- Offizieller Beitrag
Gyahara hatte sich ebenfalls vom Schiff verdrückt. Sie wollte sich die Beine vertreten. Obwohl, dass nicht so ganz stimmte. Ihr eigentlicher Gedanke war es, nicht mehr auf das Schiff zurückzukehren. Wahrscheinlich würde sie sich die nächsten Tage noch etwas in diesem kleinen Dorf aufhalten, dessen Name sie schon wieder vergessen hatte. Irgendwas mit L. Dann würde sie sehen, wie es weiterging.
Am Rand der winzigen Stadt, auf einem kleinen Hügel blieb sie stehen. Sie sah auf ein riesiges weites Feld. Getreide und andere Gräser so weit das Auge reichte - und das war in ihrem Fall nicht weit.
Sie ließ sich am Rand des Ackers sinken und blickte zum Hafen zurück. Von ihrer Position aus, konnte sie sogar die verschwommenen Umrisse ihres Schiffes erkennen, ansonsten war da nur die endlose Weite des Meeres. Es fühlte sich komisch an, diese Leute hinter sich zu lassen. Zwar kam ihr nicht in den Sinn, einen als wirklichen Freund zu bezeichnen, aber in den wenigen Tagen hatte sie sich an ihre Anwesenheit gewöhnt. Und seltsamerweise hatte bisher auch niemand etwas zu ihrem Äußeren gesagt. Nicht einmal die Elfe.
Gyahara fuhr mit den Händen durch das Gras und augenblicklich welkten die Halme vor sich hin. Erschrocken zog sie ihre Hand zurück und betrachtete die nun graubraunen Pflanzen. Dass sie ihre Kräfte nicht unter Kontrolle hatte, zeigte, wie aufgewühlt sie war.
Eine fette Krähe landete neben ihr und blickte sie mit schiefem Kopf an. Sasch war ihr also sogar bis hier her gefolgt. Wo hatte das Federvieh bisher nur gesteckt?
"Was soll ich nur machen?", fragte sie den Vogel. Dass sie eine Antwort bekam war wohl eher ausgeschlossen, aber dennoch schien sie die Frage zu befreien. Der Vogel sah noch ein Weile an, dann hüpfte er auf der Wiese herum und schien irgendwas zu suchen. Gyahara schüttelte den Kopf ob des dummes Tieres und lehnte sich zurück.
Für das Verlassen des Schiffes sprach, dass sie sich mit der Natur in ihrer Umgebung und festem Boden unter den Füßen, viel besser fühlte und sie konnte hier wieder untertauchen. Andererseits .... sie hatte bei diesen Leuten vielleicht das erste Mal die Chance, wirklich dazuzugehören. Man hatte sie nicht verjagt oder beschimpft, sondern einfach in Ruhe gelassen. Das war doch gut, oder? Davon einmal abgesehen, schien in ihrer kleinen Gruppe jeder ein mehr oder weniger dunkles Geheimnis zu haben und wenn sie bei diesen Menschen keinen Anschluss fand, dann wohl nirgends.
Also zurückgehen?, überlegte sie.
Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ließ sich ins Gras fallen. Schläfrig beobachtete sie den Himmel und die vorüberziehenden Wolken. Ab und an schwebte eine Möwe über sie hinweg, krächzte und verschwand dann wieder. Wenn sie ehrlich war, dann hatte sie noch nie so viel Spaß gehabt, wie in den letzten Tagen. Den Überfall der Piraten einmal außen vor gelassen.
Sie lag dort noch einige Stunden und grübelte nach, ehe sie sich erhob. Sie hatte sich entschieden. Solang man sie nicht davonjagte, würde sie bei den Leuten bleiben. Etwas von der Welt sehen und sich dann irgendwo niederlassen, wo es ihr gefiel. Und dieser Ort war ganz sicher nicht hier. Dafür war man in einem Dorf Fremden noch weniger aufgeschlossen, als in einer Stadt.
Wieder auf dem Schiff, kam ihr sofort ein breit grinsender Casper entgegen gelaufen. Irgendetwas war anders an ihm, und Gyahara brauchte etwas, um die Ursache zu erkennen. Mal davon abgesehen, dass er seinen Bart wieder etwas zurechtgestutzt hatte, trug er nun auch, anstatt seiner Henkerkleidung ein weißes Hemd. Wenn sie ehrlich war, passte es viel besser zu seiner fröhlich Art, als das trostlose Schwarz.
Ihr Blick fiel auf seine Hände, die er ihr entgegenhielt. Dort lag ein dunkelblaues Bündel, was sie nicht deuten konnte.
"Da bist du ja", meinte er. "Ich habe dir etwas mitgebracht." Er grinste breit, als die Dämonin ihm das Bündel abnahm. Neugierig entfaltete sie es und keine Minute später, hatte sie einen langen Mantel in den Händen. Staunend betrachtete sie sie das Kleidungsstück.
"Für mich?", vergewisserte sie sich noch einmal. Eine dumme Frage, denn er hatte es ihr überreicht und keinem anderen.
"Ja", der Henker schien verunsichert zu sein, denn er trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. "Ich dachte, weil doch dein alter kaputt gegangen ist."
Gyahara fühlte sich geschmeichelt. Sie hatte noch nie von jemandem ein Geschenk bekommen. Zwar war Blau nicht unbedingt ihre bevorzugte Farbe, aber das würde sie dem Henker sicher nicht sagen. Zu überwältigt war sie von der Geste. Vielleicht war es doch eine gute Idee gewesen, weiter mit den anderen zu reisen.
"Danke", meinte sie und lächelte. Dabei hoffte sie, dass ihr das Lächeln auch gelang und so ehrlich aussah, wie es gemeint war. Um es noch zu verdeutlichen, warf sie sich den Mantel über die Schultern. Er war deutlich kürzer, als ihr letzter und schmiegte sich besser an ihre weibliche Gestalt. Deutlich besser, als den alten Stofffetzen, den sie zuvor immer getragen hatte und in dem sie wirkte, wie ein Kerl.