Vor einigen Wochen bei Projekt Gutenberg die gesammelten Werke von JulesVerne geholt und stöbere grad ein bisschen durch die unbekannteren Titel...
Und woha, da sind echte Perlen dabei! Neben klassischer SciFi basierend auf der damaligen Technik hat er durchaus auch fantastische Elemente mit drin. Alles eingebettet in die Gesellschaft und Welt des 19.Jhdts und mit den damaligen Formulierungen ist das echt spannend zu lesen.
(Allerdings ist auch der Rassismsus und Antisemitismus der Zeit teilweise sehr heftig vertreten. )
Was lest ihr gerade? (Non-Fantasy)
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Neulich zum zweiten Mal gelesen: Number9Dream von David Mitchell.
David Mitchell hat sich mit Der Wolkenatlas einen Namen gemacht; ein Buch, das einem Stunt gleicht und das ich, mit Abstand betrachtet, doch etwas überbewertet finde. Dabei schätzen Mitchells Anhänger wahrscheinlich eher sein Gefühl für Dialoge, Witz, Stimme der Figuren, Szenen- und Plotstruktur, als die postmodernen Gimmicks - auch wenn diese ihm natürlich zu Aufmerksamkeit verholfen haben.
Number9Dream ist in Mitchells Schaffen insofern besonders, dass es trotz großer Verspieltheit und eigenen Besonderheiten in jedem Kapitel - wie Träume, Tagträume, Rückblenden, Parallelerzählungen etc. - sich vorrangig auf die Geschichte einer einzelnen Figur konzentriert. Und das in einer sehr zusammenhängenden Manier.
Das Ziel ist klar: Eiji Miyake sucht seinen Vater, den er nie kennengelernt hat. Dafür ist er von seiner Heimatinsel Yakushima mach Tokyo gezogen und wird von der Großstadt erschlagen. Mitchell lässt einen an vielen Sinneseindrücken und Details teilhaben, die Eiji dabei wahrnimmt, wodurch Tokyo immer ein präsenter Teil der Szenerie ist.
"Der Samstagabend in Shibuya brodelt und schwitzt. Eine Woche nach meiner schlaflosen Nacht habe ich beschlossen, auf Entdeckungstour zu gehen. Die Stimmung ist so heiß, dass das ganze Vergnügungsviertel beim nächsten angeratschten Streichholz in Flammen aufzugehen droht. Letztes Jahr hat mich Onkel Bank mit in seine Bar nach Kagoshima genommen, aber die ist nichts im Vergleich zu hier. Das gilt auch für die Preise. Ameisenmännchen trinken in Trupps, Krawatten gelockert, Kragen aufgeknöpft. Aufgebrezelte Ameisenweibchen, die Bürokluft in die Handtaschen gestopft. Mein Urteil über Ameisen ist zu streng, wenn man bedenkt, dass ich jetzt selber eine bin. Aber ich tue nur so. Oder haben das am Anfang alle geglaubt?"
Auf der Suche nach seinem Vater gerät Eiji schnell an seine Grenzen: er hat kaum Geld, er kennt die Gegend nicht, und bald gerät er versehentlich an die Yakuza. Aber es ist auch nicht alles schlecht, denn die Stadt hält auch Liebe bereit, ein paar Freunde, und vielleicht die Möglichkeit, seine Schuldgefühle gegenüber seiner toten Zwillingsschwester oder seine kaputte Beziehung zu seiner dauernd abwesenden, trunksüchtigen Mutter verarbeiten.
Egal ob historisches Tagebuch, Fabelgeschichte, simple Rückblende oder Traumsequenzen - Mitchell versteht es, seinen Geschichten einen verspielten Touch zu geben, einen Sinn für Wunder trotz nüchterner Sprache. Besonders in Number9Dream, das in seinen Bildern manchmal überborden könnte, das lange, absatzlose Abschnitte enthält und so Bedeutungsebenen verwischt und ineinander übergleiten lässt, fast wie ein Bewusstseinstrom und doch nicht so abstrakt, ist Mitchell das gelungen.
Und ja, er war lange ein Fan von Murakami. Parallelen existieren, dieses Buch trägt sogat den Titel einen John-Lennon-Songs. Aber das ist nur der Anstrich - die Bausubstanz ist Mitchell durch und durch.
In kurz: Liest sich gut, macht Spaß, war geil.
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Vorgestern beendet: Das Mangelnde Licht von Nino Haratischwili. Vor einer Weile hatte ich hier mal über "Das Achte Leben" von ihr geschrieben und es sehr geliebt.
"Das Achte Leben (Für Brilka)" war ein richtiger Hit für N. H., sicher spätestens als es für den International Booker 2020 nominiert war. Zwei Romane später liefert die Autorin weiterhin ab: Über 800 Seiten voll mit Tragödien und ungesunden Liebesgeschichten. Dieses Mal nicht über ein ganzes Jahrhundert, sondern über die spät- und post-sovjetische Zeit Georgiens.
Die Leseerfahrung ist erstmal eine Schwerfällige. Viel muss etabliert werden - die Rahmenhandlung, die eine Fotoausstellung umfasst, und die weitläufige Binnenhandlung, die vier Freundinnen behandelt, Keto, Dina, Nene und Ira, aber auch ihre Familien und einige Nebenfiguren. Das Personal wird kaum sukzessiv, sondern zum Großteil auf einmal eingeführt. Da liegt der Hase im Hinterhofpfeffer mariniert begraben: Hier ist der Verlauf der Geschichte erstmal vorhersehbar. N. H. strapaziert da ein wenig die Geduld ihrer Leser. Diese wird aber belohnt.
Nach einem Viertel beginnt dann schließlich die Seifenoper, die immer angedeutet wird.
Schlagworte: Enttäuschte Hoffnungen, gebrochene Herzen, unmögliche Liebe, neue Hoffnungen, Missbrauch, Gewalt.
In ihrer dick aufgetragenen Sprache führt die Autorin ihre Oper auf und lässt Keto sich obsessiv an alles erinnern, was Dinas Fotos in der Ausstellung in ihr anstoßen.
Die Szenen, die Keto nie erlebt hat und dennoch im Detail beschreibt, sind dabei wohl die unglaubwürdigsten, das kann nicht von der Hand gewiesen werden. Bedenkt man Ketos Obsession mit dieser Vergangenheit, fällt es aber nicht schwer, sich vorzustellen, dass sie über Jahre diese Leerstellen mit ihren Fantasien zu füllen versucht hat. Für Keto, die in Konflikten immer vermitteln wollte, ist die Fotoausstellung ein Exorzismus, eine Suche nach dem Dimmer, damit dieses Licht nicht mehr vor sich hin mangeln muss.
Haratischwilis Sprache ist sowohl Besonderheit als auch Schwäche ihrer Bücher. Die Vergleiche und Metaphern sind selten originell und manchmal sogar etwas schief. Gleichzeitig schafft sie einen Rausch, den man bei all den Kitschvorwürfen vielleicht gar nicht erwarten würde. Man muss ihr das einfach abnehmen. Hier ist nichts verdreht, N. H. ist einfach so, sie meint es ernst und ist mit voller Leidenschaft dabei.
Muss eigentlich noch erwähnt werden, dass die Beobachtungen, die aus den aufeinanderprallenden Figuren hervorgehen, oft einfach klug sind?
Wir sollten uns freuen, eine Erzählerin wie Nino Haratischwili lesen zu dürfen. Ich bin jetzt jedenfalls, wo ich auch ein zweites Buch liebte, offiziell ein Fan!
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Ich habe in den letzten Wochen ein paar kurzere Bücher gelesen, die es aber auf ihre Weise in sich hatten.
Sehr Blaue Augen, der Debütroman von Toni Morrison aus den 70ern, dreht sich um ein schwarzes Mädchen namens Pecola. Sie wünscht sich blaue Augen, denn sie möchte schön sein.
Man kann es sich vielleicht schon ahnen, aber es geht hier um Rassismus, ganz speziell um den, den die Afroamerikaner in den USA verinnerlicht haben, es geht um den Selbsthass einer ganzen Volksgruppe und wo er herkommt. Was treibt dieses Mädchen dazu, sich hässlich zu finden? Warum will sie unbedingt weniger schwarz sein und blaue Augen haben?
Um das zu zeigen, ist die kleine Pecola nur der Ariadnefaden: Morrison wählt einen multiperpektivischen Ansatz, aber so richtig, denn es gibt eine Ich-Erzählerin (eine Freundin Pecolas), aber auch einen allwissenden Erzähler, der sich um all die anderen Interaktionen und Figuren kümmert. So sind wir mal ganz nah dran an einem anderen Mädchen, das nicht immer nett zu Pecola ist. Wir gehen mal auf Distanz und bekommen die Lebensläufe von Nebenfiguren, und verstehen so, warum sie so furchtbar handeln. Manchmal bekommen wir einen Monolog einer Figur, die Pecola oder einer anderen Figur von sich erzählt. Die Abschnitte sind nicht unbedingt chronologisch angeordnet, sondern oft so, dass sie in der Fragestellung, die ich oben genannt habe, eine sinnige Reihenfolge ergeben.
Klingt zerfahren, ist es aber nicht, das ist das Geniale. Morrison hat das erzählerische Geflecht so gekonnt angeordnet, dass es eine feste Einheit ist. Und dabei zeigt sie verschiedenste Seiten, beispielsweise, wie der Rassismus auf Frauen einwirkt, auf Männer, wie auf gebildete Schwarze, die ganz die Rassenvorstellungen von weißen Philosophen aufgesogen haben, und so weiter.
Morrison zu lesen, war ein Volltreffer, wenn auch einer, der weh tut. Ich lese definitiv noch mehr von ihr, denn sie kann einfach Schreiben und Geschichten erzählen.
Dann war da noch Schlangen im Garten von Stefanie vor Schulte. Letztes Jahr hatte ich ihren Debütroman gelesen, 'Junge mit schwarzem Hahn', und ich habe ihn sehr geliebt. Dieses Mal ist es wieder ein Märchenroman, aber in modernen Zeiten.
Familie Mohn trauert um die verstorbene Mutter. Der Vater kündigt seinen Job und ist apathisch. Der älteste Sohn pausiert sein Studium und wird der Ersatzvater. Die beiden Schulkinder machen Probleme: der Junge versucht, sich das Leben zu nehmen, das Mädchen ist keine Vorzeigeschülerin mehr, sondern prügelt sich.
Das ganze geht so weit, dass sich irgendwann das Traueramt einschaltet (schön kafkaesk und sehr deutsch lol), um Familie Mohn wieder auf Kurs zu bringen. Doch Familie Mohn will nicht so drangsaliert werden, sondern weitertrauern.
In kurzen, sehr poetischen und immer verstandlichen Sätzen beschreibt vor Schulte diese surreale Fabel voller überdrehter Episoden. Die Außenseiter sind immer die Guten, alle anderen sind böse und feindseelig. Ein Märchen eben.
Das ganze wirkt oft etwas überzogen, was wohl Absicht ist, aber es donnert dann auch ohne Rücksicht in den Kitsch hinein. Trotzdem finde ich es, weil es so kompromisslos ist, wieder sehr sympathisch. Man spürt aber, dass dieses Buch nicht so rundum vollendet ist, wie ihr Debüt.
Ich bin auf weiteres von ihr gespannt.
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Abgeschlossen: Metropolis (englische Übersetzung, 1927) von Thea von Harbou
Die Welt im Jahr 2026 n. Chr.
Dieses Buch handelt weder von der Gegenwart noch von der Zukunft.
Es erzählt von keinem Ort.
Es dient keiner Sache, Partei oder Klasse.
Es hat eine Moral, die auf der Säule des Verstandes wächst: „Der Vermittler zwischen Gehirn und Muskel muss das Herz sein.“Die Romanvorlage für Fritz Langs gleichnamigen Monumental-Stummfilm. Seine Frau verfasste auch mit ihm das Drehbuch.
Wie im Film ist der Beantwortungsversuch der Sozialen Frage in religiöse und SciFi-Motive eingebettet, wobei der religiöse Unterton wie auch okkulte Anspielungen im Buch stärker zum Tragen kommen, u.a.: Maschinen werden als menschenfressende paganische Götter beschrieben, der Neue Turm von Babel (dessen Bau Obrigkeit und Arbeiter voneinander entfremdete, obwohl sie die gleiche Sprache sprechen), Freder als Erlöser/Mittler (oder eine verchristlichte Buddha-Figur), Maria als Madonnengestalt, der Maschinenmensch in ihrem Bild als Hure von Babylon, die auf dem siebenköpfigen Drachen der Apokalypse aus der Offenbarung des Johannes reitet, sinnbildlich für den späteren Untergang von Metropolis, und die Überflutung der unterirdischen Arbeiterstadt als biblische Sintflut.
Spoiler anzeigen
Aber anders als im Film ist es nicht der Erfinder Rotwang, der Metropolis aus Rache vernichten will, sondern Joh Fredersen, das "Gehirn von Metropolis", verdammt seine unmenschliche Stadt zur Vernichtung. Er will den Wiederaufbau in die Hände seines Sohns Freder legen.
Während das Ende des Films Freders Rolle als Mittler zwischen Obrigkeit und Arbeiter aufgreift, endet der Roman damit, dass der zuvor seelisch erkaltete Joh Fredersen sein Herz und somit seine Menschlichkeit wiederfindet. Zusammen mit Freder und Maria will er Metropolis wiederaufbauen.
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"Nur noch ein einziges Mal" (2016) von Colleen Hoover
Es handelt sich um ein Buch, in dem es um häusliche Gewalt geht. Ich bin darauf gestoßen, als ich hörte, dass Blake Lively und Justin Baldoni seit ca. fünf Jahren versuchen, dieses Buch zu verfilmen. Eines der Interviews mit Justin Baldoni hat mich sehr berührt, sodass ich mir dachte, dass ich Colleen Hoover mal wieder eine Chance geben sollte.
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Ich lese gerade The End of Drum-Time von Hannah Pylväinen, leider sehr langsam, durch meine dramatisch zusammengeschrumpfte Lesezeit. Das Buch war ein Geschenk (für den Blechtrommel-Typen - "End of Drum-Time", verstehste?!) und bisher gefällt es mir ganz gut.
Im nördlichen Finnland im 19. JHD leben die Samí und die Stadtbewohner und ein paar Schweden und es treffen Kulturen aufeinander: Die Samí mit ihren alten Lebenswegenswegen haben seit etwa 100 Jahren ihre Religion abgelegt (offiziell), doch nicht alle sind Christen. Nun stürmt am Tag eines Erdbebens der sturzbetrunkene Samí namens Bietar in die Kirche und fällt auf die Knie. Er schwört der Teufelspisse namens Vodka ab. Um den Pastor und den neuen Gläubigen Bietar, dessen Konversion als ein Wunder gilt, spielen sich Liebesgeschichten ab: Zwei der Pastorentöchter verlieben sich in zweifelhafte Männer. Für einen der Männer hat aber auch eine reiche Hirtentochter ihren Verlobten verlassen ... doch ihr Angebeteter scheint sie nicht zu wollen.
Klingt alles etwas wirr, und das ist es auch. Es sind etwa drei Familien hier im Spiel, zwischen denen sich die Liebenden aufteilen. Wo das hinführt, wird sich zeigen. Bisher lese ich es ganz gerne, gerade das Setting finde ich sehr überzeugend, die kulturellen Unterschiede, auch dass man durch die Linse von jemandem aus dem Süden schauen darf (ein Schwede) neben den anderen Einheimischen.
Etwas wirr ist manchmal auch der allwissende Erzähler. Der schwebt flüssig von einer Figur zur anderen, was meistens auch absolut passend ist und man einfach mitverfolgen kann. Wechsel zwischen Figuren passieren vielleicht zwei oder dreimal im Kapitel, öfter nicht. Aber manchmal sind die Absätze etwas merkwürdig gesetzt für meinen Geschmack. Statt dass die Absätze gesetzt sind, um Wechsel im Inhalt oder bei den Personen anzuzeigen, geht ein Absatz auch gerne mal von einem Thema zu einer anderen Figur zu einem anderen Ort ... nur warum? Da wirkt der Text dann etwas diffus - nicht anstrengend zu lesen, sondern eher ... unfokussiert.
Ich bleibe dran.
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Ich hab "alte, weiße Männer" von Sophie Passmann angefangen
Darin führt sie Interviews mit verschiedenen Männern und geht der Frage auf den Grund, was einen alten, weißen Mann zu einem alten, weißen Mann macht. Das erste Interview mit Sascha Lobo war für mich schon sehr bereichernd und aufschlussreich.
Freue mich auch auf Robert Habecks Interview XD -
Tender is the Flesh von Agusta Bazterrica
Zart ist das Fleisch und mündig ist der Leser. In dem dystopischen Roman Tender is the Flesh der argentinischen Autorin Agustina Bazterrica geht es um eine Gesellschaft, in welcher ein Virus alle Tiere befallen und ihr Fleisch kontaminiert hat. Was also tun, um den Proteinbedarf der Menschheit zu deckeln? Ganz einfach: Kannibalismus legalisieren!
Ich finde die Prämisse und wie Bazterrica sie umsetzt, sehr interessant – vor allem auch erzählerisch betrachtet. Im Folgenden möchte ich das näher ausführen und dabei zugleich auf einige Themen eingehen, die im Diversität in Geschichten-Thread berührt wurden. Speziell meine ich da etwa die Fragen, inwieweit das Weltbild des Autors in ein fiktionales Werk einfließen kann, ob das etwas über den Autor aussagt und ob der Autor eine Art ethisch-moralischen "Erziehungsauftrag" hat oder stattdessen auf die Mündigkeit des Lesers vertrauen kann.
Um es vorwegzunehmen: Ich maße mir nicht an, die Absicht eines Autors mit 100%iger Sicherheit zu kennen, sofern er sie nicht gerade in Interviews, Briefen oder sonst wo explizit zur Sprache gebracht hat. Auch ziehe ich eine klare Linie zwischen dem Autor, seiner Erzählstimme sowie seinen Charakteren und bin persönlich der Ansicht, dass Literatur mir nichts vorkauen muss, sondern ich auch so einigermaßen in der Lage bin, moralisch gute von moralisch verwerflichen Szenarien zu unterscheiden. Jetzt aber zu Tender is the Flesh ...
Wir folgen Marcos Tejo, der in einem Schlachthaus (für Menschen, versteht sich) arbeitet, um den Aufenthalt seines demenzkranken Vaters in einem der besten Pflegeheime der Stadt zu finanzieren. Marcos' Frau Cecilia lebt bei ihrer Mutter, seitdem Leo, der gemeinsame Sohn des Paares, am plötzlichen Kindstod gestorben ist. Dann wäre da noch Marcos' Schwester Marisa, aber zu ihr und ihren Kindern hat Marcos ein denkbar schlechtes Verhältnis. Im Grunde ist Marcos mit seiner Trauer um Leo also ziemlich allein in der Welt.
Gewählte Erzählperspektive ist die eines personalen Erzählers mit geringer narrativer Distanz zum PoV-Charakter. Solche Erzähler würde ich grundsätzlich als unzuverlässig einstufen, weil der Erzähler so gut wie identisch mit der Reflektorfigur/dem PoV-Charakter ist und insofern auch die (nicht zwangsläufig unproblematischen) Wertvorstellungen des PoV-Charakters ungefiltert an den Leser weitergibt. Das wird im weiteren Verlauf dieses Postings noch sehr wichtig.
Man muss sich bei Tender is the Flesh darauf einlassen, dass das Buch in erster Linie ein Gedankenexperiment auf knapp über 200 Seiten ist. So ist denn auch der Plot aufgebaut: Wir begleiten Marcos Tejo bei seiner Arbeit und erfahren in dem Zuge etwas über die Zustände in der Welt. Ein dominantes Thema ist dabei die Verschleierung von unangenehmen Sachverhalten durch Sprache. Die Legalisierung von Kannibalismus ist als the transition bekannt, Menschenfleisch wird als special meat vermarktet, die Bezeichnungen der Schnittarten werden von Rinder- und Schweinefleisch übernommen – alles, um möglichst so zu tun, als würde nicht passieren, was da eben passiert. Marcos jedenfalls durchschaut die Taktik.
Wir erfahren, dass "Nutzmenschen" oder heads, wie sie im Buch genannt werden, gezüchtet werden. Ihre Stimmbänder werden entfernt, damit man sie in den Schlachthäusern nicht schreien hört. Die "Weibchen" werden künstlich befruchtet und ihnen werden Arme und Beine amputiert, da man schnell festgestellt hat, dass sie versuchen, sich und ihren (ungeborenen) Kindern Schaden zuzufügen, um Fehlgeburten herbeizuführen. Für teures Geld werden die besten und kräftigsten heads verschachert und von reichen Jägern erworben, die die heads dann in einem Reservat erlegen. Besonders beliebt sind starke "Männchen" oder schwangere "Weibchen" – letztere sind nämlich schön aggressiv und nicht so unterwürfig wie nicht-schwangere Exemplare.
Marcos' Boss will im Winter in den Ledermarkt einsteigen. Schwarzes Leder ist besonders gefragt, also muss eine Lieferung von heads aus Afrika klargemacht werden. Marcos agiert dabei als Mittelsmann, der die heads kauft und die aus ihnen gewonnenen Produkte wieder verkauft. Eines schönen Tages bekommt Marcos vom Zuchthaus ein FGP (First Generation Pure) "Weibchen" geschenkt – ein "Weibchen" also, das im Zuchthaus geboren und aufgewachsen ist.
In der Gesellschaft, die Bazterrica entwirft, ist es völlig legal, sich als Privatperson "Nutzmenschen" zu halten und sie aufzuziehen – aber nur zum Zwecke des Verzehrs. Sich mit heads zu paaren bzw. sie zu vergewaltigen, ist illegal. Sie als Sklaven zu halten, ist illegal. Verstößt man gegen diese Gesetze, landet man selbst im Schlachthaus.
Marcos stellt fest, dass er Jasmine, so tauft er das FGP-"Weibchen", nicht einfach schlachten kann. Irgendetwas an ihr ist anders, sodass er als Privatperson jene Skrupel hegt, die er auf der Arbeit fallen lässt. Zunächst bringt er Jasmine in seinem Schuppen unter. Nach und nach aber behandelt er sie wie einen Menschen – so zumindest der Klappentext. Aber ist das wirklich so?
Und hier setze ich mal einen Spoiler, weil ich im Detail auf die Handlung und das Ende eingehen werde, um die anfangs formulierten Fragen zu beantworten.Spoiler anzeigen
Er wäscht Jasmine, gibt ihr Decken, Kleidung und richtiges Essen, nicht die Futtermischung, die "Nutzmenschen" sonst bekommen. Bis zu diesem Zeitpunkt ist Marcos unsere vermeintlich (!) moralische Säule in einer unmoralischen Welt. Mein Eindruck war allerdings, dass Marcos Jasmine zwar menschlicher behandelt als andere heads, aber auf eine Weise, wie man vielleicht mit einem Haustier umgehen würde. Als "richtigen" Menschen sieht er Jasmine meiner Meinung nach nicht an. Bestätigt hat sich dieser Eindruck, als Marcos Jasmine mal eben vergewaltigt. Sie wird schwanger.
Indem er seine Beziehungen in der Fleischindustrie spielen lässt, schafft es Marcos, um eine Inspektion herumzukommen, die aufdecken würde, dass er gegen das Gesetz verstoßen hat. Nachts fesselt er Jasmine ans Bett, damit sie nicht im Haus herumstromert und sich vielleicht verletzt. Tagsüber ist sie in einem eigenen Zimmer untergebracht, aus dem so gut wie alles entfernt wurde, dass irgendwie gefährlich sein könnte. Alles nur zu Jasmines Sicherheit und der des ungeborenen Kindes, versteht sich.
Mit Hilfe seiner Frau Cecilia, die als Krankenschwester arbeitet, wird die Geburt des Kindes erfolgreich abgewickelt. Danach tötet Marcos Jasmine, sehr zur Empörung von Cecilia, die nach dem Grund fragt und einwendet, Jasmine hätte ihnen beiden doch noch weitere Kinder schenken können. (Hier ist vielleicht vom Kontext her wichtig zu wissen, dass es für Cecilia enorm schwierig war, überhaupt mit Leo, dem verstorbenen Sohn der beiden, schwanger zu werden.)
Marcos' Antwort und zugleich der letzte Satz des Buches lautet: “She [Jasmine] had the human look of a domesticated animal.”Ich habe mir nach der Lektüre einige Rezensionen angeschaut. Bei den negativen Rezensionen gab es Punkte, die immer wieder ins Feld geführt wurden. Einer davon war, Bazterrica hätte offenbar nicht gewusst, wie sie das Ende gestalten soll, da es so abrupt gekommen sei und keinen Sinn mache. Immerhin habe Marcos doch den Menschen in Jasmine gesehen – warum sollte er sie dann umbringen?! Dem würde ich nicht zustimmen. Wenn man einmal erkannt hat, dass man sich beim Lesen im Grunde nur aus purer Verzweiflung an Marcos klammert, weil man eine viszerale Abneigung gegen das Beschriebene hegt und er oberflächlich nicht ganz so übel zu sein scheint wie manche andere Charaktere, dann ist das Ende eine logische Fortführung dessen, was sich schon lange angebahnt hat. Im Kontext der von Bazterrica entworfenen Welt und im Vergleich mit anderen Figuren behandelt Marcos Jasmine besser als für heads üblich – gemessen an unserer realen Welt aber behandelt er sie wie ein Haustier. Wobei ich unterstellen würde, dass die meisten Leute sich nicht sexuell an ihren Haustieren vergreifen, also rangiert Jasmine tatsächlich wohl noch unter einem Haustier. Sie ist ein Mittel zum Zweck, eine Gebärmaschine, um Marcos einen weiteren Sohn zu schenken, vielleicht als eine sehr verquere Form der Trauerbewältigung nach Leos Tod. Danach ist Jasmine nicht mehr von Nutzen und wird entsorgt.
Anders formuliert: Das Ende erscheint in dem Moment unbefriedigend zu sein, da die Leser Marcos vermeintlich (!) moralisches Verhalten in einer unmoralischen Welt überbewerten, nur, weil er der Protagonist ist. Die Prämisse des Buches ist eine Normalisierung von Kannibalismus. Marcos steckt mitten in diesem System drin – er arbeitet für das System, in einem Schlachthaus!
Kritisiert wurde zudem, Bazterrica habe einen wichtigen Bildungsmoment verpasst, indem sie das Thema Verschwörungstheorien nicht problematisiere. Wir erfahren, dass Marcos mehrere solcher Verschwörungstheorien glaubt:
1) Das Virus, das die Tiere befallen und ihr Fleisch kontaminiert hat, sei ein hoax.
2) Die Legalisierung von Kannibalismus diene nur dazu, das Problem der Überbevölkerung in den Griff zu bekommen.
3) Die Wissenschaft/Experten/Universitäten würden fälschlicherweise behaupten, der Mensch könne seinen Proteinbedarf nicht über vegane Nahrung deckeln.
4) Die Medien würden mit drinstecken und die Bevölkerung manipulieren.
(Spaßfakt: Ich war der festen Überzeugung, Bazterrica würde auf die Coronazeit anspielen. Das Buch ist allerdings schon 2017 erschienen und wurde 2020 ins Englische übersetzt.)
Angeblich erfahren wir in dem Buch nicht, ob diese Verschwörungstheorien wahr sind oder nicht. Nach Ansicht so einiger Rezensenten ist das nun also ganz schlimm, da Bazterrica auf diese Weise gefährliche Narrative fördere. Interessanterweise bemerkt keiner dieser Rezensenten, dass Marcos zum Ende des Buches hin einen Husten mit ungeklärter Ursache entwickelt, nachdem er in einem verlassenen Zoo Kontakt mit ein paar überlebenden Hundewelpen hatte. Genausowenig bemerken sie, dass Marcos mit Fortschreiten der Handlung immer aggressiver wird und dass dasselbe plötzlich (!) für scavengers (= menschenfleischsüchtige Leute, die vor den Schlachthäusern herumlungern und auf Abfälle warten) gilt, die sich ungeschützt draußen bewegen und durch Vogelkot oder Ähnliches in Kontakt mit dem Virus kommen könnten ... Will sagen: Für mich sind durchaus Hinweise da, die den Eindruck stärken, dass Marcos Unrecht hat. Wer suchet, der findet.
Das Buch ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf 1.000 verschiedene Arten offensive. Warum schreibt Bazterrica so etwas? Und warum finde ich das interessant? Über Bazterricas Motivation kann ich nur spekulieren, aber was mich selbst angeht: Nein, ich bin nicht kannibalistisch veranlagt, will Menschen nicht in Zucht- oder Schlachthäusern sehen, finde Vergewaltigungen abstoßend und habe kein Bedürfnis, Gürtel aus der Haut von persons of color zu tragen. Ich vermute, dass es Bazterrica ähnlich geht.
Bazterrica überlässt es mit der Wahl eines personalen Erzählers von geringer narrativer Distanz dem Leser, sich eigene Urteile zu bilden. Da ist keine auktoriale Erzählinstanz, die uns sagt: "Das hier ist ethisch-moralisch sehr bedenklich!" Zu dem Schluss darf man bei Tender is the Flesh noch selbst kommen. Und dafür bin ich sehr dankbar. Mir wird die Möglichkeit gewährt, nach der Lektüre eigenständig über Themen wie Massentierhaltung und Kapitalismus nachzudenken, ohne dass eine Erzählinstanz mich in diese Richtung schubst. Zudem erhalte ich einen Einblick in die Psyche eines (trauernden) Menschen, der Teil eines Systems ist, in dem Menschen nur noch Fleisch sind – eine Ware, die es zu kaufen und verkaufen gilt. Das heißt nicht, dass diese Ansichten nun irgendwie auf mich überspringen. Ganz im Gegenteil: Ich kann mich problematisierend damit auseinandersetzen, mich an Marcos als Charakter reiben, mich fragen, was "Menschlichkeit" eigentlich bedeutet.
Prodesse et delectare – 'nützen und erfreuen'. Das ist ein Wahlspruch der Literatur. Er geht zurück auf Horaz' Ars Poetica, in welcher Horaz erklärt, Dichter wollen in ihren Werken entweder nützen (im Sinne von: belehren) oder unterhalten oder aber beides. Ich fände es schade, wenn Literatur nur noch explizit (!) belehrend wäre, wenn dem Leser an jeder Ecke um die Ohren gehauen wird, wie er was zu verstehen hat, damit auch ja kein Zweifel daran aufkommt, dass innerliterarisch unmoralische Sachverhalte auch wirklich unmoralisch sind.
Und für mich sind es gerade provokante Themen, die mich zum Nachdenken anregen. Tender is the Flesh hat das auf jeden Fall erreicht. -
Ich lese gerade The End of Drum-Time von Hannah Pylväinen, leider sehr langsam, durch meine dramatisch zusammengeschrumpfte Lesezeit. Das Buch war ein Geschenk (für den Blechtrommel-Typen - "End of Drum-Time", verstehste?!) und bisher gefällt es mir ganz gut.
Im nördlichen Finnland im 19. JHD leben die Samí und die Stadtbewohner und ein paar Schweden und es treffen Kulturen aufeinander: Die Samí mit ihren alten Lebenswegenswegen haben seit etwa 100 Jahren ihre Religion abgelegt (offiziell), doch nicht alle sind Christen. Nun stürmt am Tag eines Erdbebens der sturzbetrunkene Samí namens Bietar in die Kirche und fällt auf die Knie. Er schwört der Teufelspisse namens Vodka ab. Um den Pastor und den neuen Gläubigen Bietar, dessen Konversion als ein Wunder gilt, spielen sich Liebesgeschichten ab: Zwei der Pastorentöchter verlieben sich in zweifelhafte Männer. Für einen der Männer hat aber auch eine reiche Hirtentochter ihren Verlobten verlassen ... doch ihr Angebeteter scheint sie nicht zu wollen.
Klingt alles etwas wirr, und das ist es auch. Es sind etwa drei Familien hier im Spiel, zwischen denen sich die Liebenden aufteilen. Wo das hinführt, wird sich zeigen. Bisher lese ich es ganz gerne, gerade das Setting finde ich sehr überzeugend, die kulturellen Unterschiede, auch dass man durch die Linse von jemandem aus dem Süden schauen darf (ein Schwede) neben den anderen Einheimischen.
Etwas wirr ist manchmal auch der allwissende Erzähler. Der schwebt flüssig von einer Figur zur anderen, was meistens auch absolut passend ist und man einfach mitverfolgen kann. Wechsel zwischen Figuren passieren vielleicht zwei oder dreimal im Kapitel, öfter nicht. Aber manchmal sind die Absätze etwas merkwürdig gesetzt für meinen Geschmack. Statt dass die Absätze gesetzt sind, um Wechsel im Inhalt oder bei den Personen anzuzeigen, geht ein Absatz auch gerne mal von einem Thema zu einer anderen Figur zu einem anderen Ort ... nur warum? Da wirkt der Text dann etwas diffus - nicht anstrengend zu lesen, sondern eher ... unfokussiert.
Ich bleibe dran.
Eieiei ... Ich habe The End of Drum-Time fertig und poste einfach mal, was ich auf Goodreads dazu geschrieben habe. Spoiler: Ich habe damit ein bisschen ein Hühnchen zu rupfen.
Irgendwo zwischen 6 bis 7 von 10 Punkten.
Pylväinen hat in diesem Buch zwei massive Stärken versammelt, die mich an den Seiten haben kleben lassen:
1) Das Setting. Lappland, diese Region, die sich über das heutige Norwegen, Schweden, Finnland und Russland erstreckt und in der die Sami (von den erobernden Schweden "Lappen" genannt) von Grenzen unabhängig leben. Schnee, Eis und Rentiere, wohin das geistige Auge reicht.
2) Die Nähe zu den Figuren. Wir dürfen an intimen Gedankengängen teilhaben, an den Gedanken von charakterschwachen Personen, von Sami, Schweden, Pastoren, Eltern, Kindern und alle haben ihre nachvollziehbare, eigene Logik. [Ergänzung: Ich habe es auf GR nicht erwähnt, aber die Qualität der Charakterisierungen haben mich an A Song of Ice and Fire erinnert, auch wenn die Figuren gerade zum Ende nicht nich völlig nachvollziehbar gehandelt haben. Meistens hat das gesessen. Aber für Leser von Literary Fiction auf GR wäre ein Vergleich mit einem Fantasy-Epos vielleicht zu exotisch.]Dieser historische Roman, der im 19. Jahrhundert spielt, nutzt die reale Figur von Lars Levi Læstadius und seine wachsende Anhängerschaft als Aufhänger. Zu den Protagonisten gehören seine Tochter Willa und der junge Ivvar, Sohn eines Rentierhirten, der sich durch Læstadius dem Christentum zuwendet. Die beiden Kinder verlieben sich und diese Liebesbeziehung bestimmt die Handlung maßgeblich.
Da kommen wir wohl auch schon zu Schwächen, denn der Plot, also diese Handlung, ist alles andere als sorgfältig ausgearbeitet. Zwar spitzt sich das Drama zwischen Willa und ihrer Familie, zwischen Kirche und Sami immer mehr zu, doch die Handlung kriecht lange vor sich hin, bevor sie wirklich in Fahrt kommt, und - was wahrscheinlich schlimmer ist - am Ende stoppt sie einfach. Trotz Spannungshöhepunkt gelingt kein befriedigendes Ende, das die Handlung abzurunden weiß. Man könnte zur Rechtfertigung anmerken, dass Willa sich entscheidet, wo und wie sie leben will, aber das ist nach all diesen Seiten nicht genug, um die losen Enden zusammenzubinden.
Ähnlich chaotisch ist oft der Schreibstil an sich, der zwar flüssig gleitet, die Sätze aber auch überladen kann. Dabei stellt sich kein Gefühl von barocker Sprachpracht ein, aber auch nicht die Wohlgeformtheit von Sätzen, in denen jedes Wort unentbehrlich ist. Eine Prosa zwischen den Stühlen.
Ähnlich unentschlossen wirkt der allwissende Erzähler, der manchmal scheinbar grundlos von einer Figur zur anderen wechselt, manchmal über Orts- oder Themenwechsel, und diese Bewegungen nicht über Absätze anzeigt, wie sonst üblich. Wenn ein Kapitel mit einer Figur beginnt, nach einer Seite zu einer anderen wechselt und die erste Figur im Kapitel nicht wieder relevant wird, ist das ohne thematischen Zusammenhang auch problematisch. Das Ergebnis wirkt unfokussiert.
Ist das das fehlende oder mangelhafte Lektorat, über das oft geunkt wird? Ist das ein echtes Problem oder eher ein gefühltes? Ich weiß es nicht, aber langsam fange ich an, auch daran zu glauben. -
Altered Carbon von Richard Morgan
Die Praemisse des Geschichte ist, dass sich der menschliche Geist auf Chip digital abspeichern, in Simulation laufen und auf einen anderen Koerper uebertragen laesst. Nachdem jeder Mensch einen Sicherheits-Chip bekommt, verlieren viele Todesfaelle ihre Bedeutung - so lange der Chip ueberlebt, kann der Mensch in einem neuen Koerper weitermachen. Reiche Leute koennen sich auch remote-backups ihrer Chips leisten - und so den Totalverlust von Koerper und Chip ueberstehen.
Natuerlich laed das alles zu Missbrauch ein - man kann jetzt z.B. einen Verdaechtigen einfach zu Tode foltern, in einen geklonten Koerper tun und die Sache wiederholen. Oder es einfach in Simulation machen.
Interstellar ist es wesentlich einfacher, Information mit Ueberlichtgeschwindigkeit zu uebertragen als Materie mit Lichtgeschwindigkeit - nachdem die Kolonien der Erde also einmal aufgebaut sind, reisen Menschen nur digital dort hin. Und um Ordnung zu schaffen, hat man eine Eingreiftruppe trainiert - die Envoys - die befaehigt sind moeglichst schnell mit jedem Koerper den sie am Ziel bekommen und mit den Mitteln die sie da haben ihren Auftrag zu erfuellen.
Takeshi Kovacs ist ein Ex-Envoy der - wie viele andere auch - kriminell geworden ist. Statt seine Strafe digital abzusitzen findet er sich aber auf einmal auf der Erde wieder - mit einem Angebot das schwer abzulehnen ist. Er soll den Mord an dem superreichen Laurens Bancroft aufklaeren - den die Polizei fuer Selbstmord haelt.
Bancroft ist natuerlich - dank remote backup - auch nach dem Verluse seines Chips nicht tot und hat nur gut 48 Stunden Erinnerungen verloren - und argumentiert dass er sich nicht umgebracht haette weil er gewusst haette dass es - wie man sieht - voellig zwecklos waere. Trotzdem ist er mit einer auf ihn DNA-codierten Waffe erschossen worden die in einem Tresor den nur er und seine Frau oeffnen koennen war - inmitten einer mit hochgeruesteten Sicherheitssystemen ausgestatteten Villa. Und warum scheint die halbe Welt hinter Takeshi Kovacs her zu sein - der jetzt in einem Koerper steckt der vorher dem korrupten Polizisten Elias Ryder gehoert hat?
Coole Ideen fuer die Welt die interessante Fragen aufwerfen, ein mysterioeser Plot der immer wieder fuer neue Ueberraschungen gut ist, ueberzeugend vorgebrachte Action und einen interessanten Protagonisten mit einer Vorgeschichte. Was will man eigentlich mehr? (Man weiss es wenn man Band 3 'Woken Furies' gelesen hat - der ist nochmal um einiges besser...)
Also - sehr lesenswert, kann ich uneingeschraenkt empfehlen, wer SciFi mit heftiger Action mag kommt hier auf seine Kosten.
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Ich fange gerade noch einmal Riverworld - deutsch Flusswelt der Zeit - von Phillip Jose Farmer an.
Der Roman bietet den stärksten Beginn, den ich je gesehen habe.
Alle Menschen, die je gelebt haben, finden sich - subjektiv - unmittelbar nach ihrem Tod in einem Flusstal wieder. Alle sind unbekleidet, dreißig Jahre alt -oder jünger, wenn sie jünger starben.
Während sie noch ihr Sterbeerlebnis verarbeiten, weicht die Dämmerung, und die Sonne steigt langsam am Horizont auf. Sie glauben, dass dies das Anlitz Gottes wäre und der Beginn des Jüngsten Gerichts. Kollektiv brechen sie in ein lautes Klagegeheul aus.
Wirklich eindrucksvoll.
Aber wie das mit brillanten Anfängen so ist - das Niveau kann auf Dauer nicht gehalten werden.
Trotzdem geht es erst einmal interessant weiter. Die Hauptpersonen sind unter anderem Mark Twain, der Orientreisende Richard Francis Burton, eine Frau, die das Vorbild für Alice im Wunderland darstellte, und Hermann Göring.
Der Fluss zieht sich über 20 000 Kilometer hin, von Pol zu Pol. Einige der Charaktere beschliessen, ein Schiff zu bauen und nach den Erbauern dieser Welt zu suchen. Es handelt sich um Aliens, die mittels eines "Chronoskops", mit dem man in die Vergangenheit sehen kann, alle Menschen scannten und wieder erschufen.
Auf die Dauer wirkt das leider ermüdend, wobei Farmer offenbar keine Ahnung hatte, wie er aus der Geschichte heraus kommen sollte. Das Ganze endet ziemlich wirr. Ich zumindest habe nicht mehr durchgeblickt.
Aber das Szenario ist doch sehr schön. Zumindest der erste Band lohnt sich.
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Broken Angels von Richard Morgan
Der Nachfolger von 'Altered Carbon' - Takeshi Kovacs kaempft mit einer Soeldnereinheit auf Sanction IV fuer die Corporations gegen Rebellen als ihm ein Verwundeter einen Pakt vorschlaegt - der Mann kennt eine Ausgrabungsstaette von Alien-Supertechnologie wo ein Hypertor zu einem Raumschiff im Orbit fuehrt - obwohl immer wieder Alien-Technologie gefunden wird, hat so eine Entdeckung noch niemand gemacht. Das Problem - es herrscht Krieg, an der Fundstelle wird gekaempft - ein Elite-Team muss heimlich hin, ein Partner der das Unternehmen finanziert muss gefunden werden und die Archaeologin die das Tor in Betrieb nehmen kann aus dem Internierungslager geholt werden in dem sie verschwunden ist.
Als ein Atomschlag eine Stadt an der Fundstelle ausloescht ergibt sich die Gelegenheit fuer das Team loszulegen - sie sterben alle langsam an der Strahlenkrankheit, aber wen juckt das in einer Welt in der man einfach in einen neuen Koerper transferieren kann? Aber als sie dort das Tor sichern, stellt sich heraus - jemand hat experimentelle und sehr agressive Nanotechnologie dort eingesetzt, die jede Kalkulation gruendlich ueber den Haufen wirft.
Mit Anklaengen von Voodoo und einem ueber weite Strecken eher nihilistischen Plot vermisse ich bei diesem Band den Vorwaertsdrang im Plot den 'Altered Carbon' hatte - waehrend da immer wieder ein neues Geheimnis aufgedeckt wurde und ein Raestel geloest werden musste, hat 'Broken Angels' schon Laengen - dem Team 100 Seiten beim langsam Sterben zu folgen ist halt nicht ganz so spannend wie eine klassische Detektivgeschichte.
Trotzdem aber voll von Ideen und interessanten Konzepten - und steigert sich gegen Ende auch wieder zu sehr spannend. Also - solide Unterhaltung, aber nicht so brilliant wie die etwas ueber-enthusiastischen Texte auf dem Cover versprechen.
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Falls auch Sachbücher unter die Kategorie "Non Fantasy" fallen, würde ich gerne auf das Buch "Zeit der Finsternis" von Shashi Tharoor hinweisen. In diesem Werk, das in Indien ein Bestseller war, wird erstmals die britische Herrschaft über den Subkontinent aus der Sicht der Kolonisierten geschildert.
Das Land wurde rücksichtslos ausgeplündert, in viel schlimmerer Weise, als die Briten es bislang dargestellt haben. Besonders verheerend wirkten sich die künstlich herbeigeführten Hungersnöte aus. Die Bauern wurden gezwungen, auf weiten Flächen nicht mehr Nahrungsmittel, sondern sogenannte "cash crops" anzubauen. Luxusprodukte für den Export wie Tee, Indigo und natürlich Opium, das dann den Chinesen aufgezwungen wurde. Dadurch reduzierten sich die Erträge, was in schlechten Erntejahren Millionen Menschen das Leben kostete.
Manches war eben doch nicht so nett wie in offiziellen Hochglanzversionen.
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Heyho.
Lawrence Beesley - Titanic (Hansaverlag)
Lawrence Beesley war "live" dabei, als die Titanic unterging. Sowohl als Passagier an Bord als auch einer derjenigen, die Platz in einem der Rettungsbooten fanden. Sein Stil ist nüchtern, realistisch und trotzdem sehr emphatisch. Beesleys Beschreibung der Nacht des Untergangs, den er nach seinem Bericht in fast völliger Stille miterlebt hat, in eiskalter Luft und mit sternenübersätem Himmel...das ist fast schon poetisch.
Zusätzlich habe ich viel Neues erfahren über das Schiff "Titanic", was ich vorher nicht wußte - zum Beispiel, daß der vierte Schornstein eigentlich ein Fake war. Oder das - aber ich greife vor. Das Buch ist spannend und anrührend.
Beesley war damals dabei. Wer seinen Bericht liest, sitzt mit im Rettungsboot. Empfehlenswert.
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Guter Tipp. Habe ich mir gleich online bestellt, als antiquarisches Taschenbuch für kleines Geld. Bin mal gespannt.
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Heyho 20thcenturyman
Dann sag mal später Bescheid, ob Dein Eindruck beim lesen ähnlich wei meiner war...
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Woken Furies von Richard Morgan
Der Nachfolger von Broken Angels und definitiv der Hoehepunkt der Trilogie. Takeshi Kovacs ist zurueck auf Harlan's World, seiner Heimatwelt - und er ist ernuechtert. Die Freundin die er gehofft hat wiederzutreffen ist einem neu aufflammenden Glauben zum Opfer gefallen. Der Planet wird von der Familie Harlan als quasi-Koenigreich ausgebeutet, was die Harlans nicht an sich nehmen verleibt sich die Yakuza ein, und das was die Rebellion von Quellcrist Falconer vor 300 Jahren erkaempft hat wird systematisch von der Regierung zurueckgedreht.
Kovacs startet eine Privatvendetta gegen die Priesterschaft der New Relevation, muss aber weil das Territorium zu heiss wird und ein Deal fuer einen neuen Koerper platzt nach New Hokkaido wo er sich einer Crew anschliesst die dort ehemalige intelligente Kriegsmaschinen die das Land unbewohnbar machen eliminiert. Aber die Anfuehrerin der Crew - Sylvie Oshima - scheint eine zweite Persoenlichkeit zu haben - unter grossem emotionalem Stress redet sie manchmal von sich als Nadia Makita - dem Jugendnamen von Quellcrist Falconer. Nur - die Rebellin ist seit 300 Jahren tot und von einer ausserirdischen Orbitalstation abgeschossen worden - einer Station von vielen die jeden Flug auf dem Planeten unterbinden - und nie wurde ein Backup von Quell gemacht...
Nur ist eine wiederkehrende Rebellin nicht sein einziges Problem - jemand hat ein fruehes Backup von Kovacs - und jetzt jagt dieser jugendliche Kovacs den alten...
Spannend nicht nur wegen der Themen der Identitaet des Geist vs. Koerper die schon in den Baenden vorher angerissen waren, sondern auch weil mit Harlan's World mal ein anderer Planet recht detailliert dargestellt wird, weil die Story regelmaessig mit Ueberraschungen aufwarten kann und viele der Charaktere herrlich moralisch fragwuerdige Typen sind die trotzdem toll gezeichnet sind. Ein Beispiel dafuer wie SciFi sein kann wenn sich jemand richtig Muehe gibt, seine Welt durchdenkt und interessante Fragen beackert - und trotzdem Action und Spannung schreiben kann.
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Ich habe es jetzt geschafft, dem Rat des Wanderers zu folgen und das Buch von Lawrence Beesley über den Untergang der Titanic zu lesen. Das hat sich wirklich gelohnt. Ein ebenso sachliches wie bewegendes Werk, verfasst von einem Passagier, der die Katastrophe überlebte. Man taucht förmlich ein in diese vergangene Welt, die in erstaunlichem Detailreichtum geschildert wird. Neben vielen kleinen Geschichten, die er miterlebte und beobachtete, bringt er auch eine nüchterne Analyse der Geschehnisse, macht auf Defizite aufmerksam und äußert Verbesserungsvorschläge, um künftige Unglücke zu vermeiden.
Sehr interessant auch das Vorwort, in welchem er schildert, wie er überhaupt dazu kam, das Buch zu schreiben. Fünf Wochen nach der Ankunft der Überlebenden in New York wurde er von Ehrwürden Samuel J. Elder und Ehrwürden Charles T Gallagher, Rechtsanwälten aus Boston, zu einem Mittagessen eingeladen. Man bat ihn, seine Erlebnisse zu schildern, worauf der Herausgeber des Boston Herald ihn drängte, im öffentlichen Interesse die wahre Geschichte in Buchform zu veröffentlichen.
Grund: Fake News. Gab es damals schon. Eine Menge Scharlatane, die gar nicht dabei gewesen waren, warfen aus Zeitungsberichten und der eigenen Phantasie zusammengebastelte Veröffentlichungen auf den Markt.
Wie ich anderswo gelesen habe, gab es auch falsche Überlebende, die hinter Entschädigungen und Ruhm hinterherjagten, wie dann auch fast hundert Jahre später nach dem 11. September.
Obwohl sich das alles sehr plausibel anhört, was Beesley schreibt, bleibt natürlich die Frage, ob man ihm rundherum trauen kann. Leute aus der damaligen Elite wollten die öffentliche Meinung beruhigen. Kann es sein, dass da Einiges unter den Tisch fiel?
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Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil
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