[Elenora]
Ellie blickte mit vor Schreck aufgerissenen Augen aus einem der beiden Fenster des Maschinenraums und sah, wie der Captain und Ramirez in verschiedene Richtungen geschleudert wurden. Alle Haare standen ihr zu Berge und für einen Moment verkrampfte sich ihr Innerstes dermaßen, dass ihr Atem für ein paar Sekunden aussetzte.
Die sind in Ordnung. Ihnen ist sicher nichts passiert. Die bringt so schnell nichts um, versuchte sie sich innerlich zu beruhigen.
„Volle Energie in die Waffen! Whip ans Geschütz und Ellie, die Schilde müssen halten!“, brüllte Teds sich überschlagende Stimme aus dem Mic an ihrer Schulter. Es wirkte so, als wäre es nicht das erste Mal, dass er ohne Captain in eine solche Situation geraten war.
Endlich kam wieder Bewegung in ihre erstarrten Glieder, ihre Lungen füllten sich mit Sauerstoff und ihr heftig schlagendes Herz pumpte reichlich Adrenalin durch ihre Blutbahnen. Mit einem Satz war sie an der Konsole der Schildphalanx und tippelte hastig auf den Knöpfen, als ein neuer Schrecken ihren Atem stocken ließ.
„Sie kennen unsere Schildfrequenz!“, schrie sie noch ins Mic, als sie von einer heftigen Explosion von den Füssen gerissen und quer durch den Maschinenraum geschleudert wurde. Sie bekam nicht mehr mit, wie sie gegen ein Steuerpult krachte und dahinter hart auf dem Boden aufschlug.
Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, als sie auf dem Rücken liegend endlich wieder zu sich kam. In ihren Ohren dröhnte es, ihr war speiübel und die Schmerzen, die jedes Nervenende ihres Körpers auszusenden schienen, ließen sie gequält aufstöhnen. Schultern, Stirn, Rippen, Rücken, Hüften, Knie. Alles pulsierte, stach und brannte gleichzeitig. Ähnliche Schmerzen hatte sie nur ein Mal in ihrem Leben verspürt. Als vor Jahren ihr rechter Unterarm von einem Stahlträger zermalmt worden war.
Jetzt war sie sich allerdings sicher, dass alle restlichen Gliedmaßen vorhanden waren. Immerhin schmerzte jedes einzelne mehr als das andere. Es dauerte einige Sekunden ehe sie sich überwinden konnte die Augen zu öffnen, denn so wie es sich anfühlte, wollte sie eigentlich nicht wissen wie schlimm ihr Zustand in Wahrheit war. Quälend langsam und unter Tränen schaffte sie es endlich, die tonnenschweren Lider zu heben und mühte sich, den Dreck rauszublinzeln. Alles war verschwommen und doch erkannte sie etwas, das ihre geschundenen Eingeweide zusammenzog. Der Würgereiz, der daraufhin folgte, ließ sich nicht unterdrücken. Aus Reflex rollte sie sich unter aufflammenden Schmerzen zur Seite und übergab sich auf den trümmerübersäten Boden.
„Ramirez‘ Honek-Gulasch“, presste sie kaum hörbar heraus, „Das war beim ersten Mal schon grässlich…“
Mühsam und vorsichtig tastete sie nach der erloschenen Steuerkonsole neben sich und vermied es entschieden, an sich herunterzusehen. Sie spürte die Splitter genau, die ihre Haut unzählig durchstoßen hatten und nun bei jeder Bewegung die Nerven aufschreien ließen. Mühselig ihrenZustand ignorierend ließ sie den verschwommenen Blick durch den dunklen Raum schweifen, während sie sich unter Schmerzen versuchte an der Konsole auf die Beine zu ziehen. Hier und da erkannte sie kleine Flammen, die zwischen den Trümmern nach Sauerstoff lechzten und kleine, schwarze Rauchwolken durch die Luft waberten. Durch die verrußten Fenster des Maschinenraums leuchtete zum einen die Sonne, zum anderen Magenta 29-7 herein und erhellten den traurigen Anblick der Überreste des Hauptgenerators, während die Hummingbird tot durch den Raum driftete.
„Ellie?! Ellie!“, brüllte eine Stimme durch die Luke und kaum einen Augenblick später stürzte Monroe in den Raum. Seinem Gesichtsausdruck zufolge musste sie einen ziemlich üblen Eindruck machen, denn obwohl er im ersten Moment froh war, sie am Leben und halbwegs auf den Beinen zu sehen, wurde er im nächsten blass und eilte zu ihr herüber.
„Nicht anstrengen, Liebes, bleib liegen. Alles wird gut, ich helf dir, komm…“
Sie realisierte nicht ganz, was er tat, doch am Ende saß sie mit dem Rücken gegen eine Wand gelehnt und rang wieder um ihr Bewusstsein.
„Bleib wach, Ellie“, er schnipste mit den Fingern vor ihrer Nase. Wäre sie bei Kräften gewesen, hätte sie diese Geste wohl genervt bei Seite geschlagen, doch gerade brachte sie lediglich ein gepresstes Grummeln heraus.
„Ich weiß. Die Schmerzen müssen dich irre machen, aber du musst mir helfen, Ellie, hörst du? Sonst sind wir geliefert! Was muss ich tun, um der Mühle wenigstens genügend Kraft für den Antrieb zu verschaffen?“
„Wunder wirken“, gab sie kaum hörbar von sich. Ihre Lider wurden schwer… so schwer…
Ein Ruck ging durch ihren Körper, als die Nadel der Adrenalinspritze ihr Brustbein durchschlug und den Wirkstoff direkt in ihr Herz pumpte. Mit einem spitzen Aufschrei riss sie die Augen wieder auf und packte Whip am Kragen. Zu mehr hatte sie keine Kraft. Ihr Atem ging stoßweise, wobei sich ihre Brust schmerzhaft hob und senkte.
„Ellie, der Impuls zum Start des Notgenerators hatte eine Fehlfunktion. Wie schalte ich das Ding manuell ein? Komm schon, reiß dich zusammen!“
„Die… kennen unsere Schildfrequenz…“, die Worte tropften zäh von ihren geschundenen Lippen.
Monroe atmete tief durch und fasste Gecko an den Schultern.
„Die kennen womöglich auch die Tastenkombination für die Latrine des Käpt’ns, aber da wir die Hauptenergie verloren haben, ist das ziemlich Wurst. Wichtig ist, dass Teddy genügend Antrieb bekommt, um diesen Flaschen um die Ohren zu fliegen. Den Käpt’n und Ramirez holen wir nachher. Das hört sich doch nach einem Plan an, oder?“
Es verstrichen ein paar unendliche Sekunden in denen Monroe nervös in Ellies Gesicht starrte, bis sie endlich kaum merklich nickte.
„Ein grüner Kippschalter-“, sie unterdrückte angestrengt einen weiteren, aufkommenden Würgereiz, „-auf der Unterseite.“
„Gut. Gut! Jetzt bleib mir unbedingt wach, Mädchen, hörst du?“
Wieder nickte Ellie kaum merklich, woraufhin Whip aufsprang und aus ihrem Blickfeld verschwand. Kaum war er weg, wandte sie ihr Gesicht zur Seite und ergab sich ihrer Übelkeit in einem weiteren Schwall aus Gulasch.
Ein tiefer Brummton gesellte sich plötzlich zum Pfeifen in den Ohren, als Monroe offenbar den Notgenerator zum Laufen gebracht hatte.
„Wuhuu!“, hörte sie ihn erleichtert jubeln, woraufhin die Lichter wieder angingen. Die Antriebsdüsen heulten auf und Ellie spürte, wie Ted den letzten Rest Energie aus dem Schiff quetschte, um mit Höchstgeschwindigkeit davonzubrausen.
Dann kann ich jetzt ja abtreten… hallte es durch ihren schmerzhaft pochenden Schädel, während sie die Augen schloss.
„Nanana! Nicht so schnell, Herzchen! Hiergeblieben!“
Monroe hatte sie bereits wieder erreicht, umfasste nun mit herrischer Bestimmtheit ihre Schultern und zwang sie, ihn anzusehen.
„Ich bring dich auf die Krankenstation und werd‘ dich notversorgen. Die Software des Docs ist noch nicht auf dem Droiden. Wenn du mir wegstirbst, bevor ich ihn fertig hab, dann werd‘ ich dir nochmal so‘ne Spritze in dein verdammtes Herz jagen, hast du mich verstanden?“
Während sie sich abmühte, Whip bei seinen Worten anzusehen, begannen weiße und schwarze Punkte vor ihren Augen zu tanzen. Seine Stimme entfernte sich immer weiter und die Schmerzen wichen einem dumpfen Gefühl der Schwerelosigkeit.
„Kann –nicht –mehr“, bekam sie noch kraftlos flüsternd über die Lippen während Tränen sich einen Weg über ihre Wangen bahnten, dann fielen ihre Augen zu und sie sank leblos zurück gegen die Wand.
„Was tust du da?“, hallte eine körperlose Stimme durch ihre Gedanken. Ganz verschwommen und dumpf begannen kleine, farbige Lichter vor ihrem inneren Auge zu tanzen, doch wirklich erkennen konnte sie nichts. Eine Antwort lag ihr auf der Zunge, doch ehe sie ihre eigene Stimme etwas sagen hörte, schallten schon die nächsten Worte durch die seltsam beleuchtete Ebene.
„Wenn du jetzt aufgibst, bist du verloren!“
Die Lichter wurden klarer, flogen wirr durch die Luft und fanden nach einem wilden Tanz auf einmal zu einer großen, weiß leuchtenden Kugel zusammen, die nun reglos vor ihr schwebte. Die Stimme schien daraus hervorzugehen.
„Es sieht gar nicht gut aus. Mein Energiefeld konnte dich nur vor der Hitze, nicht aber vor den Trümmern der Explosion bewahren und davon hast du einige abbekommen. Dieser Mensch hat dich notdürftig versorgt und in Stase versetzt um den Doc fertigzustellen. Meiner Meinung nach ist es das einzige, was er für dich tun konnte.“
Die Frage nach seinem Namen drängte sich ihr auf und wieder, als würde dieses Wesen ihre Gedanken lesen, antwortete es ohne auf ihre Worte zu warten.
„Ich hatte viele Namen. Im Leben, sowie in Gefangenschaft. Du weißt wer ich bin. Das reicht vorerst.“
Widerstand breitete sich in ihr aus, doch kaum war dieser aufgeflammt, wurde er von dem bekannten, betäubungsähnlichen Zustand überlagert, den sie im Maschinenraum der Hornet bereits verspürt hatte. Diesmal nahm sie dieses Befinden bereitwillig an und ließ sich kraftlos zurücksinken, als sie hintenüber fiel und plötzlich hart auf ausgetrocknetem, lehmigem Boden aufschlug. Das Gefühl der Schwerelosigkeit hatte sie abrupt verlassen und sie fand sich in einer unendlichen Weite wieder, bei der man den Horizont nur erahnen konnte. Grau und matt mutete der sternenlose Himmel an und hatte etwas unbeschreiblich Trauriges an sich.
„Sag mir endlich wer du bist! Was soll ich hier?!“, hallte ihre erzürnte Stimme in grausigem Echo über die staubtrockene Ebene, jedoch ohne eine Antwort. Die Stille wurde erdrückend. In ihren Ohren hörte sie das Blut rauschen. Ein sehr leises, schwaches Rauschen, das erlahmend durch ihre Adern pulsierte.
„Werde ich sterben? Ist es das, was du mir sagen willst?“, brüllte sie weiter, wobei ihr plötzlich der Atem ausging. Schwer nach Luft schnappend ging sie in die Knie, als sie eine sanfte, warme Berührung an ihrer Schulter spürte.
„Nimm meine Hand und ich führe dich ins Licht. Zu mir, ins ewige Leben“, hörte sie die beruhigende Stimme ihres Vaters hinter sich. Ihr Innerstes begann sich von neuem zu sträuben, doch diesmal war es anders. Es war kein verzweifelter Aufschrei, es war das Brüllen eines Drachens, das ihren Körper augenblicklich mit Leben überflutete.
Von ihrem Vater ins Licht geführt werden? Ins ewige Leben mit ihm?
„Nur über meine Leiche!“, stieß sie laut und entschlossen aus, wobei sie die Hand von der Schulter schlug, aufsprang und in ein Antlitz starrte, das sie sofort einen Schritt zurückweichen ließ. Von schwarzem Nebel umhüllt stand dort eine Gestalt, die sie weit überragte und mit jeder Sekunde noch zu wachsen schien. Sie war in schwarze, wabernde Fetzen gehüllt und begann nach und nach die staubtrockene Ebene vollständig einzunehmen. Die Finger - lang und knochig - begannen sich nach ihr auszustrecken und unendliche Kälte schien von ihnen auszugehen. Leben entziehend. Todbringend.
„Flieh“, zischte die Gestalt mit hoher Stimme, die klang, als würde Metall auf Metall kratzen, „Ssolange du noch kannsst! Er isst der Tod…“
Kaum waren die Worte verklungen, löste sich die Gestalt, sowie die Ebene fast augenblicklich in Luft auf. Alles wich einem allgegenwärtigen Weiß. Der Übergang von Erde zu Himmel war nicht mehr zu erkennen und doch stand sie auf festem Boden. Wut und Verwirrung breitete sich in ihrem Geist aus. War das nur ein bekloppter Fiebertraum oder rief das Wesen aus der Zelle diese Wahnvorstellungen hervor?
„Was soll das?!“, brüllte sie die zuvor unbeantwortete Frage erneut aus Leibeskräften durch das Weiß, „Warum sagst du mir nicht einfach, was du von mir willst?!“
Aus der Ferne begann sich etwas zu nähern. Langsam aber stetig. Erst ein kleiner Fleck am vermeintlichen Horizont, wurde die Erscheinung immer deutlicher. Eine Traube von Geschöpfen jeglicher Spezies - bekannt und unbekannt - in Stimmengewirr vertieft, das aus der Ferne nicht zu verstehen war. Immer näher kamen die Gestalten. Alle grau gekleidet in braunen, zerlumpten Schuhen. Es wirkte beinahe wie eine Gefängnisuniform. Nur allmählich konnte Ellie ein paar Sätze aus ihrem Gemurmel heraushören, die eindringlich an sie gerichtet wurden. Alle Augen waren warnend auf sie gerichtet.
Er will dein Leben. Er will sein Leben. Er will Leben. Er will ein Leben. Sein Leben ist kein Leben. Dein Leben ist sein Leben. Er tötet dich. Shakkar!
Dann verstummten die Stimmen schlagartig. Ellie gab einem plötzlichen Impuls nach und sah an sich herunter. Sie war grau gekleidet in braunen, zerschlissenen Sandalen. Mit einem mulmigen Gefühl blickte sie wieder auf, doch die Geschöpfe waren verschwunden. Sie war mit dem Weiß wieder alleine.
Verwirrung betitelte in diesem Augenblick nicht im Entferntesten den Zustand ihres Geistes und sie konnte deutlich spüren, wie die altbekannte Sanftheit und Betäubung sich ihrer wieder bemächtigen wollte. Diesmal stemmte sie sich mit einer plötzlich ungeahnten Kraft widerspenstig dagegen. Ein leises, bemitleidendes, tiefes Lachen erschallte hinter ihr und begann verheißungsvoll immer lauter durch das Weiß zu hallen. Sie wollte sich zu der Stimme umdrehen, doch regte sich ihr Körper keinen Millimeter.„Meine Liebe, sich mir zu widersetzen ist erst einer Person gelungen und die dürfte inzwischen tot sein. Dein bedauernswert begrenzter Verstand ist nicht im Mindesten dazu befähigt, mir Stand zu halten. Aber ich lasse dir die nutzlose Genugtuung. Für den Moment.“
Hör ihn nicht an. Hör ihn nicht. Nicht zuhören. Ihn nicht hören…
„SCHWEIGT!“, sein Machtwort schien die ganze Ebene so gewaltig zu erschüttern, dass selbst das Weiß einen Moment zu flackern begann und eine gewaltige Energie in Ellies Körper einschlug wie ein flammender Blitz.
Ein Moment lang herrschte Stille, doch das Weiß flackerte immer stärker. Inzwischen konnte sie schwer atmend zu ihren Füssen wieder den braunen Lehmboden erkennen, wobei die Sandalen verschwunden waren und sie die Zehen in den trockenen Staub krallte.
Auf einmal prasselte Regen auf sie nieder. Belebend, frisch und nass.
Keuchend ließ sie sich auf die Knie sinken und stützte sich mit den Händen vornüber. Gras begann in Sekundenschnelle um zwischen ihren Fingern hervorzusprießen. Blumen platzten in Zeitraffer aus wachsenden Knospen heraus und ein Gefühl des Glücks und der Freiheit durchströmte sie wie nie zuvor.
„KRitIscHe PHasE übErSTanDen“, schnarrten die Worte einer mechanischen Einheit in weiter Ferne, „GeNesUng ZU 67 PrOzEnt wAhrSCheiNlIch“