Es gibt 9 Antworten in diesem Thema, welches 4.065 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (31. März 2019 um 18:44) ist von Wilferedh.

  • Das hier soll im Grunde eine Ansammlung vieler kleiner Ideen werden. Sozusagen eine "Kurzgeschichten"Sammlung. Oder nennt es wie ihr wollt.
    Ich bin mir nicht sicher, ob das hier richtig angesiedelt ist, allerdings wird es viele Geschichten geben, die verschiedene Bereiche der Fantasy aufgreifen werden - denke ich mir zumindest. Ich hoffe es. Mein Hirn enttäuscht mich da manchmal.

    Wie dem auch sei, ich schmeiße euch die erste kleine Idee hin, die mir bereits vor Monaten kam, wo ich allerdings nie ein wirkliches Ende gefunden habe.
    Ach ja, ich nutze diese Ideengrütze (entschuldigt die Wortwahl, ist so xD) für mögliche spätere Ideen für Charaktere, Handlungen und Welten. Vielleicht begegnet einem ja das ein oder andere später an anderer Stelle wieder.

    (Wer nebenbei für das Folgende einen gescheiten/besseren Titel findet - ich wäre dem nicht abgeneigt. Mein Hirn hasst Titel.)

    ~.~.~

    Die Weide


    Ohne Schuh und auf Zehenspitzen schlich sie hinter das Haus. Das feuchte Gras kitzelte ihre Füße, während ihr das Nachthemd um die Knie wehte. Immer wieder blickte sie sich um, stahl heimliche Blicke zu den finsteren Fenstern. Alles blieb ruhig, kein Licht wurde entzündet.
    Nur die Sterne und der volle Mond erhellten ihren Weg durch das knöchelhohe Gras. Am Morgen erst hatte sie es über ihre Handflächen streifen lassen, doch nun hatte sie anderes im Sinn.
    Noch einmal sah sie sich zum Haus um. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals; sie schlang die Arme enger um den Tonkrug, bevor sie ihre Schritte beschleunigte.
    Über die Wildwiese gelangte sie zu einem Hain, eine kleine Ansammlung von Weiden, die in einer fast halbmondförmigen Anordnung standen. Vor dem größten Baum, versteckt unter den langen, hellgrünen Weidenzweigen, befand sich ein unförmiger Steinklotz. Kaum sichtbare Einkerbungen waren vor Jahrhunderten eingeritzt worden, deren Bedeutung heute kaum noch jemand kannte.
    Sie schob einige Zweige aus dem Weg und ließ den natürlichen Vorhang wieder fallen. Der Mond schien sanft durch das Blätterdach, doch da war mehr, das den Weg vor ihr erhellte.
    Ein sanftes Glühen ging von der Rinde der riesigen Weide aus. Hier roch es auch anders, nicht mehr nach Tau und Wildblumen; viel mehr herrschte ein Geruch abgestandener Luft, Torf und Erde.
    Einige Schritte vor dem mächtigen Stamm hielt sie inne, verstärkte ihren Griff um den Krug, trat dann entschlossen an den Stein, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. Ohne Zögern kniete sie sich davor, stellte den verkorkten Krug neben sich und richtete ihr helles Nachtgewand. Mit ihren dunklen Händen griff sie in ihr Haar, um einige getrocknete Apfel- und Pfirsichzweige aus ihrem dichten Zopf zu klauben. Ordentlich platzierte sie diese auf der Mitte des Steins, direkt in einen Ring aus verschiedenen Strichfolgen. Sie nahm den Krug wieder auf, löste den Korken und schüttete etwas von dem Quellwasser, das sie gestern Morgen gesammelt hatte, auf die Zweige. Sofort wurden die vertrockneten Stellen saftig; einige Knospen wuchsen so rapide, dass sie bereits nach kurzer Zeit erblühten und einen süßlichen Duft verbreiteten.
    »Wie komm ich zu der Ehre des hohen Besuchs?«, fragte unvermittelt eine Stimme hinter ihr.
    Erschrocken wirbelte sie herum und hielt sich die Hand vor die Brust. Sie warf dem großen schwarz-weißen Hasen einen bösen Blick zu, während dieser ein Ohr aufstellte.
    »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du mich nicht erschrecken sollst«, schimpfte sie und strich sich die aus dem Zopf entflohenen Strähnen hinter die Ohren. Mit gespitzten Lippen wandte sie sich von dem Tier ab. Noch einmal goss sie kühles Wasser über Zweige und Stein.
    »'Tschuldige«, nuschelte es nun direkt hinter ihr. Als sie flüchtig zur Seite sah, hockte ein rotbrauner Fuchs auf seinen Hinterbeinen neben ihr, der sich gerade über sein Maul leckte. »Also? Was verschafft mir die Ehre?«, fragte der Fuchs und schnupperte in der Luft.
    »Muss es denn einen Grund geben?« Sie verschloss den Krug wieder.
    »Lass mich überlegen ...«
    Sie seufzte. »Es ist Vollmond. Immerhin ist es eine der wenigen Nächte, in denen du umherstreifen kannst.«
    »Ach, wirklich? Es ist Vollmond?« Der Fuchs neben ihr war verschwunden. Eine pechschwarze Amsel sprang nun über das Gras, hin zur untersten Spitze der Weidenzweige.
    »Halt mich nicht für dumm«, schnaubte sie und strich sich über die gebogene Nase. »Es reicht, wenn es die Leute im Dorf tun.«
    »Ich halte dich für alles andere als dumm«, tschirpte es, dieses Mal neben ihrem Ohr. Auf ihrer Schulter balancierte ein Rotkehlchen. Es sortierte seine Flügel, die sich einen Moment in ihrem Haar verfingen und noch mehr davon aus dem Zopf lösten.
    »Hast du dich heute Abend wenigstens amüsiert?«, fragte sie unbeirrt.
    »Oh ja. Es ist einfach wunderbar, die frische Luft auf dem Fell zu spüren. Oder den Federn. Oder - was auch immer.« Das Lachen des Vogels klang wie eine Mischung aus einem Zwitschern und dem Meckern einer Elster.
    »Das freut mich.« Sie schmunzelte schwach. »Warst du einsam ohne mich?«
    »Natürlich. Immer.«
    Ihre Mundwinkel zuckten weiter in die Höhe. Sacht berührte sie die filigranen Apfelblüten, strich mit der Spitze ihres Zeigefingers die Form eines einzelnen Blattes nach. Sie spürte die Feuchtigkeit unter ihrer Haut.
    »Immerhin bist du die Einz'ge, die mir Leckerbissen bringt.«
    »Nicht heute.«
    »Wie gemein!« Das Rotkehlchen sprang in ihren Schoß und neigte das Köpfchen, als es aufblickte. »Dabei hab ich solchen Hunger.«
    Unbeeindruckt reckte sie das Kinn und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du hast wieder im Dorf stibitzt. Der Nachbar schimpfte, dass sein Apfelkuchen weg sei. Im Haus gegenüber beschwerte sich die alte Lori, dass ihre gute Salami verschwunden ist. Außerdem rieche ich den Wein und den Apfelmost an dir.«
    »Ah ... Und ich dachte, das Bad im Bach hätte alle Spuren beseitigt«, seufzte es.
    »Ich hätte dir ohnehin nichts mitgebracht.«
    »Du kennst mich einfach zu gut.«
    Das Rotkehlchen sprang ins Gras. Kaum einen Wimpernschlag später hockte ein junger Mann mit silbern glänzendem Haar neben ihr, schlank und ohne Kleidung. Sofort wandte sie das Gesicht ab.
    Blinzelnd blickte er an sich herab, lachte schließlich laut auf. »Ah, ich vergesse es doch immer wieder.« Glucksend erhob er sich, trat einmal um den breiten Weidenstamm und blieb dann mit in die Seite gestemmten Armen links von ihm stehen. »Besser?«
    Sie musterte ihn von unten nach oben. Barfuß und mit am Saum zerfledderten braunen Hosen stand er in seiner grünen Tunika vor ihr. Das Leuchten der Rinde erhellte sein schneeweißes Gesicht, in dem viele Sommersprossen eine Heimat gefunden hatten.
    »Besser«, sagte sie nickend.
    Im Schneidersitz setzte er sich neben sie, so nah, dass seine Schultern die ihren berührten. Einige Zeit lang sahen die beiden auf den Stein vor sich. Keiner von ihnen sagte mehr ein Wort, genoss stattdessen die Anwesenheit des jeweils anderen. Er verlor sich in ihrer Wärme, sie selbst in der klaren Kälte neben sich.
    »Habe ich dir schon einmal gesagt, wie dankbar ich dir bin?«, fragte er unvermittelt leise. Jeglicher Schalk war aus seinen Worten verschwunden.
    Sie hingegen lächelte stumm und lehnte den Kopf gegen seinen. Ihr schwarzes Haar mischte sich mit seinem silbernen Schopf.
    »Ohne dich wäre ich längst verschwunden«, flüsterte er weiter.
    »Bestimmt nicht.«
    »Oh doch. Wer interessiert sich schon für einen albernen alten Geist in einer Weide.«
    »Reiche ich nicht?«, fragte sie und schürzte die Lippen.
    Sein Lachen war voll und klar; es erinnerte sie an den Frühlingswind, der sich in einem Klangspiel verfing. »Oh doch. Sehr sogar. Aber auch du wirst älter. Du wirst vergessen. Wie so viele andere zuvor.«
    »Ich könnte dich nie vergessen«, raunte sie und schloss die Augen. Sie musste nicht sehen, um zu wissen, wie er sie von der Seite musterte. Eingehend und so durchdringend, dass es sich anfühlte, als würde er ihre Seele verschlingen. Beinahe wollte sie, dass er es tat.
    Nichts geschah. Stattdessen ergriff sie eine vertraute Leere, als er sich erhob.
    Auf dem Stein vor ihnen verwelkten die Blüten, färbten sich gräulich gelb. Durch die Zweige flüsterte der Wind und ein Geruch von Fäulnis mischte sich hinein.
    »Es ist Zeit«, raunte der Geist der Weide.
    Nickend richtete sie sich auf. Sie rieb sich über die Arme, trat von einem Bein aufs andere. Als sie sich zur Seite wandte, war er verschwunden. Schwach lächelte sie, nahm den Krug auf und duckte sich durch die hängenden Zweige. Zitternd huschte sie über die Wiese zurück zu ihrem Haus.

    Der Geist saß auf dem obersten Ast seines Baumes, beobachtete, wie das Mädchen vollkommen mit der Nacht verschmolz, als sich Wolken vor den untergehenden Mond schoben. Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen.
    »Lebwohl.«
    Das Krächzen einer Krähe, die nun an seiner Stelle saß, hallte einsam durch die Dunkelheit.

  • Aye, Kitsune. In diesem Textfragment steckt schon einiges drin, woraus man etwas machen kann. :D Unter solch einem Geist kann man sich viel vorstellen. Darum wäre es interessant, wie man das in eine größere Sache einbindet und dann damit erklärt.
    Hier sind nur mal zwei kleine Eindrücke. Das sind nichtmal richtige Verbesserungsvorschläge, sondern nur Gedanken von meiner Seite.

    sie schlang die Arme enger um den Tonkrug

    Der Krug kommt gerade aus dem Nichts. Da sich der Anfang des Fragments wie eine Einleitung ließt/an einen Prolog erinnert, muss das nichts schlechtes sein. Entweder es wird später als Prolog verwendet, dann wirkt es dadurch etwas geheimnisvoller, weil der Leser sich fragt: "Ein Krug? Was denn für ein Krug? Wozu hat sie ihn dabei?".
    Oder aber der Text ist weiter innen in der Handlung, dann sollte der Krug vorher aber noch einmal erwähnt werden. Entweder vor dem Textfragment hier oder in ihm selbst. Nur ein Gedanke.

    wuchsen so rapide

    Hier bin ich auch nur ein Krümelkacker. Aber Krümel sind es, die den Text vog "gut" zu noch besserem heben.
    Ich finde einfach nicht, dass sich "rapide" gut in die anderen Worte einfügt. Da fallen z.B. Worte wie "erblühen" oder "saftig", die eine wundersame Stimmung aufbauen und mittendrin ist dann "rapide", das für mich eher umgangssprachlich klingt. Sowas kann stören. Ich würde ein anderes Wort benutzen.
    Vorschläge:
    - rasch
    - geschwind
    - behände (wahrscheinlich zu viel des Guten xD )

    Häupter auf meine Asche!

  • Zitat von Kitsune

    einige Knospen wuchsen so rapide,

    Rapide - das passt irgendwie nicht zur restlichen Wortwahl im Text
    Tante Edit sagt: @kalkwiese war schneller


    Normalerweise hätte ich diese Geschichte nach deinem Vorwort wieder geschlossen. Kurzgeschichten sind nichts für mich. Da "fehlt" immer etwas, auch wenn das ja gerade der Sinn ist.
    Aber es war kein Fehler, eine Ausnahme zu machen. Sprachlich wirklich erstklassig, auch wenn ich das bei dir eigentlich nicht mehr erwähnen muss - ist ja Standard xD Und du hast die Anforderung einer Kurzgeschichte voll erfüllt. Alles, was ich nicht mag, findet sich darin. Kaum eine Frage beantwortet, viele Fragen angehäuft, sprichwörtlich geisterhaftes Ambiente, der Wie-geht-es-weiter-Effekt ... Perfekt. Weiter so, wenns nach mir geht, auch gerne mit einer größeren Geschichte.


    Was die Logik angeht: Da hatte ich kurz ein Problem und musste es nochmal lesen, als erst der Hase auftaucht, dann ist es plötzlich der Fuchs.
    Und das hier:

    Zitat von Kitsune

    Sacht berührte sie die filigranen Apfelblüten

    War / ist nicht dauernd die Rede von einer Weide? Woher dann plötzlich ein Apfelbaum?


    Falls mehr in dieser Güteklasse kommt, lese ich gerne mit.

    "Sehe ich aus wie einer, der Geld für einen Blumentopf ausgibt, in den schon die Pharaonen gepisst haben?"

  • Huuui. Das war toll. Ich habe keinen einzigen Rechtschreibfehler o.ä. gefunden - entweder gibt es tatsächlich keine oder die Geschichte hat mich in ihrer Tollheit zu sehr abgelenkt.
    Ich liebe Kurzgeschichten und deine scheint mir perfekt. Ich habe wirklich nichts dran zu meckern, dabei mache ich das so gern :D Außer, dass ich jetzt natürlich trotzdem mehr Hintergründe erfahren würde und wie es weiter geht...

    Sometimes, you read a book and it fills you with this weird evangelical zeal, and you become convinced that the shattered world will never be put back together unless and until all living humans read the book.

  • Oha. *Staub wegpust* Ich möchte mich erst einmal ganz klein machen, weil ich hier nie weiter etwas dazu gesagt habe. Streut Asche auf mein Haupt oder sonst etwas, manchmal bin ich so verpeilt ...
    @kalkwiese @Wysenfelder @Phi Danke für eure Kommentare und auch Anregungen; es kommt spät, aber von Herzen, auch wenn ich am Text oben hier nie etwas verändert habe.

    Der Grund, warum ich das hier wieder ausbuddle, ist das nachfolgende - Ding. Ich will es nicht Kurzgeschichte nennen, denn ... Ja. Das ganze entstand vor anderthalb Jahren, ungefähr zur gleichen Zeit wie die Geschichte oben, als ich meine absolute Tiefphase des Schreibens mit ein paar Übungen endlich brechen wollte. Tja, dabei ist das Experiment herausgekommen, einen Text allein durch einen Dialog zu tragen. Und wenn ich sage allein durch, dann meine ich allein durch. Kein Drumherum, kein Geschnörkel, keine Erklärungen. Ping-Pong. Ihr kennt das. Dieses teils verhasste Phänomen. Und ich weiß bis heute nicht, ob es funktioniert hat.
    Ich erwähne das alles, um euch vorzuwarnen, und würde mich freuen, wenn sich der ein oder andere kritisch dazu äußern könnte. Den Text selbst habe ich seit ich ihn geschrieben habe nie wieder angefasst, er fiel mir nur die Tage wieder ein.

    Also dann.

    ~.~.~


    »Würdest du gerne die Zeit zurückdrehen?«
    »Wenn ich es könnte?«
    »Ja, wenn du es könntest.«
    »Hm, ich weiß nicht recht. Würdest du es denn?«
    »Stellenweise.«
    »Wie, stellenweise?«
    »Na ja, nur bei bestimmten Momenten.«
    »Du meinst, wenn etwas nicht passt?«
    »Hör auf zu lachen. Aber ja, wenn etwas nicht passt.«
    »Hm, also wenn du zum Beispiel deinen ersten Kuss erlebst und der Kerl dabei aber so schlecht ist?«
    »Oh ja, ich würde gerne meinen ersten Kuss zurücknehmen. Danke für die Erinnerung.«
    »Jetzt weiß ich, dass dein erster Kuss schlecht war.«
    »Ja, ja, lach nur.«
    »Du?«
    »Mh?«
    »Würdest du gern jetzt die Zeit zurückdrehen?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    »Dann hätte ich dich nie gesehen.«
    »Du würdest aber auch nicht hier mit mir sitzen.«
    »Schon, aber das ist es mir wert.«
    »Und wenn du heute Morgen den anderen Weg genommen hättest und mich dann morgen trotzdem gesehen hättest, ohne das Ganze hier?«
    »Was, wenn ich dann trotzdem hier lande? Wer sagt mir, dass es mir nicht bestimmt war, hier zu sein?«
    »Redest du etwa von Schicksal?«
    »Sieh mich nicht so an. Aber was, wenn es so etwas wie Schicksal vielleicht doch gibt? Ich meine, unser ganzes Leben wird doch von irgendetwas bestimmt.«
    »Wir treffen unsere eigenen Entscheidungen.«
    »Und warum sitzen wir dann hier?«
    »Weil wir uns heute morgen für diesen und nicht den anderen Weg entschieden haben.«
    »Und was, wenn wir gar keine Wahl hatten?«
    »Wie meinst du das? Dass unsere Entscheidungen vorgeben sind?«
    »Vielleicht nicht direkt, aber mit jeder Entscheidung beeinflussen wir einen Weg.«
    »Das bereitet mir Kopfschmerzen.«
    »Mir ehrlich gesagt auch.«
    »Dann hör auf damit.«
    »So abwegig ist es aber nicht, oder?«
    »Ehrlich gesagt habe ich gerade andere Sorgen, als darüber nachzudenken.«
    »Entschuldige.«
    »Ist ja nicht deine Schuld.«
    »Wenigstens habe ich dich endlich gesehen.«
    »Ja, wenigstens was, hm?«
    »Ich mag deine Stimme, aber dich zu sehen ist doch noch etwas anderes.«
    »Ja.«
    »Hast du Angst?«
    »Ich weiß nicht. Du?«
    »Keine Ahnung. Vielleicht kommen wir ungeschoren davon.«
    »Hm.«
    »Ist dir kalt?«
    »Nein.«
    »Du zitterst.«
    »Mir ist nicht kalt.«
    »Wenn du meinst.«
    »Deine Augen sind grün, oder?«
    »Ja.«
    »Schade, dass ich sie nicht richtig im Licht sehen kann.«
    »Warum?«
    »Dann könnte ich mir ausmalen, wie eine Sommerwiese aussieht.«
    »Sicher nicht wie meine Augen.«
    »Blödmann, so meinte ich das gar nicht.«
    »Es ist kein schönes Grün.«
    »Für mich bestimmt.«
    »Außerdem ist eine Sommerwiese doch nicht nur grün.«
    »Woher willst du das wissen? Hast du schon mal eine gesehen?«
    »Ich glaube als Kind.«
    »Du warst als Kind draußen?«
    »Glaube ich zumindest.«
    »Geht doch gar nicht.«
    »Ich glaube es ja auch nur, sicher bin ich mir nicht.«
    »Vielleicht hast du es geträumt.«
    »Mh, vielleicht.«
    »Bestimmt.«
    »Hörst du das Geräusch auch?«
    »Was für ein Geräusch?«
    »Dieses Brummen.«
    »Ich hör nichts.«
    »Wirklich nicht?«
    »Nein, wirklich nicht. Gar nichts, ehrlich gesagt. Ich höre nicht einmal das Blut in meinen Ohren rauschen.«
    »Das höre ich auch nicht, wenn ich rede.«
    »Nein, ich meine immer. Da ist nichts, nur – Stille.«
    »Oh.«
    »Also hör bitte nicht auf zu reden, okay?«
    »Okay. Was soll ich sagen?«
    »Egal. Was ist das für ein Brummen, das du hörst?«
    »Weiß nicht. Einfach ein Brummen. Und du hörst es wirklich nicht?«
    »Vielleicht ist es nur auf deiner Seite.«
    »Glaub ich nicht.«
    »Ich hör aber nichts.«
    »Macht es dir keine Angst?«
    »Nein, ich bin es gewohnt, seit ich hier bin.«
    »Haben sie dir etwas gegeben?«
    »Nein, ich denke nicht.«
    »Denken heißt nicht wissen.«
    »Das hat meine Oma immer gesagt und ich fand es damals schon nervig.«
    »Entschuldige.«
    »Nein, schon gut.«
    »Du hast Gänsehaut.«
    »Du auch.«
    »Die hab ich immer.«
    »Du lügst.«
    »Nein, wirklich.«
    »Und warum?«
    »Keine Ahnung. Manchmal ist mir, als säße etwas hinter mir oder mich beobachtet irgendetwas, manchmal ist da aber auch einfach nur das Nichts.«
    »Angst?«
    »Nein, eher ein komisches Gefühl.«
    »Du?«
    »Ja?«
    »Glaubst du, wir kommen hier noch einmal raus?«
    »Bestimmt. Wir haben ja nichts getan, oder?«
    »Und was, wenn wir den falschen Weg gewählt haben und uns deshalb endlich sehen konnten?«
    »Wie meinst du das?«
    »Hast du schon jemals von jemandem gehört, der einander gesehen hat?«
    »Wenn du mich so fragst …«
    »Jetzt bekomme ich schon ein wenig Angst.«
    »Streck deine Hand aus.«
    »Warum?«
    »Mach es einfach.«
    »Und jetzt?«
    »Kannst du meine spüren?«
    »Nein.«
    »Und wenn du die Augen schließt?«
    »Dann ist es so wie immer.«
    »Ja, aber wenn du dich auf deine Handfläche konzentrierst … Jetzt?«
    »Es kitzelt.«
    »Und jetzt?«
    »Ieh! Wie machst du das?«
    »Lass deine Augen zu.«
    »Nicht, bevor du mir nicht sagst, wie du das machst! Die Scheibe ist dafür viel zu dick!«
    »Ich verrate dir das Geheimnis, wenn ich deine Wange berühren darf.«
    »Das ist mir zu gruselig, wirklich.«
    »Und wenn es das letzte Mal ist, dass ich so was kann?«
    »Trotzdem gruselig.«
    »Hast du jetzt Angst vor mir?«
    »Nee. Aber jetzt ernsthaft, wie hast du das gemacht? Meine Hand kribbelt immer noch.«
    »Sag ich nicht.«
    »Du weißt es doch nur selbst nicht, gib's zu.«
    »Und wenn dem so wäre?«
    »Okay, das ist wirklich gruselig, hör auf damit. Ich sehe dein Lächeln, auch im Halbschatten.«
    »Hörst du das Pochen?«
    »Was?«
    »Das Pochen.«
    »Ich höre nichts, das sagte ich dir doch bereits.«
    »Es ist, als würden sich Schritte nähern.«
    »Vielleicht lässt man uns raus?«
    »Nein, jetzt sind sie wieder weg.«
    »Du bist seltsam. Ich mag seltsam.«
    »Du bist nicht weniger seltsam.«
    »Stimmt.«
    »Ich bin müde.«
    »Nicht einschlafen. Du musst deine Augen offenhalten.«
    »Meine Lider sind schwer.«
    »Red weiter mit mir.«
    »Und über was?«
    »Über die Zeit, vielleicht? Wie wir sie zurückdrehen?«
    »Nicht heute.«
    »Hey, bleib sitzen.«
    »Ich leg mich nur etwas auf die Seite. Ich – muss mich nur kurz ausruhen.«
    »Rutsch näher zu mir und mach dein komisches Ding noch einmal. Dieses Kribbeln. Wieso lachst du?«
    »Das funktioniert nur auf einer Seite. Ich spüre nichts dabei.«
    »Mach es trotzdem.«
    »Lieber nicht. Ich bin – müde.«
    »Schlafen kannst du später. Hey? Sag etwas. Hörst du mich? Setz dich wieder hin. Bitte. Sag was. Bitte, bitte, sag was, ich – ertrag die Stille nicht. Bitte. Lass mich nicht allein. Bitte.«

  • Hi Kitsune,

    bin gerade beim Stöbern über deine "Wundertürchen" gestolpert.
    Also, die Kurzgeschichte mit der Weide fand ich ziemlich cool. Ich finde, es ist eine wahre Kunst, Kurzgeschichten zu schreiben. Du berherrschst das scheinbar einwandfrei :) Ich kann mich demnach der Meinungen der anderen nur anschließen.

    So, nun zu deinem Experiment:

    Beim Lesen habe ich mehrere Phasen durchlaufen...Zuerst dachte ich: Och nö! Is ja voll öde... und habe mich gefragt, worauf das Ganze hinauslaufen soll...das war dann aber der Moment, wo du mich wahrscheinlich gekriegt hast, denn, als ich mich einmal in dieses Ping-Pong-Spiel eingefunden hatte, wollte ich unbedingt wissen, was für eine Geschichte die beiden verbindet. Beim Lesen habe ich dann also Spekulationen angestellt, die in die verrücktesten Richtungen gingen. Der Dialog ziwschen den beiden lässt ja auch einiges an Spekulationsspielraum :) Naja...zum Ende hin war ich dann aber irgendwie enttäuscht, weil es nicht aufgelöst wird und ich mit meinen ganzen Ideen nun dastehe und mich frage: Was bitteschön war das??? Wahrscheinlich war das von dir aber so gewollt, nehme ich an.

    Sicher ist das Geschmacksache. Viele Geschichten haben ein offenes Ende oder wefen mehr Fragen auf, als Antworten. Bei der Geschichte oben ist es ja im Prinzip ähnlich, doch erfährt man hier wenigstens, dass es sich um den Geist der Weide und ein Mädchen handelt...insofern tappt man nicht ganz im Dunkeln...ich hätte mir eine Aufklärung gewünscht...alleine schon, damit ich jetzt nicht noch stundenlang darüber nachgrübeln muss :)


    Viele Grüße,
    Rainbow

  • Hallo Kitsune,
    habe mir gerade "Die Weide" angeschaut, und wie soll ich es sagen, ich war sofort "drin"!
    Logikbrüche sind mir keine aufgefallen, im Gegenteil, alles passte m.M.n. absolut stimmig zusammen.
    Und was das verträumt - melancholische Flair des Ganzen angeht, zu dem die leicht schnoddrige Sprache des Kindes einen köstlichen Kontrast liefert ... einfach nur top!
    Ich denke, dass der Text einen wirklich guten Prolog zu einer feinen Geschichte liefert, er kann aber auch sehr gut für sich alleine stehen.
    Deinen zweiten Text werde ich mir auch noch reintun (ich liebe Dialoge!), aber noch nicht jetzt. Jetzt möchte ich noch ein Weilchen in der Stimmung schwelgen, welche Du mir geschenkt hast.

    Adler erheben sich in die Lüfte
    aber Wiesel werden nicht in Flugzeugturbinen gesogen

  • *pustet Staub weg*

    Ich sollte, wenn ich schon so ewig brauche, wenigstens zwischendurch auf Kommentare antwortet. Ich gelobe Besserung.
    Jedenfalls:

    Spoiler anzeigen


    @Rainbow

    Ich finde, es ist eine wahre Kunst, Kurzgeschichten zu schreiben. Du berherrschst das scheinbar einwandfrei

    Das ist ein Kompliment, das herunter geht wie Öl. Ich schreibe hin und wieder gerne Kurzgeschichten, allerdings fehlen mir momentan die zündenden Ideen, zumal ich meine langen Projekte ungern so schleifen lasse. Aber danke.

    So, nun zu deinem Experiment:

    Beim Lesen habe ich mehrere Phasen durchlaufen...Zuerst dachte ich: Och nö! Is ja voll öde... und habe mich gefragt, worauf das Ganze hinauslaufen soll...das war dann aber der Moment, wo du mich wahrscheinlich gekriegt hast, denn, als ich mich einmal in dieses Ping-Pong-Spiel eingefunden hatte, wollte ich unbedingt wissen, was für eine Geschichte die beiden verbindet. Beim Lesen habe ich dann also Spekulationen angestellt, die in die verrücktesten Richtungen gingen. Der Dialog ziwschen den beiden lässt ja auch einiges an Spekulationsspielraum Naja...zum Ende hin war ich dann aber irgendwie enttäuscht, weil es nicht aufgelöst wird und ich mit meinen ganzen Ideen nun dastehe und mich frage: Was bitteschön war das??? Wahrscheinlich war das von dir aber so gewollt, nehme ich an.

    Es war in der Tat meine Absicht, hier extrem viel Interpretationsspielraum zu lassen. Wobei ich mittlerweile auch denke, dass es hier bei dem Experiment dann wohl doch etwas zu viel des Guten war. ^^' Aber dafür sind Experimente ja da, um zu schauen, wie man es beim nächsten Versuch besser machen kann.

    @Formorian

    Ich denke, dass der Text einen wirklich guten Prolog zu einer feinen Geschichte liefert, er kann aber auch sehr gut für sich alleine stehen.

    Ich lasse mir das Thema noch offen. Wenn ich mal wieder ein längeres Projekt brauche, schaue ich, was ich daraus so zaubern könnte. :)

    Ich habe dann mal wieder eine kleine Geschichte für euch.
    Sie ist - alt. Mindestens an die zehn Jahre. Ich habe nur ein paar Kleinigkeiten aufpoliert, bessere Wortwahl als damals etc. Ansonsten gab es da wenig Aufpolieren.

    Wen es interessiert: Bin für alle Kommentare/Kritiken offen.

    ~+~

    Wenn der Himmel sich blutrot färbt

    Dreh dich im Kreise,
    Tanze wild,
    Tanz so schnell die Winde wehen.
    Dreh dich im Walde,
    Tanze weit,
    Tanz als würde der Himmel in Flammen stehen.

    Zieh deine Kreise,
    Fliege darin,
    Dreh dich wild im Windes raschen Kuss.
    Schau nicht ins Tal,
    Schau nicht zurück.
    Dreh dich wild wie des Teufels Kind.


    Eine Prozession folgte der in Schwarz gehüllten Gestalt. Ein jeder, der ihr folgte, hielt eine silberne Schale in den Händen, bestückt mit einer weißen Kerze, deren Flammen züngelten; der Wind, der sich zwischen Fichten hindurchschlängelte, streifte sie und spielte wie ein kleines Kind mit ihnen.
    Unter der Prozession waren Junge und Alte, Männer wie Frauen. Alle trieb es mitten in der Nacht durch den Wald, dessen majestätisch in den Himmel gewachsenen Bäume von Nebelschwaden umgeben waren.
    Leise murmelten Stimmen durcheinander, doch keiner traute sich, lauter als nötig Worte zu wechseln, stets darauf bedacht, die Kerzen mit ihrem Atem nicht erlöschen zu lassen. Je näher sie der Lichtung kamen, desto schwächer wurde das Flüstern, doch schon nach kurzer Zeit erlang ein Raunen. Kurze Silben, die in ihrer Folge Wörter und Sätze ergaben und sich schließlich zu einem Singsang steigerten. Stetig stiegen mehr und mehr Stimmen ein, während der Gesang an Kraft gewann.
    Die Gestalt im schwarzen, samtigen Gewand war die erste, die auf das vertrocknete Gras aus dem Schutz der Fichten trat. Ein schwaches Beben erfasste ihren Körper, als sie die Macht in sich fließen wusste. Ein verzücktes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. Tief atmete sie aus, während eine Schweißperle unter jener grauen, schmucklosen Maske hervorperlte, die ihr Gesicht verbarg. Auch sonst war ihr gesamter Körper verhüllt, ihr Haupt mit einer Kapuze bedeckt.
    Sie hob den Kopf, streckte den leicht gebeugten Leib und stolzierte mit nackten Füßen über die verdorrte Wiese. Aus ihrer Kehle wollten sich Jubelschreie lösen, doch sie schluckte jene Vorboten innerer Freude herunter. Statt zu jauchzen, verbarg sie sich nur tiefer im Schatten ihrer Kapuze.
    Ihr Atem beschleunigte, als sie die Menschen hinter sich singen hörte, immer lauter und lauter. Sie hörte das Wiegen der dürren Kiefern im Wind, hörte das Knarzen ihrer Stämme und das Rauschen des Windes in ihren ausgedünnten Nadeldächern.
    Der Mond stand hoch über ihnen und erhellte die Lichtung mit silbernem Schein, ließ den Nebel sanft schimmern.
    Die Prozession verteilte sich; mehrere Reihen stellten sich um das in der Mitte stehende Geschöpf im Kreis auf. Wer zum Stehen kam, stellte seine Schale mit der Kerze auf den Boden.
    Die dunkle Gestalt hob die Arme, fuhr mit zierlichen Händen zum Saum der Kapuze und schob diese langsam nach hinten. Langes, dunkelbraunes Haar wallte in üppigen Locken über die Schultern. Unter der Maske schimmerten grüne Augen deutlich zwischen den schmalen Schlitzen hindurch.
    Mit flinken und gekonnten Bewegungen knöpfte die Gestalt das Gewand auf, um es sich schließlich von den schmalen Schultern zu streifen. Ihr schlanker, weiblicher Körper, der mehr dem eines Kindes denn einer Frau glich, stand nun vor der versammelten Menge für jeden gut sichtbar. Unter dem mit Silberfäden durchzogenem Seidenkleid schimmerte ihre bleiche Haut im Mondlicht hindurch. Der hellgrüne Stoff schmiegte sich vom Halsansatz bis zu den Schenkeln eng an ihren Körper.

    Sie lächelte weiterhin unter ihrer Maske. Ihr Herz schlug schnell in ihrer Brust. Sie spürte es, das Pulsieren unter ihren nackten Sohlen, hörte das zu einem Murmeln verebbte Singen, das kurz zuvor seinen Höhepunkt erreicht hatte.
    Jemand löste sich aus den Reihen der sich sanft wiegenden Menschenleiber. Eine schmächtige Männergestalt, einzig in braune Leinenhosen gekleidet, trat mit demütig gesenktem Kopf in den inneren Kreis hervor. Sein feuerrotes Haar fiel ihm wild ins bleiche Gesicht. In seinen knöchernen Händen hielt er eine flache Holzschale, die mir einer rötlichen Flüssigkeit bis zum Rand gefüllt war. Er war darauf bedacht, keinen Tropfen zu verschütten.
    Langsam schritt er auf die junge Frau zu. Sie streckte die Arme nach ihm aus, bis er kaum mehr drei Schritte entfernt war. Die gemurmelten Gesänge verstummten und alles Augenmerk richtete sich auf die beiden.
    Große dunkle Augen blickten zu ihr empor, während das Gesicht des jungen Mannes ausdruckslos blieb. Stumm reichte er ihr die Schale, legte sie ihr regelrecht auf beide Handflächen, die nah beieinander ruhten. Gierig schlossen sich ihre dünnen Finger um die Schale, hielten sie fest umschlossen.
    Als ihre Blicke sich trafen, schwand ihr Lächeln unter der Maske. Es waren nur wenige Sekunden, ein Bruchteil nur, in denen sie sich gegenseitig eingehend musterten. Ihr Herz setzte aus, als er sich vor ihr verbeugte, einige Schritte zurücktrat, bevor er ihr den Rücken zuwandte, um seinen Platz in der vorderen Reihe einzunehmen.
    Kein Leib wiegte mehr, keine Stimme erhellte mehr jenen Ort. Ein letztes Mal atmete die junge Frau durch, zog die Schale näher zu sich heran und führte sie an die Lippen.
    Langsam senkte sie die Lider. Sie roch an der Flüssigkeit, nippte daran, nur um sie dann allmählich in ihren Mund fließen zu lassen. Wärme erfüllte sie, ein Schauer durchfuhr ihren Körper, bis es jede Faser durchzuckte. Mit einem leisen Aufstöhnen ließ sie die Schale fallen, die in zwei Hälften zersprang, kaum dass sie das verdorrte Gras berührte.
    Ein wildes Toben erfasste sie. Muskeln und Glieder zuckten. Sie riss die Arme hoch, warf sich und ihren Leib nach links, dann nach rechts, einige Schritte nach vorn und einige zurück. Sie nahm ihre Umgebung nur mehr verschwommen und am Rande ihres Bewusstseins wahr.
    Ein raues Lachen drang tief aus ihrer Kehle und mit einem Mal begann sie, sich wild um sich selbst zu drehen. Schneller und schneller, als wolle sie sich in ihrem wilden Taumel auflösen.
    Sie breitete die Arme aus, weitete die Augen, lachte schrill. Sie spürte, wie das Leben sie durchströmte, es ihren Körper erzittern ließ, sie trunken machte vor lauter Magie. Unter ihren Füßen erwachte etwas. Alles wurde weich unter ihren Zehen; überall dort, wohin sie trat, wo ihre bloße Haut das Gras streifte, wuchs neues Leben heran.

    Ein Aufstöhnen ging durch die Mengen, alle sahen dem wilden Tanz zu, konnten sich kaum selbst an Ort und Stelle auf den Beinen halten, doch noch war ihre Zeit nicht reif.
    Der junge Mann, der Ihr die Schale gebracht hatte, wandte den Blick ab, versuchte die aufkeimende Trauer tief in sein Innerstes zu verbannen. Der Kloß in seinem Hals erschwerte ihm das Atmen. Mit erhobenem Kopf sah er zum Nachthimmel, ein bitteres, schiefes Lächeln auf den Lippen, als er erkannte, wie schnell sich der Mond verfärbte diese Nacht. Mit schmerzender Wehmut in der Brust wandte er sich wieder der wild tanzenden Frau zu, die sein Herz einst für sich erobert hatte.
    Das Gras begann zu ihren Füßen begann zu wachsen, erwachte zu neuem Glanz und alle sahen, wie es sich weiter und weiter bis auch in die tiefsten Ecken des Waldes und darüber hinaus erstreckte. Die Bäume erzitterten, lachten frohlockend und erfreuten sich ihrer erstarkenden Rinden und Nadeln.
    Und die Frau tanzte weiter. Das Opfer des Frühlings wand sich, lachte schallend voller Glück erfüllt. Blutrot stand der Mond inzwischen über ihnen. Und weit draußen drang das erste Licht des nahenden Tages heran.
    Plötzlich fielen alle in ein sich rasch ausbreitendes Jubelgeschrei. Alle bis auf einer, der auch noch dann zu dem zuckenden Leib am Boden blickte, als alle anderen um ihn herum bereits in ihren eigenen kleinen Kreisen tanzten. Keiner von ihnen schenkte der Tänzerin mehr Beachtung.
    Zusammengesunken lag sie da, rührte sich nur noch wirr und gar nicht mehr anmutig. Die Maske auf ihrem Gesicht hatte Risse bekommen und blutrote Tränen liefen aus den kleinen Schlitzen über das graue, schmucklose Gebilde.

    Sie hatte ihr Leben gegeben, ihren Zweck erfüllt. Als ihr Herz die letzten Schläge vollführte, erblickte sie zwei Füße. Mit letzter Kraft drehte sie den Kopf leicht, sah hinauf zu jener Gestalt, die nun direkt vor ihr stand. Er hätte an ihrer statt hier liegen sollen.
    Er ging vor ihr auf die Knie und mit dem letzten Funken ihres Verstandes schenkte sie ihm ein Lächeln, als er ihr die brüchig gewordene Maske von ihrem vernarbten Gesicht nahm.
    Dann hauchte sie den letzten Rest ihres Lebens aus und bot es der Erde unter sich als letztes Geschenk dar.

  • Hallo @Kitsune,

    du hast mich mit deinen beiden Kurzgeschichten voll gefangengenommen. Und du hast eine Art zu schreiben, die einen förmlich atemlos zur nächsten Zeile springen lässt, während das eigene Hirn schreit: Schneller!! Ich will wissen, wie es weitwergeht!! Lies schneller!!!

    Mir gefällt die melancholische Grundstimmung, die den zwei Geschichten eigen ist, und die sich auch nach einer Weile des Lesens in dem Dialog der beiden Eingesperrten einstellt. Und du hast eine schöne Art zu beschreiben, so dass man sich alles sehr gut vorstellen kann.

    Ich finde alle drei super gelungen. Und es wäre schön, wenn man hier bald noch weitere Wundertürchen öffnen könnte, denn ich bin auf deine nächste Geschichte schon gespannt wie ein Kind beim Öffnen der Türchen des Adventskalenders.

    VG Tariq

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Hallo Kitsune, ich würde gerne versuchen dein Gedicht "Wenn der Himmel sich blutrot färbt", in nächster Zeit, ins Sindarin zu übersetzen. Als Urheberin brauche ich deine Erlaubnis, um den Text mit Quellenangabe dann Posten zu können.

    Tegil o Wilferedh teithant i Thîw hin