Am nächsten Tag begann er wie angekündigt seine Reise. Jedoch nicht zu Pferd oder in der Kutsche, gar zu Fuß, sondern in einem Boot. Eines der ganzgebliebenen Fischerboote am See suchte er sich, samt Besatzung, aus. Er wollte schon immer mal wieder auf dem Wasser unterwegs sein, bestenfalls auch in freiem Gewässer. Umso mehr beflügelte es ihn, als die Matrosen ihn mit Stolz auf ihrem Kutter aufnehmen durften. Es freute sie ungemein, den Herzog nach Delyveih zu eskortieren und vielleicht nebenbei sogar selbst ein kleines Abenteuer zu erleben. Aras konnte ihnen natürlich nicht zu viel versprechen, aber eine gute Entlöhnung war das Mindeste.
Zu sechst waren sie an Bord, Zacharas eingeschlossen. Ein Kapitän, drei Matrosen und der Koch, den alle nur als Koch bezeichneten. Vermutlich hatte er nicht mal einen Namen, sondern tat nichts anderes als Essen zuzubereiten.
Am Abend des zweiten Tages seiner Reise legten sie am Flussufer, nahe einer Felswand, an. Für heute sollte die Reise zuende sein, erst nach Mitternacht oder am frühen Morgen -käme auf den Zustand des Kapitäns, nach einer Flasche Rum, an- würde es weitergehen. Zacharas nahm es gelassen. Während die Matrosen das Boot festmachten, beschäftigte Aras sich abermals mit seinem Jutesack. Ungeduldig wühlte er in diesem herum und tastete ständig seine Taschen ab. "Wo ist die nur hin?" Fuchsteufelswild würde er langsam und stampfte wütend mit dem Fuß auf. Den Stoff des Sacks hart zerrend und ihn herumwirbelnd, kippte er ihn schließlich aus. Viele Utensilien plumpsten heraus, davon nicht wenige für Laien unnütz wirkend. Schreibzeug, Keramikdosen, Schriftstücke, eine Unterhose, Nadel und Garn. Etwas Brot, halbabgebrannte Kerzen, bunte Steine und Pergamentrollen.
"Verflixt nochmal, wo ist die verdammte Karte!" Mit beiden Händen kramte er im Gerümpelhaufen umher. Und dann umklammerte seine rechte Hand die eine Schriftrolle ganz gezielt. Erleichtert atmete er auf und begutachtete sie. "Wusste ich's doch, dass ich sie mitgenommen habe."
"Jetzt muss ich nur noch wissen, wo die anderen Karten abgeblieben sind."
"Alles in Ordnung, Herzog?", fragte Finn der Matrose, ihn dabei leicht von der Seite anrempelnd.
Verdutzt glotzte Aras ihn an. "Ja! Warum denn nicht?"
Der Mann deutete nach unten. "Was genau habt Ihr denn gesucht? Ihr suchtet doch etwas, oder nicht?"
"Meine Seekarte von Delyveih", entgegnete Aras und präsentierte sie ihm kurz. "Zwar etwas ausgefranst und angefressen, aber noch gut genug erhalten, um sie als nützlich anzusehen."
Skeptischen Blickes erwiderte Finn: "Wenn Ihr das sagt, wird es wohl so sein..."
Tief brummte Aras zurück: "Man möge meinen, als Seemann verstünde man den Wert einer Seekarte..."
Plötzlich sprang die Tür zur Kajüte auf, ein Kopf kam zum Vorschein und rief: "Essen ist fertig!"
Wie ferngelenkt schwenkte der Matrose um, setzte ein breites Grinsen auf und rieb sich die Hände. "Endlich mal eine gute Tageszeit. Die Essenszeit!" Schnurstracks stiefelte er los und beachtete den Lord nicht weiter.
Aras wiederum runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und beugte sich dann runter. Er stopfte seine Klamotten wieder in den Jutesack, schulterte ihn anschließend und begab sich an die Reling. Er wollte unbedingt einen dieser Äpfel erhaschen, die ihm schon die ganze Zeit über ins Auge stachen. Auf Zehenspitzen und bis zum Äußersten gestrecktem Arm, erreichte er eine Frucht und zupfte sie ab. Nach kurzem Begutachten, war er sich sicher, dass dies ein Leckerbissen sein würde. Während er sich den Apfel am Stoff sauberrubbelte, begab er sich in Richtung Kajüte. Je näher er der Tür kam, umso lauter wurden die lachenden Geräusche der hungrigen Seebären. Vermutlich genauso verfressen.
Die Tür war recht niedrig, weshalb Zacharas seinen Kopf tief senken musste. Drinnen herrschte spärliches Licht wackelnder Öllampen. Knarzende Dielen und klapperndes Gerümpel an den Wänden, erzeugten gleich die gewisse Atmosphäre für solch einen Ort, an dem man ungern länger als nötig verweilen wollte.
Laut klapperten die ausgemergelten Bootsmänner mit ihrem Besteck auf dem zerkratzten Holztisch umher und brüllten sich gegenseitig ihren Hunger entgegen.
"Was gibt es denn heute?", fragte Aras in den Raum hinein, sah aber bereits angedeutet die heutige Mahlzeit auf einem der Teller. "Pökelfleisch und Sauerkraut..."
"Und dazu ein Fläschchen Rum!", fügte Kapitän Elbert an.
Aras machte es sich bequem, sofern man dies zwischen diesen Männern so nennen konnte, und nahm sich eine große Portion Sauerkraut aus dem Topf.
"Kein Fleisch?", kam vom Mann neben ihm, der sich genanntes gleich aus dem Topf angelte.
"Ich nehme lieber einen Apfel dazu", erwiderte er und präsentierte den eben draußen gepflückten. "Und etwas Brot."
Schiefe Blicke erntete er daraufhin. "Aber Rum nehmt Ihr schon einen Schluck, oder?"
Kurz überlegte er, schob dann aber seinen Becher zum Kapitän hin und deutete hinein. "Nur halbvoll bitte."
"Halbvoll gibt's hier nicht!", erwiderte er und goss randvoll ein. "Ganz oder gar nicht!"
"Herzog?", verlautete der Koch und lenkte die Aufmerksamkeit auf sich. "Wie kommt es überhaupt, dass Ihr nicht wie die anderen zu Fuß unterwegs seid, sondern mit dem Boot nach Delyveih reisen wollt?"
Sich das Kinn reibend erwiderte Aras: "Ich brauchte mal Abwechslung." Dann biss er beherzt in den knackig, spritzigen Apfel und drehte sich Krautfäden auf der Gabel zurecht. "Außerdem will ich mal ans Ziel kommen, ohne große Zwischenfälle..."
Strinrunzelnd fragte der Koch weiter nach: "Ach, ist das sonst anders?"
"Häufig", züngelte Aras aus dem Mundwinkel und setzte ein Schmunzeln auf. "Aber ich will nicht leugnen, dass einige Zwischenfälle... recht prikelnd waren..."
Ein tiefes Raunen ging durch die Runde und mehrdeutig anspielerische Geräusche untermalten dies. "Erzählt uns Details, Herzog!" "Handelt es von Frauen?" "Wilde Biester?"
Doch Aras machte nur eine tilgende Handgeste und sagte augenverdrehend: "Ich schweige lieber und genieße!"
"Herzog?", fing nun Hug an. "Könnt Ihr uns etwas vorzaubern?"
"Wie bitte? Was?"
"Ähm..." Er wischte mit den Händen in der Luft herum. "Uns einen kleinen Zauber präsentieren... Eine Flamme oder so..."
"Achso... Ja, gern!" Und prompt zückte Aras seinen Zauberstab und ließ eine kleine Feuerkugel entstehen, die er mittig über dem Tisch platzierte. Neugierig wie ein kleiner Junge griff Hug in die Flamme hinein und schrie laut auf. "Herr Gott, das brennt ja wirklich!"
Lautes Gelächter brach aus und Aras ließ die Kugel wieder verschwinden. Mit breitem Grinsen entgegnete er dem Matrosen: "Hast du etwa wirklich an meiner Magie gezweifelt?"
Kopfschütteln. "Nnneiiin, mmmeinnn Lorrrd", stammelte er unter ständigem Pusten seiner Hand und ruckte angestengt auf seinem Stuhl herum. Im Affekt versenkte er dann die glühende Hand im Sauerkraut seines Tellers, das zwar nicht besonders kühlte, aber trotzdem den Schmerz linderte.
Nun meldete sich auch Michel, der jüngste im Bunde, zu Wort: "Verzeiht meine törichte Frage, aber meint Ihr wirklich, die Soldatin sollte in Eurer Burg frei herumlaufen dürfen?"
Verwundert beäugte Aras ihn und fragte provokant zurück: "Warum sollte sie es nicht dürfen?" Messer und Löffel aufgerichtet, schaute er den Burschen schief an und animierte ihn somit zum Weiterreden. Doch seine Kameraden rochen den Braten bereits und deuteten zum Themenwechsel an.
Aber Michels Antwort kam schon: "Immerhin gehörte sie zum Feind..."
Mit langgezogener Schnute, vollkommen verblüfft über diese Ehrlichkeit, entgegnete der Lord: "Schön, dass es sich so schnell herumgesprochen hat. Man fragt sich nur, wem dieses lose Mundwerk gehörte."
Da hob Michel unschuldig die Hände. "Ich habe nur wiederge..." Hugs Hand konnte ihm geradeso noch den Mund zuhalten.
Doch Aras konnte sich den Rest ergänzen. "Ist es nicht meine Angelegenheit, mit wem ich verkehren möchte?" Neugierig wartete er auf die Antwort.
Beschämte Blicke von der Besatzung.
"Immerhin müsst ihr ja nicht mit ihr auskommen", sprach Aras weiter und verdrehte spitzbübisch die Augen. "Zumindest noch nicht..."
Deren Gesichtern war anzusehen, dass deren Gedanken bereits im vollen Gange waren. Und der Lord kostete es richtig aus, alle anwesenden schaudern zu lassen.
Doch irgendwann konnte sich Michel nicht mehr zurückhalten und plautzte es heraus: "Habt Ihr etwa vor, sie fester bei Euch aufzunehmen?"
Ein überzeugtes Nicken des Lord bestätigte es. Daraufhin stopfte sich der junge Mann ein großes Stück Pökelfleisch in den Mund. Aras beäugte ihn eine Weile, wie auch die anderen Männer ihn beobachteten. Aber nichts weiter geschah.
"Ist das so überraschend? Verblüfft euch nun die Tatsache, dass ich eine Frau gefunden habe, die mich auch will, oder dass es explizit diese Art Frau ist?"
Resignierender Blick des Jungen. Nachdem er sein Essen heruntergewürgt hatte, antwortete er: "Ich werde immer im Hinterkopf behalten, dass sie mal der Feind war."
Hart schlug der Kapitän die Faust auf den Tisch und knurrte ihn an. "Bist du jetzt still!?"
"Aber es ist doch trotzdem meine Entscheidung, wen ich lieben will", konterte Aras gelassen und steckte sich genüsslich das Sauerkraut in den Mund. Leicht schlürfend und schmatzend sprach er weiter: "Ich meine, ich würde auf nichts gegen deine Verlobte sagen, wenn sie dich zuvor hätte ermorden wollen... Immerhin ist es dein Leben und du hättest deutlich weniger zu verlieren!"
"Mein Lord", appelierte Kapitän Elbert an ihn mit betenden Händen. "Bitte ignoriert Michels Worte... Er ist zu jung, um das zu begreifen..."
Darauf antwortete der Junge nicht und blickte nur beschämt auf seinen Teller. Auch die anderen drei Männer bedeckten ihre Häupter und widmeten sich ihren Tellern und Krügen.
Zacharas war aber noch lang nicht fertig mit seiner Ansage. "Ich mag mich vielleicht in den letzten Wochen charakterlich stark gewandelt haben, aber trotzdem kann ich immer noch streng sein, wo es angebracht ist. Kuen könnte meine zukünftige Gemahlin werden und somit eure Herzogin! Behaltet das mal in euren Hinterköpfen, wenn ihr versucht, Kritik gegen sie oder mich zu üben. Auch wenn ich vorhabe, keine Sklavinnen mehr zu halten, werden trotzdem im Kerker stets Plätze frei sein... Wenn weiterhin jemand etwas dazu zu sagen hat, sollte er schweigen und bitte den Raum verlassen!"
Dann erhob sich der Bub, blickte noch einmal ringsum und ging wortlos wieder an Deck. Finn erhob sich gleich danach und verließ ebenso die Kajüte, mit den Worten: "Ich bin auf Eurer Seite, mein Herzog, darum werde ich mir den Jungen jetzt nochmal zur Brust nehmen."
Dann brach Schweigen aus. Alle starrten sich gegenseitig an und keiner schien wirklich zu wissen, wer nun auf wen böse war oder nicht. Zacharas selbst war nicht wütend auf die Besatzung oder jemand speziellen. Aber es kränkte ihn etwas, dass stets an seinen Entscheidungen gezweifelt wurde. Sicherlich, er wusste auch nicht, ob Kuen ihm wirklich treu bleiben würde oder sie gar die Wahrheit sprach und nicht vielleicht doch noch dem Feind angehörte. Eine Spionin, darauf spezialisiert, sich heimtückisch einzunisten und so an Informationen zu kommen.
Aber andererseits musste er ja irgendjemanden vertrauen können und müssen, um nicht paranoid zu werden. Er wusste nicht mal mehr, ob er seiner Truppe vertrauen konnte. Ob sie ihm vertrauten, ihm vielleicht sogar deren Leben anvertrauen würden. Oft genug bewies er ja in der Vergangenheit, dass er gesellschaftlich recht verdrehte Ansichten hatte. In den letzten Tagen zweifelte er immer mehr und immer stärker an sich selbst, seinen Entscheidungen und seiner Glaubwürdigkeit. Sogar in diesem Moment zweifelte er wieder an seiner Reaktion gegenüber Michel. War der Lord zu streng gewesen, zu herrisch, zu erhaben? Konnte er überhaupt alles im Leben wiedergutmachen, was er verbrochen hatte? Würde vielleicht sogar sein Tod am Ende mehr Frieden und Ruhe bringen, als er in seinem ganzen Leben versucht hatte zu erreichen?
Viel Leid hatte er den Menschen angetan. Frauen schlecht behandelt und Männer für Taten bestraft, die andere aus Kulanz hätten ignoriert. Alleinig zu Kindern war er nicht schlecht, jedoch auch nicht überschwinglich nett. Er hatte Autorität, die ihm keiner streitig machen wollte. Aber zu welchem Preis..?
"Also", versuchte Hug wieder ein Gespräch aufzunehmen, "ich sehe das genauso wie Ihr, mein Herzog!"
Elbert nickte energisch. "Ja, genau! So schlecht finde ich Kuen gar nicht." Dann versuchten sie sich verkrampft etwas aus den Fingern zu saugen, während Aras sie nur skeptisch anstarrte. "Sie sieht passabel aus... und..." "Ja... ähm... Sie ist blond..." "Gut gebaut! Schöne Zähne... Nett..."
"Hört schon auf mit euren Schleimereien", unterbrach er sie abwinkend. "Ich habe mich nun so entschieden, also müssen wir auch alle da durch..."
Plötzlich erklangen seltsame Gesänge. Zuerst ganz leise und unscheinbar, dann immer lauter und klarer werdend. Wie Lockrufe klangen sie.
"Was ist das?" Sie schauten sich gegenseitig an und sprachen im Chor: "Michel!"
Sofort sprangen sie auf, ließen alles stehen und liegen und rannten an Deck. Draußen angekommen, erblickten sie Finn halb über die Reling gelehnt, wie er seine Arme angestrengt hinausstreckte. Sofort stürmten alle zu ihm hin. Doch als sie sahen, warum er in solch einer merkwürdigen Pose dort stand, schienen sie absolut gar nichts mehr zu verstehen. Michel hing draußen am Boot und hielt sich krampfhaft an Finns Arm fest. Ohne weiter drüber nachzudenken, kamen Aras und Hug ihnen zu Hilfe und zogen den Burschen wieder hinauf. Der Kapitän schaute derweil hektisch das Boot ringsum ab.
Kaum war Michel wieder auf sicherem Boden, kauerte er sich zusammen und krallte seine Finger ins strubbige Haar.
"Was ist passiert?" "Was waren das für Stimmen?"
"Fischfrauen!", stammelte Michel. "Fischfrauen!"
"Fischfrauen?", fragte Aras verwundert nach und wagte einen kurzen Blick ins Wasser. Es war aufgewühlt, was aber auch am Boot selbst liegen konnte. Ihm kam nur eines in den Sinn. "Naga? Hier? Überlebende?"
"Michel, was genau ist passiert? Wie genau sahen sie aus?"
Er zitterte am ganzen Körper und kauerte sich immer mehr zusammen. Winselnd und schluchzend stieß er immer wieder dieses eine Wort aus. "Fischfrauen! Fischfrauen! Nichts ist passiert... Ich blickte ins Wasser und sie schauten mich an."
"Wie sahen sie aus? Waren es wirklich Frauen? Oder hatten sie etwas fremdartiges an sich?"
"Frauen! Frauen!"
"Was denn nun?", stieß Hug genervt aus. "Fische oder Frauen? Und was hattest du überhaupt dort zu suchen?"
"Ich habe nichts gemacht, nur reingeschaut! Die haben mich überrascht und vor Schreck bin ich abgerutscht... Es waren Frauen! Defintiv Frauen!"
"Also keine Fische?", fragte Aras nochmals explizit nach. Und Michel bestätigte es. Frauen und keine Fische. Da Aras die Besatzung ungern beunruhigen wollte, jedoch es auch nicht drauf ankommen lassen wollte, suchte er den Kapitän auf und erklärte ihm grob die Situation. Die Anspielung auf die Naga ließ Aras dabei außen vor. Doch Elbert verstand bereits, worauf er hinauswollte und beschloss, die Reise unverzüglich fortzusetzen.