.
    „Gewonnen!“
    Die Gruppe freute sich über diesen ungleichen Kampf und Sieg, während über ihren Köpfen ein Blitzschlag Regen einläutete. Überall um sie herum klagten die anderen ihr Leid und „Wäre ich bloß Fischer geworden!“, erklang nicht nur einmal. Daphnes Brüder standen resigniert da und sie sang in einem höhnischen Tonfall die letzten Zeilen noch zu Ende, bevor sie sich mit herausgestreckter Zunge abwandte. Ihr Vater trat lächelnd an Daryks Seite und schien ihm etwas zuzuflüstern, weshalb der Schlächter seinen Helm weichen ließ. Sein Blick wanderte zu Daphne, und während sich der Rest noch freute, warf der Hüne skeptisch seine Stirn in Falten und sein Grinsen wich.

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    Nachdenklich ins Nichts starrend ritt Daryk mit den anderen weiter zu Daphnes Schiff. Inzwischen hatte es zu regnen begonnen und die dicken Tropfen prasselten auf seine Rüstung.
    Immer noch überlegte er, was der Vater der kleinen Frau von ihm wollte.
    „Kommt heute Abend mit meiner Tochter in den Thronsaal“, hatte der ehemalige Herrscher über Devyleih gesagt, „wir haben etwas zu besprechen!“
    Was könnte der Mann zu sagen haben? Auf Abhieb fiel Daryk nur eine Sache ein, zu der Daphnes Vater etwas sagen könnte, und das war die Beziehung seiner Tochter zu einem mittellosen Ritter. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Willfred besonders begeistert sein würde, sollte er davon erfahren haben. War die „Flucht“ aus Daphnes Zimmer heute Morgen doch nicht so geglückt wie es zunächst den Anschein gehabt hatte?
    Daphne hatte ihn leicht panisch geweckt und ihm bedeutet keinen Ton von sich zu geben. Deutlich war die Stimme ihrer Mutter im Zimmer zu hören gewesen:
    „Kind, steh endlich auf! Du kannst hier nicht den halben Tag verschlafen, wie du es vielleicht die letzten sieben Jahre getan hast! Stell dir vor, ein Bewerber kommt zu Besuch und du siehst aus wie eine Hafendirne!“
    Dann war sie, mit unterdrücktem Fluch, aus dem Bett geklettert und hatte Maria abgefangen, bevor sie die Vorhänge zum Bett zur Seite ziehen konnte.
    Reglos war Daryk im Bett liegen geblieben und hoffte, niemand käme auf die Idee, das Bett zu richten.
    Er hatte zugehört, wie Daphne weiter beleidigt und eingekleidet wurde und wie sie von der Herzogin anschließend an der Hand aus dem Gemach gezerrt wurde.
    Gerade als er sich dann überlegt hatte, wie er, an den Wachen vorbei das Zimmer verlassen sollte, war Thorvid wiedergekommen und hatte ihn durch den Geheimgang nach draußen geführt.
    Auf die Frage, warum Thorvid Daryk geholfen hatte, hatte der nur „nicht jede Bedrohung ist physischer Natur“ geantwortet und darauf verwiesen, dass Einsamkeit schon so manche Prinzessin zerstört hatte.
    Der Ritter bemühte sich, seine innere Unruhe nicht nach außen zu zeigen, als Daphne zu ihm aufschloss.
    „Ist alles in Ordnung?“, fragte sie leise, als ob diese Frage den anderen zu viel verraten könnte.
    Da er sich nicht sicher war, was die Antwort war, meinte er nur:
    „Dein Vater will uns heute Abend sehen. Er meint, wir hätten etwas zu besprechen.“
    Sie konnte den leichten Anflug von Panik in ihrer Stimme nicht verbergen.
    Uns?!“, vergewisserte sie sich mit unruhigem Blick.
    „Uns“, bestätigte er mit einem kurzen Nicken.
    „Na klasse…“, meinte sie leise, warf ihm noch einen vielsagenden Blick zu und trieb dann Avalon an schneller zu traben.
    Daryk wunderte sich kurz warum sie ihn so stehen lies, bis er Yorick bemerkte, der sich von hinten näherte.
    „Ogerschlächter!“, rief er ihm zu, „wie ich sehe, habt Ihr gerade Zeit für ein Gespräch.“
    Warum wollten heute alle mit ihm reden?
    „Scheint so“, bestätige er die Aussage von Daphnes Bruder.
    Innerlich hoffte Daryk, Yorick würde nicht auch noch mit Daphne anfangen. Immerhin wusste der Mann deutlich mehr, als er eigentlich wissen sollte.
    Zunächst schien es, als würde Daryks Hoffnung wahr.
    „Ihr seid ein gefährlicher Mann“, stellte der Prinz fest was der Ritter mit einem Schulterzucken quittierte.
    „Nur für meine Feinde“, stellte er klar und versuchte damit direkt alle Bedenken, er könnte eine Gefahr für Daphne sein, aus der Welt zu schaffen.
    Grinsend sah Yorick ihn an.
    „War Heinrich Euer Feind?“, fragte er herausfordernd.
    Mit hochgezogener Augenbraue erwiderte Daryk den Blick.
    „Wie kommst du darauf?“, wollte er wissen, denn soweit er wusste hatte Yorick nur erfahren, dass Heinrich an einer Herzattacke verstorben war.
    Der blonde Prinz musterte Daryk einige Sekunden bevor er antwortete.
    „Die Blicke Eurer Freunde sagen mehr, als ihre Worte.“
    Also doch. Daryk hatte schon begonnen, sich zu fragen, ob tatsächlich niemand bemerkt hatte, wie alle Augen mehrmals zu ihm gewandert waren beim Essen.
    Trotzdem beschloss er, vorsichtig zu sein, denn immerhin war Heinrich Daphnes – wenn auch unerwünschter – Verlobter gewesen.
    „Ich kann keine Herzattacken herbeizaubern, falls du das meinst.“
    Lachend schüttelte Yorick den Kopf.
    „Irgendwas sagt mir, dass sein Herz höchstens vor Angst vor einem gewissen Ritter stehen geblieben ist.“
    Ebendieser Ritter musste in diesem Moment einsehen, dass Daphnes Bruder die Wahrheit kannte.
    „Und wenn?“, fragte er, noch immer vorsichtig.
    Yorick sah diese Aussage wohl als Eingeständnis an und wurde hellhörig.
    Dann wäre ich diesem Ritter zu großem Dank verpflichtet, Ser Daryk“, meinte er nur und sah Daryk von der Seite an.
    Nachdem er Daryks fragenden Blick bemerkte ergänzte er:
    „Es ist mir egal, was mit ihm geschehen ist. Ich weiß nur, ich hätte ihn eigenhändig erwürgt, wenn ich es hätte tun können, ohne einen Krieg heraufzubeschwören. Für das, was er meiner Schwester angetan hat, hat er den Tod verdient. Und so wie es aussieht, hat er ihn bekommen. Ich bin dem Mann, der uns von ihm erlöst hat einen Gefallen schuldig und könnte ruhiger schlafen, wenn ich ihm in die Augen sehen könnte.“
    Ohne eine besondere Gefühlsregung zu zeigen, drehte Daryk den Kopf und sah Yorick in die Augen.
    Der Prinz erkannte, was das zu bedeuten hatte und lies ein Lächeln über sein Gesicht huschen.
    „Wusste ich’s doch“, stellte er zufrieden fest, „Ich kann mir zwar vorstellen, was Ihr wollt, aber dennoch: was wollt ihr?“
    Der Ritter wusste nicht, was Yorick meinte und zog eine Augenbraue hoch.
    „Der Prinz von Devyleih schuldet Euch einen Gefallen, Ritter. Trefft Eure Wahl.“
    Mit diesen Worten trieb auch er sein Pferd an, schneller zu laufen und ließ Daryk ebenfalls im Regen stehen.
    Nun schlossen Jaris und Thyra zu ihm auf und ritten links und rechts neben ihm her.
    „Was wollte er?“, fragte Jaris, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.
    „Er weiß es“, war Daryks knappe Antwort.
    Was weiß er?“, hakte die Jägerin nach und hoffte wohl ein Geständnis zu seiner Beziehung zu Daphne zu hören.
    „Die Wahrheit über Heinrichs Tod“, stellte er schnell klar, „und er sagt er schuldet mir einen Gefallen.“
    „Oh“
    , war Thyras fast schon enttäuschte Antwort, „und wofür wirst du den nutzen?“
    Ihr schelmisches Grinsen entging Daryk nicht, aber er beschloss es zu ignorieren.
    „Mal sehen“, meinte er, „weniger neugierige Freunde vielleicht.“
    Jaris lachte auf, als Daryk grinsend zur Ehefrau des Söldners blickte.
    Diese setzte einen Schmollmund auf und streckte ihm die Zunge heraus.
    Ich wüsste, was ich an deiner Stelle fordern würde!“, konterte sie.
    Er wusste, was sie meinte und nickte unbewusst.
    „Wir werden sehen.“

  • Die ersten Regentropfen prasselten auf das Kopfsteinpflaster und Blitze zerrissen den Himmel, während Donner zu ihnen dröhnte.
    "Mein Vater ist wütend", dachte Jaris und fragte sich dann, woher dieser Gedanke gekommen war. Das war nur ein Gewitter, oder? Eine heftige Sturmböe bauschte seinen Umhang auf.
    Nichtsdestotrotz ließ sich die Gruppe nicht aufhalten. Niemand in dieser Stadt schien auch nur einen Gedanken an das aufkeimende Gewitter zu verschwenden. Die Menschen verbargen ihre Gesichter unter schweren Kapuzen und arbeiteten weiter.
    Schon nach wenigen Minuten hatten sie den Hafen erreicht. Eine lang gezogene Kaimauer erstreckte sich vor ihnen und Schiffe jeder Form und Größe lagen an den in das Wasserbecken reichende Docks vertäut. Weiter draußen auf dem offenen Meer - das sich jetzt aufbäumte wie ein bockendes Pferd - ankerten weitere und trotzten dem tobenden Wellenteppich. Der alte Herzog führte sie die Kaimauer entlang - vorbei an einer Gruppe Fischer, die sich ungeachtet jeden Wetters zum Aufbruch bereit machten. Bald standen sie schon vor einer gewaltigen Halle, die am Rande der Mauer ins Hafenbecken zu münden schien. Holz lag aufgestapelt unter breiten Planen und Arbeiter gingen zwischen den geöffneten Torflügeln ein und aus. Sie wichen respektvoll zur Seite, als sie die Prozession erkannten, ließen sich aber ansonsten nicht weiter in ihrer Arbeit stören. Drinnen erwartete sie eine hoch aufragende Holzwand, in der dutzende Löcher klafften. Staunend ließ Jaris seinen Blick weiter wandern und sah, dass die Wand zu einem riesigem Schiff gehörte - größer als die, die er in Ymilburg gesehen hatte. Hinter den Löchern warteten ebenso viele Kanonenrohre darauf Feuer und Rauch gegen vermeintliche Feinde zu speien und über große Seilwinden wurden Massen an schweren Tauen an Deck geladen. Durch seinen Kopf blitzten alte Erinnerungen. Er spürte die Gischt auf der Haut und den salzigen Biss der See in seiner Nase. Holzsplitter, die aufgewirbelt durch Explosionen bei mächtigen Schlachten seine Arme aufschlitzten, und der Wind, der durch seine Haare direkt in das ausgebeulte Segel fuhr und seine Kraft auf das Schiff unter seinen Füßen übertrug. Einen Moment schwankte er, vom Schwindel übermannt oder vielleicht auch Seekrank von seinen Gedanken, dann fing er sich wieder und sah sich schnell um. Keiner achtete auf ihn, zum Glück, und wieso sollten sie auch. Rufe hallten durch die Halle und der donnernde Hammerschlag verklang. Quietschend wurden Seile gespannt, die mit dem Schiff verbunden waren und durch Kurbeln am vorderen Ende der Halle liefen.
    "Ihr kommt genau richtig", begrüßte sie ein Mann, der mehr schlitternd als bremsend vor ihnen zum Stehen kam. Zwischen seinen Armen quollen Schriftrollen hervor und verdeckten beinahe das Gesicht, das mit Tintenflecken verunziert zwischen dem Papier hervorschielte. "Wir wollten sie gerade zu Wasser lassen."
    "Wir wären ja früher gekommen", erklärte Arthur gelassen, "aber wir mussten ein paar Gästen eine Lektion erteilen."
    "Und jetzt ist die halbe Armee desertiert und die Moral der verbleibenden am Boden", ergänzte Daphne großspurig, was selbst ihren Bruder grinsen ließ. Eins musste man den Nordmännern lassen. Sie waren nicht nachtragend, wenn sie eine Kampf verloren, oder schämten sich deswegen. Unsicher ließ der Papierhügel den Blick zwischen ihnen umher wandern, doch ein lautes Quietschen ersparte ihm die Unannehmlichkeit einer Antwort. Langsam und schwerfällig setzte sich der Rumpf in Bewegung, getragen von Schienen, die ihn stur nach vorne führten. Nach vorne, wo die Halle im Hafenbecken endete. Jaris hielt unwillkürlich die Luft an, als der Koloss erst an Fahrt aufnahm und dann ins Wasser rauschte. Wassertropfen durchnässten sie noch mehr, als es der Regen bereits fertig gebracht hatte, während sie aufgeregt wie kleine Kinder, die zum ersten Mal die Wintersonnenwende feiern durften, zum Ende der Halle rannten. Riesige Säulen aus glattpoliertem Holz erhoben sich nun, da sie nicht mehr den Einschränkungen der Hallendecke unterlagen, in den Himmel, gezogen von dicken Seilen und dutztenden Händen. Masten und Segel waren bereits befestigt, während sich die Takelage an den Seiten aufspannte, wie die Netze gewaltiger Spinnen. Der Rumpf trieb davon unberührt im Wasser, weg von der Halle bis sich die Taue, die es immer noch mit dieser verbanden, langsam spannten. Jaris Blick fiel auf den Namen des Schiffes, den er vorher übersehen hatte. "Calypso" stand dort in schwarzen Lettern, mit Gold umrandet. Etwas regte sich in seinen Erinnerungen und ihm überkam ein Schaudern.
    Ein seltsamer Name für ein Schiff, wenn man bedachte, dass es eine Prinzessin aufs Meer bringen sollte. Ein unheilvoller Name, wenn man es recht bedachte.

    Wer zu lesen versteht, besitzt den Schlüssel zu großen Taten, zu unerträumten Möglichkeiten.

    Aldous Huxley

    • Offizieller Beitrag

    Daphne freute sich über ihre Galeone, aber die Führung über die verschiedenen Decks konnte sie nicht genießen. Immer wieder fragte sie sich, was ihr Vater von ihr und Daryk wollte. Sie kannte die Gesetze und Traditionen und wusste, man würde sie wegsperren, wenn eine Liebe zu einem Mann bekannt würde oder einem, der nicht in deren Geschmack fiel. Daryks Rang war in Delyveih nicht bekannt, der Adelstatus daher mit nichts vergleichbar. Im militärischen Sinne hätte er vermutlich die höchste Tätowierung, aber zu einem Herzog machte ihn das dennoch nicht.
    Die Gespräche über Aufbau und Namenswahl bei dem Schiff erklangen wie ein Echo in ihren Ohren und immer wieder ergriff sie die Angst, was ihr Vater von ihr wollte. Daryk schaute sie oft an, selbst dem Hünen schien unwohl bei er Sache und dabei dachte sie, ihn könne nie etwas aus der Ruhe bringen. Was sollte sie schon mit ihm machen? Gegen seine Magie war bei ihnen kein Kraut gewachsen. Gegen keiner der Mächte, die die Gruppe besaß. Bei einem Blick über das Meer, vom Bug aus, wurde ihr irgendwie noch unwohler, obwohl sie das Meer ja eigentlich liebte. Es wirkte friedlich, fast zu friedlich. Als wolle es seine eigentlichen Gefahren verstecken. Erst auf dem Rückweg fiel ihr auf, dass keine einzige Möwe mehr am Himmel war.
    „Seltsam ...“, nuschelte sie auf Avalons Rücken, der nickend seinen Kopf auf und ab bewegte, als wollte er ihr zustimmen. Sie sah sich um, aber nicht einmal die Schwalben zeigten sich.
    „Du merkst es auch, oder?“, sprach Jaris, der neben sie ritt.
    „Ja, irgendetwas braut sich zusammen. Vielleicht ein Unwetter?“
    „Vielleicht ...“, erwiderte der Söldner leise. „Vielleicht ...“
    „Schon komisch, dass das Schiff ausgerechnet „Calypso“ heißt, oder nicht?“, lenkte der Halbelf das Gespräch auf etwas anderes. „Wo sie doch eher eine umstrittene Gestalt ist.“
    „Ja, aber wie das immer so ist. Für die einen ist sie eine Figur aus einem Gruselmärchen, für andere eine Schutzheilige. Wenn sie die Meere beeinflusst, wird sich ein Seemann hüten, sie zu verärgern. Deshalb bringen sie ihr die toten Kinder, um die ewige Jungfer zu besänftigen.“
    „Grausam, wenn du mich fragst“, gestand Jaris. „Die Kinder gehören zu ihren Familien.“ Daphne lachte leicht unsicher.
    „Wir huldigen anders unseren Verstorbenen. Wir begraben sie nicht unter der Erde, damit wir sie irgendwie physisch besuchen können.“
    Die Prinzessin zeigte auf eine große Insel an der Küste, zu der man rudern konnte. Einer der wenigen Orte, die von einem dichten Wald umgeben waren.
    „Dort trüben stehen hunderte Statuen und ein Schloss im kleineren Format, was stetig wächst. Wir erschaffen genaue Abbildungen von unseren Ahnen und stellen diese steinernen Zeugnisse ihrer Existenz auf. Die Asche verstreut auf dem Meer, bleibt uns so ein Angesicht, in welches wir blicken können, wenn wir Rat, Trost oder Stille brauchen.“
    „Ich weiß ...“, antwortete Jaris und lächelte kaum erkennbar. Ein leichtes Stöhnen entwich er Prinzessin. Wie konnte sie ihrem „sogenannten“ Vetter nur etwas erzählen, nachdem er erwähnt hatte, mehrere Leben gelebt zu haben? Sie kam sich plötzlich unwahrscheinlich dumm vor.
    „Es tut mir leid“, brachte Daphne lachend hervor. „Ich vergesse manchmal …“
    „Schon gut“, unterbrach sie Jaris. „Ich denke ja auch nicht pausenlos daran.“


    Der Weg zurück zum Schloss zog sich, in Erwartung dessen, was dort lauern würde. Wusste ihr Vater Bescheid? Hatte Thorvid sie in eine Falle gelockt? Nein. Das war unmöglich, als sie sich zu ihrem Halbbruder herumdrehte, der nur nickend ihren Blick erwiderte, ehe er wieder seine Kapuze ins Gesicht zog. Oder doch? Ihrer Pflicht nicht nachzukommen war unlängst ein ebenso schlimmes Verbrechen, wie das, dass Daphne sich verlieben würde, was bereits geschehen war. Sie kannte die alten Vorgehen so etwas zu verhindern, indem de Nordmänner den Prinzessinnen das Augenlicht nahmen, weil sie dachte, die Liebe kam über die Kraft zu sehen. Erst, als sich eine ihrer Vorfahrinnen in eine „Stimme“ verliebt hatte, wurde diese These überdacht und man kam zum Entschluss, die weiblichen Erben grundsätzlich von allem fernzuhalten, anstatt sie zu blenden. Wie konnte man nur so verfahren?
    Der Tag neigte sich dem Ende und sie kam nicht umhin die Blicke ihres Vaters zu bemerken, die ebenfalls auf ihr ruhten. Langsam ritt er neben sie und räusperte sich zunächst einmal kräftig. Anscheinen versuchte er Worte zu finden.
    „Hast du dir schon einmal überlegt, wie es weitergehen soll? Du kamst zurück, um mich zu heilen und ich bin geheilt. Liege ich richtig, wenn ich glaube, dass du nicht bleiben wirst?“ Daphne senkte ihren Blick, was eigentlich Antwort genug war.
    „Mutter wird ...“
    „Überlasse deine Mutter mir. Irgendwo in ihr muss noch die Frau von einst existieren, die all ihre Kinder liebte. Ich verstehe sie selbst nicht und das seit knapp fünfundzwanzig Jahren.“
    „Das heißt, Ihr würdet Eure Tochter gehen lassen?“, warf Jaris überrascht ein und grinste kurz den Ogerschlächter hinter sich an. Bei einem Blick nach hinten, bemerkte sie aber nur den mürrischen Blick es Hünen, den er Jaris zuwarf. Willfred atmete tief durch.
    „Ich wollte sie nie einsperren. Unsere Gesetze und Traditionen sind so alt, dass wir teils gar nicht mehr wissen, warum es sie gibt. Das Einzige, was ich aus alten Überlieferungen und Schriften sagen kann, ist, dass in der Vergangenheit über hundert Prinzessinnen verschwunden sind. Einfach so in den Fluten verschwunden. Man fand keine Leichen, keine Überreste anderer Art. Ich habe eine alte Aufzeichnung eines jungen Mannes, der sich nur erinnert am Strand aufgewacht zu sein. Einer Palastwache, die danach des Mordes angeklagt und zu Tode geprügelt wurde, dabei beteuerte er seine Unschuld. Das blieb anscheinend kein Einzelfall. Irgendwann entschied man so, wie man es von unserer Handhabe her kennt. Die Namenlosen Halbbrüder ersetzen jedoch die kastrierten Wachen.“ Der letzte Satz wurde von einem ironisch klingenden Lachen begleitet. „Gab es mal keine Namenlosen, dann übernahmen dies Vetter oder andere männliche Blutsverwandte. Kein Fremder wurde an die Prinzessinnen herangelassen. Zumindest, bis man sie verheiratet hat.“
    Daphne spürte wieder die Augen ihres Vaters im Nacken, bevor er sich wieder dem Söldner zuwandte.
    „Irgendwann seit Ihr vielleicht selbst Vater und versteht, warum man seine Kinder mit allen Mitteln versucht zu schützen. Von uns bleibt nichts anderes auf dieser Welt zurück als sie. Sie tragen alles von uns weiter. Erfahrungen, Geschichten, die Art wie sie lachen, weinen und ihren Drang nach … Freiheit. Es ist wie bei einem Volk und seinem Herrscher. Man könnte annehmen, wir bilden so strikt militärisch aus, weil wir kriegerisch sind, das ist aber nicht wahr. Wir wollen uns nur verteidigen können, wenn etwas das bedroht, was wir versuchen zu schützen.“
    Ihr Vater sprach von Schutz, dabei fühlte sie sich viel mehr so, als hätte man sie vor ihrer Familie beschützen sollen. Sie trieb Avalon schneller zu laufen. Egal was ihr Vater von ihr wollte, sie wollte es hinter sich bringen, bevor man noch jemanden in Gewahrsam nahm, weil man sie zu „beschützen“ versuchte.


    Die Freunde teilten sich nach der Ankunft auf. Alle waren schmutzig und durchnässt vom Regen. Nur Daryk und Daphne zogen sich nicht umgehend in ihre Zimmer zurück. Sie hatten immerhin eine Einladung erhalten, wenn auch in den Thronsaal. Vor der schweren und riesigen Tür, hielt man sie an noch zu warten, da Willfred noch mit Tristan sprach. Tristan, den einzigen ihrer Brüder, den sie noch gar nicht zu Gesicht bekommen hatte. Sie trat einige Schritte von der Torwache weg und stellte sich vor Daryk.
    „Was machen wir, wenn sie es wissen?“, flüsterte sie ihm zu und schaute ihn unverwandt an. Daryk schaute nachdenklich zu ihr hinunter. Es gab immerhin mehrere Faktoren, die sie etwas ahnen lassen konnten. Das Abendessen und Thorvid.
    „Laufen? Dich hier herausbringen, bevor sie dich einsperren?“
    „Mich einsperren?“, wiederholte Daphne leise, aber energisch. „Es ist fraglich, wen sie zuerst einsperren.“
    Die Besorgnis in ihrer Stimme war kaum zu überhören.
    „Sie werden dich nicht einsperren, egal was passiert!“
    „Willst du uns etwa den Weg freikämpfen? Soll ich die Waffen gegen mein eigenes Blut erheben? Es muss einen anderen Weg geben.“
    Der Hüne atmete einmal tief durch und ließ dem ein Nicken folgen.
    „Wir werden sehen“, versuchte er sie anscheinend zu beruhigen, was es aber nur minder tat.
    „Ihr könnt nun eintreten“, unterbrach die eine Wache die beiden Flüsternden und öffneten die rechte Tür. Beide gingen gleichzeitig hindurch. Aber kaum hatten sie diese durchschritten … Er hielt sie zurück und im gleichen Moment drehte er sich schützend vor sie. Seine Arme umschlossen dabei ihren Oberkörper, während er seine Rüstung rief. Etwas prallte hörbar an dieser ab, während der Vater lachend in die Hände klatschte.
    „Siehst du, genau das meine ich, das ist großartig!“, gab Willfred grölend von sich, während sein Sohn vom steinernen Thron aufschrak. Für einen Augenblick konnte Daphne die Hitze des Feuers spüren, die von dem Beschwören ausging, aber weder verbrannte es sie, noch war es unangenehm.
    „Seid ihr noch zu retten?“, sprach sie irgendwann und sah den Übungspfeil am Boden liegen, der von Thorvid abgegeben worden war. Dieser stellte seinen Bogen leicht grinsend zu Boden und schaute zu seinem Bruder.
    „Was sollte das?“, hakte auch Daryk nach und drehte sich wieder zu den Herrschaften.
    „Ein Beweis“, gestand Willfred, der links neben Tristan stand. Daphne wusste es nicht genau, aber sie glaubte, ihr blätterte jegliche Farbe aus dem Gesicht. Nicht, dass davon viel da gewesen wäre, aber dennoch. Unsicher blickte sie wieder zu Daryk, mit einem Ausdruck, als hatte man sie wirklich erwischt. Der Hüne ließ den Helm von seiner Rüstung schwinden und fuhr skeptisch herum.
    „Wofür?“, verlangte er zu wissen.
    „Dafür, dass Ihr, … Ritter, das ist doch die Bezeichnung für den Rang, nicht wahr?!“
    Daryk nickte bloß.
    „Er ist ein gefährlicher Mann, der Ser Daryk Hylon!“, lenkte Willfred ein, aber in seinem Tonfall lag kein Vorwurf, mehr Erleichterung. Der Herzog wiederholte die Worte, die zuvor schon mal gefallen waren, aus dem einfachen Grund; sein herrschender Sohn hatte sie noch nicht vernommen.
    „Nur für meine Feinde?!“, wiederholte Daryk leicht skeptisch seine Antwort.
    „Ich verstehe nicht, was du damit bezwecken willst“, mischte sich nun endlich Tristan ein. Ein Mann mittlerweile, der nur geringfügig kleiner war als Daryk. So groß hatte Daphne ihn nicht in Erinnerung gehabt, also hatte noch einmal etwas zugelegt, auch wenn seine Statur nicht der des Ogerschlächters entsprach. Tristan war vorrangig Herrscher, kein Krieger auf dem Schlachtfeld.
    „Daphne wird nicht bleiben, das steht fest und ich kann es ihr nicht verübeln“, wandte sich Willfred an seinen Sohn. „Sieben Jahre lang war sie verschwunden, weil wir sie einsperrten wie ein Tier.“
    „Ein Tier?“, fuhr Tristan wütend zu ihm herum. „Tiere leben im Dreck, sie in einem Schloss. Das lässt sich nicht vergleichen.“
    „Und doch zog ich all die Zeit den Dreck vor!“, widersprach Daphne und wusste gar nicht, woher diese Worte so urplötzlich kamen.
    „Du hast dich deiner Verantwortung entzogen!“, schimpfte Tristan und ging einige Schritte wütend auf sie zu. Er sah immer noch aus, wie die ältere Version von Yorick, nur war der Jüngere von beiden eindeutig auch der sympathischere. Daryks Augen begannen zu glühen, während der Bruder ungehalten auf Daphne zumarschierte, weswegen sie sich an ihm vorbeischob und vor ihn stellte, bevor beide Männer aneinander gerieten.
    „Wie du siehst, lebe ich noch.“ Das Detail über ihr Ableben verschwieg sie lieber an der Stelle.
    „Wie ich hörte, hat das teilweise auch einen Grund“, krakeelte Tristan weiter und schaute nun zum Vater, der immer noch grinste und an der lauten Auseinandersetzung seiner Kinder nichts auszusetzen hatte.
    „Warum sind wir hier?“, schrie Daphne verzweifelt ihren Vater an und konnte sich aus all diesen Argumenten nichts mehr zusammenreimen.
    „Wenn du wieder fortgehst, dann wirst du eine Leibwache brauchen, deswegen seid ihr beiden hier!“, gestand der Vater nun endlich und verdutzt schaute die Prinzessin drein.
    „Eine … Leibwache?!“, fragte sie kleinlaut. Willfred nickte und zeigte auf Daryk. Ihre Blicke wanderten zwischen den beiden Männern hin und her, wobei Daryk nur erstaunt seine Brauen hob.
    „Er ist aber nicht mein … Bruder?!“
    Diese Worte kamen leiser über ihre Lippen, als beabsichtigt.
    „Ja und?“, warf Willfred ein.
    „Ja und?“, wiederholte Tristan wesentlich lauter. „Er soll ein Kopfgeldjäger gewesen sein, der zuvor Jagd auf sie gemacht hat.“
    Dinge verändern sich“, erklärte Willfred trocken.
    „Dinge verändern sich vielleicht, aber Menschen nicht, nicht so.“
    „Und wenn doch?“, wollte Daryk wissen und verschränkte provokant seine Arme vor der Brust.
    „Das stimmt!“, maulte Daphne zurück. „Aber genau das ist der Grund, dass er uns nicht übergeben hat. Er ist nicht die Sorte Mensch, die Unschuldige in ein Messer laufen lässt.“
    „Die Sorte Mensch werden aber auch keine Kopfgeldjäger!“, argumentierte Tristan mit musternden Blick zu Daryk.
    „Vielleicht werden sie es, wenn sie keine Wahl mehr haben.“
    Irgendwie erkannte Tristan an Daryks Blick, dass er damit nicht meinte, eine militärische Prüfung nicht bestanden zu haben. Er hielt inne und wandte sich wieder seinem Vater zu.
    „Und urplötzlich ändert Ihr ...“, Tristan sprach diesmal Daryk selbst an, anstatt nur über ihn zu sprechen, „Eure Meinung. Versteht mich nicht falsch. Es ist gegen Jahrhunderte alte Tradition, einen Fremden zur Leibwache einer unserer Prinzessinnen zu machen.“
    „Es gibt Dinge, die sogar ein ... Kopfgeldjäger mehr schätzt, als Geld“, antwortete Daryk streng und Tristan ließ sich wieder in seinen Thron nieder.
    „Frauen?“, wollte der blonde Mann in Daryks Alter wissen und schaute zu seiner Schwester.
    „Nein! Ich kam als Feind und dennoch haben sie ihr leben riskiert, um meines zu retten“, widersprach Daryk Tristans Anspielung und kurz schien der neue Herzog beschwichtigt.
    „Und geblieben seid Ihr bei diesen Leuten, weil?“, bohrte Tristan dennoch weiter.
    „Weil ich meine ...“
    „Das ist doch alles egal!“, unterbrach Willfred das Ausfragen.„Dieser Mann hat einen Oger getötet und die fünf Namenlosen geschlagen. Es ist klüger, solch eine Person auf seine Seite zu haben, als gegen sich. Wenn deine Schwester wieder geht, dann sollte sie sicher sein. Wenn ein Mann fünf ersetzt, dann haben wir nichts zu befürchten. Also wende dich einmal von den alten Regeln ab, die bei Daphne keine Anwendung mehr finden, den sie war bereits fort. In sieben Jahren hätte so viel passieren können und nichts davon ist eingetreten. Das soll auch weiterhin so bleiben.“
    „Was ist mit ihren restlichen Freunden?“, wollte Tristan wissen.
    „Eine junge Frau, aber diese ist mit dem Söldner verheiratet, was wohl heißt, dass auf Dauer solch eine Aufgabe nicht zumutbare wäre. Ein Söldner wie gesagt und ein junger Mann, der Schatten einer jeweiligen Person kontrollieren kann, allerdings ohne kämpferische Ausbildung.“
    „Dann seid Ihr die einzige Person, die, was? Ungebunden ist?“, wandte sich Tristan nach den Worten seines Vaters wieder an den Hünen.
    „Sieht so aus“, antwortete Daryk nach kurzem Schweigen beider Seiten, weswegen Daphne sich ein Grinsen verkneifen musste. Das Zögern seiner Antwort bedeutete anscheinend, dass er überlegen musste, das zu verneinen.
    „Kennt Ihr Euch etwas damit aus, eine andere Person zu beschützen?“
    „Ja!“, antwortete Daryk erneut.
    „Ihr wisst, was die Aufgabe der Namenlosen ist? Was ihre Rechte, aber auch Pflichten sind? Und warum wir eigentlich nur Blutsverwandte dafür einsetzen?“
    „Ja!“
    Bei Rhenus schwarzem Haar, frag ihn endlich, ob er es machen würde“, wurde Willfred ungeduldig.
    Tristan verdrehte seine Augen und seufzte.
    „Der Sold beträgt hundertfünfzig Goldmünzen in einer Woche, da wir wissen, dass sich ein Leben selten mit so etwas aufwiegen lässt. Meine Schwester kann dies durch Schuldscheine und ihrem Siegel bei jedem besser betuchten Kaufmann einlösen. Diese fordern dies dann von mir zurück. Ebenso, wie sie nie wieder“, der Blick ihres Bruders galt in diesem Moment ihr, „unter falschem Namen reisen wird. Für ihre Sicherheit seid dann Ihr zuständig. Reicht Euch das aus?“
    Daryk verbeugte sich leicht, was Daphne erstaunt dreinblicken ließ. Noch nie hatte er sich bei jemanden verbeugt. Und doch. Man hatte gerade Daryk zu ihrer Leibwache gemacht. Leicht kniff sie sich in diesem Moment selbst in den Arm und rieb sich über die rote Stelle. Sie wollte ganz sichergehen, dass sie nicht gleich aufwachte und auf Avalon eingeschlafen war.
    „Dann schwört Ihr, Ser Daryk Hylon, dass Ihr immer im Sinne der Prinzessin handeln werdet? Dass, egal was geschieht, Ihr niemals von ihrer Seite weicht, ihr Leben vor Eures stellt und ihr niemals zu Nahe treten werdet?“
    „Ja!“, gab Daryk ein letztes Mal von sich und Daphne unterdrückte ein erneutes Lachen. Tristan nickte und atmete tief durch.
    „Reicht Euch der mündliche Eid oder braucht Ihr es schriftlich?“
    „Er wird genügen.“
    „Dann geht vorerst, ich möchte mit meiner Schwester alleine reden!“, forderte Tristan und im Hintergrund verschwand der Vater zufrieden durch eine Tür. Daryk hingegen rührte sich nicht von der Stelle. Er verschränkte seine Arme und wartete die Reaktion von Tristan ab, der nur seine Brauen hob.
    „Damit wäre die letzte Prüfung auch bestanden“, nuschelte er leise, aber noch so, dass die beiden dies hören konnten. „Und dennoch“, wurde der Herzog wieder lauter, „was hast du dir dabei gedacht? Einfach fortzulaufen?“
    Betreten sah Daphne zu Boden. Irgendjemand musste dies ja übernehmen, ihr Vorwürfe zu machen.
    „Ein Bauer hat es auch nicht leicht, ein Seefahrer auch nicht und trotzdem verharren sie an Ort und Stelle. Deine Verantwortung wiegt da noch wesentlich schwerer!“
    „Welche Verantwortung?“, fragte Daphne jedoch mutig. „Mich verkaufen zu lassen? Nicht selbst für mich entscheiden zu dürfen. Euer aller Spielzeug zu sein? Eine Schachfigur, die man gewinnbringend einsetzt?“
    „Jeder hat seine Bürde zu tragen und zu ertragen!“
    „Nein!“, dementierte die Prinzessin kopfschüttelnd. „Ich nicht! Ich muss gar nichts ertragen, was ich nicht bereit bin zu ertragen.“
    „Du bist nun mal kein Mensch, der für sich alleine lebt!“, erwiderte Tristan und stand von seinem Thron wütend auf.
    „Und trotzdem werde ich mich nie, niemals zu einem Mann betten lassen, der mehr als doppelt so alt ist wie ich, nur, weil ihm seine restlichen Frauen keine Kinder schenkten. Das kann wohl kaum an ihnen gelegen haben und an mir dann erstrecht nicht! Und fand es keiner von euch seltsam, dass diese Frauen ohne ein Wort verschwanden? Er hätte mich umgebracht, wenn ich nicht das erfüllt hätte, was er wollte und mehr sage ich dazu nicht. Ich habe mein Leben selbst an diesem Tag gerettet, auch wenn ich später Hilfe hatte. Aber ihr hättet mich damals allesamt zum Tode verurteilt!“
    Tristan riss seine Augen auf und starrte seine Schwester bloß an. „Und wenn ich mit allem, was ich tat, so falsch lag ...“, führte Daphne ihre Rechtfertigung weiter aus. Ihr Herz klopfte dabei bis zum Hals und sie hatte das Gefühl, dass diese Worte schon viel zu lange in ihr gewohnt hatten.
    „Wenn ich mit allem falsch lag, warum hat Rhenus mich gewählt und nicht dich oder einen meiner anderen Brüder?!“
    „Wir konnte nicht wissen, dass Heinrich so eine Art Mensch war, wir waren selbst noch jung“, begann sich nun Tristan zu rechtfertigen und mutierte vom Kläger zum Angeklagte.
    „Und warum wusste ich es dann? Ich, die ihn nur einmal gesehen habe? Warum vertraute Yorick meinem Urteil oder Arthur und Thorvid? Nur du nicht. Weil du Pflicht über dein Bauchgefühl stellst.“
    Daryk hatte keine andere Wahl, als zwischen den beiden hin - und herzublicken. Wenn sie er gewesen wäre, hätte sie sich auch nicht eingemischt.
    „Heinrich hat letzten Endes festgestellt, wie nah Leben und Tod beieinander liegen! Das hat nun mal sieben Jahre gedauert. Und wenn du nichts dagegen hast, dann würde ich es nun vorziehen, mich zurückzuziehen! Es war immerhin ein furchtbar anstrengender Tag und ich sehe aus, als hätte ich mich in einem Kuhstall gewälzt!“
    Anscheinend hatte Daphne alle Argumente, die sich ihr Bruder zurechtgelegt hatte, verworfen, denn er entließ sie mit nachdenklichem Blick und den Worten:
    „Deine Leibwache wird dann wohl die Nachtwache übernehmen. Durch den anstrengenden Tag, sind die Namenlosen nicht allzu … belastbar!“
    Nickenddrehte sich Daphne um und ließ sich die Tür öffnen. Zusammen mit ihrer neuen Leibwache, schritt sie durch diese und schaute den Hünen erst erleichtert an, als sich die Tür hinter ihnen wieder schloss. Daryk erwiderte ihren Blick mit einem Lächeln, aber kurz danach kam schon Erik angelaufen, der bereits Daryks Umbettung im Namen ihres Vaters veranlasst hatte. Ein etwas kleineres, aber dafür eigenes Zimmer neben den der anderen Namenlosen Quartiere. Es war der Leibwache gestattet, sich frische Kleidung anzuziehen, die ihm gestellt wurden. Neben seiner Rüstung eben, die er ohnehin schon von den Nordmänner bekommen hatte – indirekt. Xhar hatte sie schließlich verändert. An diesem Abend fiel das Abendessen für sie aus, wofür sie sich entschuldigen ließ, aber sie musste nach dem Kampf und den Tagen ohne Bad im Wasser, genau dieses nachholen. Es dauerte Stunden, bis sie sich erholt hatte. Das gab aber auch Daryk Gelegenheit sich zu säubern, sich umzuziehen und etwas zu essen. So lange wachte Thorvid noch in dem Vorzimmer. Als sie aus dem Bad kam, war dieser jedoch bereits verschwunden. An seiner Stelle saß Daryk in einer der Sessel und erhob sich, als sie den Raum betrat.
    „Jetzt fang nicht so an“, mahnte sie ihn.
    „Kein Begrüßung?“, fragte Daryk und setzte sich wieder.
    Daphne lächelte und schüttelte ihren Kopf.
    „Nicht so eine. Für eine Begrüßung muss man nicht zwangsläufig aufstehen!“ Kurzerhand setzte sie sich, wie den Abend davor, einfach auf seinen Schoß und schaute ihn an.
    „Das war heute nicht ganz das, was ich … erwartet hatte.“
    „Nicht ganz, aber besser!“, antwortete er lächelnd, was sie auch zu einem Grinsen zwang.
    „Hast du den anderen etwas gesagt? Warum du zum Beispiel umquartiert wurdest? Nicht, dass sie dich suchen und glauben, du wurdest festgenommen!“
    „Noch nicht“, gestand Daryk und zog Daphne näher zu sich. War wahrscheinlich an diesem Abend besser so, bevor sich alle vor der Tür versammelten, anstatt in ihren Zimmern. Nun ließ Daphne die Begrüßung folgen, die sie sich gedacht hatte – in Form eines Kusses, auch wenn es für einen Moment seltsam war, wenn man bedachte, welchen Eid Daryk abgelegt hatte.
    „So viele Kleider im Schrank und du wählst alles in schwarz“, bemerkte die Prinzessin bei einem Blick auf ihre neue Leibwache.
    „Früher, als Königswache, habe ich weiß getragen!“, antwortete Daryk nickend. Daphne verstand worauf er hinauswollte und hakte nicht näher nach. Dies wäre nicht möglich gewesen, ohne die Stimmung zu trüben. Sie zog es vor aufzustehen und ihn an der Hand zu nehmen.
    „Die Prinzessin ist müde ...“, erwiderte sie, um ihn vielleicht mehr aufzumuntern, anstatt zu deprimieren. Daryk stand auf und lächelte.
    „Dann bringen wir sie besser ins Bett!“, antwortete er folgte ihr widerstandslos. Daphne nickte.
    „Und den tapferen Mann auch, der sich heute gegen fünf Namenlose beweisen musste. Wir waren wirklich gut, wir alle. Kaum zu glauben, dass wir alle nicht mehr Schmerzen und Wehwehchen haben, als der Rest.“
    Sie krabbelte wieder in ihr Bett und begann schon die Vorhänge zuzuziehen, während sich Daryk neben sie legte.
    „Ja“, antwortete der Hüne gedehnt, „das waren wir. Vor allem deine … Ablenkung.“Urplötzlich lief Daphne rot an.
    „Ich konnte kaum noch Magie mehr wirken, deshalb. Irgendetwas musste ich machen, damit sie euch näherkommen lassen.“
    Sie kroch umgehend unter die Decke und lehnte sich müde an Daryks Brust, wo sie von Neuem begann die Muster an seinem Arm nachzufahren. Der Hüne nahm sie noch einmal in den Arm und drückte sie, bevor er ihr einen Kuss auf die Stirn gab.
    „Gut gemacht“, flüsterte er. „Schlaf gut,Prinzessin!“
    Gähnend nickte sie und gab selbiges zurück, mit dem Zusatz;„Leibwache-die-eigentlich-nicht-in-meinem-Bett-liegen-sollte-es-aber-dennoch-macht-weil-es-im-Sinne-der-Prinzessin-ist!“
    Dann schlief Daphne seelenruhig ein und verschwendete nur noch wenig Gedanken an die Gegebenheiten des Tages.

  • Zehn Tage dauerte die Reise. Noch länger hätte es Aras nicht ausgehalten. Was zum Teil an der Besatzung lag und anteilig an der Reise an sich. Jeden Abend eine Flasche Rum zu vernichten, ging mit der Zeit auf seine Kondition. Langweilig wurde es auch recht schnell, Tag ein Tag aus nichts weiter als Bäume, Felsen und Strände zu sehen. Das ständige Schwanken des Bootes bescherte ihm auch die letzten Tage Bauchgrummeln und Übelkeit. Vielleicht lag es aber auch am einseitigen Essen, dass der Koch ihnen tagtäglich vor die Nase setzte.
    Dennoch war er im Großen und Ganzen zufrieden mit der Flussfahrt. Von den Fischfrauen bekamen sie auch keinen Besuch mehr. Dabei hätte er zu gern eines dieser Wesen eingefangen und genauer studiert. Bei den Naga blieb es ihm ja bereits zweimal verwehrt.

    Am frühen Nachmittag traf er in Delyveihs Hafen ein und wurde von Wilfred und Maria empfangen. Sofort merkte Aras, wie die beiden tickten und zueinander standen. Endlich traf er die alten Handelspartner seines Vaters persönlich. Sein Dankesgeschenk für die militärische Unterstützung bei der Verteidigung seiner Stadt wurde auch mit Freuden entgegengenommen. Zwar war es nicht viel, was Aras ihnen mitgebracht hatte -nur ein Beutel voll Schmuck und Edelerz- aber er bestätigte ihnen, dass er bei seiner Rückkehr nach Ymilburg weiteres Edelsteingut nach Delyveih transportieren lassen würde. Viel mehr fiel ihm nicht ein, was er ihnen hätte bieten können, um die entstandenen Schulden zu begleichen.
    Den Fischern wurde für diesen Tag auch gewehrt, im Hafen zu verweilen, da sie ohnehin neuen Proviant brauchten. Sie erkundeten ein Wenig den Hafen, die Lokalitäten und die Gärten.

    Aras war beeindruckt von dieser Stadt, obgleich er vom Kai aus längst nicht alles überblicken konnte. Ihm gefiel dieser Baustil, mit den vielen Säulen und offenen Räumlichkeiten. Alles sehr hell und schlicht gehalten. Seine Stadt dagegen war das komplette Gegenteil. Alles recht erdrückend und düster. Dennoch fühlte er sich in Ymilburg wohler. Es war seine Heimat, sein Leben.
    Zu sehr vergleichen sollte man diese beiden Städte trotzdem nicht, da auch Delyveih einige Defizite in Sachen Ressourcen hatte. Kaum Bäume konnte Aras hier entdecken, von einem Wald ganz zu schweigen. Der Schiffsbau kostete bestimmt allerhand des nachwachsenden Gutes. Leider konnte er sich nicht verkneifen, Wilfred darauf hinzuweisen, dass es viel mehr Baumbestände geben muss. Vielleicht konnte dies ein weiteres Handelsgut sein, in welches Aras mit investieren könnte.
    Während der eingehenden Rundführung, kam auch die Truppe dazu. Verhalten blieb die Begrüßung. Daphne fragte scherzhaft nach, ob Zacharas sie so sehr vermisst hat. Dies bestätigte er.
    Beim abendlichen Dinieren an, kamen sie mehr ins Gespräch und Aras erfuhr einige Neuigkeiten von seiner Truppe und dem Adelspaar. Das spontan aufgetretene Missverständnis wegen Wilfred klärte sich auf. Die Prinzessin verlies Ymilburg wegen ihres kranken Vaters, der nun aber recht gesund wirkte. Ihre Heilkräfte waren im Spiel, welche Wilfred wieder neues Leben gaben. Die Schiffsweihe wurde auch angesprochen. Aras war gespaltener Meinung, ob es sich anbrachte, Daphne diesbezüglich zu gratulieren. Denn der Name Calypso war schon recht makaber, für ein Schiff, das als Geschenk für Daphne galt.
    Aber auch intimere Details, Aras' Vergangenheit betreffend, wurden angesprochen. Nichts, wofür er sich schämen sollte. Die Truppe fand es anscheinend auch interessant, zu erfahren, dass Zacharas van Júmen als Kleinkind bereits schon mal in Delyveih war und sogar Daphne zu Gesicht bekam. Zwar war sie damals nur knapp ein Jahr alt und er nur ein Jahr älter, aber Augenkontakt durften sie schon haben. Schon als Kind sollte er gierig gewesen sein, vor allem nach Muttermilch. Einige der Hebammen und Zofen, die sich damals um ihn kümmern mussten, waren auch heute noch in Delyveih untergebracht. Er sollte sich angeblich auch mal in Marias Ausschnitt erbrochen haben.

    Nach dem Essen ließ er sich sein Zimmer zeigen und begab sich in die Bibliothek. Er wollte an diesem Tag nicht mehr so viel in Angriff nehmen. Entspannung musste ihm nun einfach gegönnt werden, nach dieser anstrengenden Reise.
    Doch schon wenige Minuten nachdem er in der Bibliothek stöbern durfte, gesellte sich Herzogin Maria zu ihm. Schon bei der Begrüßung am Hafen bemerkte er, dass diese Frau seinem früheren Gemüt gar nicht so unähnlich war. Wie der Lord es sofort ahnte, gönnte sie ihm keine weitere Minute Ruhe und verwickelte ihn zugleich in ein Gespräch.
    "Wie ich vernehmen durfte, war meine Tochter einige Zeit lang bei Euch untergebracht." Resignierend schaute sie zu ihm rüber und beobachtete ihn, wie er in einem der Bücher blätterte.
    "Ja, das stimmt, Werte Herzogin Maria", erwiderte er prompt und klappte das Buch wieder zu. Der Inhalt war nicht das, wonach er suchte. "Aber ich kann Euch versichern, dass keine engere Beziehung eingegangen wurde..."
    "Und warum nicht, wenn ich fragen darf?" Sie wurde offensiver und drängte ihn etwas ans Bücherregal.
    Leicht erschrocken blickte er auf und musterte ihr Antlitz. "Wie mein Ihr?"
    Schmatzend sprach sie weiter: "Sie ist gutaussehend und nett, es wäre doch eine passende Gelegenheit, um ihre Hand anzuhalten." Sie blickte auf seine Finger. "Wo Ihr doch selbst auch noch ledig seid..."
    "Moment!", unterbrach er sie sofort und ging auf Abstand. "Nun muss ich aber eine Sache sofort klarstellen! Ich habe zur Zeit bereits eine Frau an meiner Seite. Auch wenn die Verlobung noch nicht bekanntgegeben wurde..."
    "Ach, ist das so?", hinterfragte sie seine in ihren Augen anzuzweifelnde Aussage und kam ihm wieder einen Schritt näher, bis sie nah an seinem Ohr stand. "Wer ist denn die Glückliche? Aus welchem Hause stammt sie denn?"
    Verwundert schaute Aras drein, sah sich kurz um und entdeckte eine merkwürdige junge Frau am anderen Ende des Ganges. Ihre Aufmachung war recht sonderbar, aber Aras machte sich nichts draus. Was er in diesem Moment suchte, wusste er selbst nicht einmal, aber irgendwas bewegte ihn dazu, sich umzusehen.
    Als er keinen ersichtlichen Grund fand, wandte er sich wieder Maria zu. "Haben die anderen Euch noch nichts davon erzählt? Kuen Neyt ist ihr Name. Sie ist Kerzenzieherin von Beruf und eine ausgezeichnete Soldatin..."
    "Kerzenzieherin?" Runzelfalten auf Marias Stirn sagten bereits alles aus, dennoch fragte sie intensiver nach: "Sie ist gar nicht adligem Blutes?"
    Aras schüttelte den Kopf.
    "Und mit solch einer Frau gebt Ihr Euch zufrieden?"
    "Warum denn nicht?", wollte Aras wissen und schnappte sich ein neues Buch aus dem Regal. "Nur weil sie aus bürgerlichen Hause stammt, ist sie doch trotzdem berechtigt, meine Frau zu werden. Mein Vater tat dies auch, ebenso auch mein Großvater."
    "Eures Vaters Frau starb ja auch kurz nach Eurer Geburt", argumentierte sie lachend und warf ihm einen abschätzigen Blick zu. "War nicht anders zu erwarten von einer Hofmagd."
    "Dies verbitte ich mir, Maria!" Stur klappte er das Buch mit lautem Knallen zu und schlug es in seine hohle Hand. "Meine Mutter war eine ehrenvolle und liebenswürdige Frau."
    "Von Eurem Vater können diese Worte nicht stammen... Ihr könnt Daphne ja trotzdem heiraten und Kuen als Mätresse anstellen..."
    Da machte er große Augen. Er hätte mit vielem gerechnet, aber niemals mit solchen frevelhaften Behauptungen. "Nein, das geht zu weit! Darauf werde ich mich nicht einlassen!"
    "Ich kenne zwar Euer Reich nur flüchtig", fuhr sie fort und rieb sich leicht über die Lippen, „aber ein schlechter Ehemann wäret Ihr bestimmt nicht."
    "Das will ich nicht bestreiten, Maria. Daphne würde es an meiner Seite gut ergehen. Dennoch würde ich sie niemals zur Heirat zwingen... Daphne ist für mich wie eine Schwester, die ich nie hatte. Ich kann sie nicht heiraten!"
    Und mit diesen Worten, klemmte er sich das Buch unter die Achsel, stampfte wütend zum Tisch hinüber, schnappte sich ebenso die Bücher dort und verließ die Bibliothek. Doch auf halber Strecke wurde er hinter dem nächsten Regal von seiner Truppe überrascht, die ihn nur verdutzt anglotzten. Zacharas blieb kurz stehen, schaute zurück zu Maria und dann wieder zur Truppe.
    "Habt ihr alle schön gelauscht?"
    Keine Reaktion von seinen Leuten.
    Also lief er weiter und kümmerte sich nicht mehr um die Sachen, die hinter ihm in der Bibliothek geschahen oder geschehen werden. Für ihn war das Gespräch beendet. Er wollte nur noch auf sein Zimmer und den restlichen Abend mit dem Lesen der Bücher verbringen. Den Weg zu seinem Zimmer hatte er sich schon beim ersten Mal gemerkt.
    Schnaufend und völlig erschöpft von dem ganzen Stress schloss er hinter sich die Tür und ging zum Schreibtisch rüber. Die Bücher dort drauf fallen gelassen, ließ auch er sich kurz auf den Stuhl fallen und atmete erstmal kräftig durch.
    "Diese Frau macht einen fertig!" Hart klatschte er das obere Buch vor sich auf den Tisch und klappte es auf. Seine Gedanken an das Gespräch und die kurzen Begegnungen davor beschäftigten ihn nun. "Kann man mich und Daphne auch einfach mal selbst entscheiden lassen, wen man heiraten möchte? Ständig werden meine Entscheidungen in Sachen Liebe angezweifelt..."
    Schleichend begab er sich zum Bett rüber und machte es sich darauf bequem. "Ich kann Daphne nicht heiraten. Ich will Daphne nicht heiraten. Wir sind zu verschieden, das kann niemals gutgehen..." Vertieft in sein Buch, bemerkte er nicht, wie draußen auf dem Flur reges Treiben herrschte. Dann wurde plötzlich seine Zimmertür aufgeschlossen und der Diener kam herein. Ihm folgend eine junge, leicht bekleidete Dame. Langes, wallendes rotes Haar, weißes Kleid und barfüßig.
    Und ehe sich Aras dazu äußern konnte, war der Diener schon wieder verschwunden und schloss die Tür wieder zu. Der Lord betrachtete die junge Dame aus den oberen Augenwinkeln, während er halb ins Buch linste. Sie stand nur da und schaute sich etwas um. Aras sagte nichts, wusste er ohnehin, was sie hier verloren hatte. Schweigen herrschte in seinem Zimmer, denn er vertiefte sich wieder ins Buch.
    Dann erklang ihre zierliche Stimme. "Ich bin Clara. Ihr dürft über mich verfügen, Herzog. Ihr wollt doch wohl nicht schlafen gehen, ohne Euer Gastgeschenk auszupacken, oder?" Prompt streifte sie sich ihr Kleid von den Schultern und präsentierte sich dem Herzog gegenüber nackt.
    Verwundert, aber nicht unbeeindruckt, glotzte er sie skeptisch an. Dennoch wandte er seine Blicke von ihr ab und widmete sich wieder dem Buch.
    Sie kam näher ans Bett und sprach mit betörenden Zungen zu ihm: "Gastgeschenke dürft Ihr nicht ablehnen, dies würde als Beleidigung gelten."
    "So gern ich Gastgeschenke auch annehme, dieses hier lehne dankend ab."
    Sie stellte sich vors Bettende, die Arme dabei hinterm Rücken versteckt. Gespielt schüchtern und unschuldig blickte sie ihn an, biss sich leicht auf die Unterlippe und sprach weiter: "Wollt Ihr mich, armes junges Ding, etwa so hier stehen lassen?"
    Kurz linste er übers Buch hinaus, überlegte mit starrendem Blick und erwiderte kalt: "Du kannst dich doch auf einen Stuhl setzen."
    "Ihr kennt vermutlich meine Mutter. Sie erzählte mir oft von Euch, wie sie Euch durch die Gärten trug."
    Nun betrachtete er sie etwas eingehender im Gesicht. Nun, wo sie es erwähnte, erkannte er schon eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Frau, die ihm vage in Erinnerung geblieben war. Ein richtiges Bild zu ihr hatte er aber nicht.
    Naserümpfend erwiderte er prompt: "Dann schon mal grundsätzlich nicht, meine Teuerste!" Dann steckte er die Nase wieder ins Buch und hielt es sich extra dicht. "Mit Frauen, die meine Halbschwestern sein könnten, verkehre ich grundsätzlich nicht!"
    Kurz kniff sie die Augen zu, lächelte ihm zu und sprach: "Da kann ich Euch beruhigen, Zacharas, ich bin kein Erzeugnis Eures Vaters." Dies geäußert, begann sie, auf das Bett zu kriechen und sich von unten her ihm zu nähern. Obwohl er im Buch vertieft war, merkte er ihre Annäherung und zog die Beine schnell an. Als sie seine Füße ertappte und sich mit ihren Fingern langsam an seinen Knöcheln und Unterschnenkeln hinauftasten wollte, riss er sich hoch und erhob sich vom Bett. Sie kroch ihm nach, doch er war flink und schon nach kurzen Augenblicken zur Raummitte geeilt.
    "Ich hörte, Ihr seid ein passabler Zauberer."
    "Hast du das?", hinterfragte er und hob ihr Kleid auf. Beim näheren Betrachten dieses Stück Stoffes, fragte er sich, warum sie überhaupt etwas angezogen hatte. Es verhüllte eh nur das Nötigste. Anschließend ging er zum Schreibtisch rüber, wo die anderen Bücher lagen.
    "Ihr würde gerne Euren Zauberstab sehen", gab sie forsch wieder und erhob sich mit einer gekonnten Drehung von der Bettkante. Während sie am Bettgestell entlangschritt, ließ sie ihre Hand über dieses gleiten und zeichnete mit den Fingern geschwungene Wellen. "Wo versteckt er sich denn?"
    "Das, Clara, werde ich dir garantiert nicht verraten." Er legte vorsichtig ihr Kleid über die Stuhllehne und schnappte sich ein neues Buch. Sie näherte sich mit großen Schritten ihm und legte ihre Hände ruhend auf seinen Schultern ab. Leicht begann sie, diese zu massieren und schmiegte sich an ihn. Aras ließ das immer noch kalt, er machte eine Drehung und löste sich so von ihr.
    Aber ihre Hände wannderten mit und ergriffen seine Hüfte. "Ist er etwa unter Eurer Robe?"
    Ihm wurde das zu bunt. Vorsichtig ergriff er ihre Handgelenke und befreite sich aus ihren Fängen. Leicht angewidert schaute er sie an und deutete zum Kleid. "Ziehe dich wieder an, Clara. Ich bin vergeben und werde mich nicht auf einen Seitensprung einlassen!" Wieder legte er sich aufs Bett und nahm bequeme Stellung ein. "Ich liebe Kuen und werde sie nicht durch eine Zofe oder leichte Dame ersetzen. Schnapp dir ein Buch und suche dir einen Platz zum Lesen."
    "Dann wähle ich den freien Schlafplatz neben Euch..." Kaum wollte sie sich neben ihn legen, versperrte er diese Seite bereits mit seinen Beinen.
    Ein Kopfschütteln sollte ihr signalisieren, sich nicht weiter zu nähern. Doch sie ignorierte es und nahm trotzdem Platz. Sanft klammerte sie sich an sein Bein und griff nach dem Buch in seinen Händen. "Das Buch braucht Ihr nicht, Herzog van Júmen."
    "Unterlass das!", murrte er sie an und entriss es ihr wieder, um sich anschließend wieder zu erheben und erneut zum Tisch rüberzugehen. Ihre Blicke folgten ihm.
    Er ruckte den Stuhl etwas vor, deutete darauf und sprach: "Entweder du setzt dich hierhin und bist still, oder du verlässt den Raum."
    "Wie wäre es denn, wenn Ihr Euch auf den Stuhl setzt und ich Euch massiere?"
    Kurz überlegte er, denn verspannt fühlte er sich schon. Jedoch begriff er schnell, dass sie ihm vermutlich nicht nur den Hals und Rücken massieren wollte. So sehr er dies generell befürwortet hätte, wollte er solcherlei Aktivitäten lieber von einer ihm vertrauteren und sympathischeren Frau durchführen lassen.
    "Nein danke, Kuen kann das gut genug."
    Augenrollend erwiderte sie: "Sie ist nicht hier, also ziert Euch nicht so!"
    Sie kroch vom Bett und stakste hochbeinig zu ihm rüber. Er betrachtete sie nicht, ihm war dieses forsche Verhalten zuwider. Grundsätzlich hatte er nichts dagegen einzuwenden, jedoch wusste er um die Konsequenzen.
    "Ich ziere mich gar nicht, wertes Fräulein. Ich weiß einfach, dass es falsch ist."
    "Was ist an diesem Anblick falsch?", fragte sie nach und stellte sich breitbeinig, mit in die Hüften gestemmten Armen vor ihn hin. Ein freches Schmunzeln zierte ihr Gesicht.
    Aras blieb konsequent und ruckte ihr den Stuhl rum. Mit einem großen Satz stolperte sie auf ihn zu, kletterte auf die Sitzfläche des Stuhls, verfing sich im Kleid, klammerte sich mit den Händen an seinen Schultern fest und warf ihn rücklings zu Boden. Der Stuhl samt ihr fielen mit um und landeten auf ihn. Völlig perplex schaute Aras an sich herab, erblickte die nackte Frau auf ihm, wie sie sich hektisch am Stoff der Kutte hinaufziehen wollte, und drückte ihr die Hände sanft gegen die Stirn. Sie zog sich hoch und stemmte sie nach unten.
    "Unterlass das, habe ich gesagt!"
    "Ziert Euch nicht so, Herzog! Nur ein kurzer Ruck und es ist geschehen."
    "Ich bin vergeben! Ich will keine andere Frau mehr!"
    Als sie anfing, plötzlich ihre Hände in seine Seitentaschen zu stecken -vermutlich wollte sie seinen Zauberstab ertasten- reichte es Aras endgültig. Er schloss die Augen, konzentrierte sich und ließ Clara schweben. Sie schrie und kreischte, krallte ihre Finger in seinen Stoff und zappelte hektisch mit den Füßen. Doch nach einigen Sekunden erstarrte sie komplett und konnte nur noch leises Brummen von sich geben. Fest waren ihre Finger in seiner Kutte gekrallt, je höher er Clara anhob, umso weiter wurde der Stoff gedehnt. Er öffnete die Augen, sah sein regungsloses Opfer über ihm schweben und ließ sie kurz ihre Finger bewegen können. Sie löste sich komplett von ihm und er buchsierte sie an die Decke. Die Hände lenkte so, dass sie ihren Schambereich verdeckten. Ängstlich starrte sie ihn mit großen Augen an und versuchte krampfhaft lautere Töne herauszubekommen.
    Der Meistermagier erhob sich von der liegenden Position, fischte ihr Kleid vom Boden auf und ließ es ebenso nach oben schweben. Nun grinste er sie belustigt an und wickelte grob das Kleid um ihre Hüfte. „Ich habe doch gesagt, du sollst das unterlassen! Ich habe dir gesagt, ziehe dich wieder an! Hast du verstanden?"
    Sie nickte leicht.
    Er vergewisserte sich noch einmal. "Verlässt du nun mein Zimmer und lässt mich in Ruhe und alleine schlafen?"
    Sie nickte erneut.
    "Gut so." Dann ließ er sie vorsichtig wieder hinab, stellte sie auf den Füßen ab und löste komplett den Zauber von ihr. So schnell konnte er gar nicht schauen, da warf sie sich das Kleid über und hatte den Raum verlassen. Der Herzog war zufrieden, keiner verletzt und niemand sonst hatte es anscheinend mitgekriegt. Für den Lord ein perfektes Ergebnis. Auch, wenn er nicht gänzlich stolz auf sich war -immerhin wandte er an einer Frau seinen Levitationszauber an- fühlte er sich trotzdem im Recht, dies gut gelöst zu haben. Nun konnte er schlafengehen. Er ging nicht davon aus, dass ihn so schnell noch mal eine dieser Frauen auflauern will.
    Er zog sein Nachtgewand an, schüttelte die Bettdecke nochmal frisch auf und legte sich mit einem Buch in seinen Armen schlafen. Die Augen schlossen sich und er schlief ein...

    ...Mitten in der Nacht war es. Plötzlich polterte es in seinem Zimmer und ein greller Schein riss ihn unsanft aus seinem Schlaf. Er wachte auf und blickte in den ungewöhnlich erleuchteten Raum. Ein flackerndes Licht, hervorgerufen von vielen kleinen Kerzen, die im Raum herumschwebten. In der Raummitte stand eine Frau. Es war dieselbe Frau, die er vorhin kurz in der Bibliothek gesehen hatte.
    Gleiche Größe wie er und gute Proportionen. Sie trug eine schwarzweiße, längsgestreifte Bluse und darüber eine hellgraue Corsage. Ihre langen Beine wurden von einer weißen, leicht transparenten Strumpfhose bedeckt, über welcher sie eine kurze, dunkelblaue Hose trug, die ihr bis zu den Knien reichte. Um die Hüfte trug sie locker einen viel zu weiten, goldenen Gürtel, an desssen zahlreichen Ösen und Schlaufen Goldplättchen und Silberperlen hingen. Der Gürtel war nur durch die linke Schlaufe der Hose gezogen, um ihn halbseitig auf richtiger Höhe zu halten. An den Füßen trug sie hellbraune, elegante Lederschuhe mit dunkelschwarzen Schnürsenkeln und jeweils ein kleines Silberglöckchen an den Säumen, die bei jeder Bewegung läuteten. Ihre Unterarme waren vom Blusenstoff unbedeckt. Dafür hingen um ihre Handgelenke kleine Kettchen aus Weißgold. An beiden Mittelfingern steckte ein Bernsteinring. Ihr Gesicht hatte etwas verspieltes. Grasgrüne Augen, volle Wimpern, spitzzulaufende Nase und einen mit königsblauem Lippenstift verzierten Mund. Nah anliegende Ohren, leicht errötete Wangen. Ihr pechschwarzes, kurzgeschnittenes Haar wurde von einem silbernen Krönchen verziert, das ihr offensichtlich auch etwas zu groß geraten war. Das Krönchen war bestückt mit fünf feuerroten Rubinen, die ringsum angebracht waren.
    Und in dieser Aufmachung stand sie mitten im Raum und glotzte den Lord an. Verständlich, dass dieser sich gleich erkundigen musste. "Wer seid Ihr? Was wollt Ihr hier?"
    "Ich bin Liandra!", verkündete sie ihren Namen und riss frohlockend ihre Arme in die Höhe. Sich auf der Hacke drehend, pfiff sie wie ein Vögelchen und tänzelte leicht um sein Bett herum. Vollkommen verwirrt verfolgte er das Schauspiel, welches offensichtlich eine echte Inszenierung darstellen sollte.
    Irgendwann blieb sie dann abrupt neben ihm stehen und grinste ihn breit an. Aras wich leicht zurück, er fühlte sich etwas bedroht von dieser Frau. Aber sie grinste immer weiter und beugte sich immer mehr zu ihm hin. Bis sie eigentlich aufs Bett hätte fallen müssen, so schief stand sie da. Aber sie kippte nicht vorn über, sondern stand auf den Zehenspitzen und schien von einer Magie so gehalten zu werden. Aras selbst war es nicht, der sie verzaubert hatte. Eine gute Minute verging, beide starrten sich an und rührten sich kein Stück.
    Dann presste sie aus ihren Zähnen hervor: "Könntest du etwas Platz machen, ich kann mich kaum noch halten..."
    Er starrte sie weiterhin an, machte aber keinerlei Anstalten in diese Richtung. "Ich... was..? warum..?"
    "Das war keine Frage, sondern eine Aufforderung..."
    "Ich kenne Euch nicht mal! Warum sollte ich für Euch weichen?"
    Urplötzlich wurde Aras zur Seite geschoben und Liandra ließ sich auf die freie Fläche fallen. Sie landete mit dem Bauch auf der Bettkannte, das Gesicht in die Matratze gedrückt und die Beine waagerecht baumelnd. Alamiert zückte Aras unverzüglich seinen Zauberstab, beugte sich auf und hielt ihn ihr entgegen. Obwohl er sah, dass sie noch mit sich zu kämpfen hatte, drückte er ihr den Stab leicht an den Kopf und sagte: "Noch ein fauler Zauber und um Euch ist es geschehen!"
    Vorsichtig hob sie die Hände an, kippte etwas nach hinten und setzte mit den gestreckten Beinen auf. Ihr Kopf ging in den Nacken und sie schaute direkt auf den Zauberstab. Mit schielendem Blick, gespitztem Mund und eingezogenene Wangen, säuselte sie leise: "Es wird bei mir zwar keine Wirkung haben, aber trotzdem zeige ich dir mal angemessenen Respekt."
    "Wie bitte?", hinterfragte er skeptisch und blickte in ihre grasgrünen Augen, die sehr einnehmend und betörend auf ihn wirkten. Sie zwangen ihn zum Senken des Zauberstabs, was er nur leidlich verfolgen konnte. Er konnte sich nicht dagegen wehren, von ihr abzulassen. Als Aras ihn wieder in seiner Seitentasche verschwinden ließ, riss sich Liandra hoch und nahm mit einer gekonnten Drehung auf der Bettkannte Platz. Ihm halb zugewandt, buchsierte sie ihre zierlichen Hände im Schoß, blickte ihn schief an und schnaufte leise.
    Aras richtete sich auch etwas auf. "Und nun nochmal von vorn. Wer seid Ihr und was wollt Ihr von mir?"
    "Also ich bin Liandra, die Göttin der Adligen und jener, die es sein wollen!", erwiderte sie mit breitem Grinsen, rückte sich ihr silbernes Krönchen zurecht und hielt ihm anschließend den Zeigefinger auf die Brust. "Und du bist Zacharas van Júmen, der Herzog von Ymilburg, aus der Provinz Maretstein. Sohn von Melchior und Ella van Júmen."
    „Eine Göttin?“, fragte er skeptisch und schenkte ihr nur abwertende Blicke. "Das soll ich Euch nun glauben?"
    Ihre Mundwinkel fielen nach unten, betrübt schaute sie drein. Leichte Verunsicherung sendeten ihre Augen aus, unterstützt von schüchternem Reiben über ihre Arme. "Sollen solltest du das schon", erwiderte sie mit dicken Pausbacken nickend. "Denn es ist die Wahrheit."
    "Beweist es mir!"
    Hart rollte sie die Augen und stöhnte. "Immer wollen alle einen Beweis für meine Göttlichkeit... Gut, dann beweise ich es dir. Schließe die Augen!"
    Aras tat es, wenn auch widerwillig und mit Vorsicht.
    Einige Sekunden vergingen.
    "Und nun öffne sie wieder!"
    Er riss sie auf, starrte immer noch in das gleiche Gesicht und ließ seine Augen durchs Zimmer schweifen. Aber nichts Ungewöhnliches konnte er entdecken. "Was soll ich nun sehen? Ist doch alles wie vorher."
    "Ich habe auch nicht gesagt, dass ich etwas verändere", entgegnete sie und wischte sich über die Lippen. Sie erhob sich vom Bett, drehte sich zu ihm und rückte abermals ihr Krönchen zurecht. Dann schnippte sie in die Finger und verschwand spurlos. Nur wenige Sekunden später tauchte sie mit einem erneuten Fingerschnippen auf der anderen Bettseite wieder auf, trug nun aber ein hellgelbes Ballkleid, mit silbernem Hüftband und goldenen Schuhen. "Findest du mich hübsch so?"
    Keine Reaktion seinerseits.
    "Anscheinend nicht..." Dann schnippte sie wieder in die Finger und verschwand erneut, um wenige Sekunden später abermals aufzutauchen, diesmal am Bettende, breitbeinig und mit einer Hand in die Hüfte gestemmt, während die andere Hand die schnippende Geste zeigte. Nun trug Liandra eine graue Kapuzenrobe und war barfuß. "Ist dies mehr nach deinem Geschmack? Immer noch nicht?"
    Abermals verschwand sie und kam wieder zum Vorschein. Diesmal baumelte sie kopfüber an der Decke, die Füße in einer Querstrebe verkeilt und war in dicke Felle eingepackt. Wie eine Wilde sah sie darin aus, alleinig ihre schiefsitzende Krone machte sie etwas kultivierter. Sie blickte hinab zu ihm und fragte erneut: "Glaubst du mir jetzt?" Kaum gesagt, verschwand sie wieder und tauchte direkt neben ihm auf dem Bett wieder auf, im purpurnen Nachthemd. "Oder soll ich..?"
    Aras wollte sich aufrichten, da erschien sie plötzlich in hockender Position -in schwerer Eisenrüstung- auf ihm und presste ihm die Hände auf den Brustkorb. "...etwa noch direkter werden?"
    Das schwere Gewicht erdrückte ihn, er sank tief in die Matratze ein. Schmerzgeplagt verkrampfte er und wollte sie irgendwie von sich herunterstemmen. Doch sie verharrte auf ihm und lehnte ihren Oberkörper sogar noch zusätzlich auf ihn. "Schenkst du jetzt dem etwas Glauben, Herzog?"
    Er nickte energisch. Aber eher, um aus dieser erdrückenden Lage herauszukommen, als ihrer Aussage zuzustimmen.
    Sie verschwand wieder von seinem Körper und stand wieder in ihrer ursprünglichen Aufmachung in der Raummitte.
    Nach Luft schnappend presste er heiser heraus: "Und was genau wollt Ihr nun von mir?"
    "Zuerst einmal würde ich mich freuen, wenn du mich duzen würdest."
    "Beim nächsten Mal vielleicht."
    "Und weiterführend habe ich zu Ohren bekommen, dass du dich bessern willst."
    Verdutzt blickte er drein, rieb sich leicht den Bauch und fragte: "Und Ihr seid nun hier, um Euch zu vergewissern, ob dies wirklich so ist?"
    "Könnte man so sagen", erwiderte sie mit gespitzten Lippen und verdrehte verträumt die Augen. Ein hektischer Ruck, gefolgt von einer schnellen Drehung und sie ging in den Ausfallschritt, um dann mit leicht gebückter Haltung auf Aras zu zeigen.
    Laut rief sie auf: "Du kannst wirklich von Glück reden, dass du Marias Angebot abgelehnt hast..." Ein lauter Händeklatscher folgte, mit erneuter Drehung. "Das hätte sonst recht peinlich für dich enden können." Dann sprang sie mit einem Satz aufs Bettgestell und balancierte darauf herum.
    "Inwiefern?", fragte Aras nach und spielte mit dem Gedanken, Liandra einen kurzen Stoß gegen die Knöchel zu geben.
    "Sagen wir mal so...", fuhr sie fort und wiegte mit ihren Armen das Gleichgewicht, "ich habe deine Freunde in die Bibliothek geführt, dass sie euer Gespräch auch noch rechtzeitig zu hören bekommen."
    "Was habt Ihr!?" Sofort riss er sich hoch, dabei fing das Bett an zu wackeln und Liandra verlor das Gleichgewicht. Auf einem Bein strauchelte sie umher und versuchte mit den Händen nach ein paar herumschwebenden Kerzen zu greifen. Diese gaben jedoch nach und konnten ihr Gewicht nicht halten. Liandra rutschte gänzlich weg und landete hart auf dem Boden.
    "Wieso habt Ihr das getan!?"
    Sofort rappelte die vermeinliche Göttin sich wieder auf, richtete ihr Krönchen und zupfte etwas an ihrer Hose herum. Dann klopfte sie sich mit sanften Schlägen den Hintern vom Staub frei und richtete ihre Corsage wieder aus, sodass ihr Busen wieder richtig saß.
    Aras war außer sich und wollte aus dem Bett kriechen, doch sie machte bereits eine Handbewegung und drücke ihn zurück ins Bett. Leicht kichernd sprach sie dann: "Bleibe ruhig liegen, Herzog, ich wollte eh gerade gehen!" Mit diesen Worten, ruckte sie erneut ihr Krönchen zurecht, schnippte mit den Fingern und verschwand nun endgültig.
    Urplötzlich überkam Aras die Müdigkeit und er fiel binnen Sekunden in einen tiefen Schlaf.

    • Offizieller Beitrag

    Theic konnte nicht schlafen. Immer, wenn er die Augen schloss, schossen im Gedanken an seine Mutter in den Kopf. Unterbewusst hatte er sich darüber schon die ganze Zeit den Kopf zerbrochen, aber er kam einfach zu keiner Lösung. Wie sollte er sie finden? Wie fand man jemanden, der seit Jahren verschwunden war? Und wollte er das überhaupt? Er konnte sich schon nicht mehr an seine Mutter erinnern, so lang war sie bereits verschollen. Es gab eine Zeit, da hatte er geglaubt Jamir und Habger wären seine Eltern.
    Die letzten Tage hatten zwar eine Menge Ablenkung geboten, mit ihren Verkupplungsversuchen bezüglich Daphne und Daryk und der Ankunft in Delyveih, aber langsam kämpften sich die Gedanken zurück.
    Theical stand von der Bettkante auf, wo er bis eben noch gesessen hatte und verließ sein Zimmer. Damals hatte ihm Daphne erzählt, dass seine Mutter noch lebte. Viel hatte sie nicht gesagt. Nur, dass sie sich an einem dunklen Ort befand. Das grenzte die Suche nicht gerade ein. Nur auf alle dunklen Orte dieser Welt. Da konnte er sich Gedanken machen, wie er wollte. Ohne mehr Informationen würde er zu keinem Ergebnis kommen.
    Er zögerte nochmal, bevor er an Daphnes Tür klopfte. Wahrscheinlich würde man ihn mitten in der Nacht nicht einmal in ihr Zimmer lassen.
    Es dauerte eine ganze Weile, bis sich jemand der Tür näherte. Es war schließlich auch mitten in der Nacht. Daphne öffnete die Tür selbst und von ihren üblichen Leibwachen war nichts zu sehen. Dass keiner ihrer Brüder sie bewachte, erschien ihm komisch, aber er sagte nichts.
    „Theic?“, fragte Daphne und rieb sich müde die Augen, während sie verwirrt eine Braue hob. „Es ist mitten in der Nacht.“
    „Jaaaa“, jetzt kam ihm das alles noch dämlicher vor. „Hast Recht, ich lass dich lieber weiterschlafen.“ Schon halb weggedreht, wünschte er noch eine gute Nacht.
    „Warte“, murmelte Daphne. Sie öffnete die Tür ganz. „Du kommst doch hier nicht her, ohne Grund.“
    „Nein, ich wollte dich etwas fragen“, er hielt inne und grinste unsicher. „Aber das hat auch Zeit bis morgen.“
    Daphne kicherte leise. „Jetzt bin ich wach, also kannst du gerne auch sagen, warum du hier bist“, sprach sie und hielt ihm die Tür offen. „Ohne echten Grund, wärst du ja nie hier.“
    Theic zögerte noch kurz, dann nickte er und betrat Daphnes Zimmer. Diese schloss die Tür hinter sich und führte ihn in den Raum hinter dem Vorzimmer.
    „Wo ist eigentlich deine Leibwache? Normalerweise hängen dir doch deine Brüder im Rücken.“
    Daphne druckste etwas herum, wurde aber von Theical unterbrochen, dem Daryk ins Auge fiel. Etwas unsicher betrachtete er den Klotz. Sein Blick wanderte zwischen Daphne und dem Hünen hin und her.
    „Ähm…“, brachte er nur hervor.
    Nun war es an Daphne den Blick unsicher wandern zu lassen. „Daryk ist …“, ihr Gesicht nahm die Farbe einer Tomate an, „meine neue Leibwache!“
    Theical hob den Zeigefinger und holte Luft um etwas zu sagen, stieß aber nur die Luft aus und verzog das Gesicht.
    „Dann hat unser Plan ja doch funktioniert“, grinste er schelmisch. „Zumindest so ähnlich.“
    „Wolltest du nicht irgendwas von mir?“, lenkte Daphne auf das Thema zurück, wegen dem er eigentlich gekommen war. Sofort verschwand das Grinsen aus Theicals Gesicht, stattdessen machte sich wieder die gleiche Beklemmung in ihm breit.
    „Jetzt, da langsam wieder Ruhe einkehrt, muss ich ständig daran denken, was du damals über meine Mutter gesagt hast. Wie findet man jemanden, von dem man nicht mal weiß, wo man suchen muss?“ Theical hielt inne und überlegte kurz. Er wollte Daphne zu nichts zwingen. Davon abgesehen, war es noch immer mitten in der Nacht. „Ist dir inzwischen vielleicht noch mehr eingefallen?“
    Daphne ließ sich in einen Sessel fallen und starrte eine Weile an die Decke.
    „Es war kalt ... Ich konnte es nicht spüren, aber an ihrem Atem sehen!“, murmelte sie mehr zu sich selbst, als zu den beiden Männern. Stumm und ohne sie zu unterbrechen ließen sich diese ebenfalls in jeweils einen Sessel fallen.
    „Ich hörte scheppernde Rüstungen, wahrscheinlich Soldaten, die an einer Art Kerker vorbeiliefen. Sie sprachen mit einer und der eine beschwerte sich, dass er den Trangeruch nicht mehr ertragen würde.“
    „Also sitzt sie in einem Gefängnis?“, fragte Theic nach.
    „Tran“, moserte Daryk. „Also irgendwo an der Küste.“
    Daphne beugte sich nach vorn. „Nicht irgendwo. Das war nicht unsere Sprache. Ich habe nur verstanden, was sie sagten, weil ich ein bisschen von dieser Sprache gelernt habe.“ Ihr Blick wechselte zwischen Theical und blieb bei ihrer neuen Leibwachen hängen. „Es war die Sprache aus Daryks Heimat.“
    „Das bedeutet, meine Mutter ist in Lyc?“ Nachdenklich blickten sich die drei Freunde an. „Aber warum in Lyc?“
    Daphne zuckte die Schultern. „Das kann ich auch nicht beantworten.“
    Theical ließ sich in seinem Sessel zurückfallen. Nun wusste er zwar mehr, aber damit hatten sich wieder neue Fragen aufgetan. Was suchte seine Mutter so weit im Norden? Der Krieg in den sie damals geschickt wurde, war nicht im Norden gewesen. Wo genau, wusste er zwar auch nicht, da sein Großvater es ihm nie sagen wollte, aber …
    Schwer seufzend warf er den Kopf in den Nacken.
    „Und jetzt?“, fragte er. „Reisen wir als nächstes nach Lyc?“ Er war sich dabei nicht sicher. Konnte er von den anderen verlangen, dass sie mit ihm kamen? Es war schließlich nur seine Mutter und die anderen hatten garantiert besseres zu tun, als mit ihm zu kommen. „Oder beziehungsweise ich allen“, verbesserte er sich deshalb.
    „Naja, ich habe nicht umsonst ein Schiff bekommen“, grinste Daphne. „Man darf das gern auch verwenden.“
    Daryk sagte nichts, murmelte aber etwas, das klang, als würde er ebenfalls zustimmen, dabei zu sein.

  • Thyra faltete vorsichtig das blaue Kleid und Jaris Willkommensgeschenk zusammen und verstaute alles in einem Seesack, den sie von einer Magd bekommen hatte. Er war etwas zerschlissen und das Banner Delyveihs schon ein bisschen abgenutzt, aber alles in allem in besserem Zustand, als ihre eigene Tasche. Und die wertvollen Kleider wollte sie nicht gleich zu Anfang ruinieren.
    "Noch weiter in den Norden", murmelte Thyra gedankenverloren. Irgendwo zwischen Delyveih und Lyc, vielleicht etwas weiter westlich, erstreckte sich das Gebiet ihres Stammes. Sie hatte mit dem Gedanken gespielt einen Abstecher in ihre Heimat zu machen und ihre Mutter nach ihrem Vater aus der Wüste zu fragen, aber dann hatte Daphne verkündet, dass sie mit ihrem Schiff, der Calypso nach Lyc reisen würden. Sie seufzte.
    "Hast du Heimweh?", fragte Jaris und ließ sich auf alle Viere nieder. Thyra nickte.
    "Ich würde dich meiner Mama gerne vorstellen..."
    "Und deinem Vater?", fragte Jaris. Seine Stimme drang dumpf unter dem Bett hervor. Er suchte seinen zweiten Stiefel.
    "Er ist nicht mein Vater", murmelte Thyra leise.
    Jaris Kopf tauchte zerzaust über der Bettkante auf. "Aber er hat dich großgezogen."
    "Und war doch nie mein Vater. Jetzt, wo ich es weiß, weiß ich auch, dass er es wusste." Sie hielt inne und spielte mit einer dunklen Haarsträhne. Niemand aus ihrem Volk hatte dunkle Haare gehabt. Wie dumm war sie gewesen. Alle hatten es gewusst.
    Jaris lächelte über ihre umständlichen Worte, konnte ihr aber dennoch folgen. Er stand auf und kam um das Bett herum, um sie nach oben zu ziehen. Gemeinsam setzten sie sich aufs Bett.
    "Ich bin mir sicher, dass er dich geliebt hat. Und wenn er deinen Bogen sieht und wie du damit umgehst", er strich ihr liebevoll über die Wange, "dann wird er vor Stolz platzen."
    "Warum sollte er, wo ich nicht von seinem Blut bin?" Thyra wandte sich ab, damit Jaris nicht die einzelne Träne sah, die über ihr Gesicht rollte. Sie dachte an den Moment, als ihr Halbbruder zur Welt gekommen war. Ihr Vater hatte sie mehr gefreut, als jemals zuvor in seinem Leben. Er hatte nicht mal gemerkt, dass sie aus dem Zelt verschwunden war und als sie drei Jahre später ging, hatte er nur eine kurze Umarmung und ein knappes "Pass auf dich auf" für sie übrig gehabt. "Er hat nicht mal versucht mich aufzuhalten", flüsterte sie.
    Erst als Jaris antwortete, merkte sie, dass sie den letzten Gedanken laut ausgesprochen hatte.
    Jaris fasste sie unterm Kinn und drehte ihren Kopf sanft zu sich. Er lächelte. "Er lehrte dich alles, was du zum Überleben brauchtest, nur weil er nicht dein Vater war, heißt das nicht, dass du nicht seine Tochter warst. Er kannte dich. Er wusste, was du kannst und er wusste vermutlich auch, dass du bei dem Bergklimmern niemals glücklich geworden wärst. Eine Frau mit Kampfgeist und Fertigkeiten, die eigentlich den Männern vorbehalten sind. Eine Frau, die die Traditionen auf den Kopf stellt. Eine Frau, die den Stamm und sein System in den Grundfesten erschüttern würde, wenn sie bliebe. Vielleicht wusste er, dass du und der Stamm daran kaputt gehen würden, wenn du bliebest. Er ließ dich gehen und wusste, dass du auf dich aufpassen kannst. Er ließ dich in dem Vertrauen gehen, dass du eines Tages zurück kehren würdest und in der Hoffnung, dass, sollte der Tag jemals kommen, der Stamm, er und du endlich bereit dafür wärt. Vielleicht war es damals einfach zu früh."
    Jetzt brach Thyra endgültig in Tränen aus und schmiegte sich an die Schulter des Söldners. "So habe ich es noch nie betrachtet", schluchzte sie.
    "Deswegen hast du ja mich", schmunzelte Jaris und strich ihr über ihre Haare, die mittlerweile wieder bis zwischen die Schulterblätter reichten. "Auf dem Rückweg können wir deine Familie vielleicht besuchen."
    Sie blieben eine Weile sitzen und verpassten deswegen das Mittagsessen. Sie besuchten die Köchin in der Küche und konnten zwei süße und noch warme Semmeln und zwei Becher frische Milch abstauben.
    Auf dem Weg zu einem sonnigen Plätzchen begegnete ihnen Theical, ebenfalls mit losem Mittagessen in der Hand.
    "Huch. Warum hast du das Essen verpasst?", fragte Thyra. Sie erreichten die Palasttreppe und ließen sich auf den Stufen in der Sonne nieder.
    "Mittagsschlaf", murmelte Theic zerknautscht. Die Jägerin verstand. Der Entschluss nach Lyc aufzubrechen, war von Theic, Daphne und Daryk mitten in der Nacht gefällt worden und Thyra und Jaris begleiteten den Freund gern. So etwas machte man unter Freunden. Sie hatten Daphne begleitet, also würden sie es auch bei Theic tun, den sie ja nun schon länger als die Heilerin kannten.
    "Und was ist mit dir?", fragte Theic mit Blick auf ihre verweinten Augen.
    "Nichts", wich Thyra aus. Sie wollte nicht darüber sprechen. "Komm, lass und Daphne und Daryk suchen. ich möchte wissen, wann wir genau aufbrechen werden."

    Writers aren't exactly people ... they're a whole bunch of people trying to be one person.
    - F. Scott Fitzgerald

    • Offizieller Beitrag

    Er würde also seine Heimat wiedersehen. Beinahe sechs Jahre war es her, dass Daryk aus Lyc geflohen war und dabei alles verloren hatte, was sein Leben damals ausgemacht hatte. Jetzt würde er mit einem neuen Leben in das ewige Eis zurückkehren. Einige Dinge waren dort noch ungeklärt und er nahm sich vor zumindest das für ihn wichtigste zu erledigen. Noch wollte er den anderen nichts davon erzählen. Zum einen, weil er nicht wusste, wie er so etwas ansprechen sollte, zum anderen aber auch, da er sich noch nicht sicher war, ob die anderen ihn überhaupt begleiten würden.
    Ein kurzes Kopfschütteln vertrieb den Gedanken und holte ihn zurück in die Gegenwart.
    „Also morgen früh?“, fragte Theical noch einmal nach, „Morgen früh geht’s los?“
    Allgemeine Zustimmung machte sich breit, wobei sogar Aras hellauf begeistert von der Idee war.
    „Ich habe gehört, es gibt dort mächtige Magie?“, wollte er von Daryk wissen, welcher es mit einem Nicken bestätigte. Der Ritter wusste nicht, warum die Magier in seiner Heimat so viel mächtiger waren, als andernorts, aber er nahm an, dass der Herzog es schon herausfinden würde. Anscheinend genügte Aras die Aussicht auf neues Wissen und seine Abenteuerlust um der Reise zuzustimmen.
    Innerlich musste Daryk grinsen, als er daran dachte, dass Zacharas noch keine Ahnung davon hatte, welche Kräfte Xhar ihm verliehen hatte. Natürlich waren ihm die schwarzen Zeichnungen auf Daryks Haut aufgefallen, aber Tätowierungen waren in Devyleih normal und Daryk hatte erzählt, dass er eine für den Sieg über den Oger verdient und sich auch abgeholt hatte.
    „Daryk du kommst ja sowieso mit oder?“, fragte Theic mit schelmischem Grinsen.
    „Was macht dich da so sicher?“, hakte Jaris nach, auch wenn Daryk wusste, dass auch der Halbelf mehr zwischen Ritter und Prinzessin vermutete, als nur Freundschaft.
    „Weil ich ihre Leibwache bin“, beschloss Daryk, die Diskussion zu beenden. Dafür erntete er verständnislose Blicke, weshalb Daphne die ganze Geschichte erzählte. Ein leises Kichern von Thyra folgte. Ihre verweinten Augen machten es Daryk schwer, es ihr nicht zu gönnen.
    „Dann pass mal gut auf sie auf“, neckte sie ihn lachend.
    Einige Witze später trennte sich die Gruppe dann vorerst wieder um noch etwas Schlaf zu bekommen, bevor der Tag der Abreise anbrach.
    Daryk allerdings wollte sich nicht von seinem Plan für die Nacht abbringen lassen.

    Vorsichtig drehte Daryk am selben Abend den Schlüssel in dem kleinen Loch in einem der Mauersteine. Wie von Thorvid versprochen drehte der Stein sich mit, die Holzvertäfelung der Wand schwang auf und offenbarte den geheimen Gang aus Daphnes Gemächern. Zufrieden grinsend steckte er den Schlüssel wieder in seine Tasche und machte einen Schritt zur Seite.
    „Nach dir, Prinzessin“, meinte er und wies mit der Hand auf die Öffnung.
    „Zu höflich“, entgegnete sie mit einem übertriebenen Knicks und ging hindurch.
    Daryk folgte ihr und schloss den Geheimgang hinter sich und entzündete eine kleine Flamme in seiner Hand um sie nicht im Dunkeln stehen zu lassen.
    Trotz der Finsternis sah er Daphne an, dass sie nicht, wie im Tempel, ängstlich durch den Gang irrte, sondern sich fröhlich umsah und ihn wie ein kleines Mädchen an der Hand durch den Gang zerrte.
    Er wunderte sich noch, warum sie auf einmal so furchtlos war, aber bevor er sie stellen konnte beantwortete sie die Frage bereits indirekt.
    „Ich war noch nie in diesem Gang“, erklärte sie, „aber ich wusste immer, dass er in die Freiheit führt.“
    Nachdem sie aufgehört hatte, ihn zu ziehen, ging er nun neben ihr und geleitete sie in ebendiese Freiheit.
    „Es war seltsam, zu wissen, dass immer einer meiner Brüder hier drin war“, flüsterte sie noch.
    Innerlich freute sich der Ritter, dass die Prinzessin sich so für den kleinen Ausflug begeisterte und führte sie weiter.
    Langsam veränderte sich der Pfad und nahm wieder mehr natürliche Formen an. Die großen Pflastersteine auf dem Boden wichen dem grob behauenen Fels der Höhle und bald war keinerlei Menschliche Architektur mehr zu erkennen.
    „Wie weit noch?“, wollte Daphne ungeduldig wissen.
    Leise lachend zeigte Daryk nur nach vorne wo bereits der Ausgang zu erkennen war. Das durchscheinende Mondlicht ließ den Felsspalt beinahe leuchten und die frische Meeresluft drang langsam zu ihnen durch. Der Geruch von Salz und Wasser drang in Daryks Nase, wobei er sich fragte, ob so für Daphne die Freiheit roch.
    Der tiefe Atemzug, den sie kurz darauf nahm und mit einem zufriedenen Seufzer quittierte, bestätigte diese Vermutung.

    Kaum waren sie durch die Spalte geklettert, gluckste die Heilerin fröhlich. Sie hatte Daryks Hand keine Sekunde losgelassen und zog ihn nun wieder hinter sich her zum Wasser. Gemeinsam schlenderten sie im Mondschein über den menschenleeren Strand. Er ließ den Blick über das ruhige Wasser schweifen. Irgendwo hinter diesem Gewässer lag seine Heimat, wo es noch etwas zu erledigen gab. Aber das hatte Zeit. Jetzt wollte er erst einmal die Zeit mit seiner Prinzessin genießen. Er sah zu ihr hinunter und musste lächeln, als er bemerkte, wie glücklich sie aussah. Strahlend sah sie zu ihm auf.
    „Wenn man keine Prinzessin ist, ist es hier gar nicht so übel“
    , freute sie sich.
    Fragend zog er eine Augenbraue hoch.
    „Keine Prinzessin?“, fragte er verwirrt.
    Kurz blinzelte sie ihn an, bis sie seine Verwirrung verstand und ergänzte kichernd:
    „Ich meinte, wenn man nicht wie eine behandelt wird.“

    Der Leibwächter blieb stehen und verschränkte grinsend die Arme vor der Brust und meinte gespielt beleidigt:
    „Ich behandle dich also nicht wie eine Prinzessin?“
    Mit einem Lächeln boxte sie ihn in die Seite.
    „Du behandelst mich wie eine andere Art Prinzessin“, stellte sie schnell klar, woraufhin er wieder ihre Hand nahm.
    „Wie du es verdient hast“, versicherte er ihr und setzte den Spaziergang fort.
    Sie lächelte, aber irgendwas in ihrem Blick verriet ihm, dass etwas nicht stimmte. Nachdenklicher als zuvor stapfte sie mit kleinen Schritten neben ihm her. Kurz überlegte er, ob er einfach so fragen sollte, was sie hatte, kam dann aber zu dem Schluss, dass es keinen Grund gab, es nicht zu tun:
    „Was ist los?“
    Daphne blieb stehen und wandte sich ihm zu.
    „Verdient ... Ich erinnere mich bruchstückhaft an meinen Tod. Mein Leben wurde gemessen an dem, was ich tat und es war wirklich hart an der Grenze“
    , erzählte sie mit unsicherer Stimme „mein Wandel zur Schurkin hatte damit viel zu tun. Zu stehlen war nicht die ehrenhafteste Weise, an Geld zu kommen. Deswegen wollte ich mich ändern und zog es vor zu helfen, anstatt weiter Schlösser zu öffnen.“
    Man sah ihr an, dass sie dieses Wissen schon lange mit sich herumgetragen hatte und sich darüber mehr Gedanken gemacht hatte, als sie zugeben wollte.
    Wortlos schloss Daryk seine Prinzessin in die Arme und drückte sie an sich. Eine ganze Weile hielt er sie einfach fest, bevor er schließlich flüsterte:
    „Du hast mir mehr geholfen, als du dir vorstellen kannst. Und vielen anderen ebenso. Warum solltest du nicht auch etwas Schönes haben?“
    Etwas entspannter lehnte sie sich an ihn an. Erneut war eine kurze Pause, in der beide nur den Moment genossen bevor sie mit einem Skeptischen Blick wieder nach oben sah.
    „Ich frage mich nur, ob wir nicht ab und an absichtlich in eine Richtung gelenkt werden. Hätte ich nach der Rückeroberung nicht beschlossen mich mit Heilkräutern und Medizin auseinanderzusetzen, hätte ich dir niemals helfen können. Und nach meinem Ableben kehre ich zurück und kann es ohne Bücher und Messer“, meinte sie leise.
    Daryk lächelte zu ihr hinunter und nickte. Diese Frage hatte er sich auch schon gestellt
    „Das kann ich dir auch nicht sagen“, gab er zu, „aber ich bin froh das es so ist.“
    Wieder lehnte sie sich, scheinbar zufrieden mit der Antwort, an ihn an.
    Scheinbar hatte sie dann genug von diesem trüben Thema und führte ihn an der Hand zum Ufer.
    „Halt mal“, wies sie ihn an, während sie ihre Stiefel auszog und ihm in die Hand drückte, „ich will ein bisschen ins4 Wasser gehen.“
    Mit stummer Zustimmung nahm er die Schuhe entgegen und sah ihr zu, wie sie sich die Hose bis über die Knie hochkrempelte und anschließend ins Wasser stapfte.
    Das Wasser plätscherte um ihre Waden, während sie mit dem Rücken zu ihrem Beschützer im Meer stand und die Arme ausbreitete. Die schwarzen Haare fielen über ihren Rücken und reichten beinahe bis an die Wasseroberfläche. Erneut seufzte sie zufrieden und starrte an den Horizont.
    Vorsichtig näherte er sich ihr von hinten und stellte sich hinter sie. Er legte seine Hände auf ihre Schultern und begann sie leicht zu massieren. Daphne legte den Kopf auf die Seite und summte behaglich vor sich hin. Mit geschlossenen Augen lehnte sie ihren Kopf an seiner Brust an und schien seine Berührung zu genießen.
    Kurz stoppte er seine Behandlung, um ihr eine Strähne aus dem Gesicht zu wischen.
    „Nicht aufhören“, schnurrte sie und öffnete die Augen, die ihn blau anleuchteten.
    Der Anblick überraschte den Ritter und ließ ihn ein Stückchen zurückweichen, was genügte, um im schlammigen Untergrund den Halt zu verlieren. Wasser spritzte auf, als der Hüne sich unsanft ins Meer setzte. Verdutzt drehte Daphne sich um und fing an zu lachen.
    „Willst du baden oder schwimmen üben?“, neckte sie ihn.
    Ihm hingegen war nicht nach Lachen, als er in die unnatürlich blauen Augen der Heilerin blickte.
    „Deine Augen…“, setzte er an, „sie sind…“
    „Blau?“
    , unterbrach sie ihn lächelnd, „ja, das ist normal, wenn ich Energie aus dem Wasser gewinne.“
    Sie kam auf ihn zu und kniete sich, ohne Rücksicht auf ihre Kleidung vor ihn ins Wasser.
    „Das hättest du mir ja auch früher sagen können!“, merkte er beruhigt an.
    Lachend meinte sie, dass es ihr leidtäte und entschuldigte sich mit einem Kuss. Dann lehnte sie sich wieder an ihn an und blickte auf das Meer hinaus.

    „Hörst du das?“, fragte sie plötzlich.
    Skeptisch drehte Daryk den Kopf und versuchte ein verdächtiges Geräusch auszumachen, konnte aber nur das sanfte plätschern der kleinen Wellen am Ufer vernehmen.
    „Was denn?“, erwiderte er, „ich höre nichts.“
    „Genau“
    , bestätigte sie, „kein Tier, das Laute von sich gibt, sogar die See ist ungewöhnlich ruhig heute.“
    Daryk wusste nicht, was er darauf antworten sollte, daher nahm er diese Aussage einfach hin und nickte leicht. Sein Blick folgte dem der kleinen Frau und er meinte am Horizont etwas zu sehen, aber beim zweiten Blick war es verschwunden. Ohne sich weiter etwas dabei zu denken legte er die Arme um Daphne und spürte, wie sie sich entspannte.
    Nach kurzer Zeit wanderte sein Blick erneut über den Horizont und wieder glaubte er, etwas wahrzunehmen – näher als zuvor.
    Vorerst konnte er das Gefühl der Unruhe in seinem Inneren unterdrücken, aber als Daphne fragte, ob er das auch gesehen hätte, wurde er hellhörig.
    Er nickte und erhob sich aus dem Wasser, um sich besser umsehen zu können.
    Wieder tauchten die Schatten an der Oberfläche auf, wieder schienen sie näher zu sein und Daryk war sich sicher, dass es auch mehr geworden waren.
    „Sind das Fische?“, fragte er unsicher. Er kannte sich mit dem Meer nicht aus, aber eine andere Erklärung wollte ihm nicht einfallen.
    „Könnte sein“, antwortete Daphne, die sich ebenfalls erhoben hatte, nachdenklich.
    Das Wasser kräuselte sich an den Stellen, an denen die Fische die Oberfläche durchbrachen und mit jedem Mal wurden es mehr. Langsam begann der Ritter an daran zu zweifeln, dass es sich um Fische handelte und auch Daphne wich langsam rückwärts aus dem Wasser.
    „Was ist hier los?“, flüsterte sie, eher zu sich selbst, als zu ihm.
    Die Wesen auf dem Wasser wurden immer Zahlreicher und kamen dem Ufer immer näher. Plötzlich erfüllte eine Melodie die Luft und die beiden blickten sich mit großen Augen an.
    „Ist das… Gesang?!“, wollte Daphne mit zittriger Stimme wissen.
    Nickend bestätigte Daryk dies und stellte fest:
    „Fische singen nicht.“
    Beide waren inzwischen aus dem Wasser gewichen und starrten ungläubig das Schauspiel darauf an.
    Die erste der Figuren war am seichten Ufer angekommen und platzte durch die Oberfläche.
    Im Licht des Mondes war sie nicht genau zu erkennen, aber ihr schrilles Fauchen in der Stille der Nacht dafür umso besser zu hören.
    „Bring mich hier weg“, wimmerte die Prinzessin leise, was von Daryks „wir gehen!“ aber deutlich übertönt wurde.
    Er ergriff ihre Hand und zog sie zügig hinter sich her. Bemüht, sie nicht zum Stolpern zu bringen, eilte er zum Eingang der Grotte, die zum Geheimgang führte.
    Daphne in der einen und einen kleinen Feuerball in der anderen Hand hastete er durch den Gang.
    Diesmal war sie wieder angespannt und beinahe panisch, wie sie es im Tempel gewesen war. Schnell entzündete der schwarze Ritter sein ganzes Feuer, was den Tunnel in deutlich mehr Licht tauchte, als die kleine Flamme in seiner Faust.
    Erschrocken zog Daphne ihre Hand zurück, aber er griff wieder nach ihr und erklärte:
    „Keine Angst, das Feuer wird dich nicht verletzen!“
    Sie brachte nur ein unsicheres „Warum?“ hervor.
    „Weil ich es nicht will“, antwortete er knapp und wahrheitsgemäß, was sie ihm scheinbar glaubte und ihm widerstandslos folgte.
    Bald waren sie an der Wendeltreppe angekommen und erklommen sie so schnell es ihnen möglich war.
    Oben angekommen fummelte Daryk den Schlüssel in das dafür vorgesehene Loch und öffnete den Geheimgang.
    Erleichtert atmete Daphne aus, als die Tür sich hinter ihnen schloss und die Wesen nach draußen verbannte. Sofort begann sie, alle Lampen in ihren Wohnräumen zu entzünden und stellte sich anschließend ans Fenster. Vorsichtig schob sie den Vorhang zur Seite und schaute auf den Strand hinaus.
    „Was waren das für Dinger“, hauchte sie zitternd.
    Daryk fragte sich, ob sie der Grund waren, dass Prinzessinnen das Schloss nicht verlassen durften, hütete sich aber, etwas davon zu sagen und zuckte nur die Schultern.
    Die Heilerin, streifte die Nassen Klamotten ab und zog ihr Nachthemd an. Dann setzte sie sich auf ihr Bett und starrte ihren Beschützer an.
    „Lass mich nicht allein, bitte“, forderte sie leise.
    „Niemals“, beruhigte er sie, zog sich ebenfalls um und setzte sich neben sie.
    Sie nahm seine Hand und rollte sich mitsamt dieser auf ihrem Kissen ein.
    Noch immer zitterte sie, weshalb er mit der freien Hand erneut begann, ihre Schultern zu massieren. Er hoffte, es würde sie beruhigen, was es nach kurzer Zeit auch tat. Das Zittern verschwand und sie entspannte sich wieder ein wenig.
    Erleichtert nahm er seine Hand wieder zu sich, was sie aber erneut mit „nicht aufhören!“ unterband.
    Leise lachend und erfreut, dass es ihr gefiel, widmete er sich wieder seiner Aufgabe.
    „Das waren Menschen oder?“, fragte sie nach kurzer Zeit mit einer Stimme, als würde sie sich selbst nicht trauen.
    Leise bestätigte er ihre Vermutung. Selbst im Zwielicht des Mondes waren die weiblichen Formen und langen Haare der Gestalten gut erkennbar gewesen.
    Kurz überlegte er, ob er, wenn sie eingeschlafen war, noch einmal rausgehen sollte, um nachzusehen, was das für Wesen waren.
    Als ob sie es ahnte meinte sie:
    „Geh da nicht nochmal raus!“
    Er senkte lächelnd den Kopf. Scheinbar kannte sie ihn langsam besser als er selbst.
    „Ich habe geschworen dich zu beschützen“, erklärte er, „eigentlich müsste ich.“
    Nun wandte sie sich ihm wieder zu, sah ihm in die Augen und sagte bestimmt:
    „Es ist mir egal, welchen Eid du nun abgelegt hast, dein Leben ist nicht weniger wert als meines. Ich will nicht, dass dir wegen mir etwas geschieht!“
    Der Ritter erwiderte den Blick der Prinzessin und entgegnete ebenso bestimmt:
    „Es ist dein Leben, das meinem einen Sinn gibt. Eher sterbe ich, als dich zu verlieren.“
    Ehrliche Besorgnis machte sich in ihrem Blick breit.
    „Das waren zu viele“, stellte sie leise klar, „wir sagen es morgen gleich den anderen, damit sie auch nicht dort rausgehen. Was immer diese Dinger waren, sie waren nicht sonderlich freundlich und deshalb bleibst du hier!“
    Zustimmend nickte er und legte sich neben sie, woraufhin sie sich, wie schon die beiden Nächte zuvor, auf seine Brust legte und begann, nachdenklich mit dem Linien auf seiner Haut zu spielen.
    Daryk dachte nicht daran, zu schlafen, solange seltsame Wesen vor dem Schloss ihr Unwesen trieben. Still saß er am Kopfende und spürte, wie Daphnes Finger auf seiner Haut immer langsamer wurde. Es dauerte deutlich länger als noch die letzten beiden Tage und erforderte weiteres Massieren ihres Nackens und ihrer Schultern, aber irgendwann schlief die kleine Frau endlich ein.
    Ihre Leibwache hingegen verbrachte die Nacht wach, ans Kopfende des Bettes gelehnt und mit entschlossenem Blick zur Tür.

    „Lass mich nicht allein, bitte“, wiederholte sein Geist Daphnes Worte immer wieder. Warum kamen sie ihm so bekannt vor? So, als hätten sie eine tiefere Bedeutung?
    Dann fiel es ihm ein. Die Nacht als er sich mit Yorick und Thorvid in der Taverne betrunken hatte. Danach war er zu Daphne gegangen und wollte mit ihr reden, hatte aber eine Wasserleiche, die den Kreaturen am Strand viel zu ähnlichgesehen hatte um es einen bloßen Zufall sein zu lassen, neben ihr stehen sehen.
    Nun konnte er sich auch an Ihre Worte erinnern:
    „Lass sie nicht alleine, die anderen waren es und verloren den Kampf.“
    Welche anderen? Welcher Kampf? Waren diese Wesen aus dem Wasser der Kampf? Oder was von den „anderen“ übrig war, nachdem sie ihn verloren hatten?
    Die Worte von Daphnes Vater krochen in sein Bewusstsein. Etwa einhundert Prinzessinnen waren wohl im Lauf der Zeit verschwunden. Waren sie das?
    Willfred hatte auch erwähnt, dass Aufzeichnungen existierten. Daryk nahm sich vor, am nächsten Tag mehr darüber herauszufinden. Neben ihm murmelte Daphne im Schlaf etwas vor sich hin, aber er konnte nicht ausmachen, was. Unruhig rollte sie hin und her, weshalb er ihre Hand ergriff und sanft festhielt. Dies schien zu helfen und sie beruhigte sich ein wenig.
    Den Rest der Nacht verbrachte Daryk reglos ins Nichts starrend und in Gedanken versunken, nur gelegentlich vom unruhigen Schlaf der Prinzessin unterbrochen.

    Der nächste Morgen kam schnell und als die ersten Sonnenstrahlen durch den Vorhang schienen, sah Daryk es als Sicher an, sie alleine liegen zu lassen. Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, stand er vom Bett auf und lies den Kopf kreisen. Das knacken seiner Halswirbel verriet ihm, dass er zu lange reglos dagesessen hatte. Es war ihm egal.
    Er zog sich wieder an, ging zum Fenster und zog den Vorgang zurück. Sonne schien ihm ins Gesicht und fiel auf das Bett. Daphne grummelte kurz als die Strahlen ihr Gesicht erreichten, drehte sich um und schlief weiter. Lächelnd sah der Ritter ihr dabei zu und wandte sich wieder dem vergitterten Fenster zu. Tatsächlich erinnerte dieser Raum eher an eine Zelle, als an das Gemach einer Prinzessin. Leise drehte öffnete er die Verriegelung und zog den Flügel nach innen. Zusammen mit der frischen Luft erwartete er, dass auch das zwitschern der Vögel und die Schreie von Möwen in das Zimmer drangen. Nichts davon geschah. Lediglich das leise Rauschen der sich brechenden Wellen war zu hören. Verwundert lies er seinen Blick über den Strand schweifen, konnte aber nichts Außergewöhnliches erkennen.
    Langsam ging er zurück zum Bett und strich Daphne über die Wange.
    Blinzelnd öffnete sie die Augen und sah ihn zerknittert an.
    „Ich bin gleich wieder da“, versicherte er ihr leise.
    Ein müdes Lächeln und ein kurzes Nicken war alles, was sie von sich gab, bevor ihre Lider wieder zufielen.
    Daryk ging still zur Tür und als er sie gerade öffnen wollte vernahm er nochmal ihre Stimme:
    „Bleib nicht so lange weg!“
    Lachend versicherte er ihr, dass er nur ein paar Minuten bräuchte und verlies das Schlafzimmer.

    Schnell hatte er den Mann gefunden den er suchte. Thorvid saß an einem kleinen Tisch und schmierte sich Honig auf ein Brot. Daryk brachte sein Anliegen schnell hervor, was Thorvid dazu veranlasste sich zu erheben und seinem Frühstück einen wehmütigen Blick zuzuwerfen.
    Wie erwartet wortlos führte der Barde den Ritter zu einem Archiv. Dort hingen eine ganze Reihe Bilder von jungen Frauen, allesamt mit dunklem Haar.
    „Alle, die verschwunden sind“, erklärte Thorvid knapp, als er Daryks schweifenden Blick bemerkte. Es waren viel zu viele um sie auf einen Blick zu zählen, aber er schätze auf über einhundert.
    Das allererste Portrait in der Reihe schien auch gleichzeitig das älteste zu sein. Das lebensgroße Portrait einer schwarzhaarigen Frau, die mit überschlagenen Beinen und strengem Blick auf einem goldenen Thron saß und in das Zimmer starrte, vermittelte einen erhabenen Eindruck. Die mächtigen Säulen im Hintergrund des Gemäldes und das ausladende rote Kleid der Frau ließen keinen Zweifel daran, dass es sich um eine Herzogin von Devyleih handeln musste. „Franziska Murchadh“ stand in großen Lettern auf dem goldenen Rahmen.
    „Sie nennen wir heute Calypso“, fuhr Thorvid leise fort und zeigte auf das Bild, „Sie war die erste, die verschwunden ist und auch die einzige verheiratete.“
    „Es verschwinden nur unverheiratete Frauen?“
    , hakte Daryk nach.
    Thorvid nickte bestimmt.
    „mit dunklen Haaren“, ergänzte er noch.
    Irgendwas sagte Daryk, dass es weniger die Hochzeit, als vielmehr die Hochzeitsnacht die Frauen beschützte. Darum war also „Einsamkeit“ eine größere Bedrohung als er. Er zog eine Augenbraue hoch und sah Thorvid an, der dem Blick des Ritters aber gekonnt in seine Kapuze auswich.
    „Wir wissen nicht, was mit ihnen geschieht, aber sie verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen“
    , lenkte er ab.
    Nachdenklich kratzte Daryk sich am Kopf und überlegte was das alles zu bedeuten hatte.
    „Calypso sucht sie sich aus, immerhin scheint sie genug Zeit zu haben. Das geht seit Jahrhunderten so.“, erzählte der Barde weiter, „dass sich ihr Mann einst von ihr ab und ihrer Schwester zugewandt hat, hat sie zu einem Monster werden lassen. Wie wissen wir nicht, aber was würde das auch für einen Unterschied machen?“
    „Lass sie nicht alleine“, murmelte er vor sich hin und langsam aber sicher ergab sich ein Bild in seinem Kopf.
    „Die Prinzessinnen wissen nichts davon und das sollte auch so bleiben. Es reicht eingesperrt zu sein, sie sollen nicht noch unter Albträumen leiden“, forderte Thorvid ihn indirekt auf.
    Abwesend nickte Daryk zustimmend, obwohl er sich nicht sicher war, dass Daphne es nicht erfahren sollte.
    „Lass sie nicht alleine“, wiederholte die Stimme in seinem Kopf immer wieder. In Gedanken suchte er den Schlüssel zum Geheimgang in seiner Tasche und fand – nichts. Er riss die Augen auf, als er erkannte was das zu bedeuten hatte. Sofort drehte er sich um und verließ das Archiv.
    „Hol die anderen und komm mit ihnen zum Strand“, rief er dem Namenlosen im Gehen noch zu, „beeilt euch!“
    So schnell er konnte, rannte er durch das Schloss und bahnte sich seinen Weg durch die Gänge.
    „Lass sie nicht alleine“, brüllten ihn seine Gedanken jetzt an, „Lass sie nicht alleine!“