Sinistre Weihnachten 2015

Es gibt 12 Antworten in diesem Thema, welches 5.064 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (1. Mai 2018 um 09:56) ist von Tariq.

  • Sinistre Weihnachten

    Das vergangene Jahr war wirklich mal ereignisreich.
    Meine Gefährtin Ella hat ihre Ausbildung zur Magierin begonnen und wie zu erwarten war, macht sie rasante Fortschritte.
    Gleichzeitig versuche ich mich wieder daran zu gewöhnen, nicht mehr zur rein blutsaugenden Fraktion, sondern auch wieder zur atmenden, warmblütigen Gesellschaft zu gehören.
    Damit komme ich so langsam aber sicher sogar klar. Eine weiche, anschmiegsame Liebste, vor allem in Nächten, die ich sonst mit Grübeln verbracht hätte, ist dabei durchaus hilfreich.
    Außerdem habe ich von Sir Drago, unserem Chef, die Anweisung bekommen, mich bis Ende des Jahres bedeckt und vor allem aus Ärger herauszuhalten.
    Damit komme ich leider nicht ganz so gut klar.
    Es ist ja nicht so, als ob ich den Ärger suche, im Gegenteil habe ich mich von Elle überreden lassen hier mitten in der kanadischen Wildnis einen Winterurlaub zu verbringen.
    Die Blockhütte ist geräumig und nobel eingerichtet, ganz wie man es von einem Ferienhaus eines der reichsten Männer der Welt erwarten kann, der uns nur zu gerne seine "kleine Absteige im Wald" zur Verfügung gestellt hat. Er war mit der albanischen Mafia aneinander geraten, was an sich für ihn durchaus verkraftbar gewesen wäre. Die Sturmtruppen, die zum Großteil aus Werwölfen und ein paar Trollen bestanden, waren dann aber doch nicht ganz seine Kragenweite. Gut, dass ich "zufällig" in der Gegend war.
    Lange Rede kurzer Sinn: Elle und ich machen Urlaub.

    Schon vier Tage sind wir hier und auch wenn der See vor der Haustür locker so manche Postkarten-Idylle in den Schatten stellt, fällt mir bereits die Decke auf den Kopf. Eigentlich kann ich ganz gut mit Ruhe und Einsamkeit umgehen. Keine Ahnung warum ich so unruhig bin.
    Als ich zum sechsten oder siebten Mal durchs ganze Haus getigert bin, alle Schränke aufgemacht habe und wieder einmal Sicherheit der Türen und Fenster überprüfe, wird es Elle zu bunt:

    »Himmel, Schatz! Du machst mich ganz kribbelig. Wie wäre es, wenn du raus gingst? Vielleicht nimmst Du Dir eines der Jagdgewehre und schießt uns irgendwas. Einen Hasen oder sowas?«
    Ich grinse, als ich an die Rotwild-Flinten denke, die im Waffenschrank neben der Hintertür stehen.
    »Süße, wenn ich mit diesem Kaliber auf einen Hasen schieße, bleiben vielleicht noch seine Pfoten übrig um daraus einen Schlüsselanhänger zu machen. Aber wenn du einen Hasen willst, kann ich Dir einen mitbringen.«
    Sie seufzt theatralisch und wirft ihre Hände in die Luft.
    »Nein, lass die armen Hasen am Leben, aber geh! Erschreck einen Elch, oder geh mit einem Grizzly Armdrücken, was auch immer. Aber beschäftige Dich irgendwie!«
    Während sie noch so tut, als wäre sie mit den Nerven am Ende, tritt sie nah an mich heran, stellt sich auf die Zehenspitzen, obwohl ich nicht wirklich deutlich größer als sie bin, und küsst mich auf die Nasenspitze.
    Ich umschlinge sie mit meinen Armen, drücke sie einige Augenblicke an mich und nicke schließlich.
    »Wird wohl besser sein. Schätze, ich werde ein bis zwei Stunden weg sein.«
    »Kann ruhig länger sein. Nur sei bis zur Dunkelheit wieder da ...«
    Nun küsse ich sie auf die Nase. »Sag jetzt nicht, du hast Angst um mich?«
    Sie lacht. »Nicht um Dich, aber um die armen Viecher, die Dich im Dunkeln treffen!«
    »Frechdachs!«
    Besser gelaunt ziehe ich mir schneetaugliche Kleidung an. Auch wenn ich nach wie vor eine extrem robuste Natur habe, habe ich festgestellt, dass kalte und gar nasse Füße extrem nervig sind und der eisige Kanada-Wind sogar mein inneres Biest zum Schlottern bringt.
    Einer Eingebung folgend, verstaue ich meine Krummdolche unter der dicken Jacke.
    Um Regel 9 meines Lieblings-Serienhelden zu zitieren: Gehe niemals ohne Dein Messer irgendwohin.
    Ich bin sogar noch konsequenter und nehme beide mit.

    Ich bin kaum eine Stunde unterwegs und weiß schon sicher, dass der Schnee und ich nie dicke Freunde werden. Ella will im neuen Jahr mit mir Snow-Boarden gehen, vielleicht ist es da besser, aber als passionierter Fußgänger ist mir Schnee mit teilweise Knietiefe einfach nur lästig. Das romantische Seufzen, was meiner Süßen immer entfährt, wenn sie die schneebedeckten Hänge sieht, ist mir ohnehin völlig unverständlich.
    Da wittere ich etwas und halte inne. Ich drücke mich eng an einen Baum und warte geduldig.
    Nach mehreren Minuten sehe ich eine Hirschin, Hirschweibchen oder Hirschkuh, was weiß ich, wie das heißt, mitsamt einem Jungtier zwischen den Bäumen in Freie treten. Als Jäger sehe ich automatisch Beute und suche ohne nachzudenken nach einer Möglichkeit zum Zuschlagen.
    Natürlich ist das nur Theorie. Erstens habe ich keine Ahnung, wie man einen Hirsch ausnimmt und schon gar nicht, wie ich ihn zubereiten sollte. Außerdem würde Ella kein Wort mehr mit mir reden, wenn ich einer Hirschmamma oder noch schlimmer Klein Bambi über der Schulter zurückkäme.
    Da kommt mir ein Gedanke. Wie alle Kinder des zweiten Milleniums steht Ella auf "spontane" Tier-Fotos. Bislang habe ich es nicht übers Herz gebracht, ihr zu sagen wie sehr es nervt, mindestens zweimal in der Woche von ihr ein "süßes Tierbild" aufs Smartphone geschickt zu bekommen.
    Daher nestle ich nun an meinem Reißverschluss und hole, so leise wie möglich, mein Smartphone heraus und halte drauf. Irgendwie fühle ich eine gewisse Befriedigung, als ob ich das Wild erlegt hätte.
    Gerade tapst das Jungtier zu seiner Mutter und will an den Zitzen saugen, als Mammi und Bambi in der Bewegung erstarren.
    Automatisch lausche ich ebenfalls. Ganz leise höre ich ebenfalls etwas. Stimmen. Noch sehr weit entfernt und aus verschiedenen Richtungen. Sie kommen näher, nicht schnell, aber doch schneller, als ich in diesem Tiefschnee gedacht hätte.
    Hirschmutter und Kind ziehen es vor sich abzusetzen und für einen Moment überlege ich, es ihnen gleich zu tun. Wenn die Näherkommenden die Richtung einigermaßen beibehalten, kommen die Leute gar nicht in die Nähe unsres Hauses, also kann es mir gleich sein, was sie hier wollen.
    Warum auch immer, entschließe ich mich dagegen.
    Ich schätze es war geschwindelt, als ich sagte, ich suche nicht nach Ärger.
    Und dass ich nun geradewegs auf Ärger zugehe, das spüre ich ganz deutlich in meinen Knochen.

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    Tom Stark
    zum Lesen geeignet

    4 Mal editiert, zuletzt von Tom Stark (24. Dezember 2015 um 10:18)

  • Als ich in den Jagd-Modus übergehe und meinen Draht zu Beast ankurble, der in meinem Innern wohnt, verschwinden die Schwierigkeiten mit dem Schnee beinahe wie von selbst.
    Er lenkt meine Schritt unterschwellig, so dass ich automatisch dort hintrete, wo man nicht so tief eindringt. Ich pflüge auch nicht mehr hindurch, sondern springe eher, wie jemand der einen Bach von einem Stein zum Nächsten überquert.
    In den letzten Monaten ist mir immer deutlicher geworden, das Beast nicht einfach ein Aspekt meiner Selbst ist, sondern älter und auf besondere Art sein eigenes Wesen hat. Und heute lerne ich: Beast kennt sich mit Schnee wirklich gut aus. Ich komme mir ein bisschen wie Legolas vor, der über den Schnee gleitet, während die anderen Ring-Gefährten bis zum Bauchnabel einsinken.
    Unter den Bäumen ist es ohnehin leichter vorwärts zu kommen und so nähere ich mich schnell den Stimmen.
    Längst unterscheide ich verschiedene von ihnen und auch wenn ich noch nicht genau verstehe, was sie sagen, kann ich deutlich erkennen, dass sie sich Anweisungen zurufen. Ihre Art, wie sie sich aufgefächert haben lässt nur den Schluss zu, dass sie etwas vor sich hertreiben und langsam einkesseln.
    »поддержал правый фланг!«, höre ich links vor mir.
    »поддержал левый фланг.«, kommt als halblaute Antwort von rechts.
    Mein Russisch ist nicht das Aktuellste, aber die Begriffe rechte und linke Flanke kenne ich von meinen Zeiten im Osten Europas noch sehr gut und die sind auch die letzten paar hundert Jahre gleich geblieben.
    Militärisch ausgebildete Russen in Kanada?
    So schnell ich kann verschwinde ich auf einer der riesigen Rotzedern, die hier vielleicht schon gestanden hat, bevor ich geboren wurde.


    Einen winzigen Moment fühle ich eine Art Verbundenheit von einem Wesen der Jahrhunderte zu einem anderen, doch dann sehe ich den ersten Mann unter mir durch das Halbdunkel pirschen.
    Er trägt eine weiß-graue Wintertarnkleidung, wie man sie eigentlich nur beim Militär oder professionellen Jägern sieht.
    Auf seiner rechten Schulter erkenne ich ein Abzeichen.


    »Speznas ...«, entfährt es mir, zum Glück sehr leise und prompt schaut der Soldat nach oben, kann mich aber nicht ausmachen. Ich bin froh, dass er nicht seine Nachtsichtbrille benutzt, die er als Modul auf seinem Helm montiert hat.
    Wer nicht weiß, wer diese Soldaten sind, der nehme einen der berühmten Navy-Seals, kreuze ihn mit einem Green Barret und mixe noch einen Army-Ranger hinein. Dann füge man noch asymmetrische Kriegstaktiken hinzu und fertig hat man ein beinhartes Arschloch, das man nur mit einem Messer und einer Angelschnur ausgerüstet irgendwo auf der Welt abwerfen könnte und das dir zwei Wochen später fuchsteufelswütend aber sehr lebendig die Kehle aufschlitzt.
    Die meisten dieser Soldaten sind nicht ganz menschlich, einige eigentlich überhaupt nicht. Diese Vermummung, die man in den öffentlichen Bildern von ihnen sieht, dient nicht nur dazu ihre Identitäten zu verschleierten. Vielmehr will man allzu deutliche Hinweise auf einen Werwolf, Ork-Blut oder sogar Oger-Gene verhindern - und ja, es gibt echt kranke Monstrositäten in den russischen Weiten.
    Nachdem der Soldat gewittert hat, nimmt er seine AKS-74, den großen modernen Bruder der altbekannten AK-47 in Anschlag und geht noch vorsichtiger weiter.
    »запах неизвестного охотника рядом...«, gibt er über das winzge Mikro in seinem Helm an sein Team weiter. Also schön, er hat also einen unbekannten Geruch von einem Jäger in der Nase. Das bin wohl ich. Nun heißt es sehr vorsichtig zu sein. Es passiert ja selten, aber heute komme ich mir mit meinen Dolchen ein wenig unterbewaffnet vor. Andererseits macht so etwas die Sache ja erst spannend.
    Grinsend schnappe ich mein Smartphone und halte drauf, als der Mann wieder einmal kurz nach oben schaut.
    Und wieder ein unblutiger Abschuss - meiner Süßen wird's gefallen!
    Weihnachten ist zwar erst morgen früh, aber man darf seine Liebste wohl auch schon zuvor beschenken, zumal wir Europäer ohnehin den Heilig Abend - also ziemlich genau jetzt - feiern, also jene, die einen Sinn dafür haben, meine ich.
    Dann wechsle ich so schnell und so leise ich kann meine Position.

    Eine halbe Stunde später befinde ich mich hinter zwei der Soldaten. Sie ziehen den Kreis kontinuierlich zu, aber ich habe ihre Reihen offenbar durchbrochen. Noch habe ich nicht wirklich vor, mich mit ihnen anzulegen. Ich halte mich zurück, auch wenn meine, zugegeben etwas extreme Art der sportlichen Einstellung, mich anstachelt ihnen zu zeigen, dass ich der Jäger mit den schärfsten Klauen in diesem Wald bin.
    Wer-Wesen haben einfach diese Wirkung auf mich.
    Vampire allerdings auch.
    Trolle, Orks und Oger ebenso.
    Scheiße, ich würde versuchen selbst einem Drachen in meinem Revier den Schneid abzukaufen!
    Wenn ich darüber nachdenke, habe ich eine wirklich ziemlich dominante Alpha-Einstellung. Das muss doch irgendwie krankhaft sein? Muss bei Gelegenheit mit Elle darüber sprechen.
    Vorerst schleiche ich den Speznas-tis nach, die zunehmend aufmerksamer werden. Ich kann ihre Erregung wittern, die der typische Geruch eines Rudels ist, das die Beute jeden Moment angreifen will und dabei mit heftiger Gegenwehr rechnet.
    Die Dämmerung setzt bald ein und ich mache mir Sorgen, dass die Jungs mit den Infrarot-Brillen dann eindeutig im Vorteil sind. Meine Zeiten, als ich nicht wärmer als meine Umgebung war, sind vorbei, was zwar mehr Vorteile, aber auch ein paar Nachteile mit sich bringt.
    »Внимание , речь идет!«, höre ich etwa 30 Meter entfernt von mir laut rufen und ohne zu Zögern gehen die beiden Männer vor mir in Deckung und richten ihre Waffen aus. Das geschieht so schnell, dass sogar ich anerkennend nicken muss. Ich bin zwar schneller, das bin ich eigentlich immer, aber nicht sehr viel, und das ist wirklich ein echter Grund zur Sorge.
    Ich höre ein gewaltiges Brüllen, was mir in Mark und Bein fährt. Dann sehe ich, wovor der Rufer gewarnt hat. Ein gewaltiger, beinahe schneeweißer Grizzly, bricht durch das Unterholz. Da der Rufer ausdrücklich vor einer "Sie" gewarnt hat, nehme ich an, dass der Bär weiblich ist.


    Ich will mich nicht zum großen Tier-Experten aufschwingen, aber sogar ich erkenne einen der legendendären sogenannten Geisterbären, auch wenn ich dieses Wissen hauptsächlich Ella verdanke, die mich auf unsrer Hinreise ausgiebig über Land und Leute informiert hat. Natürlich habe ich das meiste wieder vergessen, aber solche Einzelheiten über möglicherweise uralte (und gefährliche) Totemtiere der Ureinwohner bleiben einfach hängen.
    Ich erkenne in den Augen der gewaltigen Bärin weit mehr als tierische Intelligenz und auch ihr Vorgehen ist viel zu überlegt.
    Mit ihren vielleicht drei Tonnen Masse rammt sie einen der Soldaten gegen einen Baum und nutzt diesen Baum zugleich als Deckung gegen das Feuer, was aus sofort mehreren Richtungen auf sie eröffnet wird. An dem Schaden den die Geschosse an den Bäumen anrichten, erkenne ich die Hochexplosiv-Munition, die man ganz sicher nicht einsetzt, wenn man etwas am Leben, oder auch nur an einem so großen Stück lassen will, dass man es über einem Feuer braten kann.
    Der gerammte Soldat ist für einen Moment außer Gefecht, doch dann setzt seine Verwandlung ein. Ein Wolfblut, hatte ich mir doch gedacht!
    Obwohl ich nicht prinzipiell etwas gegen Wer-Wölfe habe, entscheidet sich in diesem Moment, auf wessen Seite ich mich schlage.
    Wäre auch zu einfach gewesen, wenn ich wenigstens einmal auf der vermeintlich stärken Seite kämpfen würde. Wobei die stärkere Seite natürlich nach meiner Entscheidung meist die ist, auf der ich stehe.
    Und nein, ich bin nicht größenwahnsinnig. Ich lebe immer noch und meine Feinde nicht mehr.
    Braucht es da noch mehr Beweise für meine Behauptung?

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    Tom Stark
    zum Lesen geeignet

    2 Mal editiert, zuletzt von Tom Stark (24. Dezember 2015 um 10:12)

  • Drin charakter erinnert mich in gewissen Details an skulduggery Pleasant ^^ das Buch würde dir auch gefallen! :D
    Ansonsten gefällt es mir wie immer ^^ eine schande, dass ich deine Sinistre-Story noch nicht gelesen habe =O muss ich bei Zeiten mal nachholen ^^

    Writers aren't exactly people ... they're a whole bunch of people trying to be one person.
    - F. Scott Fitzgerald

  • Die Bärin macht einen Satz, den man dieser Masse nie im Leben zugetraut hätte und verschwindet hinter dem Baumriesen, auf dem ich gerade die Lage beobachte.
    Die Soldaten reagieren wie die eingespielte Einheit, die sie offensichtlich nun mal sind und schwärmen in Zweiergruppen oder Einzeln aus.
    Ich schnaube kurz. Die Bärin mag zwar gewaltig sein, aber vom Kampf versteht sie wohl nicht wirklich etwas. Ihr Gegner hat seine Verwandlung gleich vollzogen und in Wolfsgestallt hat er sie schneller eingeholt als ich auf 30 gezählt habe.
    Die Speznas-tis lassen sich sichtlich Zeit und nun rieche ich auch wieso. Die Bärin wurde verwundet. Selbst mit meinen abgespeckten Sinnen könnte ich der Blutfährte nun blind folgen.
    Sie werden die Bärin einfach treiben und sich totlaufen lassen. Kein übler Plan. Die Russen haben eindeutig alle Trümpfe in der Hand.
    Was mich zu Regel 16 meines Lieblings-Serien-Ermittlers bringt: Wenn jemand denkt, er hätte die Oberhand, brich sie ihm!
    Ich blinzle und mein kleiner Teleportzauber bringt mich unmittelbar neben den Werwolf, der sich soeben von den Resten seiner Uniform und der dazugehörigen Schutzweste befreit.
    Wie die meisten Werwölfe hat er in verwandelter Form keinen Sinn mehr für Waffen. Daher liegt sein Sturmgewehr neben ihm auf dem Boden. Ich rolle mich seitwärts ab, schnappe mir die Bleispritze und komme auf dem Rücken vor dem russischen Werwolf zum Liegen.
    Purer Unglaube blickt mir aus seinen Augen entgegen, als ich das halbe Magazin zuerst auf seinen Kopf und dann in seinen Brustkorb entleere. Selbst die Werwolfanatomie braucht wenigstens irgendetwas, was sie regenerieren kann, aber die Hochexplosiv-Geschosse lassen da keine Zweifel aufkommen.
    In der Nähe fährt ein Kamerad meines Opfers herum und er feuert sogar bereits im Herumwirbeln. Hätte ich gestanden wäre ich vermutlich von der Garbe in Bauchhöhe erwischt worden.
    Kacke, sind die Jungs gut!
    Liegend feuere ich zurück, verfehle aber, da mein Ziel gedankenschnell wegtaucht.
    Ich feuere nochmal, glaube auch dass ich ihn erwische, bin mir aber nicht sicher. Schon schlägt der Bolzen auf Metall und ich werfe die Knarre weg. Deswegen hasse ich die Dinger. Verspritzen ihren Inhalt in Sekundenschnelle und bevor der Kampf wirklich losgeht, steht man mit leerem Magazin da.
    Erneut blinzle ich und finde mich wieder oben im Geäst des Baumriesen.
    Unter mir sehe ich die Soldaten agieren und erkenne, dass es sich um wahrscheinlich 2 Squads und damit wohl um einen eingespielten Platoon handelt, also wahrscheinlich 12 Mann mit je 6 Personen, von denen jeweils einer ein Obermotz ist, in Militärkreisen auch Unteroffizier oder sogar Offizier genannt wird.
    Neun Mann kann ich zählen, also werden sie irgendwo noch Leute haben, entweder bei ihrem Basislager oder vielleicht bei einem Kommandofahrzeug.
    Bei den Tarnjacken kann ich aber nicht feststellen wer was ist, doch ich erkenne, dass einer mit Handzeichen seine Leute einweist. Noch wissen sie nicht wo ich bin, daher sichern sie sich nach allen Seiten. Wie schon gesagt: Gute Truppe.
    Bevor sich alle ihren Platz gesucht haben, blinzle ich wieder und befinde mich hinter jenem Kerl, den ich für einen der Anführer halte. Meine Krummdolche sind bereits auf den Weg zu Nacken und Rippen, doch nur der tiefe Stich findet sein Ziel, der andere wird vom Lauf einer Pistole abgewehrt.
    Für eine Millisekunde bin ich schockiert. Entweder sind die so gut, oder ich habe nachgelassen! Auf jeden Fall verordne ich mir für die nahe Zukunft zusätzliche Trainingseinheiten. Die Kämpfe gegen ungeschulte Schläger haben mich wohl träge werden lassen.
    Allerdings reicht mir auch ein Treffer, man will ja nicht unbescheiden sein. Mit aller Kraft ziehe ich den Krummdolch durch die Rippen bis zu seiner Achsel, stoße dann noch einmal zu, wobei ich seinen Lungenflügel und sein Herz erwische.
    Wider Erwarten setzt bei ihm weder eine Verwandlung ein, noch regeneriert er. Er war schnell, vielleicht sogar schneller als ich, aber das war es dann wohl auch. Es fällt mir nicht zum ersten Mal auf, dass in militärischen Organisationen die Anführer sich oft mehr durch Hirn, als durch Muskeln auszeichnen. Prinzipiell auch ok, nur in der direkten Konfrontation ...
    Da fällt mir das Tatoo auf seiner Stirn auf. Ein ewiges Auge in einer Pyramide. Mir läuft es kalt den Rücken hinab. Das war ein Magier oder etwas in der Art! Da fällt mir ein, dass Ella mir mal etwas von den Illuminaten erzählt hat, einem Hexer-Geheimbund, der überall seine Finger drin hat. Die benutzen das ewige Auge in der Pyramide als ihr Zeichen. Na wunderbar!
    Im Nachhinein bin ich verdammt froh, dass ich das nicht wusste. Wer weiß, ob ich mich wirklich eingemischt hätte, wenn ich einen ausgebildeten Handwedler auf der Gegnerseite gewusst hätte. Nun aber nichts wie weg hier.
    Kaum habe ich geblinzelt, als auch schon aus drei Richtungen der Leichnahm des Hexers durch zahllose kleine Explosivgeschosse zerfetzt wird. Gnade mit ihren Kameraden kennen die Burschen wohl auch keine.
    So schnell ich kann ohne dabei laut zu sein, folge ich der Spur der Bärin. Ich hoffe, dass ich den Elite-Soldaten mit ihrem Chef auch die Triebfeder zu ihrem Einsatz genommen habe, aber wenn ich ehrlich zu mir bin, glaube ich, dass sie jetzt nur noch entschlossener sein werden.

    Nach wenigen Minuten habe ich die Bärin eingeholt, was kein Wunder ist, weil sie nur noch taumelnd voran stolpert.
    Sie dreht sich mir zu, mehr schlecht als recht bereit sich verteidigen. Das weiße Fell ihrer linken Schulterseite ist bis zum Bein hinab von ihrem Blut rot gefärbt und an manchen Stellen sehe ich anstatt Fell das rohe Fleisch.
    »Ich bin nicht Dein Feind.« Ich hebe zum Zeichen beide Hände. Zugegeben, das Blut, was von meinen weißen Parka wie von einem Schwamm aufgesogen wurde, erweckt vielleicht einen gegenteiligen Eindruck, was erklärt, warum die Bärin zögert.
    »Komm schon, ich bin wahrscheinlich Deine einzige Chance das lebend zu überstehen. Und du hättest es wirklich schlechter treffen können!«
    Ich will noch etwas sagen, aber da knicken ihre Vorderbeine ein. Langsam, beinahe wie in Zeitlupe, sackt sie zusammen und kippt auf die unverletzte Seite.
    Noch während ich ratlos meine Möglichkeiten überschlage - eine Viertonnen-Bärin durch die Wildnis tragen gehört definitiv nicht dazu - verschwimmt ihre Gestalt vor meinen Augen. Ein eigenartiges Flimmern umgibt sie und nimmt mir die klare Sicht auf den massigen Körper.
    Sicherheitshalber trete ich ein paar Schritte zurück, man weiß ja nie.
    Als sich das Flimmern auflöst, liegt keine Bärin mehr vor mir, sondern eine nackte junge Frau, eine Indianerin. Natürlich hat mir Ella eingebläut, dass die kanadischen Indianer gefälligst Ureinwohnervolk oder auch erstes Volk genannt werden wollen, aber ich wette, das ist der Frau vor mir im Moment herzlich egal.
    Als ich mich zu ihr hinab beuge, sehe ich ihren deutlich gewölbten Bauch. Sie ist trächtig oder schwanger, je nachdem in welcher Gestalt.
    Sie atmet nur flach und ihre Schulter sieht nun noch schlimmer aus.
    Auch wenn ich inzwischen von Ella ein paar Zaubertricks mehr gelernt habe, gehört Heilzauberei nicht dazu. Allerdings habe auch ich so meine Mittel. Ich hoffe nur, die schaden dem Kind nicht.
    Ich lasse meine Reiszähne wachsen und beiße mir in den Handballen. Nicht heftig, gerade so, dass aus den zwei Löchern ein kleiner Rinnsal Blut herausläuft. Schnell, bevor sich die Wunde wieder schließt, lasse ich ein Dutzend Tropfen zwischen die Lippen der nahezu bewusstlosen äh ... Erstvölkerin - zur Hölle mit der politisch korrekten Ausdrucksweise - tröpfeln.
    Ihre Augen werden groß, als ihr klar wird, was ich da mache.
    »Wehe du spuckst es aus, dann halte ich Dir die Nase zu und zwinge Dich es zu schlucken!«
    Natürlich ist das ein Bluff. Ok, vielleicht auch nicht. Zu unser beider Glück schluckt sie brav und wir müssen es nicht herausfinden.
    Die Heilwirkung setzt ziemlich sofort ein und die halb zerfetzte Schulter beginnt zu heilen.
    Ihr Teint wechselt von blassem Bronzebraun zu kräftigen Bronzebraun und ihr Atem geht zunehmend kräftiger.
    »Hey, siehst Du, das wirkt. Mein Name ist Sinistre, kannst mich Sin nennen.«
    Wieder schaut sie mich mit großen Augen an, nicht sicher was sie von einer Frau mit so einem Namen halten soll. Nicht zum ersten Mal kommt mir der Gedanke, wenigstens für Fremde einen weniger finsteren Namen zu wählen. Das Problem bislang war einfach, dass ich mich weder wie eine Suzan, noch wie eine Shelly oder Vanessa fühle. Ellas Favorit, nämlich Jennifer, jagt mir sogar eine Mordsangst ein.
    Ich schüttle die unpassenden Gedanken aus meinem Kopf und reiche der jungen Frau meinen Parka. Dann ziehe ich meine Stiefel aus und auch die gefütterte Hose. Ich verletze dabei nicht einmal die zartesten Moralempfindungen, denn ich trage darunter die Jeanshose und den Wollpulli, den ich auch im Haus trage. Nur in dicken Socken unterwegs zu sein ist zwar bei dem Wetter nicht lustig, aber vermutlich werde ich es schadlos überstehen. Beast spottet ein wenig, weil ich wohl langsam weich werde. Das lasse ich mir natürlich nicht bieten und ziehe sogar die Socken aus und halte sie der Schwangeren trotzig hin.
    »Na, hast Du auch einen Namen, oder soll ich Dich einfach Hey, Duda nennen? Macht mir nichts aus, ehrlich!«
    »Ipa Ma-Riah!«
    Keine Ahnung, welche Erstvölkerureinwohner-Sprache das ist, aber »Ich bin Ma-Riah« verstehe ich sogar ohne Vokabelbuch.
    »Fein, Riah. Wir müssen los. Ich höre aus dieser Richtung gar nichts, auch keine Viecher, was ein ziemlich gutes Zeichen ist, dass die Bösen von dort anrücken. Irgend eine Idee, wo wir uns verstecken könnten?«
    »Wir könnten zur Heiligen Höhle zurück. Dort waren mein Mann und ich. Er hat die Soldaten aufgehalten, sodass ich fliehen konnte.«
    Ihr Englisch ist erstaunlich gepflegt und wenn ich raten müsste, eher obere Einkommensstufe, aber fürs Erste bin ich dankbar, dass die Sprachbarriere doch nicht Bestand hat.
    Ich nicke respektvoll. »Er hat das ganze Platoon solange aufgehalten, dass Du fliehen konntest? Alle Achtung. Dein Mann hat es drauf. Hoffentlich haben sie ihn nicht umgebracht.«
    Mir kommt der Gedanke, dass das jetzt vielleicht wenig taktvoll war, aber man muss mir das nachsehen. Ella bringt mir dieses soziale Zeugs doch erst gerade bei.
    »Oh, da fällt mir was ein.«
    Ich stelle mich neben sie, sehe zu, dass man ihre ramponierte Schulter sieht und halte das Smartphone vor uns. Sie schaut verblüfft, als ich von uns beiden ein Selfie schieße.
    »Ist für meine Freundin.«, bemerke ich kurzangebunden und dränge sie dann voranzugehen.
    »Los, zeig mir den Weg. Und wenn es etwas schneller geht, macht das gar nichts!«
    Mit einem weiteren komischen Blick in meine Richtung - was zur Hölle hab ich jetzt schon wieder Falsches gesagt? - geht sie los. Die ersten Schritte sind noch unsicher, aber dann bemerkt sie, wie viel Power wieder in ihrem Körper steckt. Ja, Aspirine, Vitamine und Ovomaltine, alles Kinderkram, verglichen mit ein paar Tropfen meines Blutes.

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    Tom Stark
    zum Lesen geeignet

    2 Mal editiert, zuletzt von Tom Stark (25. Dezember 2015 um 21:17)

  • Eine ganze Weile hasten wir schweigend und immer tiefer durch den kanadischen Urwald. Hier liegt weitaus weniger Schnee, was ich durchaus dankbar zu würdigen weiß.
    Immer wieder stütze ich sie und ich merke, dass ihre Kräfte schon wieder nachlassen. Natürlich könnte ich ihr nochmal etwas Blut geben, aber ich befürchte, das würde auch nur eine Weile vorhalten, und ich bin mir sicher, ich werde alle meine Kräfte selbst noch brauchen, um uns überhaupt am Leben zu halten.
    Zwei habe ich ausgeschaltet, bleiben nach meiner Rechnung noch 10. Und leider habe ich das Überraschungsmoment verloren, die vielleicht stärkste Waffe in meinem Arsenal.
    »Ist es noch weit?«, frage ich besorgt.
    »Nein, nicht mehr sehr weit.«
    Ich schnaube. »Geht es vielleicht etwas genauer?«
    Sie zögert. »Eine halbe Meile ungefähr. Glaubst Du wirklich, mein Choseph könnte noch am Leben sein?«
    Den direkten Blick in ihre Augen vermeide ich bewusst. Das Letzte was sie jetzt hören will, ist wie unterdurchschnittlich hoffnungsvoll ich unsre Lage im Allgemeinen und die Lage ihres Mannes im Besonderen einschätze.
    »Solange Du nicht seine Leiche gesehen hast, würde ich davon ausgehen, dass er lebt.«
    Was ich sage entspricht zwar nicht ganz meinen Überzeugungen, aber es scheint ihr Auftrieb zu geben. Sie reißt sich zusammen und mobilisiert noch einmal Kräfte um schneller vorwärts zu kommen.
    Die Ex-Vampirin als Indianer-Motivator. Es muss an der Jahreszeit liegen. Solche Wunder gibt es sonst nicht.
    Um sie abzulenken, beschließe ich das Gespräch in Gang zu halten, selbst wenn uns unsre Stimmen womöglich verraten.
    »Ist Deine Bärenform oder Deine Menschenform Deine wahre Gestalt?«
    »Wie meinst Du das?« Und misstrauisch kommt gleich hinterher: »Warum fragst Du?«
    Ich lächle beruhigend und wundere, wie leicht mir das fällt. Schätze so langsam werde ich ganz gut in diesem Sozialgedöns.
    »Es mag Dir komisch vorkommen, aber für einen Nicht-Formwandler ist die Vorstellung, ob man es in Bärengestalt oder Menschenform tut um ein Kind zu zeugen, ziemlich entscheidend.«
    Sie schaut mich stirnrunzelnd an, als ob ihr dieser Gedanke zum ersten Mal kommt.
    »Ist Dein Choseph auch ein Bär?«
    Sie lacht perlend. Klingt nett, auch wenn es für meinen Geschmack etwas zu laut durch die Stille des Waldes hallt.
    »Cho ist ein Mensch. Er ist der Bärenschamane der Assiniboins.«
    Mein Gesichtsausdruck dürfte meine Ahnungslosigkeit eins zu eins widerspiegeln.
    »Mein Stamm? Wir sind von einem der ersten Völker. In-di-aner ...«
    Nun muss ich auch leise lachen. So beschränkt komme ich also rüber? Ob Ella mich auch immer so sieht, wenn ich mal wieder den Eindruck habe, sie redet Marsianisch mit mir?
    »Ja, hab's kapiert. Ein Schamane also. Die anderthalb Schamanen, die ich kenne, die würden mit einer Gruppe Soldaten vermutlich leicht fertig.«
    Sie hält an und schaut mich staunend an. »Anderthalb? Welche Schamanen kennst Du denn?«
    Ich zucke die Schultern. »Ich bin mal Howling Mad Coyote und seinem Schüler begegnet. Haben zusammen Jagd auf einen Totenschreier gemacht.«
    Ihre großen Augen sehen mich auf einmal in einem völlig neuen Licht, auch wenn ich keine Ahnung habe wieso.
    »Du bist dem großen Kojoten begegnet?«
    »So groß war er auch nicht, eigentlich einen halben Kopf kleiner als ich.«
    Sie schüttelt fasziniert den Kopf.
    »Hey, keine große Sache.«
    »Du bist DEM Kojoten begegnet, dem größten Totem das der große Geist zum Schutz seiner Schöpfung erschaffen hat und Du nennst das keine große Sache?«
    Ich zucke erneut die Schultern, keine Ahnung worauf sie hinaus will.
    »Ich weiß nicht genau, was ein Totem ist, aber Howie ist einfach ein Schamane mit abgedrehten Tricks und einem kranken Sinn von Humor. Wäre er kein gebürtiger Ur-Amerikaner, er könnte genauso gut Brite sein.«
    Sie setzt sich wieder in Bewegung. »Für ein Beastling mag das vielleicht nicht so gewaltig sein, aber eine einfache Hautwandlerin wie ich wäre bis an ihr Lebensende berührt, wenn ich auch nur einmal kurz die Anwesenheit des Kojoten erleben dürfte.«
    »Pah, überlebe die Sache hier einfach und ich zeig Dir gerne, wo er seine Hütte im Navajo Stammesgebiet hat und stelle Dich ihm vor, wenn er mal zufällig zuhause ist, heißt das. Ist ein ziemlicher Herumtreiber, musst Du wissen.«
    »Natürlich, das weiß jeder!«
    Klar, jeder. Wieso erzähl' ich das überhaupt!

    Nach weiteren 20 Minuten Marsch , meistens einen leichten Hang aufwärts, beginnt sie erneut zu stolpern. Schnelles Zupacken meinerseits verhindert einen Sturz und ich setze sie in die Nische eines weiteren dieser Baumgiganten, die es hier wohl recht häufig gibt.
    »Hier ist es.« Ihr Stimme ist leise und ihr Blick flackert vor Erschöpfung. Sie deutet ein Stück den Hang hoch, wo ich eine Gesteinsformation erkennen kann.
    »Gut, warte hier. Ich sehe mal nach.«
    Ihre Hand greift nach meiner. »Danke.«
    Was antwortet man darauf? Ich drücke ihre Hand kurz und husche dann den Hang hinauf.
    Nach etwa 100 Metern suche ich mir eine Stelle und beobachte, eng an den Boden gedrückt, die Felsen. Leider kommt der Wind eher aus Richtung meines Rückens, also kann ich nicht wittern, ob und wie viele sich dort befinden. Dass es dort tatsächlich eine Höhle gibt, soviel kann ich immerhin ausmachen.

    Schon will ich mich heranwagen, denn ich habe unsre Verfolger nicht vergessen, als ich eine Bewegung sehe. Ich kann nicht genau ausmachen, was dort ist, aber auf einem der vorgelagerten Felsen meine ich, eine unnatürliche Verfärbung zu erkennen.
    Und ja, spart Euch die Kritik, ich weiß, dass ich ein mieser Waldläufer bin. Dafür bin ich im Dschungel der Großstadt der Alptraum meiner Opfer. Wären wir hier mitten in New York, Paris oder Prag, dann würden diese russischen Special Operations Jungs von mir gejagt, nicht umgekehrt!
    Aber man muss eben immer dort seine Frau stehen, wo man gerade ist. Das Leben ist nun mal kein Ponyhof - außer natürlich man lebt auf einem Ponyhof, welch furchtbare Vorstellung!
    Ich wünschte mir, ich hätte ein Fernglas, als mir klar wird, dass ich etwas Ähnliches dabeihabe. Das Smartphone.
    Wieder einmal nehme ich das flache Plastik heraus und richte es auf den Felsen. Ich habe beim Herumspielen mal entdeckt, dass man damit die Helligkeit und Kontrastwerte so extrem verstellen kann, dass man sogar eine Warze auf einem Fliegenhintern hervorheben kann.
    Ich schieße schnell drei Bilder und fummle an den Einstellungen herum. Tatsächlich, da liegt ein Mann in Tarnkleidung regungslos auf dem bewachsenen Felsen. Diese gute Tarnung kann nicht nur an seiner Kleidung liegen, vermutlich hat er da einen bestimmten Trick drauf, aber es ist verdammt schwer eine Kamera zu täuschen. Diese Lektion habe ich auch lernen müssen.
    Ohne nachzudenken schicke ich Ella die Bilder und verstaue das technische Wunderwerk wieder.
    Mir ist zwar klar, dass es mindestens noch einen weiteren Soldaten geben muss, aber mir ist ebenso bewusst, dass ich keine Zeit mehr verlieren darf. Falls die Verfolger unsre Spur aufgenommen haben, was ich nicht bezweifle, ist denen inzwischen auch klar, was unser Ziel ist. Das heißt sie werden uns zwei oder drei weiterhin auf der Spur lassen, den Rest aber auf den schnellsten Weg hierher schicken.
    Warum so verwundert?
    Immerhin habe ich drei Jahrhunderte Vampir-Attentäter ausgebildet. Auch wenn ich lieber solo arbeite, heißt das nicht, dass ich nicht weiß, wie man eine Truppe führt.

    Ich blinzle und lande direkt auf dem Soldaten. Meine beiden Krummdolche finden schnell und leicht ihr Ziel.
    Manchmal geht es einfach leicht.
    Meistens zahlt man aber auch einen Preis, wenn es zu leicht geht.
    Ohne Vorwarnung spüre ich den Schmerz in meinem Inneren. Mein Herz will sich selbst zerreißen, meine Lungen pumpen sich auf wie Ballons und mein Magen knüllt sich zusammen wie ein Papiertaschentuch, welches man benutzt und dann achtlos wegwirft.
    Ich kämpfe gegen die Schwärze vor meinen Augen und auch Beast in mir heult verzweifelt.
    Trotz der Schmerzen ist mir klar, was passiert ist. Ich habe den Teleport-Trick einmal zu oft angewendet.
    Mit Magie ist das so eine Sache. Auf eine gewisse Art biegt man durch pure Willenskraft die physikalischen Gesetze. Das Universum ist da einigermaßen flexibel und drückt auch mal ein Auge zu, wenn man es nicht zu oft hintereinander macht. Das geht einmal meist gut, zweimal auch noch, wenn man weiß was man tut. Das dritte Mal ist sogar ein Risiko für echte Profis, das vierte Mal jedoch reinstes russisches Roulette, nur dass man anstatt mit einer Patrone in der Trommel, mit nur einer leeren Kammer spielt.
    Das Ergebnis ist voraussagbar tödlich. Für einen ohnehin untoten Vampir verkraftbar, für eine sehr lebendige Ex-Vamprin jedoch ...

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    Tom Stark
    zum Lesen geeignet

    Einmal editiert, zuletzt von Tom Stark (26. Dezember 2015 um 16:50)

  • ***
    Spätestens nach dem Selfie mit der verletzten Frau bin ich unterwegs.
    Ich bin vielleicht nicht so flink wie meine Gefährtin, aber wie fast alle hermetischen Magier habe ich meine Mittel das auszugleichen. Ich sorge dafür, dass die Gravitation vor mir den Schnee so fest zusammenpresst, dass ich darauf wie auf Stein gehen kann.
    Das nächste Bild, das eines Soldaten, der auf einem Fels auf der Lauer liegt, sorgt dafür, dass ich noch schneller werde. Keine Ahnung, wie meine Sin es immer macht, aber sie hat doch tatsächlich hier im einsamsten Winkel des Bear Rain Forrests jemand aufgestöbert, mit dem sie sich anlegen kann.
    Wäre sie alleine, würde ich mir weniger Sorgen mache, aber mit einer Verletzten sind die Chancen ganz anders verteilt. Auch wenn meine Liebste sich gerne als World Baddest Ass ansieht, kenne ich sie einfach viel zu gut. Sie hat eine Schwäche für Hilflose und natürlich für einen harten Kampf.
    Ich bin übrigens Ella McElroy, vielleicht hat sie mich mal erwähnt.


    Ihr GPS-Sender in ihrem Smartphone weißt mir den schnellsten Weg und ich komme gerade an der Felsformation an, als ich sie über einem dieser Soldaten zusammenbrechen sehe. Ich brauche nicht einmal einen Sondenzauber zu sprechen um die magische Entladung zu spüren, die sich mitten in ihrer Brust abspielt.
    Aus dem Höhleneingang, der auf mich wie der Schlund einer Bestie wirkt, kommt ein weiterer Soldat, seine Hand erhoben und zeichnet eine Rune in die Luft.
    Eigentlich halte ich mich für eine überlegte und rationale Person, aber als ich das Zeichen der Illuminaten auf seiner Stirn erkenne, bricht es einfach aus mir heraus. Ich sehe meine halb zerfetzte Geliebte und den Hexer, und Eins und Eins ergibt pure ungefilterte Wut, die sich auf den Gegner entlädt.
    Normalerweise bitte ich die Elemente um Hilfe und erst dann, sollte ich auch nach zweiten Bitten nicht erhört werden, deute ich an, dass mein Wille die Macht hat meine Bitten dennoch durchzusetzen. Doch nun bitte ich nicht, ich fordere mit vor Zorn heißerer Stimme: »Singularitas foramen umbra!«
    Das winzige schwarze Loch, welches mitten in der Brust des Hexers entsteht, verwandelt dessen Körper in rasender Geschwindigkeit in haarfeine Spagetti und saugt diese ein, um sie in einem anderen Universum wieder auszuspucken. Die grauenhaften Schreie des Mannes rühren mich nicht und bevor sie noch verklungen sind, falle ich neben dem aufgeplatzten Leib meiner Geliebten auf die Knie. Ich ergreife ihren Kopf, bette das Haupt mit diesen langen blauschwarzen Haaren, auf deren Farbton ich immer eifersüchtig war, in meinen Schoß. Da sehe ich ihre Augenflattern, doch ihr Blick ist in weiter Ferne gerichtet und an dem bernsteinfarbenen Glanz erkenne ich, wie sie und ihr Beast hartnäckig um einige weiteren Sekunden in dieser Welt ringen.
    »Sin ..., ich bin da.«, zu mehr bin ich nicht in der Lage.
    Ein großer Schatten fällt auf uns. Ich bin zu müde um aufzuschauen, nicht in der Lage einen Angriff abzuwehren, sollte er erfolgen. Mein Leben liegt gerade in meinen Schoß und wird in wenigen Augenblicken verlöschen und ich kann nichts tun. Früher hätten ein paar Tropfen meines Bluts wahre Wunder bewirkt, doch bei solchen schweren Verletzungen wäre es nun sinnlos.
    »Lass mich der Kriegerin helfen. Bär ist ein machtvoller Heiler und er schenkt seine Gnade bereitwillig jenen, die seine Kinder beschützen.«
    Ein massiger Indianer, der mich weit mehr an Grizzly Adams als an Winnetou erinnert, schiebt mich sanft aber bestimmt weg. »Deine machtvolle Aura behindert meine. Hab Vertrauen, Bär wird sie nicht sterben lassen.«
    Ich rutsche ein paar Schritte weg, wische die Tränen aus meinem Gesicht und höre, wie der große Indianer mit seinem kehligen Gesang beginnt. Ein Bärenschamane, wird mir klar. Im scheidenden Licht der einsetzenden Dämmerung sehe ich, dass es ihm selbst nicht besonders gut geht. Ich schließe daraus, dass er gefangen gehalten, womöglich sogar gefoltert wurde.
    Sins Brustkorb beginnt sich zu schließen und erste Atemzüge, rasselnd zwar, aber immer sind es Atemzüge, sind von ihren Lippen zu hören.
    Der Gesang des Schamanen wird nach einer Minute leiser und nach einer weiteren ist er fast unhörbar. Völlig entkräftet kippt er beinahe zur Seite, doch nun stütze ich ihn und lege den großen Mann, so sanft ich kann, neben meine Freundin. Als ich beide so betrachte, bin ich mir wirklich nicht sicher, wem es schlechter geht.
    »Meine Frau ... Ma-Riah«, haucht er fast unhörbar. Ich nähere mein Ohr seinen Lippen. »in Gefahr ... Soldaten ... gefunden ...«
    Natürlich verstehe ich sofort und springe auf. Für die beiden kann ich erst einmal wenig tun. Heilzauberei ist derartig komplex, dass ich mit meinem geringen Wissen mehr Schaden als Gutes bei dem Versuch anrichten würde.
    Doch ich höre die Rufe einiger Männer und den verzweifelten Schrei einer Frau. Mehr brauche ich nicht.
    Ich lasse mich in die Luft tragen, sieht spektakulär aus, ist jedoch simple umgekehrte Schwerkraft und lande in einem weiten Bogen neben der Schwangeren Frau des Schamanen. Dafür, dass mein Satz dem Hulk alle Ehre gemacht hätte, sind die angreifenden Soldaten erstaunlich wenig beeindruckt. Und ich hatte mich schon gewundert. Normalerweise ist meine Sin niemand der sich hetzen lässt, wenn sie stattdessen auch die anderen vor sich hertreiben kann.
    Wie es aussieht, hatten ein paar Soldaten der Frau den Weg zur Höhle abgeschnitten und die anderen waren in ihrem Rücken aufgerückt. Als sie mich sehen, heben sie auch schon ihre Waffen und ich brauche wirklich keinen Hellsichtszauber, um zu wissen was nun kommt.
    Die Geschosse lasse ich von einem Schwerkrafttopf auf eine Kreisbahn um uns herum bringen und nach zwei Umrundungen genau im selben Winkel zurückschleudern. Ich kann es einfach nicht leiden, wenn man auf mich schießt und es ist ganz offensichtlich, dass diese Männer nicht die Absicht hatten, Gefangene zu machen.
    Also mache ich auch keine. Sie durch ihre eigenen Geschosse umkommen zu lassen, erscheint mir zudem wie poetische Gerechtigkeit.
    »Ich bin die Freundin von Sin«, will ich die junge Frau beruhigen, doch sie lächelt nur. »Ich weiß, Chosseph hat es mir gesagt.«
    »Telephatie?« , frage ich beeindruckt.
    »Wenn wir nahe genug sind, können wir die Gedanken des anderen hören.«
    »Das ist wirklich praktisch. Komm, wir gehen zu den anderen. Wer weiß, wie viele von den Kerlen hier noch herumlaufen.«
    »Ja, wir müssen uns aber beeilen, ich glaube meine Fruchtblase ist gerade geplatzt.«
    Dann fällt es mir auf: »Moment, Chosseph, Mar-Riah, eine Höhle und eine Geburt? Echt jetzt?«

    ***
    Als ich zu mir komme, sehe ich die Indianerin in eine blaue Decke gewickelt vor unserem prasselnden Kamin. Sie hält ein frischgeborenes Kind in ihrem Armen, wird ihrerseits von einem bärtigen Riesen der Marke Holzfäller-Joe festgehalten.
    Hinter ihnen sehe ich einen buntgeschmückten Weihnachtsbaum unter dem sogar Geschenke in noch knallbunteren Verpackungen, sogar mit Schleifchen liegen. Keine Frage, Ellas Werk!
    Ich schließe meine Augen: Na super. Gestorben und dann bin ich in der Weihnachts-Hölle gelandet. Ich weiß, dass mein Leben nicht immer vorbildlich war, aber so ein Schicksal habe ich wirklich nicht verdient.
    »Süße, wach bitte auf. Wir haben Gäste und wollen mit dem Essen beginnen.«
    Diese Stimme. Ein Engel?
    Ein innerer Check sagt mir, dass nichts mehr so kaputt ist, das es Beast nicht innerhalb der nächsten Stunden hinbekommt. Außerdem habe ich den Eindruck, dass er irgendwie gemütlich grinst. Das macht mir beinahe noch mehr Angst, als dieser Weihnachtsbaum.
    Erneut öffne ich meine Lider und sehe in die schönsten blauen Augen, die es auf der ganzen Welt gibt.
    Gut, vielleicht bin ich doch nicht in der Hölle. Und sollte der Preis für diese glücklichen Augen und dieses strahlende Gesicht ein alberner bunter Baum sein, dann werde ich das ertragen.
    Aber falls sie mich dazu bringen will, auch noch alberne Lieder mitzusingen, dann hat meine Süße besser ein paar ganz besondere Geschenke in Hinterhand.

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    Tom Stark
    zum Lesen geeignet

    2 Mal editiert, zuletzt von Tom Stark (27. Dezember 2015 um 16:27)

  • Kann mich Kela nur anschließen ^^
    Lese dein Zeug auch immer gerne :D
    Und jap Ella hattest du erwähnt xD
    Mir hat es auch sehr gut gefallrn ^^

    Writers aren't exactly people ... they're a whole bunch of people trying to be one person.
    - F. Scott Fitzgerald

  • :santa1: Am 1. Mai gelesen und trotzdem in Nullkommanix in den Kanadischen Rockies mit kalten Füßen und blaugefrorenen Lippen - hast du super hingekriegt, @Tom Stark :thumbsup:
    Und wirf du mir nochmal vor, dass ich Cliffhanger setze. Deine waren gerade hier in der Geschichte noch um ein Vielfaches besser.
    Hab nichts zu mäkeln, war einfach schön zum Lesen und Genießen bei einer Tasse heißen Kaffees. :tee:

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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