Es gibt 152 Antworten in diesem Thema, welches 44.049 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (28. Dezember 2018 um 08:25) ist von TiKa444.

  • Esme hatte gerade den sich verkrampfenden Fürst mit ein paar beruhigenden Kräutern in Schlaf versetzt, als die Soldaten vor der Tür einen weiteren Mann in den Raum schleiften. Sein Arm schien eine klaffende Fleischwunde zu sein, nichts für was sie hier wirklich gut ausgestattet war, deswegen bellte sie der Übersetzerin ein paar Anweisungen zu, die diese an die Männer weiterleitete. Einer der Beiden wollte wieder irgendeinen Witz reißen, ließ es aber sein, als die Hexe ihm ein paar Beschimpfungen zu rief. So weiß wie er wurde, dachte der Mann wohl, dass sie ihn verfluchen wollte. Als er mit Verbänden, Fäden und einer Nadel zurückkehrte, hatte Esme immerhin schon die Wunde gereinigt und der Junge, viel jünger als Ereck oder die Pinkhaarige, wirkte er auch nicht, wieder bei Bewusstsein. Zumindest halbwegs. Anfangs war noch zusrückgezuckt, wenn sie mit dem alkoholgetränkten Stück Stoff in die Wunde gefahren war, aber mittlerweile hatte er sich wohl daran gewöhnt. Jetzt hockte er auf einem Stuhl und starrte über ihre Schulter hinweg den schlafenden Fürsten an, während die Hexe die Nadel mit dem eingefädelten Faden am Feuer erhitzte. "Lass ihn, der übersteht die Nacht sowieso nicht." Als sie ihn ansprach zuckte sein Blick erst zu ihr und huschte dann kurz zu der glühenden Nadel. "Glaub mir, du wirst mir dafür danken, wenn die Wunde verheilt ist." sie versuchte zutraulich zu klingen, während sie diesem Fremden in einer ihm wahrscheinlich unbekannten Sprache zusprach. Warum hatte man ihn überhaupt hergeschickt? Glaubten diese Leute sie sei nun ihre private Heilerin? Der Junge starrte wieder über ihre Schulter hinweg den Fürst an. "Gut jetzt halt still, sonst fange ich nochmal von vorne an. Und wehe du weckst ihn auf."

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    GNU Terry Pratchett

  • Was auch immer die alte Frau zu ihm sagte, konnte Ars nicht beruhigen. Er konnte nur den im Bett liegenden Mann anstarren - Diesen sterbenden, kranken Körper... Es machte Ars auf gewisse Weise Angst.
    Um sich von dem Gedanken abzulenken, dass jeden Moment diese heiße Nadel sein Fleisch durchdringen würde, suchte er nach einer Möglichkeit, sich mit der Frau zu verständigen. Dafür musterte er sie zuerst genau bei ihrer Arbeit. Präzise drückte sie das heiße Metall an seine Haut, durchstach diese (er zog vor Schmerz die Luft scharf durch die Zähne ein), und machte eine zügige Bewegung, die den Faden schnell und nahezu schmerzlos durch sein Fleisch beförderte. "Bitte", sprach er die Dienerin an, die die ganze Zeit am Bett des Kranken stand, "Dürfte ich wohl die Liste sehen, die diese Heilerin euch gegeben hat, bevor sie mich verarztete?"
    Sie nickte überrascht, überreichte ihm aber das Pergament mit ihren Notizen. Zum Glück, dachte Ars. Es ist auf Zesisch notiert. Er betrachtete die Kräuter und Pflanzen, die die Alte der Dienerin notiert hatte. "Das sind keine Pflanzen, die man als Kind von seiner Mutter erklärt bekommt", sagte er und das Dienstmädchen antwortete, obwohl Ars eher mit sich selbst gesprochen hatte.
    "Natürlich nicht, sie ist eine bekannte Heilerin aus den Sumpfländern."
    "Wie ist ihr Name?"
    "Uns hat sie sich als Esme vorgestellt."
    Ars nickte. "Ich verstehe." Sie ist also eine Heilerin aus dem Sumpf... und sie ist alt... Welche Sprache könnte es geben, die wir beide sprechen?
    Er hielt das Blatt Pergament in der rechten Hand, während sie seinen linken Arm nähte. Mit jedem Stich zuckte er etwas zusammen. Aber auch nach zehn Minuten konnte fiel ihm keine Sprache ein, mit der sie sich hätten verständigen können. Also dachte er über Gestiken nach, Zeichensprachen, Mimiken - nein, zu ungenau.
    Er warf einen Blick auf den verletzten Arm und stellte fest, dass sie bereits die ersten Stiche an seinem Handgelenk ansetzte.
    Schriften, schoss es ihm durch den Kopf. Was ist mit Schriften? Buchstaben? Nein. Die Liste ist auf Zesisch verfasst, was sie nicht zu sprechen scheint... Vielleicht kann sie auch gar nicht schreiben und lesen, immerhin lebt die im Sumpf...
    Buchstaben? Zahlen? Zeichen? Symbole? Runen?
    Ars hielt den Atem an. Das war es. Runen. Eine Heilerin aus dem Sumpf muss ihr Wissen irgendwo her haben, vielleicht hat sie mal einem Zirkel oder etwas ähnlichem angehört. Und in diesem Fall müsste sie laut alten Überlieferungen Runen lesen können!
    Er zog vorsichtig den Nachttisch des Kranken zu sich heran, drehte das Pergament um und zog ein Stück Kohle aus einer Innentasche seines Mantels. Gut, dass ich es im Lager der Angreifer mitgenommen habe, dachte er und begann mit der rechten Hand zu zeichnen.
    Die Frau beobachtete ihn dabei skeptisch, gab ihm sogar einen leichten Klaps auf die Schulter, als er sich so weit von ihr weg lehnte, dass sie kaum noch an die verletzte Hand heran kam.
    Irgendwann brummte sie ihm mürrisch zu. Er fasste es als den Versuch auf ihm zu sagen, dass sie fertig war. Sofort schnappte er sich das Papier mit der nun freien Hand und hielt es ihr vor die Nase.
    Die darauf abgebildeten Runen bedeuteten Dankbarkeit, Identität, Krankheit, Tod, Leben und zuletzt - Erleuchtung, was auch Lösung eines Problems oder in manchen Kulturen Heilung bedeutete.
    Hoffnungsvoll sah er in ihre tiefgrünen Augen.

  • Matt hastete eilig über die leere Straße auf das kleine Haus, dass er mit seiner Familie bewohnte. Er spürte so ein Kribbeln im Nacken, als würde er von einem etwaigen Verfolger beobachtet werden, doch vermutlich lag das nur daran, dass in den verlassenen Gassen noch immer unzählige Wachen patrouillierten, die weiterhin die Ausgangssperre überwachten. Diese verfluchten Gardisten hatten vergessen ihm eine Begleitung mit zu geben, so dass er wie auf den Hinweg durch die Seitenwege schleichen musste, doch er wollte kein zweites Mal verhaftet werden. Andererseits ersparte er es sich so wenigstens, von einem Soldaten nach Hause gebracht zu werden. Das hätte peinlich werden können.
    In Gedanken schallt er sich noch immer für seine Worte dieser Lohra gegenüber. Wie hatte er nur so dämlich sein können ihr gegenüber seine Erinnerung zu erwähnen. Zumindest indirekt. Das alles war immerhin nie passiert und das durfte er nicht vergessen. Nun ja. Zumindest würde er sie vermutlich nie wieder sehen.
    An der Haustür angekommen klopfte er hastig gegen die Tür. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass irgendein Trupp Wachen um eine der Straßenecken bog und genau vor ihm stand, doch dann wurde die Tür aufgerissen. Sofort schob Matt sich durch den Spalt und stolperte förmlich in den Wohnraum, wo er augenblicklich von fünf erwartungsvollen Gesichtern in Empfang genommen wurde.
    "Und?", fragte Matts Vater, ein bulliger Mann, der sich betont beiläufig gegen die Wand lehnte. In Wirklichkeit machte sein Knie in letzter Zeit Probleme, was im Nachhinein ein echter Glücksfall war. Ansonsten hätte Matt ihn nie davon überzeugen können nicht selbst zu gehen.
    "Eine Armee", antwortete er ohne umschweife. "Vor den Stadttoren. Sie belagern uns." Einen Augenblick tauchte das Bild des Wachmanns vor seinen Augen auf, wie er ihm mit erhobenem Zeigefinger einschärfte, nichts von der Situation herum zu erzählen. Aber ehrlich. Glaubten diese tumben Befehlsempfänger wirklich, dass er seine Familie belog. Ein weiterer Gedanke flatterte in seinem Kopf herum, wie ein wild gewordener Vogel. "Tue ich genau das nicht bereits seit Monaten". Doch er spannte sofort wieder den Käfig der Vorschübe und Ignoranz um diesen "Vogel". Das war etwas anderes.
    "Wie viele?", fragte sein Bruder Dan.
    "Werden sie die Stadt einnehmen", schob Gwendolin nach.
    "Viel zu viele und wenn nicht auch den Palast, dann wenigstens die Stadt."
    "Ich weiß es nicht, aber ich bin sicher, dass die Wache uns beschützen wird", antwortete er, doch selbst in seinen Ohren klang die Stimme wenig überzeugend.
    "Dieser Weißmantel ist ein cleverer Mann", behauptete sein Vater. "Ihm wird schon etwas einfallen."
    "Natürlich", stimmte auch seine Mutter mit fester Stimme zu, doch in ihren Augen sah Matt die Sorge. "Die Stadt hat schon ganz anderes Überstanden."
    "Was, eine Bande Banditen", wollte Matt fragen und erinnerte sich daran wie die Häuser gebrannt hatten. Zesnar war eine der ersten Städte, die er sich unter den Nagel gerissen hatte - ganz am Anfang seines unsäglichen Aufstiegs - und er hatte ihm hämisch gezeigt wie schnell auch Sandstein zu Asche verkohlen konnten. Natürlich sprach er seine Gedanken jedoch nicht laut aus.
    Plötzlich klopfte es an die Tür. Einen Augenblick herrschte Stille. Dann ertönte erneutes Klopfen. Matt öffnete vorsichtig die Tür.
    Als hätte er heute nicht schon genug gesehen, stand vor ihm ein weiteres Mitglied der Wache.
    "Wohnt hier ein Junge namens Matt", verlangte der Soldat mit lauter Stimme zu wissen.
    "Was geht dich das an", fragte sein Vater und stieß sich von der Wand ab, um sich vor seinen Sohn zu schieben. Beim Auftreten verzog er schmerzhaft das Gesicht, doch wer ihn nicht gut kannte, könnte diesen Ausdruck womöglich auch als bedrohlich deuten. Zumindest schien der Wachmann das so zu sehen, denn er wich einen Schritt zurück.
    "Ich bin zwar nur Hufschmied, aber ich habe da einen vortrefflichen Hammer liegen, gleich nebenan", sagte er und baute sich endgültig vor dem Soldaten auf. Dieser sah aus, als überlegte er, ob er weglaufen oder sein Schwert ziehen sollte. Matt stellte sich vor seinen Vater bevor der Mann eine Entscheidung treffen konnte.
    "Lass gut sein", flüsterte er ihm eindringlich zu und drehte sich dann zur Wache.
    "Was wollt ihr von mir?" Der Soldat hatte inzwischen wohl sein Selbstvertrauen wieder gefunden und straffte sich merklich an.
    "Der Hauptmann der Wache will dich sehen", antwortete er schnell, wohl aus Angst, dass er seine Courage sofort wieder verlor. "Aber es geht um kein Verbrechen, er braucht nur Leute. Heute Abend ist er wieder zurück." Matt unterdrückte gerade noch so ein "Schon wieder", doch seine Mutter dachte nicht daran zu schweigen.
    "Ihr wollt ihn in die Armee einziehen", behauptete sie überzeugt und ihre Augen sprühten vor Hass beinahe Funken. Matt warf ihr eine Blick zu, der sie daran erinnern sollte, nicht preis zu geben, dass sie mehr wusste als sie sollte. Er hoffte, dass dieser Blick sie nicht stattdessen, dazu brachte, darüber nachzudenken, wieso der Gardist explizit von Matt und nicht etwa von allen jungen Männern - zu denen auch Dan gehört hätte - sprach.
    "Macht euch keine Sorgen", versuchte er seine Familie ein weiteres Mal zu beschwichtigen. "Ihr habt es ja gehört. Bis heute Abend bin ich wieder da." Dann schob er sich vor die Tür und schloss sie, bevor irgendwer etwas erwidern konnte. Angestrengt bemühte er sich selbst das mulmige Gefühl in seine Magengegend zu beruhigen.

    "Was wollen sie noch von mir?", fragte Matt laut und scherte sich keinen Deut um Höflichkeit. Er stand in einem kleinem Raum in einer der Kasernen. Der Weg dorthin war deutlich einfacher und schneller gewesen, als die beiden vorigen Streifzüge durch die Stadt. Vornehmlich deswegen, weil der Soldat ihn einfach grüßend an seinen Kameraden vorbei geführt hätte.
    "Du sagtest du machst dir Sorgen um deine Familie?", stellte der Hauptmann der Wache seinerseits eine Gegenfrage. Den Mantel hatte er nicht abgelegt, dafür aber seinen Visierlosen Hlem, den er bei ihrer Begegnung in den Wachräumen des Torhauses noch getragen hatte. Dadurch wurde nur noch einmal verdeutlicht, wie jung er eigentlich sein musste- nicht älter als Matt - doch anders als jeden anderen machte ihn das nicht weniger bedrohlicher.
    "Natürlich tue ich das", antwortete Matt verwirrt. "Aber sie haben mich kaum deshalb hierher bestellt, oder?" Weißmantel blickte ihn nur ernst an.
    "Nennen wir es einen Zweckpack", antwortete er. "Du hilfst mir und ich helfe dir. Beispielsweise könnte ich damit beginnen deine Familie in den Palastmauern zu bringen."
    "Ihr glaubt doch nicht, dass die Angreifer die Stadtmauern überwinden könnten", wollte Matt wissen und war stolz, dass er seine Stimme mit einem ängstlichen Unterton belegen konnte.
    "Wenn sie wirklich angreifen", betonte Weißmantel. "Dann werden sie die Stadt auch überrennen. Nur beim Palast haben wir eine echte Chance."
    Matt ließ einige Momente verstreichen bevor er wieder den Mund auf machte.
    "Und was muss ich dafür tun?", fragte er, obwohl ihm bereits klar war, dass er das Angebot annehmen würde. Und wenn er mit irgendeinem selbstmörderischen Auftrag bedacht wurde.
    "Du hast sicherlich von den Streitigkeiten der Söhne des Zerbus gehört", vermutete Weißmantel und stockte als er sah, dass Matt den Kopf schüttelte. Die Söhne des Zerbus waren ihm ziemlich egal. Er erinnerte sich, dass einer nur von ihnen an der Seite ihres Vaters gekämpft und sein Leben gelassen hatte. Die anderen drei hatten sich mit Freuden Bornholds Sache angeschlossen, noch bevor die Leiche des Zerbus und ihres Bruders kalt gewesen war. Für Menschen, die ihr eigenes Wohlergehen über das ihrer Familie stellte, hatte er kein Verständnis. Sollten sich diese Feiglinge doch gegenseitig umbringen.
    "Nun ja, auf jeden Fall will ich nicht, dass sie mir bei meinen Bemühungen, einen Kampf zu vermeiden, hineinfunken", erklärte der Hauptmann der Wache. "Die drei würden wahrscheinlich eher die Stadt opfern, als ihren Bruder eine Möglichkeit auf den Thron zu geben." Matt mochte wetten, dass der, der die Armee für den Toren anführte, derjenige war, der damals seinem Vater treu geblieben war. Plötzlich war er sich gar nicht mehr so sicher, dass sie die Tore nicht einfach öffnen sollten. Vielleicht würden sich die Soldaten sogar einigermaßen gesittet verhalten, wenn ihre Blutgier nicht zuvor in einem Kampf aufgebauscht wurde.
    "Jedenfalls will ich, dass du für mich einige Botengänge übernimmst", sein Gegenüber seine Erläuterung ab. Matt wartete noch einen Augenblick, dann nickte er langsam.
    "Wieso ich?", fragte er dennoch und ehrlich interessiert. Der Hauptmann grinste.
    "Zum einen weil es ziemlich unwahrscheinlich ist, dass dich einer der drei Brüder schon Bestochen hat", gab er zu, "Zum anderem, weil ich dich ohnehin nur Nachrichten durch die Tore bringen lassen werde, die die da draußen ohnehin bekommen sollen."

    Wer zu lesen versteht, besitzt den Schlüssel zu großen Taten, zu unerträumten Möglichkeiten.

    Aldous Huxley

  • "Kann ich jetzt mit ihm sprechen?", fragte Ereck das Dienstmädchen. Sie öffnete die Tür zum Krankenzimmer und fragte die Kräuterfrau. Ihre Antwort konnte selbst er mit seinen dürftigen Sprachkenntnissen verstehen. "Nein!"
    Er seufzte und versuchte, einen Blick ins Zimmer zu erhaschen. Der Wanderschmied und die Hexe brüteten über einigen Papieren, Ars, oder wie er heißen mochte, schien ihr etwas erklären zu wollen.
    "Für mich sieht es so aus, als wäre er ansprechbar", stellte Ereck fest. Das Dienstmädchen sah nervös zu Boden und murmelte: "Esme hat gesagt, er darf nicht gestört ..." Sie wurde von Rogarr unterbrochen, der den Gang entlang kam.
    "Das wird auch Zeit", raunzte Ereck. Rogarr war außer Atem. "Soll es etwa meine Schuld sein. ich war schon hier, da hieß es, ihr wärt wieder bei diesem Jungen gewesen."
    "Ich bin zu ihm, nachdem ich hier vergeblich auf dich gewartet habe. Was hat solange gedauert?" Rogarr schien nach einer Ausrede zu suchen, aber Ereck schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab.
    "Vergiss es. Was hast du in Erfahrung bringen können?"
    "Für mich hat es sich nicht so angehört als würden die Söldnerin und der Junge sich kennen."

    Ereck war erleichtert. Er hatte Rogarr in die doppelte Wand des Verhörzimmers geschickt, um das Gespräch von Lohra und Matt zu belauschen. Diese Methode hatte er schon häufig angewandt. Ließ man zwei Gefangene "ungestört" plauder konnte man in der Regel viel nützliches erfahren.

    "Obwohl", ergänzte Rogarr. Ereck horchte auf. "Ich glaube dieser Matt hat schon einmal von dem Weib gehört. Aber getroffen haben sie sich nicht, wenn ich das richtig verstanden habe."

    "Gut, dann wissen wir zumindest, dass die beiden nicht zusammenarbeiten. Ich habe Matt übrigens gerade zu meinem Boten gemacht."

    Rogarr war verwirrt. "Wieso?"
    "Er kann offensichtlich gut umherschleichen. Außerdem habe ich ein ausgezeichnetes Druckmittel, dass seine Loyalität garantiert. Wäre er ein Spion gewesen, dann hätte ich durch ihn dem Feind falsche Schlachtpläne zukommen lassen."
    Rogarr nickte verstehend. "Aber, Hauptmann."
    "Was denn noch?"
    "Die Söldnerin kann doch auch eine Spionin sein oder? Taucht hier einfach so auf."
    "Das ist mir bewusst. Die Ereignisse der nächsten Stunden, werden uns in dieser Hinsicht Klarheit verschaffen." Ereck wollte sich schon wieder der Dienerin zuwenden, da fiel ihm noch etwas ein.

    "Rogarr, wo ist eigentlich der Seneschall?"

    Der Mann, schon im Gehen, hielt inne und zuckte mit den Schultern.

    100% Konsequent!

  • Esme starrte noch immer gebannt die ihr so vertrauten Zeichen an. Sie hatte sie in ihrer Kindheit tausendmal gesehen, als Tatoos bei den wenigen männlichen aber auch bei niederen weiblichen Clanmitgliedern, auf Treffen, auf Morschen alten Bäume, sie markierten sichere Lagerplätze oder Clanreviere und warnten vor Gefahren. Ihre Tante hatte ihr als sie ein junges Kind gewesen war erklärt, dass diese Zeichen schon lange vor den Clans da gewesen waren. Niemand hatte ihr je einschärfen müssen, sie zu lernen, wenn man im Sumpf aufwuchs lernte man ihre Bedeutung von ganz alleine. Nur woher würde ein Kind von außerhalb so etwas wissen? Sie erwischte sich dabei, dass sie den großen Jungen fast mit so etwas wie Respekt musterte, auch wenn sein Versuch die Runen zu zeichnen sie beim Nähen stark genervt hatte. Was sie im Moment noch mehr störte war allerdings dieses Mädchen und der Fettsack, die draußen vor der Tür standen und unbedingt hinein wollten. Am liebsten wäre sie mit diesem kleinen Stück Heimat, dass der Junger ihr gebracht hatte allein gewesen, aber es würde auch nicht schaden zu versuchen sich mit zu verständigen. Vielleicht hatte er die Zeichen ja von jemanden aus ihrem Volk gelernt. Sie starrte die Zeichen unschlüssig an. Was er mit Dankbarkeit ausdrücken wollte war ziemlich klar, mit Identität konnte ihre, aber auch seine gemeint sein. Allerdings war sie unschlüssige, auf was die letzten drei anspielten. Er konnte damit ihre Fähigkeiten als Heilerin meinen, oder seinen Arm, oder auch den Fürsten, aber warum sollte dieser ihn interessieren? Ein weiteres Klopfen kam von der Tür und wieder spähte die Dienerin neugierig herein. "Sag ihm ich bin gleich so weit!" fauchte Esme genervt. Sie entschloss, die letzten Runen auf den Sterbenden Mann zu beziehen. Sie nickte kurz in seine Richtung, seine dunkelbraunen Augen folgten der Bewegung, dann strich sie die Rune für Hoffnung durch und zeichnete Schatten oder auch Nacht daneben. Nach einer kurzen Pause fügte sie ein weiteres Zeichen hinzu Greiß was bei ihnen auch als Lehrer verstanden wurde. Im Sumpf hatte es damals die Höhle markiert in der ein alter Werwolf gelebt hatte, der alle möglichen Ratschläge über Jagdmethoden gegeben hatte erinnerte sie sich. Der Verletzte konnte jedoch nur kurz einen Blick auf das Zeichen werfen, bevor die Tür erneut geöffnet wurde, allerdings war es nur das Mädchen, dass wieder eintrat. "Er ist gegangen." meinte sie etwas resigniert. "Aber glücklich war er nicht."

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    Einmal editiert, zuletzt von Korus (4. Dezember 2016 um 20:01)

  • Matt saß allein in seinem Zimmer und starrte an die leere Wand. Die Holzvertäfelung gab nicht viel her, doch er wünschte sich beinahe, dass er seine Aufmerksamkeit auf so etwas banales hätte lenken können. Er hatte seiner Familie erzählt, dass er für einfache Botengänge innerhalb der Mauern eingeteilt worden war, der völlig ohne jede Gefahr die Kommunikation zwischen dem Palast und den Kasernen an der Mauer gewährleistete. Jeder hätte einen Beitrag zu leisten, wäre ihm gesagt worden, und seine Eltern hinterfragten das ganze nicht wirklich, da sie froh waren, dass er kein Schwert in die Hand gedrückt bekommen und auf der Mauer Stellung zu halten hatte. Das mit den Botengängen entsprach immerhin der Wahrheit. Das mit der Ungefährlichkeit weniger. Das schlimmste daran war, dass es ihm mehr hätte ausmachen müssen seine Familie zu belügen. Er konnte sich wage daran erinnern, dass er es als Kind gehasst hatte die Wahrheit zu verschweigen. Deshalb hatte er wohl auch seine Gabe nicht verbergen wollen. Selbst in der Zeit danach, nachdem seine Kindheit so abrupt endete, hatte er sich sogar Bornhold gegenüber schwer getan zu lügen. Und jetzt... Irgendwie hatte er gehofft, er würde wieder normal werden, jetzt wo alles wieder normal war, doch nun befand er sich weiter von der Gewöhnlichkeit entfernt, als je zuvor. Welch eine Ironie des Schicksals. Jetzt hatte er endlich seine Familie wieder und nun durfte er sich ihnen nicht einmal nahe fühlen, da er ihnen ständig etwas vorspielen musste. Er hasste all die irritierten Blicke, wenn er Menschen, die ihn schon ein Leben lang kannten, vollkommen anders begegnete, als sie erwartete. All die über die Jahre angestauten Geschichte, von denen er nicht wusste, wieso er lachte oder scheinbar zustimmend nickte. All die Erlebnisse, die andere mit ihm verbanden und die selbst nie erlebt hatte. Dazu kamen die Narben, die nie jemand sehen durfte und das Wissen, dass er nicht und das, was er haben sollte, aber nicht hatte. Sicher. Er war glücklich. Aber er war selten zufrieden.

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  • Unsicher darüber, was er denken sollte, sah Ars zu dem kranken Mann im Bett. Er ist also eine Art Anführer, vielleicht sogar der König dieser Stadt, schlussfolgerte er aus der letzten Rune, die Esme aufgezeichnet hatte. Er bedachte auch die anderen Zeichen. Was genau sie mit Schatten und Nacht sagen wollte, wusste er nicht. Aber diesen Begriffen etwas positives abzugewinnen war in der Regel sehr schwer, vor allem wenn sie gemeinsam auftraten.
    Was jedoch her musste, war eine Lösung. Denn offenbar baute die gesamte "komplizierte Lage" auf der Krankheit dieses Mannes auf.
    Ars verzog die Lippen und biss die Zähne zusammen.
    Das war so ziemlich der stärkste emotionale Ausdruck, den er seit zwei Jahren zeigte.
    "Wieso habe ich bloß...", regte er sich auf und schlug mit der flachen Hand gegen sein Bein. Die Alte raunzte irgendwas und legte das Stück Kohle zurück auf das Pergament. Aber in ihrem Blick erkannte Ars die Sorge, ob sie sich nun an ihn oder den Kranken neben ihnen richtete.
    "Was ist los?", fragte die Dienerin vorsichtig, wohl eingeschüchtert durch den seltsamen Auftritt des Jungen und der alten. Die Runen, die Blicke Esmes und Ars' anschließende Reaktion hatten ihr wohl Anlass zur Sorge gegeben.
    "Sie hat euch etwas diktiert, stimmt es?", fragte Ars, ohne auf ihre Frage einzugehen. "Das bedeutet, ihr sprecht ihre Sprache."
    "Richtig, ich versteh sie. Ich weiß zwar nicht, was diese Zeichen bedeuten, aber das was sie sagt, kann ich für euch übersetzen."
    "Na schön", machte Ars und stand auf. Er starrte einige Momente lang die Wand an - während er von außen völlig ungerührt wirkte, herrschte in ihm ein Kampf gegen sich selbst, wie er ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Aber dann fasste er einen Entschluss und nahm noch einmal das Pergament und die Kohle. Als er die Linien zog, die das letzte Stückchen weiß das Pergaments auslöschten, dachte er an die Söldnerin, die am Ende seines Verhörs aufgetaucht war. Es gab nur eine Erklärung für ihr Äußeres. Und wenn Ars mit seiner Vermutung Recht hatte, gab es sogar für diesen sterbenden Mann noch Hoffnung.
    Er legte Esme das Papier in die Hand.
    Sie starrte erst die Zeichen, dann ihn entsetzt an.
    Die Runen, die er gezeichnet hatte, bedeuteten Verbotene Kunst und Geburt. Aber die Bedeutung Verbotene Kunst stammte noch aus alten Zeiten. Inzwischen hatte etwa neues, etwas konkretes ihren Platz eingenommen, das man schon immer im Verborgenen gelehrt und praktiziert hat, weil die Leute es fürchteten: Alchemie.
    "Sagt ihr, ich bin ein Alchemist", befahl Ars mit festem Blick. "Ich Besitze beinahe jegliches Wissen über die Alchemie, beherrsche jedoch nur einen Bruchteil davon. Ein Bereich der Alchemie, den ich schon immer gefürchtet und gemieden habe, ist die Vital-Alchemie, die sich mit der Transmutation von Lebewesen beschäftigt." Er spielte mit dem Gedanken, seine Vermutung über die Söldnerin zu äußern, verwarf diesen jedoch schnell. So etwas konnte man nicht einfach erzählen. Er beschloss, alleine mit ihr darüber zu sprechen und sich bis dahin mit Esme zu beraten. "Ich halte euch für eine sehr begabte Heilerin. Wenn wir euer Wissen und meine Fähigkeiten verbinden würden, könnte es möglicherweise Hoffnung für diesen Greis geben." Er beobachtete hoffnungsvoll ihre Reaktionen, während das Dienstmädchen übersetzte. Hoffentlich haben die hier eine Bibliothek..., überlegte er.

  • Das Mädchen wiederholte eilig die Worte des Jungen, obwohl sie bei einigen seiner Worte stockte und überlegen musste. Den Ausdruck Alchemie ließ sie ganz unübersetzt, aber Esme vermutete, dass es etwas mit dieser Verbotenen Kunst Rune zu tun hatte, so wie er darüber sprach. Vielleicht war es eine Art Magie, die er, wie er sagte, zur Heilung des Alten einsetzen wollte. Esme drehte sich zu dem Mann um, der gerade im Halbschlaf stöhnte. Irgendwo unter ihre Weste quakte ihre Kröte. Wenigsten Fergus schien der Plan wohl zu gefallen. Die Hexe blickte wieder zu dem Jungen auf, der im Zimmer auf und ab marschierte und sie mit unergründlichem Blick musterte. "Wenn du meinst, dass deine Archemie mehr bringt, dann bitte." meinte sie schließlich schulterzuckend. "Aber wir sollten uns beeilen." fügte sie mit einem Seitenblick auf den Greiß hinzu.

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  • Ereck warf einen Blick aus dem Fenster. Es begann schon zu dämmern. Höchste Zeit, Lohra und den Seneschall ausfindig zu machen. Hakiz hatte damit gedroht bei Sonnenuntergang anzugreifen, allerdings glaubte Ereck das nicht so ganz. Die Mauern zu erstürmen wäre ein verlustreiches Unterfangen und mit Katapulten Steine zu schleudern würde bedeuten, das zu zerstören, was er so gerne haben wollte. Dennoch, es war ein gewisses Risiko. Im besten Fall würde er einfach nichts tun. Und im Schlimmsten?

    "Hauptmann", schallte ein Ruf durch den Gang. Eine quäkige Stimme, die Ereck mittlerweile gut kannte. Es war Rogoz, Zerbu Rakzars ältester Sohn.

    "Was kann ich für Euch tun, edler Herr?", fragte Ereck. Der rundliche Mann kam röchelnd vor ihm zum stehen. Mit einem goldenen Tuch wischte er sich Schweiß von der Stirn.

    "Was gedenkt Ihr wegen meines Bruders zu tun?", keuchte Rogoz.
    "Kein Grund zur Sorge. Die Mauern sind bestens bewacht und Euer Bruder wird es nicht wagen, der Stadt etwas anzutun, die er regieren möchte."

    "Aber was wenn doch? Wie können wir sicher sein?" Rogoz war sichtlich nervös. Von der Armee seines verhassten Bruders umzingelt zu sein, schien ihm nicht zu behagen.

    "Wenn Ihr helfen wollt, könnt ihr die Mauer mit Männern aus Eurer Garde verstärken", schlug Ereck vor, wohl wissend, dass er auf taube Ohren stoßen würde.
    "Meine Männer bleiben bei mir", erwiderte der Dicke sofort. "Ich brauche Schutz, solange meine Brüder im Palast sind."
    "Dann kann ich nichts für Euch tun", sagte Ereck achselzuckend und machte sich auf den Weg Lohra zu finden. Er war gerade auf dem Weg, zurück zur Kaserne, als er auf dem Hof der Söldnerin begegnete.

    "Dieser Matt ist harmlos", sagte sie und Ereck nickte erleichter, als wüsste er das nicht schon längst. Zusammen gingen die beiden zurück in den Palast. Ereck überlegte zuerst, den Zerbu noch einmal aufzusuchen, doch er entschied sich anderweitig. Der Schmied konnte warten, es gab wichtigeres zu tun. Er führte Lohra in einen kleinen Konferenzsaal, den er leer vermutete, doch als sie eintraten, stellte Ereck fest, dass der Seneschall sich dort mit einigen Vertrauten eingefunden hatte.
    "Ereck", sagte der alte Mann überrascht, als er ihn bemerkte. Die Männer, die um ihn herum an der langen Tafel saßen, schlugen rasch ihre Unterlagen zu.

    "Ich habe Euch gesucht, Larenz", sagte Ereck. Der alte Mann schlurfte zu ihm und Lohra herüber.
    "Wie waren die Verhandlungen?", fragte er. Ereck und Lohra warfen sich einen kurzen Blick zu. Dann sagte die Söldnerin: "Hakiz hat uns bis Sonnenuntergang Zeit gegeben. Da er aber kaum in der Nacht angreifen wird - schließlich hat er das Überraschungsmoment nicht auf seiner Seite - vermute ich, dass wir bis spätesten morgen früh Zeit haben."
    Der Alte nickte und murmelte: "Im Morgengrauen also." Er schwieg einen kurzen Moment, dann klatschte er in die Hände, woraufhin die Männer am Tisch aufschreckten.
    "Schnelles Handeln ist gefragt!", verkündete Larenz. Er wandte sich an Ereck. "Ich vertraue dir die Verteidigung der Stadt an. Ich kümmere mich um den Zerbu und seine Söhne."
    "Wir haben einen Schmied aufgegabelt. Wenn ich das richtig verstehe, behauptet er, den Zerbu heilen zu können."

    Nun horchte der Seneschall auf und wurde einen Moment still. Schließlich nickte er und murmelte: "Gut. Das ... das ist gut. Ja. Ich muss ihn sofort sehen, diesen Schmied!"

    Im nächsten Moment, waren die Männer verschwunden. Ereck und Lohra hatten den Raum für sich.
    "Setz dich", sagte Ereck. "Wir haben einiges zu bereden."

    100% Konsequent!

  • "Es wird sehr riskant und schmerzhaft. Und ich werde vorher etwas recherchieren müssen", erklärte Ars der Dienerin, die es auch für Esme übersetzte. "Derweil bitte ich euch" - jetzt sprach er direkt zu der Heilerin - "Einen Weg zu finden, das menschliche empfinden zu schwächen. Eine Art Betäubungsmittel, das aber den Geist nicht beeinträchtigt. Ich erkläre euch später, wieso." Er wartete keine Antwort ab, sondern schnappte sich enthusiastisch das Pergament und lief zur Tür. Kurz bevor er den Raum verließ, sagte er noch: "Ich werde mich auf die Suche nach der städtischen Bibliothek machen. Danach muss ich Ereck Weißkrähe nochmal aufsuchen, und ihm meinen Plan erklären."
    Dann war er verschwunden.
    Das letzte was er gesagt hatte, war eine Lüge gewesen. Er wollte Ereck nicht aufsuchen, um ihm den Plan zu erklären. Nein. Er wollte zu Ereck, weil er auf die Anwesenheit der Söldnerin hoffe. Ich muss unbedingt nochmal mit ihr Sprechen, dachte er im gehen.
    Nachdem er den langen Flur und die Treppe hinter sich gebracht hatte, wurde er sofort von einer Wache des Palastes angehalten. Ars fragte ohne Umschweife nach einer Bibliothek. "Der Palast hat keine Bibliothek", beteuerte er, "Aber es gibt eine, nicht weit von hier. Ursprünglich hat sie zum Palast gehört, aber man hat den Teil, der die beiden Gebäude verband, zugunsten von Straßen abreißen müssen."
    "Ich verstehe."
    Unterwegs arbeitete Ars' Verstand ununterbrochen. Er bemerkte gar nicht, dass er die kurze Strecke zwischen Palast und Bibliothek zurückgelegt hatte, ohne von einer Stadtwache bemerkt zu werden. Schließlich betrat er das uralte Gebäude.
    Auch hier schritt er erst durch eine prunkvolle, wenn auch nicht so große Eingangshalle, bevor er das Herz der Bibliothek erreichte. Auf der hölzernen Tür waren in einander verdrehte Schlangen abgebildet, die irgendwelche Schriftrollen zu schützen schienen. Langsam drückte Ars sich gegen den massiven Türflügel und stolperte ins Innere. Die Regale reichten bis zur mehrere Meter hohen Decke und waren randvoll mit Briefen, Büchern, Schriftrollen und Zeichnungen. Aber all das war dem jungen Schmied egal.
    Er wollte nicht in einem der hier hinterlegten Bücher recherchieren, sondern in seinem eigenen. Es war ihm lediglich unangenehm dabei beobachtet zu werden. Außerdem hatte er dabei keine Ahnung, was um ihn herum geschah.
    Vorsichtig holte er das Buch aus der Verankerung an seinem Bein, legte es auf dem Tisch ab und schloss die Augen. Er fokussierte sich auf den Einband, stellte sich die alchemistischen Symbole vor, dachte an den Moment, in dem er das Buch gelesen hatte.
    Schlagartig veränderte sich seine Umgebung. Plötzlich saß er wieder auf seinem Bett in diesem dunklen, feuchten Dachbodenzimmer. Er hob den Blick und sah durch das geöffnete Fenster den wolkenlosen Sternenhimmel, wie in jenem Traum, in dem er das Buch zum ersten mal gelesen hatte.
    Und genau das tat er jetzt auch. In der Realität schlug er das Buch auf, dessen Seiten völlig leer waren, und das auch noch mit geschlossenen Augen.
    In seinem Kopf jedoch saß er an einem vertrauten Ort und las die Runen und Sigillen auf den vergilbten Seiten.

  • Lohra zog mit dem Fuß einen Stuhl so weit vom Tisch weg, dass sie sich setzen konnte und schaute Ereck fragend an.
    Er musterte sie kurz und tat es ihr dann gleich.
    "Bis Sonnenuntergang sind es nur noch wenige Stunden", stellte Ereck fest,
    Lohra nickte nachdenklich. Sie war sich nicht ganz sicher, worauf Ereck hinaus wollte, schließlich hatte er alles, was essenziell war, in ihrer Gegenwart den anderen gesagt. Deshalb schwieg sie und hoffte, dass Weißkrähe fortfahren würde. Er jedoch schien auf eine Reaktion ihrerseits zu warten, doch als keine kam, hob er wieder die Stimme: "Ich habe alles erdenkliche getan, damit wir dem Angriff stand halten können."
    "Du bist ein guter Stratege", stimmte Lohra zu und war sich bewusst, dass ihre Worte eigentlich nichtssagend waren.
    "Glaubst du ...", Ereck brach ab und musterte sie eindringlich. Lohra bekam ein ungutes Gefühl. Worauf will er hinaus?
    "Glaubst du, es ist möglich den Zebru zu heilen, auch wenn die Heilerin etwas anderes gesagt hat? ... am besten bis Sonnenuntergang?"
    Das glaubte Lohra. Wenn es einer konnte, dann der Alchimist ... wenn sie sich nicht irrte und er tatsächlich einer war. Sie fragte sich, warum der Hauptmann ausgerechnet ihr diese Frage stellte. Sie hatte von der Heilkunst trotz ihres hohen Alters, wenig mehr Ahnung als er selbst. Wahrscheinlich, weil er unterbewusst gemerkt hatte, dass sie eigentlich nicht in diese Welt gehörte.
    "Keine Ahnung", gab sie schließlich zu und verbarg ihre Gedanken hinter der gewohnten Fassade. "Spielt es denn eine Rolle? Eigentlich müsste er nur so lange bei Sinnen bleiben, um Hakiz Geschichte zu bestätigen beziehungsweise einen Nachfolger offiziell vor all seinen Söhnen bekannt zu machen."
    Ereck nickte, widersprach ihr aber: "Wenn er kurz danach stirbt, werden sie ihn für unzurechnungsfähig erklären."
    Das klang einleuchtend und ganz den gierigen Söhnen des Zebrus. Lohra fragte sich, ob einer von ihnen den Vater vergiftet hatte ... Hakiz eingeschlossen. Wer wusste schon, wen er hier alles in die Burg geschleust hatte.
    "Lass uns doch einfach nachsehen was der Wanderschmied so treibt", schlug sie vor und klatschte mit der flachen Hand auf den Tisch, als sie sich erhob. Sie spürte Erecks Blick im Rücken, als sie die Tür öffnete und in den zwielichtigen Flur verschwand. Irgendwann würde er Fragen stellen. Sie musste sich schon mal ein paar Antworten zurecht legen.

    Writers aren't exactly people ... they're a whole bunch of people trying to be one person.
    - F. Scott Fitzgerald

  • Ereck hörte laute Stimmen, als er und Lohra sich der Kammer des Zerbus näherten.

    "Da scheint es Probleme zu geben", stellte die Söldnerin fest und die beiden beschleunigten ihre Schritte. Die Tür zum Krankenzimmer stand offen. Drinnen führten Seneschall Larenz und die Kräuterfrau eine hitzige Diskussion. Als sie Ereck und Lohra bemerkten, hielten sie inne.

    "Was geht hier vor sich?", fragte Ereck. Larenz kam zu ihm herüber. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn.
    "Ereck, wo ist der Alchemist?", fragte er eindringlich. Ereck blinzelte verwirrt.
    "Alchemist?", wiederholte er. Larenz packte seine Schultern.
    "Der verwundete Schmied. Er hat dich belogen. Er ist ein Alchemist. Er und dieses alte Kräuterweib wollen den Zerbu umbringen!"
    Lohra warf Ereck einen misstrauischen Blick zu. Er selbst konnte es ebenfalls nicht glauben.
    "Aber Seneschall. Wir haben diese Frau aus dem Wald entführt. Sie hat nichts mit all dem zu tun und ..."
    "Ereck!", fiel Larenz ihm ins Wort. "Der Alchemist. Er hat sie überredet ihm zu helfen. Um sich an uns zu rächen. Der Mann wurde von Hakiz geschickt. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ein Verwundeter sich die Mühe macht, über die Mauer zu uns zu klettern. Er ist ein Spion."

    Ereck ging einen Schritt zurück und sah zu der alten Frau, die ihn mit ihren hasserfüllten grünen Augen anstarrte. Es war tatsächlich verdächtig, jetzt wo der Seneschall es erwähnte.

    "Woher habt ihr diese Information?", fragte Ereck. Der Seneschall machte eine abweisende Handgeste.
    "Ereck, es ist wichtig, dass wir diesen Alchemisten aus dem Verkehr ziehen. Er weiß zu viel!"
    "Wo ist er denn?", fragte Ereck.
    Der Seneschall deutete auf die Hexe. "Sie will es nicht verraten, sie ... "
    "Seneschall!"
    Alle drehten sich zur Tür um. Dort stand ein Soldat, der eben gekommen sein musste. "Ich bin ihm eben begegnet. Er hat nach einer Bücherei gefragt."
    Ereck nickte. "Du", sagte er zu dem Soldaten. "Ergreife diese Kräuterfrau!" Der Soldat tat wie geheißen. Die Alte wehrte sich, doch der mann konnte sie überwältigen.

    "Larenz", er wand sich an den Seneschall. "Sendet eure Männer, um den Alchemisten zu ergreifen."

    "Sofort", sagte Larenz, nun sichtlich beruhigter. Er war schon halb zur Türe raus, als er innehielt. "Ach, Ereck. Eines habe ich vergessen."
    Ereck sah zu ihm. "Dieser Matt oder wie er heißt. Der ist ebenfalls ein Spion."

    Das schien Ereck nun doch sehr weit hergeholt. "Seneschall, sind dies Anschuldigungen oder habt Ihr Beweise?"

    Der alte Mann kam zu ihm: "Ich bitte dich! Er schleicht sich auf die Mauer weil er seine Familie schützen will. Nicht gerade eine kreative Ausrede, findest du?"
    Ereck musste abwägen und kam zu dem Schluss, dass es sicherer wäre, auch Matt wegzusperren, bis er sich Klarheit verschaffen konnte.
    "Lohra und ich kümmern uns um Matt", sagte er mit einem Blick zur Söldnerin. Ihr Gesichtsausdruck verriet, dass ihr nicht wohl bei der Sache war. Dennoch nickte sie zustimmend und ging voraus. Ereck wollte ihr folgen, wurde jedoch noch einmal vom Seneschall aufgehalten. Der Alte führte seine Lippen dicht an Erecks Ohren.
    "Diese Söldnerin. Die verrät dich ebenfalls. Nimm sie fest, nachdem ihr den Schmied geschnappt habt."
    Noch bevor Ereck Zweifel äußern konnte, verschwand der Seneschall.

    100% Konsequent!

  • Matt sah sich in dem steinernen Gewölbe um, in das man ihn geführt hatte. Ein Soldat hatte ihn zuhause abgeholt für einen Botengang. Nun war der Soldat weg, sowie auch alle anderen, und er saß allein in diesem großem leerem Raum. Die Fackeln an den Wänden warfen nur ein trübes Licht auf den grauen Boden, so dass er in seiner Hand eine kleine weiß glühende Feuerkugel erschuf, die sich langsam um sich selbst drehte. Sekundenlang verlor er sich in dem grellem weiß, bis ihm die Augen weh taten. Es war so gut endlich wieder eine Flamme auf seiner Haut zu spüren. Ein Schloss klackte in seinem Rücken und das Feuer in seiner Hand erlosch augenblicklich. Er fuhr herum und sah wie ein Soldat in den Raum stürzte. Das Fackellicht reflektierte sich in der metallenen Rüstungsplatte und der Schneide seines Schwertes, das er in der Hand hielt. Sofort musste Matt gegen den Drang ankämpfen dem Mann augenblicklich eine Stichflamme entgegen zu schicken. Der Soldat wollte ihm garantiert keine Nachricht für einen Botengang übermitteln, doch das war noch lange kein Grund seine Gabe zu entblößen. Hinter dem Wächter erschienen nun auch Weißmantel und Lohra. Bei ihrem Anblick überlief ihm sofort eine Gänsehaut. Auch wenn ihre Klinge fest in der Scheide an ihrem Gürtel steckte, wirkte sie doch um ein vielfaches gefährlicher als der übereifrige Soldat. Nur Weißmantel konnte vielleicht noch mit ihrer Ausstrahlung mithalten, vor allem, da sein Blick ihm den Tod und vielfach schlimmeres androhte.
    "Ganz schön schreckhaft für einen Schmied", stellte er süffisant fest. Matt hatte das unbestimmte Gefühl, dass ihre Vereinbarung der Vergangenheit angehörte.
    "Was ist los?", fragte er dennoch und wich weiter zurück.
    "Nimm den Spion fest", wies der Hauptmann der Wache seinen Untergebenen nur an und der Soldat trat auf Matt zu.
    "Was, nein", widersprach Matt verzweifelt. "Ich bin kein Spion. Das hatten wir doch alles schon." Weißmantel trat auf ihn zu, während der Soldat ihm das Schwert an die Kehle hielt.
    "Vielleicht bist du keiner, aber du hast sicherlich deine Rolle in diesem Kampf zu spielen", meinte der Hauptmann leise und beinahe schon nachdenklich zu ihm. "Aber vielleicht verrätst du uns auch wirklich und wir werden kein weiteres Risiko mehr eingehen." Matt gab den Druck an seinem Hals nach und streckte die Hände nach vorne hin aus, damit der Soldat ihm Ketten anlegen konnte. Auch sein Messer wurde ihn genommen.
    "Das alles ist ein Missverständnis", beteuerte Matt noch einmal. "Hören sie mir zu. Bringen sie meine Familie in den Palast. Ich darf sie nicht verlieren." Nicht wieder, hätte er beinahe noch hinzugefügt. Matt spürte wie die Panik ihn einnahm. Jetzt würden seine Eltern und seine Geschwister hilflos der plündernden Armee ausgeliefert sein.
    "Ich bin nicht ihr Feind", versuchte er es ein weiteres Mal, doch Weißmantel und Lohra hatte den Raum bereits verlassen und der Soldat stieß Matt in den Rücken und zwang ihm dem Hauptmann und seiner Söldnerin zu folgen. Die Ketten rieben über seine schutzlose Haut und scheuerten sie auf. Nur zu gern hätte er sie einfach weg geschmolzen.
    "Aber wenn meine Familie wegen dir leiden muss", dachte er, "dann werde ich es."

    Er wurde in eine kleine Zelle gestoßen und landete unsanft auf dem Steinboden. Hinter ihm hörte er ein Schloss klicken und vor sich sah er eine Hand, die sich ihm helfend anbot. Matt sah auf und blickte in ein ausdrucksloses Gesicht, dem dunkle Haare über die Stirn fielen. Nach einem kurzem Zögern ergriff er die Hand und ließ sich auf die Beine ziehen. Dabei bemerkte er die Brandnarben, die sich über diese zogen. Er kannte diesen Anblick und es bereitete ihm eine Welle der Übelkeit, als er daran dachte woher die Narben aus seiner Erinnerung stammten. Von ihm selbst. Diese Übelkeit, aber auch die Welle des Gestanks, die ihn jetzt, da er das erste Mal tief Luft holte, ließ ihn schwanken. Eine raue Stimme sagte etwas in einer Sprache, die er nicht kannte. Er konnte nicht sagen, ob sie besorgt oder hämisch klang. Vielleicht auch eine Mischung aus beidem. Die Frau selbst war alt, soviel konnte er auf den ersten Blick sagen. Einzig eine weiße Kerbe unter ihrem Auge stach aus ihrem faltigem Gesicht heraus. Ihr dunkelbraunes Kleid, sowie ihre Weste, hatten schon bessere Tage gesehen. Nur einen Augenblick noch musterte er die alte Frau, dann wandte er sich wieder an den anderen, der im Kontrast kaum volljährig sein mochte, in der Hoffnung, dass er sich mit ihm verständigen konnte.
    "Und, wie seit ihr hier unten gelandet?", fragte er. Sein Gegenüber musterte ihn nun seinerseits nachdenklich.

    Wer zu lesen versteht, besitzt den Schlüssel zu großen Taten, zu unerträumten Möglichkeiten.

    Aldous Huxley

  • Die Tatsache, dass ein weiterer Gefangener zu ihnen Gestoßen war, überraschte Ars auf positive Weise. Er verschwendete keinen Gedanken an den Grund seiner Verhaftung, denn in einer Situation wie dieser konnte man für alles mögliche eingesperrt werden. Allem Anschein nach zu urteilen war er ein recht kräftiger jungen Mann, etwas älter als Ars.
    Er könnte sich als nützlich erweisen..., dachte er - und bemerkte nicht, dass er seinen Gegenüber anstarrte, ohne auf seine Frage einzugehen. Versuchte es erneut: "Versteht ihr, was ich sage?" Der Mann warf einen Blick zur Heilerin, dann kehrte er zu Ars zurück. Nach einem weiteren Moment des Schweigens brach der Junge schließlich die Stille. "Mein Name ist Ars Symbolon, ich war Kriegsgefangener der Angreifer vor den Toren der Stadt, bis ich entkommen und hinter die Mauer fliehen konnte. Nachdem diese Heilerin namens Esme meine Wunde versorgt hatte" - er zog den Ärmel zurück und zeigte ihm das genähte Gewebe - "planten wir die Heilung des Herrschers dieser Stadt mithilfe der Heilalchemie. Bei den Vorbereitungen wurden wir jedoch plötzlich beide verhaftet und hierher gebracht. Wir planten gerade unsere Flucht, bei der ihr uns, wie ich hoffe, unterstützen werdet, als man euch hereinstieß." Er reichte dem Mann wie zur Begrüßung die Hand. "Ich hoffe damit nicht nur eure letzte, sondern auch alle zukünftigen Fragen beantwortet zu haben. Wie lautet euer Name?"
    Der Mann sah ihn etwas verdutzt an, sammelte sich jedoch schnell und ergriff seine Hand mit festem Griff. "Matt", stellte er sich vor. "Und wie gedenkt ihr, von hier zu entkommen?"
    "Das habe ich vergessen zu erwähnen. Ich bin Alchemist." Matt wirkte verwirrt. "Ein was?"
    "Ich zeige es euch am besten."

    Als er fertig war saßen sie um ein glühendes Stück Metall herum und starrten es an. "Wirklich beeindruckend", lobte Matt. "Aus einem Ziegelstein ein Messer zu formen gehört wirklich nicht zu den alltäglichen Arbeiten eines Schmieds."
    "Nein", bestätigte Ars und stand auf. Er ging zum kleinen Gitter, das sich auf Augenhöhe in der Tür befand und warf einen vorsichtigen Blick hinaus. "Es stehen keine Wachen vor der Tür."
    "Sie werden wohl die meisten von ihnen zur Mauer beordert haben, um die Stadt zu verteidigen. Wahrscheinlich sind hier nur die nötigsten Männer vorhanden, damit keine Gefangenen entkommen."
    "Nun", meinte Ars und lächelte zum ersten Mal seit Langem. "Dann lasst uns mal dafür sorgen, dass die paar Männer hier etwas zu tun haben."
    Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, da lag seine Hand schon flach auf der mit Metallbeschlägen verstärkten Holztür. Die Bannkreise, die in die Ringe an seinen Fingern graviert waren, begannen zu glühen.
    Er schloss die Augen. Plötzlich kam ihm eine Sekunde wie eine Ewigkeit vor. Er konzentrierte sich auf die Tür, drückte die Hand noch fester auf das Holz und - konnte sie plötzlich in einer Explosion aus Partikeln in der Dunkelheit unter seinen Augenlidern sehen.
    Die blau-grünen Sandkörner wirbelten in der Schwärze umher und formten so die Tür.
    Ars atmete ein und öffnete die Augen. Er fokussierte das massive Holz und vermischte das Bild in seinem Kopf mit dem, was er wirklich sah. Breche!, dachte er und presste die Zähne auf einander. Breche! wiederholte er.
    Die Partikel wirbelten immer schneller umher, bis das Holz schließlich in einem Tosen aus blauem Sand explodierte. Die chaotische Masse formte sich neu und bildete drei runde Scheiben auf dem Boden. Dann ordneten sich die Partikel und kamen wieder zur Ruhe. Das Glühen verschwand. Was übrig war waren drei runde Holzschilde mit Metallbeschlägen und Lederriemen an der Innenseite.
    Zufrieden wischte sich Ars den Schweiß von der Stirn.
    "Jetzt kommt der schwierige Teil", keuchte er.

  • Lohra stand mit Ereck auf dem Gang.
    Larenz hatte Weißmantel eben seiner schnellen Arbeit gelobt und war dann - mit einem vielsagenden Blick auf Lohra - abgezogen.
    "Meinst du es ist klug den Alchimisten und die Hexe einzusperren?", fragte sie ihn schließlich.
    "Ich wüsste nicht, was dich das angeht." Erecks plötzliche Kälte in der Stimme überraschte sie.
    "Sie hätten den Zebru heilen können. Vielleicht dieses Drama hier entschärfen können."
    "Und was macht dich so sicher, dass sie ihn hätten heilen können."
    Innerlich biss Lohra sich auf die Zunge. "Alchimisten sind zu vielem fähig", wich sie aus.
    "Sie wollten ihn umbringen", stellte Ereck trocken und bestimmt fest. Dann gab er den Wachen einen Wink. Sofort sprangen sie auf Lohra zu und wollten sie ergreifen. Geistesgegenwärtig riss sie das Schwert aus der Scheide, und schlug damit die Arme der Soldaten zur Seite. Einer jaulte auf, als das harte Metall gegen seinen Ellbogen krachte und es hässlich knackte. Der andere kam nicht zum Schreien, denn hatte Lohra ihm schon die Breitseite ihrer Waffe gegen die Schläfe geknallt. Das Knirschen hinter ihr, verriet ihr, dass nun auch Ereck seine Waffe gezogen hatte. Wütend fuhr sie herum und fing seine Klinge über ihrem Gesicht ab und ließ sie an ihrer abgleiten. Ein kurzer aber heftiger Kampf entbrannte, in dem sich die beiden nichts schenkten. Lohra steckte einen brennenden Schnitt in der Seite und am Oberschenkel ein, Ereck eine Platzwunde über dem rechten Auge. Wütend krachten die Schwerter immer wieder aufeinander, Schweiß glitzerte wie kostbare Perlen im Licht.
    "Du bist eine elende Verräterin!", brüllte Ereck zwischen zwei Atemzügen.
    Lohra nutze seine durch seine Worte entstandene Unachtsamkeit und drängte ihn gegen die Mauer. Sie verzichtete darauf ihm die Klinge an die kehle zu setzen. Sofort wollte Ereck dies ausnutzen, doch in Lohras Augen stand der Zorn eines Trolle, in ihren Zügen die Kaltblütigkeit der Elfen und als sie ein orkisches Zischen ausstieß und ihre spitzen Eckzähne dabei entblößte, hielt Ereck inne.
    "Überleg dir, wer von uns lang genug hier war, um sich kaufen zu lassen! Ich, die Heilerin, oder die beiden Jungs waren es sicherlich nicht!"
    Lohra hoffte, dass Ereck die indirekte Spitze auf Larenz verstehen würde, aber sie wartete seine Reaktion nicht ab, sonder stürmte wutentbrannt Richtung Kerker. Sie würde die anderen befreien und sich aus dem Staub machen. Sie hatten mit all dem nichts zu tun und Lohra fühlte sich nicht länger verantwortlich.

    Writers aren't exactly people ... they're a whole bunch of people trying to be one person.
    - F. Scott Fitzgerald

  • Das Blut brannte in Erecks rechtem Auge. Halb blind und benommen taumelte er durch den Gang. Er hatte gewusst, dass Lohra kämpfen konnte, aber mit solcher Gegenwehr hatte er nicht gerechnet. Er hätte seinen Plan genauer durchdenken sollen.

    Plötzlich griff eine Hand nach seiner Schulter. Er fuhr herum, das Schwert gezückt, doch ließ er es schnell sinken, als er bemerkte, dass er einem seiner Männer gegenüberstand.

    "Hauptmann, geht es Euch gut?"
    Ereck winkte die Frage ab und deutete den Gang hinab. Der Blick der Wache folgte seinem Finger.
    "Die Söldnerin wird sich zum Kerker aufmachen!", stöhnte er. In diesem Moment kamen weitere Soldaten in den Gang. Sie starrten auf Ereck, der noch immer leicht schwankte.
    "Steht da nicht rum, wie die Ölgötzen!", brüllte er und ein stechender Schmerz durchfuhr seinen Schädel. Er packte die Wache neben sich an den Schultern.
    "Folge der Frau zu den Verliesen und verriegele die Tür hinter ihr, wenn sie unten ist! Verstanden?"
    Die Wache nickte und sprang ohne ein weiteres Wort los. Ereck wandte sich an die anderen.
    "Ihr!", sie horchten auf. "Verschließt sämtliche Zugänge zum Kerker und du ..." Er deutete auf Gronz, den einzigen der Gruppe, den er kannte. "Geh zu den Öfen. Verbrenne das rote Pulver. Das rote, nicht das blaue. Verstanden?"
    "Unter welcher Zelle?", fragte Gronz.

    "Unter allen!", drängt Ereck und scheuchte ihn fort. Dann taumelte er zurück in die Gemächer des Zerbus, der jetzt ganz allein sein musste. Während er zur Tür ging, dachte er an Lohra. Er hoffte wirklich, Gronz würde das richtige Pulver wählen.

    Unter den Verliesen des Palastes befanden sich Öfen, die durch Rohre mit den Zellen und Gängen darüber verbunden waren. In diesen Öfen konnte man durch das Verbrennen verschiedener Pulver Dämpfe erzeugen. Das rote würde jeden, der sich in der Nähe des Verlieses befand, augenblicklich ohnmächtig werden lasse. Das blaue würde sie töten. Aber töten wollte Ereck die Söldnerin nicht. Er wollte sie schützen.
    Als er im Zimmer des Zerbus eintraf stellte er fest, dass der alte Mann tatsächlich ganz alleine war. Doch was fiel schockierender war, war das Rakzar am Fenster stand und hinausblickte. Es war das erste Mal seit Wochen, das Ereck den alten Mann stehend sah.
    Der Zerbu drehte sich um. Er bewegte sich langsam und zitterte. Sein Blick war glasig.

    "Sieh nur, die Sternschnuppen, Ereck", murmelte er. Dann kippte er nach vorne um und schlug hart mit dem Gesicht auf den Boden, bevor Ereck ihn erreichen konnte. Als er den Zerbu auf den Rücken drehte, stellte er fest, dass der Alte nicht mehr atmete. Einen kurzen Moment war Ereck vollkommen reglos. Ihm war, als sei die Welt in Stillstand geraten und er fühlte ... gar nichts. In ihm war alles leer. Mit dem Zerbu war der Sinn in seinem Leben gestoben. Erst jetzt realisierte er dies.

    Ein lauter Knall riss ihn aus seinen Gedanken. Er ging zum Fenster und sah die "Sternschnuppen" von denen Rakzar gesprochen hatte. Brennende Fässer sausten durch die Luft und hinterließen feuerrote Schweife, die sich vom Nachthimmel abhoben. In der Ferne konnte er das Knarren und Krachen der Tribocke hören, die Hakiz vor der Stadt hatte aufbauen lassen.

    Erecks blickte wanderte zum Horizont, wo gerade ein letztes Mal die Sonne aufblitze bevor sie verschwand, als würde sie nie wieder zurückkehren.

    100% Konsequent!

  • Staunend betrachtete Matt die Tür, die nun dort, wo einst Stein und Felsen allen Hoffnungen getrotzt hatten, prangte. Sie war schlicht gefertigt - aus Holz und mit einem Eisenknauf -, doch alle außer dem Alchemisten selbst starrten sie an, als wäre sie das größte Wunder, das sie je gesehen hatten. Nun ja. Das zweitgrößte in Matts Fall, aber das war doch auch schon was. Ars führte seine Hand zum Knauf, verharrte kurz darüber, als fürchte er selbst, dass sie verschlossen sein könnte, und drehte ihn dann schnell. Die Tür schwang mit einem kaum vernehmbarem Quietschen auf. Dahinter kam ein langer Korridor zum Vorschein, der einzig von vereinzelten Fackeln an den Wänden erhellt wurde, die ihren tanzenden Schein auf den steinernen Boden warfen. Nach einem kurzem einvernehmlichem Blick, den die drei tauschten, hoben sie die Holzschilde auf, die Ars ebenfalls geformt hatte - weswegen hatte er nicht gesagt - und schoben sich durch die Tür. Die Alte murrte etwas in ihrer eigenen Sprache, doch sie folgte ihnen mit derselben Entschlossenheit in ihren Augen, wie Matt sie in Ars erkennen konnte und die beiden vermutlich auch in seinen. Er konnte kaum vorhersagen welche Schwierigkeiten diese neuen Entwicklungen mit sich brachten, aber leicht würde es sicher nicht werden.
    Sie folgten dem Korridor, wobei sie die Richtung in der sie dies taten durch Zufall bestimmten, bis zu einer weiteren Tür - diesmal eine gewöhnliche von Menschenhand geschaffene - und öffneten sie ohne zu zögern. Ihr Verschwinden würde sicher bald bemerkt werden und wenn die Wachen Wind davon bekommen hatten, dass sie sich nicht mehr im Zellenblock aufhielten, dann würden sie früher oder später wohl auf die Idee kommen die Tür zu benutzen, die Ars erschaffen hatte, und dann sollten sie sich möglichst nicht mehr in diesem langen gleichbleibenden Gang aufhalten, der soweit sie es beurteilen konnten, nicht allzu viele Möglichkeiten zum Verstecken bot.
    Die geöffnete Tür gab den Blick auf ein Zimmer frei, nicht viel größer als ihre Zelle, doch bedeutend gastfreundlicher eingerichtet. Eine Kohlepfanne vertrieb die Kälte, die sich hier unten in dem Gemäuer eingenistet hatte - obgleich der Rauch nirgendwohin abziehen konnte und deshalb die Decke über ihnen schwarz färbte -, ein Tisch, an dem eine Bank stand, wartete mit Kerzen und einem Teller voller geschnittenem Brot auf und - was besonders erfreulich war - drei weitere Türen führten in verschiedene Richtungen fort, sodass sie es jedem, der ihnen folgte, schwer machen konnten. Einzig getrübt wurde das Bild durch den Soldaten, der es sich an dem Tisch gemütlich gemacht hatte und gerade an einem Stück Brot kaute, dessen Rest er noch in der Hand hielt. Matt reagierte blitzartig, sprang vor und donnerte dem armen Mann, der nicht einmal heruntergeschluckt hatte, die Faust gegen die Schläfe. Augenblicklich sank der Gardist in sich zusammen und fiel rückwärts von der Bank. Es wäre wohl richtig gewesen den Mann aufzufangen, doch Matt dachte erst daran, als der Körper schon auf dem kahlem Stein aufgeschlagen war. Aus den Augenwinkel bemerkte er die fragenden Blicke seiner zwei Begleiter, die nun ebenfalls den Raum betreten hatten, und schnell drehte er sich zu ihnen um.
    "Jeder hat eben seine Geheimnisse", behauptete er mit einem Grinsen und hoffte, dass dies die Fragen zurückhielt. Sie hatten ohnehin besseres zu tun.
    "Da könntest du sogar recht haben", antwortete eine weibliche Stimme, mit der er nicht gerechnet hatte. Es war nicht die raue der Alten, die plötzlich gelernt hatte in ihrer Sprache zu sprechen, sondern eine viel hellere, die trotz des gedämpften Tonfalls auf seltsame Art und Weise von der Decke und den Wänden wiederhallte. Erschrocken fuhren alle drei zu der Tür um, aus der sie getreten waren, und Matt konnte sich noch gerade so zurückhalten einen Feuerball zwischen seinen beiden Gefährten hindurch auf die Öffnung zu schleudern. In dieser stand Lohra, beinahe lässig an den Türrahmen gelehnt, und Matt hatte sofort wieder dieses unbehagliche Gefühl, das er auch zuvor in ihrer Nähe gespürt hatte. Es mochte an den Geschichten liegen, die er von ihr gehört hatte, ohne dass sie sich je ereignet hatten, oder aber an dem Bedrohlichem, dass sie an sich hatte, doch es wurde ohnehin von der Tatsache übertroffen, dass sie eigentlich ihre Feindin war. Das dachte wohl auch Ars, der das Schild, von dem Matt immer noch nicht wusste wieso er es mitgenommen hatte - oder wieso die anderen beiden es dem Alchemisten nach getan hatten - schützend vor sich hielt und einen Schritt zurück wich.
    "Lass uns in Ruhe", verlangte Matt und blickte kurz auf das Schwert des Soldaten, das immer noch an dessen Gürtel hing. Es würde ihm nicht viel nützen, doch vielleicht machte es ja Eindruck auf sie. Dann viel sein Blick auf ihr eigenes Schwert und er verwarf diesen Gedanken wieder. Vermutlich würde sie sich dann viel eher zu einem Zweikampf herausgefordert fühlen und das würde gewiss nicht gut für ihn ausgehen. Innerlich bereitete er sich bereits darauf vor seine Gabe einzusetzen, sog die Wärme in sich hinein wie ein gieriger Verdurstender einen Krug voll klarem Quellwasser, doch noch hielt er sich zurück. Er würde sich erst offenbaren, wenn es nicht mehr anders ging. Wenn die Alternative dazu von seiner Gabe Gebrauch zu machen der Tot war.
    "Ganz ruhig", erwiderte die Söldnerin mit einem spielerischem Lächeln. "Ich werde euch schon nichts tun." Sie stieß sich von dem Türrahmen ab und kam langsam auf sie zu. Wie ein Stallbursche, der sich einem scheuendem Pferd nähert, oder ein Wolf beim heranpirschen an eine Schafsherde.
    "Ereck", ihr Gesicht verzog sich beim Aussprechen dieses Namens, "Hat mich genauso verraten wie euch. Ich will euch nicht schaden, ich will euch helfen aus diesem Palast zu entkommen. Von mir aus auch aus der Stadt und an dem Lager davor vorbei. Lange werden sich diese Soldaten nicht mehr zurückhalten. Das ist nicht unserer Kampf. Nicht mehr." in ihrem Ton schwang leichtes Bedauern mit, doch vielleicht bildete er sich das auch nur ein.
    "Meiner schon", widersprach Matt. "Ich habe hier Familie."
    "Dann bringe ich dich eben nur bis vor die Palastmauern", antwortete Lohra mit einem Achselzucken. "Will sonst noch irgendwer bleiben." Ars schüttelte schnell den Kopf. Die alte Frau erwiderte nichts, was ja auch nicht weiter verwunderlich war, doch sie hatte schon von Anfang an so gewirkt, als wolle sie nur möglichst schnell möglichst weit weg von hier. Matt überlegte kurz, ob er noch irgendetwas einwerfen sollte, immerhin konnten sie Lohra noch immer nicht wirklich vertrauen. Es konnte genauso gut sein, dass sie sie zurück in die Arme von Unor führte. Andererseits blieb ihnen nicht wirklich eine Wahl, wenn sie eine Chance haben wollte und wenn man es recht bedachte, hatte sie eigentlich genauso wenig Grund ihnen zu trauen.
    "Dann sollten wir gehen", erinnerte Ars sie nun an die brenzlige Lage, in der sie sich noch immer befanden. "Wenn sie uns finden kann, dann können andere es auch."
    "Keine Sorge", behauptete Lohra. "Als ich die Tür in eurer Zelle entdeckt habe, hat man gerade angefangen irgendeinen Dampf in den Gefängnistrakt zu pumpen. Ich kam noch gerade so hindurch, bevor es mich erwischt hätte. Es wird sicher eine Weile dauern, bis das Gas verzogen ist und dann erwarten sie uns schlafend oder sogar Tot vorzufinden. Solange wir also nirgendwo allzu viel Aufmerksamkeit erregen, sollte es noch etwas dauern, bis sie anfangen den Palast abzusuchen."
    Dennoch wählten sie daraufhin eine der anderen Türen aus. Es brachte immerhin nichts dort zu verweilen bis es soweit war. Nun übernahm Lohra die Führung und lotste sie durch ein Wirrwar aus Gängen und Treppen, die sie immer weiter hinauf brachten. Keiner fragte, was sie vorhatte. Vermutlich hatten sie alle viel zu viel Angst davor, dass sie nicht antworten konnte. Immer wieder begegneten sie anderen - vornehmlich Dienern in dunkelgrünen Livreen - doch niemand verschwendete mehr als ein zwei Blicke an sie. In so einem Palast musste es vor Menschen - so eigenartig sie teilweise auch sein mochten - nur so wimmeln und zumindest Lohra hatten einige vermutlich schon gesehen. Deshalb kamen sie auch unbehelligt weiter und Matt riskierte sogar hier und da einen kurzen staunenden Blick auf die kunstvollen Wandbehänge und Reliefs, die die Steinwände überall hier zierten. Er hatte schon viele Paläste gesehen und viele davon auch von Innen, doch die Schönheit der meisten Orte geht verloren, wenn sie brennen und bereits teilweise zu Ruinen verfallen sind. Genau wie die Fähigkeit der Menschen die verbleibende Anmut, wenn denn noch etwas davon geblieben war, aufzunehmen. Zuviel Ruß, Trümmer und gelegentlich auch Leichen, die jeden Mann und jede Frau stur nach vorne blicken ließ, um so wenig wie möglich an der Umwelt zu bemerken.
    Sie durchquerten gerade einen dunklen Korridor - die Sonne ging unter und nur noch wenige Strahlen verirrten sich durch die vielen offenen Fenster zu ihnen hinein - als sie das erste Mal den dumpfen Aufprall hörten. Gefolgt von weiteren. Matts Magen schnürte sich zusammen. Er kannte diesen Klang nur zu gut, doch er gestand sich dies nicht ein, sodass er halb von Neugierde und halb von schlechter Vorahnung getrieben an eines der Fenster stürzte. Vor ihm breitete sich die Stadt aus, doch Flammen tanzten zwischen einigen Häusern und ihr Glühen tauchte die Straßen und Gassen in ein beinahe sanftes Licht. Er konnte sie nicht hören, wusste aber von den Schreien, die gerade zu Hunderten die Nacht zerrissen. Vielleicht sogar zu Tausenden. Vor seinen Augen hoben sich weitere brennende Punkte von jenseits der Mauern in die Luft und beschrieben einen weiten Bogen, bevor sie krachend und explodierend in Pflaster und Fels einschlugen, Mörtel zerbersten ließen und Holz entfachten, sodass sich ein Feuer ausbreiten konnte, dass nur noch Asche, Ruß und schwarze Ruinen zurückließ.
    "Nicht schon wieder", sagte er viel zu laut, doch in diesem Moment war es ihm vollkommen egal, dass die anderen ihn hörten. Sollten sie ihn doch für verrückt halten, wenn sie das wollten. Er war sich da ja selbst manchmal nicht ganz sicher.

    Wer zu lesen versteht, besitzt den Schlüssel zu großen Taten, zu unerträumten Möglichkeiten.

    Aldous Huxley

  • Ereck stand alleine am Fenster. Die Leiche seines ehemaligen Herrn hatte er ins Bett gelegt und mit einem Laken bedeckt. Nun beobachtete er die Fässer, die durch die Luft rauschten, und die Wachen, die weit unter ihm in den Straßen umher liefen, klein wie Ameisen. Er hatte niemanden über Rakzars Tod informiert. Wozu auch. Es änderte nichts und selbst wenn, würde es die Dinge nur verschlimmern. Nach einigen Minuten kam ihm der Gedanke, dass er eigentlich auf der Außenmauer sein müsste, um seine Männer zu kommandieren, doch darin konnte er keinen Sinn erkennen. Er hatte dem Zerbu gedient. Der Zerbu war tot. Wer wusste, wer sich diesen Titel als nächstes verleihen würde. Ihm war es gleichgültig. Er würde sich im Trubel der Schlacht aus der Stadt schleichen und irgendwo ein neues Leben anfangen.

    Plötzlich musste er an Lohra denken. Ob man sie und die anderen schon geschnappt hatte? Er hätte sie in seinen Plan einweihen sollen, sicher wäre sie damit einverstanden gewesen, sich einsperren zu lassen. Doch der Seneschall war in der Nähe gewesen und die Festnahme hatte glaubhaft aussehen müssen. Er konnte nicht glauben, dass die Söldnerin eine Spionin war. Aber es wäre zu gefährlich gewesen, wenn sie sich frei im Palast bewegt hätte. Wäre sie den Männern des Seneschalls in die Hände gefallen, wer weiß ob die sie am Leben gelassen hätten.

    Er fasste einen Entschluss. Er würde sich auf die Suche nach ihr machen. Würde sie und die anderen aus dem Palast befreien. Das war seine neue Aufgabe.

    Jemand kam herein.

    "Hauptmann, warum seid Ihr nicht an der Mauer?" Die Stimme war Ereck vertraut. Es war Brakh, einer der Diener des Zerbus. Als er die Leiche seines Meisters sah, verharrte er kurz reglos und seine Haut wurde weiß.
    "Er ist tot", sagte Ereck ohne zum Bett zu blicken. Brakh sah in entsetzt an.

    "Wie schrecklich", wisperte er heißer. "Habt Ihr es dem Seneschall schon gesagt?"

    Der Hauptmann schüttelte den Kopf. Brakh seufzte.
    "Es wird ihn hart treffen. Larenz und Rakzar waren enge Freunde, seit sie sich vor einigen Jahren in Ragnaz kennen gelernt haben."

    Ereck horchte auf. Ragnaz. Der Name dieser Stadt kam ihm seltsam vertraut vor.
    "Wo haben sie sich kennengelernt?", fragte er.
    "In Ragnaz. Larenz hat damals im Stadtarchiv gearbeitet und für den Zerbu und seinen Sohn Hakiz einige Dokumente aufgegeben."
    Es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. Larenz hatte vom Testament Rakzars gewusst. Er hatte es gestohlen. Er hatte die Heilerin loswerden wollen, weil er wollte das der Zerbu starb. Aber warum? Es war zwar üblich, das der Seneschall nach dem Tod die Regierungsgeschäfte übernahm, aber nur, bis der Sohn den Platz einnehmen konnte. Aber alle Söhne Rakzars waren doch hier. Sie ...

    "Brakh!" Der Diener horchte auf, wegen Erecks strengem Ton. "Wo sind Ruhur und die anderen Söhne?"

    Der Diener blinzelte verwirrt. Der Hauptmann packte ihn an den Schultern.

    "Wo sind ... " Er hielt inne. In der Tür zur Kammer stand Larenz. Mit einer beinah ausdruckslosen Miene starrte er auf den Leichnam im Bett. Seine Finger zupften unruhig an seinem Bart.
    "Ereck", sagte er. "Der Zerbu ist tot. Warum hast du nichts gesagt, wir müssen sofort handeln. Wir müssen seine Söhne ergreifen und einsperren, bevor sie anfangen, sich gegenseitig umzubringen. Wir können es uns nicht leisten Chaos innerhalb der Mauern ausbrechen zu lassen. Wir beide werden so lange die Regierung übernehmen, bis Hakiz vertrieben ist."
    Erecks Verdacht hatte sich soeben bewahrheitet. Einen kurzen Augenblick wusste er nicht, was er sagen sollte. Larenz starrte ihn ungeduldig an.
    "Wieso ergeben wir uns nicht?", sagte Ereck. "Hakiz ist doch der älteste. Gebt ihm den Thron."

    Larenz Stirn runzelte sich.
    "Aber Ereck, sei vernünftig. Wenn wir ihn einlassen, wird er die Stadt zerstören. Komm jetzt, wir müssen handeln!"

    "Ihr wollt den Thron für Euch selbst, nicht wahr?" Ereck hatte genug von diesen Intrigen. Er war es leid. Er wollte nur noch weg. "Dann nehmt ihn euch. Mir ist es gleich, nur lasst mich da raus."
    "Es tut mir leid, dass du so denkst", sagte der Seneschall mit falschem Bedauern. Hinter ihm traten zwei Männer der Leibgarde aus der Dunkelheit.
    "Aber du kannst nicht gehen. Ich muss von dir wissen, wo die Spione sich verstecken. Sie wissen das der Zerbu tot ist. Und die Söldnerin weiß von dem Dokument."
    "Ich habe keine Ahnung, wo sie sind", entgegnete Ereck ohne zu zögern. Die Gardisten zogen ihre Schwerter. Brakh schrie auf und sauste an ihnen vorbei, doch gelang es dem linken Mann ihn zu packen. Der Diener zuckte und wehrte sich wie verrückt, während der Soldat ihm die Klinge an die Kehle setzte. Diesen kurzen Moment der Verwirrung nutze Ereck um seinen Streithammer zu zücken. Als die andere Wache dies bemerkte, stieß sie den Seneschall zur Seite. Krachen trafen Speer und Hammer aufeinander. Es war ein kurzes Gefecht. Ereck gelang es, dem Mann das Bein wegzuziehen. Als er stolperte, bohrte der Hautmann ihm den Dorn seiner Waffe in den Rücke.

    Hinter sich hörte Ereck Schritte, doch konnte er seinen Hammer nicht schnell genug aus dem Toten lösen. Ein heftiger Schlag in den Hinterkopf brachte ihn zu Boden.

    "Schnappt die Söldnerin! Verdoppelt die Wachen! Durchsucht den Palast!", hörte er Larenz noch rufen, ehe er ohnmächtig wurde.

    100% Konsequent!

  • Lohra fluchte lautstark. Über den Tumult hatte sie Matts Worte nur schwach vernommen, aber was auch immer er gesagt hatte, es war ihr herzlich egal. Sie mussten aus der Stadt raus - und zwar dringend.
    "Wir müssen uns beeilen!", rief Lohra über den Lärm hinweg.
    "Meine Familie!", wandte Matt ein und wehrte sich, als sie ihn mit sich ziehen wollte. Sie erinnerte sich an ihr Versprechen und nickte dem Jungen zu. "Wir holen sie."
    "Du!", sie deutete auf den Alchimisten. "Ars", antwortete er trocken und Lohra fragte sich, ob er Nerven aus Stahlseilen hatte.
    "Gut, Ars. Kannst du Esme tragen? Wir müssen sehen, dass wir aus der Stadt raus kommen."
    "Raus?", riefen beide Männer entgeistert. "Die Armee umzingelt uns!"
    "Die Gänge unter der Bibliothek kennt so gut wie niemand!", rief Matt plötzlich. Er musste es wissen, schließlich wohnte er schon sein ganzes Leben in der Stadt. Lohra schnürrte es bei dem Gedanken sich wieder in Katakomben begeben zu müssen - noch dazu mit einem Alchimisten - die Kehle zu, aber es schien der beste Einfall zu sein, den sie hatten. Widerwillig stimmte sie zu. Sofort hievte Ars sich die Heilerin auf den Rücken, die ihn in einer fremden Sprache lautstark beschimpfte, doch davon ließen sich die anderen nicht beeindrucken. Eilig hasteten sie durch die Gänge, die Lohra sich in kurzer Zeit eingeprägt hatte. Nur noch eine Ecke und sie wären am Ausgang. Schlitternd brausten sie um besagte Kurve und kamen abrupt zum stehen, als sie Soldaten mit gezückten Schwertern auf sich zu eilen sahen.
    "Die Söldnerin und das Pack! Schnappt sie euch!"
    Lohra konnte einfach nicht glauben, dass Ereck so verblendet war und in diesem Trubel tatsächlich nach ihnen suchen ließ.
    Der Mann war nicht dumm und äußerst pflichtbewusst. Niemals würde er Soldaten abziehen, die die Stadt verteidigen konnten, um ein paar dahergelaufene Möchtergerns, wie sie sie waren, suchen zu lassen.
    "Ach Scheiße!", murmelte sie, weil sie wusste, dass sie zurück gehen und nach Weißmantel suchen würde. Innerlich verfluchte sie ihr Verantwortungsgefühl.
    Sie war froh, dass keiner der Soldaten andere Waffen trug, als ein Schwert. So blieben ihre Verletzungen auf ein Minimum beschränkt.
    Mit einem Schrei zückte sie ihr Schwert und stürzte sich in den Kampf. Im letzten Moment ließ sie sich fallen, schlitterte dem ersten Soldaten zwischen den Beinen durch und durchtrennte mit ihrem Schwert die Achillissehne des Mannes. Sofort knickte sein Bein und der Mann ging schreiend zu Boden. Sein Schwert klapperte über den Stein und Lohra trat es weit weg, damit er ihr nicht das Gleiche antun konnte. Sie wollte niemanden töten, nur unschädlich machen.
    Geschmeidig kam sie auf die Füße und ihre Waffe verwandelte sich in einen silbernen Blitz. Ars und stand mit dem Rücken zur Wand, um Esme zu schützen, die wütend mit ihrem Messer fuchtelte. Matt hielt ihnen die Hiebe mit den Schilden vom Leib. Dem Letzten, der die anderen bedrängte, rammte Lohra ihren Schwertknauf zwischen die Schulterblätter. Bewusstlos ging dieser zu Boden. Plötzlich sah sie Esme ausholen. Sie warf über Ars' Schulter das Messer ... in ihre Richtung! Empört und erschrocken über diesen Verrat war Lohra nicht um Stande sich zu rühren, doch dann zischte das Messer an ihr vorbei und sie hörte einen dumpfen Einschlag, ein röcheln und dann wie jemand zu Boden ging. Lohra drehte sich um und erkennte einen Soldaten, den sie übersehen haben musste. Esma hatte nicht so viel Skrupel wie die Söldnerin. Die Klinge steckte im Hals des Angreifers. Lohra bückte sich, zog das Messer und reichte es Esme zurück. Dankbar lächelte sie ihr zu und hoffte, dass die Heilerin ihre Mimik deuten konnte.
    "Geht schon vor. Der Durchgang ist frei! Nehmt euch vor den Fässern in Acht!", wandte sie sich schließlich an die anderen.
    "Wo willst du hin?", fragte Matt.
    "Ich gehe und suche Weißmantel. Hier stinkt etwas gewaltig zum Himmel."
    Ars nickte schließlich. "Wir treffen uns in einer Stunde vor der Bibliothek."
    Lohra warf allen Dreien nochmal einen Blick zu und eilte dann zurück in die Burg.

    Writers aren't exactly people ... they're a whole bunch of people trying to be one person.
    - F. Scott Fitzgerald

  • Matt warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. Er konnte nicht behaupten, dass er verstand was in der Frau vor sich ging. Hatte sie Ereck eben nicht noch verflucht. Offenbar dachte sie, dass sich Weißmantel jetzt irgendwie in Gefahr befand. Doch in welcher Gefahr sollte er sich befinden, von der, die von der Armee ausging, die gerade die Burg stürmte, einmal abgesehen. Und wieso sollte sie ihm daraus helfen. Immerhin hatte er sie alle - laut ihrer eigenen Aussage - verraten und dachte, dass jeder von ihnen ein gemeiner Spion war. Ein Runzeln warf seine Stirn in Falten. Offenbar gab es da einiges, dass er nicht wusste oder nicht verstand. Gewiss. Er schüttelte den Kopf. Solange sie in einer Stunde am vereinbarten Treffpunkt war und half seine Familie außer Gefahr zu bringen, konnte sie mitbringen, wen sie wollte. Bei den Dryaden. Seine Familie. Was kümmerte ihn, was die Söldnerin vorhatte. Er musste zu seine Familie.
    Sofort drehte er sich um und ging entschlossenen Schrittes voran, bis ihm aufging, dass er keine Ahnung hatte, wie sie diese Burg verlassen sollten.
    "Dorthin wo der meiste Lärm ist", überlegte er, denn tatsächlich hörten sie ein nicht allzu fernes Stimmenwirrwarr. Die Palastwachen mussten begonnen haben einen Teil der Bevölkerung zu evakuieren. Tatsächlich stolperten sie augenblicklich später in eine große Halle, die in einem riesigen offenen Tor endete. Durch die Lücke, die zwischen den beiden Holzflügeln entstanden war, drängten sich hunderte von Männern, Frauen und Kinder. Natürlich waren überall Wachen, doch niemand bemerkte die kleine Gruppe in dem Trubel und wenn, dann hielt man sie vermutlich ebenfalls für Flüchtende. Eigentlich waren sie je genau das, nur dass sie den Palast zu verlassen, anstatt zu betreten versuchten.
    "Matt", sagte plötzlich eine Stimme zu seiner Seite. Das hieß, dass sie es eigentlich schrie, da sie ansonsten über all den Lärm hinweg selbst auf diese kurze Entfernung hin unverständlich gewesen wäre. Er drehte sich um und starrte in das Gesicht seines Vaters, der vor seiner Mutter und seinen Geschwistern stand.
    "Weißmantel hat sein Versprechen tatsächlich gehalten", dachte er. "Vielleicht liegt Lohra doch nicht so falsch dabei ihm zu helfen."
    "Wir haben dich überall gesucht", rief ihm sein Vater mit einer Mischung aus Zorn und Erleichterung zu. "Wo warst du. Diese Wache, die uns abgeholt hat, meinte, dass es dir gut ginge, aber mehr wollte sie nicht sagen."
    "Das ist jetzt unwichtig", erwiderte Matt genauso laut. "Ihr müsst mir jetzt vertrauen und mir folgen. Ich kenne jemanden, der uns ganz aus dieser Stadt hinaus bringt. Das ist noch sicherer als der Palast." Sein Vater schob den Unterkiefer vor.
    "Das ist meine Stadt", antwortete er stur. "Und ich verlasse meine Stadt nicht. Wir sind hier sicher genug. Keiner könnte jemals den Palast erobern."
    "Bornhold konnte es", dachte Matt und ärgerte sich dann selbst über seine Gedanken. Bornhold war tot und das würde er auch bleiben.
    "Wir können jederzeit zurückkehren, sobald sich diese Chaos gelegt hat", argumentierte er und darauf folgte eine kurze Diskussion. In der den anderen ihre Unruhe spürbar anzumerken war. Matt schaffte es schließlich seinen Vater und seine Mutter zu überzeugen sich der Gruppe anzuschließen, vor allem, da sie sich wohl mehr Sorgen machten, als sie es zeigen wollten. Wären er und seine Geschwister nicht gewesen, hätten sie wohl keine zehn Pferde vor die Tore geschafft, doch sie waren eben da. Den Palast zu verlassen, stellte sich als einfacher heraus, als Matt es gedacht hätte. Der Strom an Menschen versiegte langsam - dem Palast schien der Platz auszugehen - und sie schoben sich zwischen den Nachzüglern hindurch nach draußen an die frische Luft. Niemand hielt sie auf. Die Soldaten hatten genug mit denen die drinnen blieben zu tun. Draußen drängten sich tatsächlich weitere Menschen, die es zwar durch die Palastmauern, aber nicht mehr in den Palast selbst geschafft hatten. Einige begannen mit den mitgebrachten Sachen ein Lager aufzuschlagen. Besser eine Nacht im Freien, als in einer Stadt selbst, die bald geplündert zu werden drohte.
    "So viele sind gerettet worden", versuchte Matt sich einzureden, aber wie viele mochten noch da draußen hocken. In ihren Häusern und auf den Straßen. Und wie viele davon würden den Morgen noch erleben. Er hoffte, dass Jegos Familie zu denen gehörte, die es in den Palast geschafft hatten. Er kannte ihn vielleicht nicht so gut, wie er es gesollt hätte, doch nichts desto trotz war er ihm immer ein guter Freund gewesen.
    Nach einem Marsch von nur wenigen Minuten erreichten sie die Bibliothek, die sich glücklicherweise auf dem Palastgelände befand. Die Palastmauer zu überqueren wäre schwierig geworden. Vor allem jetzt, da Matts Familie dabei war. Sie verbargen sich mehr schlecht als recht hinter den hoch aufragenden Säulen und warteten. Wäre es Tag gewesen, hätten sie vielleicht die Zeit, die verging, abschätzen können. Die Nacht und der Rauch, der von den Feuern auftrat und die Sterne und den Mond verhüllte, machte ihnen das unmöglich. War bereits eine Stunde vergangen? Eine halbe? Zwei?

    Wer zu lesen versteht, besitzt den Schlüssel zu großen Taten, zu unerträumten Möglichkeiten.

    Aldous Huxley