Es gibt 460 Antworten in diesem Thema, welches 125.080 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (21. Januar 2020 um 15:16) ist von RenLi.

  • Oh, Edwin ist jetzt in Sichtweite des Ducatus? Wenn er nur wüsste, wie viel Zeit Richard dort verbracht hat, wie dicht er ihm auf den Spuren sein könnte... Ich würde es den beiden so gönnen, sich mal wieder zu sehen! Hier glänzt du mal wieder mit deiner zweiten großen Stärke neben den Gefühlen - Beschreibungen. Dieser mysthische Raum mit den Lichtkugeln, künstlich und kunstvoll... Tolles Kopfkino. Dazu in einigem Abstand der pechschwarze, kühle Ducatus als Gegenstück zu dem grauen Gestein und den warmen, roten Teppichen. Sehr viel Symbolkraft, ohne mit dem Holzhammer draufzuhauen.

  • Hey RenLi,

    ein cooles Kapitel, wie ich finde. Dass es Edwin möglich ist, durch die Augen von jemand anders zu sehen (in dem Fall durch die des Vogels) finde ich super. Du hast das echt klasse beschrieben, wie er in Fait eindringt und gemeinsam mit ihm durch die Lüfte schwebt.
    Das war mal wieder ein Erlebnis :)

    Hier nur ein paar Stellen, über die ich gestolpert bin:

    Spoiler anzeigen


    Er sah lang Flure mit weiten, dunklen Holzböden, die sich in der Dunkelheit verloren und mit denselben roten Teppichen belegt waren.

    lange


    Sie war immer schon ein ganzes Stück voraus oder wartete mit wedelndem Schwanz auf dem nächst höheren Absatz auf die.

    auf sie (?) oder auf die anderen (?)


    doch an vereinzelten Stellen hatte die Wolkendecke aufgerissen. Aus

    "war" die Wolkendecke aufgerissen, oder ???

    Der Wind wehte noch immer relativ stark und zwar wendige aber doch eher kleine Greifvogel...

    an diesem Satz stimmt meiner Meinung nach etwas nicht. Müsste es vielleicht heißen: "Der Wind wehte noch immer realtiv stark und "der " zwar wendige...."

    Viele Grüße,
    Rainbow

  • Hallo zusammen

    :) Cool, dass es euch gefallen hat. Vielleicht um es besser einzuordnen: Richard ist noch nicht sehr lange im Ducatus zu dieser Zeit. Es ist noch vor seiner Dämonenreise...
    Danke für die Korrekturen! Hab ich gleich übernommen.
    Ich freu mich schon darauf, mit Edwin und Fait die Umgebung zu erkunden ^^ das gibt mir ungeahnte Möglichkeiten, Edwin durchs Land zu schicken, hihiii

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Sehr schön. Mir gefallen Edwins Fähigkeiten.

    Die beiden Mädchen machten einen Knicks. „Hallo ihr beiden“, begrüßte Elvira sie herzlich. „Lief alles gut, während ich weg war?“
    „Ich glaube schon“, erwiderte eines, sichtlich erfreut, dass seine Meinung gefragt war.
    „Aber Hagar musste sich heute Morgen auch übergeben“, wandte das zweite ein.
    „Hat er sich etwa auch angesteckt?“, fragte Elvira beunruhigt. „Ich kümmere mich gleich darum. Danke für’s Öffnen. Habt ihr alles, was ihr braucht?“
    Die beiden Mädchen nickten.

    Die Mädchen sind hier nur Kulisse. Lass sie kurze oder lange Haare haben, das heisst beschreibe sie etwas mehr. Ist nicht wirklich wichtig, aber man kann es sich dann besser vorstellen. (Möglicherweise das Wort "beiden" hier weniger benutzen.

    Das mit dem Übernehmen eines Tieres, zum Beispiel eines Vogels zum Fliegen ist ja ein schönes, aber nicht unbekanntes, Element. Mir ist nicht recht klar, macht er das zum ersten Mal? Wenn ja, ist es mir ein wenig zu souverän. Beim ersten Mal ist man doch eher ein wenige unsicher.

  • Edwin, Gedankenspiel (566 n. Rh.) - Teil 1
    Ein kratzendes Geräusch weckte ihn. Edwin schaute sich um und stellte überrascht fest, dass er sich in einem Zimmer befand. Gilbert stand an einem der Fenster und blickte hinaus. Es regnete. Die Tropfen prasselten gegen die Scheibe und verschleierten die Sicht auf die Stadt, welche unter ihnen lag. Wie ungewohnt, dachte Edwin. Aber angesichts des Regens auch praktisch.
    Wieder kratzte Jeela an der Luke, die sich beinahe unerkenntlich in den Fußboden einfügte. Sie winselte. Endlich dämmerte Edwin, was sie wollte. „Kein guter Ort für dich, was?“
    Wortlos trat Gilbert neben den Hund und öffnete die Klappe. Augenblicklich sprang sie hindurch.
    „Wohnst du immer da oben?“, fragte Edwin, während sie sich an den Abstieg machten.
    „Wenn ich es nicht vermeiden kann. Aber oft schlafe ich auch im Garten. Es gibt da einen Baum, den man ohne große Probleme erklettern kann“, brummte er.
    Nun da es morgen war, bot sich ihnen ein ganz anderes Bild, als sie durch das Gebäude streiften. Alles war hell erleuchtet und Edwin war überwältigt von Kinderscharen, die sich auf den Gängen und im Treppenhaus tummelten. „So viele!“, stieß er aus. „Leben sie alle hier?“ Einige standen in Gruppen zusammen und unterhielten sich, andere rannten wild die Treppe hinunter, mitten in einer Verfolgungsjagd.
    Gilbert nickte. „Viele stammen aus Caput selbst. Elvira sammelt sie auf der Straße ein. In letzter Zeit kommen aber auch immer mehr Menschen aus den Grenzgebieten hier an. Die Situation am Rande von Lux verschlimmert sich zusehends.“
    „Weshalb? Was passiert da?“, fragte Edwin, während er weiterhin die Kinder beobachtete. Manche waren noch ganz klein, vielleicht fünf Jahre alt, andere waren älter als er.
    „Banditen sind hauptsächlich das Problem. Sie plündern die Dörfer, überfallen Reisende. Manchmal brennen sie ganze Siedlungen nieder. Die Überlebenden fliehen ins Innere des Landes und viele stranden hier.“
    So viele Probleme, dachte Edwin. Und von alledem habe ich keine Ahnung. Gilbert führte Edwin weg von den Kindern und durch einen Hinterausgang ins Freie. Dort blieben sie unter dem Vordach stehen. Noch immer fiel der Regen in Strömen, doch Jeela störte sich nicht daran. Sie preschte bereits über die Wiese davon und verschwand zwischen den Büschen einer Baumgruppe. Dabei schreckte sie eine Gruppe von Waldgeistern auf, die sich in Windeseile in die Baumkronen flüchteten. „Was machen die Kinder den ganzen Tag?“, fragte Edwin.
    „Sie lernen, helfen im Garten und in der Küche, spielen und machen, was Kinder halt so tun.“
    „Und was lernen sie?“
    „Na alles. Lesen, schreiben, rechnen, malen, was auch immer irgendwie praktisch scheint.“
    „Sollte ich das auch können?“, fragte Edwin.
    „Ich finde, du hast viel Nützlicheres gelernt.“
    „Du hast vergessen, dass sie auch meditieren und eine etwas andere Weltanschauung mitbekommen als in der übrigen Bevölkerung verbreitet ist“, fügte Elvira hinzu.
    Edwin drehte sich zu ihr um. Sie stand an den Türpfosten des Eingangs gelehnt und schaute mit einem verschmitzten Lächeln zu ihnen hinaus. „Habt ihr gut geschlafen?“
    Edwin nickte eifrig. „Und gehen wir heute ins Gefängnis? Ich möchte Richard unbedingt wiedersehen!“
    Ihr Lächeln erstarb. „Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee ist, wenn du mit ins Gefängnis kommst. Das erledige ich alleine.“
    „Warum?“, fragte er enttäuscht.
    „Er ist kein kleines Kind mehr.“ Gilbert trat neben Edwin und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Edwin ist bereits ein fähiger Jäger, er kann selbst auf sich aufpassen. Er ist kein verwöhntes Stadtkind.“
    „Das verstehe ich ja“, begann sie. „Aber ich wünschte mir, er wäre es. Ein Kind sollte ein Kind sein dürfen.“ Sie wandte sich an Edwin. „Ich bitte dich, bleib hier. Wenn du schon einmal da bist, solltest du die anderen Kinder kennenlernen. Wenn du möchtest, kannst du mit ihnen den Unterricht besuchen. Ich bin mir sicher, es wird dir hier gefallen.“
    Edwin rümpfte die Nase. Er wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte. Das Wichtigste war doch, dass er Richard wiedersah. Lernen konnte er auch später noch. „Ich möchte mitkommen“, wiederholte er.
    „Tut mir leid, Edwin, aber das möchte ich nicht. Das Gefängnis ist kein Ort, an dem ich dich sehen will. Sebastian hat mir erzählt, wie die Wärter dort arbeiten.“ Sie hielt inne, blickte zu Gilbert. Sie schien sich nicht sicher zu sein, ob sie fortfahren sollte.
    „Was sagt er?“, fragte Gilbert nach.
    „Sie machen Experimente mit den Kindern, Gilbert“, sagte sie mit schwerer Stimme. „Sie bringen gesunde Kinder zu den Ärzten, dann kommen sie krank wieder zurück.“
    Edwin spürte, wie sich Gilberts Hand an seiner Schulter verkrampfte. Ihm selbst bildete sich ein Kloss im Hals. „Weshalb sollten sie das tun?“, fragte Gilbert.
    „Rachel und ich vermuten, dass sie so neue Heilmethoden austesten. Aber sie scheinen nicht besonders erfolgreich zu sein. Es gibt viele Gefangene, die im Kerker sterben.“
    „Wurde Richard auch so angesteckt?!“, fragte Edwin entrüstet.
    „Wahrscheinlich“, bemerkte Elvira leise.
    „Wie können sie so etwas nur tun?“ Er schaute zu Gilbert hoch. Die Gefühle des Mannes blieben hinter einer Maske verborgen. „Sind die Menschen wirklich so böse?“, fragte Edwin verzweifelt.
    „Sie sind wahre Teufel“, sagte Gilbert mit kalter Stimme.
    „Aber nicht alle“, sagte Elvira.
    Gilbert schnaubte. „Klar. Aber in jedem steckt einer. Wartet nur auf eine günstige Gelegenheit, um auszubrechen“, erwiderte Gilbert scharf.
    Der dunkle Gilbert, dachte Edwin. Wie lange war es her, dass er ihn so deutlich wahrgenommen hatte?
    „Wir müssen ihnen helfen, Gilbert“, sagte Edwin. Allen müssen wir helfen! Ihm fiel der Menschenhändler ein, den Gilbert hatte erschlagen wollen. Bei ihrer ersten Begegnung. Auch er war böse gewesen. Aber das war nicht alles. Er hatte gelitten. Edwin konnte ihn nicht hassen für das, was er den Kindern angetan hatte. „Vielleicht leiden sie auch“, überlegte er. „Die Menschen, die Böses tun, leiden genauso wie wir, nicht wahr? Sie werden nicht glücklich durch ihre schlechten Taten.“
    „Das ist doch ihr Problem. Wenn sie leiden, dann habe ich bestimmt kein Mitleid mit ihnen“, sagte Gilbert. Seine Stimme klang so hart und fern. Edwin atmete schwer. Auch Gilbert leidet fürchterlich. Was kann ich tun? Er merkte, wie ihm wieder alles über den Kopf hinauszuwachsen begann. Es ist zu viel Schmerz in dieser Welt. Ich kann ihn nicht auf mich nehmen.
    „Mach dir nicht so viele Sorgen, Edwin. Es gibt auch Menschen, die das Gute im Leben mehren“, sagte Elvira mit sanfter Stimme. „Hier zum Beispiel versuchen wir, den Kindern wieder ein Leben zurückzugeben. Außerdem darfst du nie vergessen, dass die Menschen in ihrem tiefsten Kern gut sind. Nicht das Schlechte ist ihre wahre Natur.“
    Er schaute in ihre grünschimmernden Augen, die ihn voller Liebe anschauten. „Denkst du das wirklich?“
    Sie nickte. „Ich bin fest überzeugt davon.“
    „Weshalb machen dann so viele Menschen Dinge, die nicht gut für andere Menschen sind?“
    „Weil sie nicht anders können. Ich glaube nicht, dass sie es wollen. Aber es gibt viele Gründe, weshalb ein Mensch anderen Schmerzen zufügt.“
    „Zum Beispiel?“
    „Aus Unwissenheit oder aus Angst. Manche haben es einfach nicht anders gelernt.“
    Edwin ignorierte Gilberts Schnauben. „Aus Angst“, echote Edwin. „Sie haben Angst, selbst verletzt zu werden, deshalb verletzen sie andere. Ist es nicht absurd? Oder sie haben Angst, selbst unterzugehen, deshalb verursachen sie den Untergang anderer. Wie sollte ich den Menschen helfen, wenn sie alle wahnsinnig sind?“
    „Du bist noch jung. Du brauchst dich mit diesen Fragen nicht zu belasten. Überlass das für eine Weile mir und Gilbert. Wenn du willst, dann kannst du heute mit den anderen Kindern essen, am Abend stelle ich dich dann allen vor. Und vorher musst du unbedingt Lotar kennenlernen. Er ist schon sehr lange hier und kennt das Haus und all seine Bewohner. Ich denke, ihr würdet euch verstehen.“
    „Und du gehst ins Gefängnis und fragst nach Richard?“
    „Das mache ich. Wir werden schon herausfinden, wo er sich aufhält“, versprach sie.
    Edwin nickte. „Also gut. Dann bleibe ich hier.“
    „Was hast du vor, Gil?“, fragte Elvira ihren Bruder.
    „Ist Talmud hier?“
    „Nein. Er begleitet einen Priester auf seiner Reise.“
    „Ich versteh nicht, weshalb er immer noch in der gnostischen Garde ist“, brummte Gilbert. „Ich mach einen Ausritt. Hier ist es mir zu gemütlich.“ Er schaute auf Edwin hinunter.
    „Du musst mich nicht mitnehmen“, sagte Edwin. Er konnte spüren, dass Gilbert für sich sein wollte.
    „Du lässt ihn zurück?“, fragte Elvira ungläubig, doch Gilbert ignorierte sie.
    „Dann bis später“, sagte der bärtige Riese. „Ich bin am Abend wieder da.“
    „Warte, ist das dein Ernst? Er kennt hier niemanden außer dir“, sagte Elvira entrüstet.
    „Hab ich nicht schon einmal gesagt, dass er kein kleines Kind mehr ist?“ Wut mischte sich in Gilberts Stimme. „Du kennst ihn nicht, du warst nicht zwei Jahre lang mit ihm in der Wildnis unterwegs. Und bilde dir nicht ein, mich zu kennen. Die Zeiten, in denen wir sorgenlos zusammen gespielt haben, sind lange vorbei.“ Gilberts Augen funkelten zornig, dann wandte er sich ab und ging durch den Regen davon.
    Es schmerzte Edwin, seinen Freund gehen zu sehen. Er schaute ihm nach, merkte, dass er traurig wurde. Natürlich konnte Gilbert machen, was er wollte. Er musste nicht hierbleiben und auf ihn aufpassen. Und doch. Nun, da er ihn gehen sah, merkte Edwin, wie einsam, klein und verlassen er sich auf einmal fühlte.
    „Tut mir leid, Edwin. Er ist manchmal einfach unglaublich“, entschuldigte sich Elvira für ihren Bruder.
    „Macht nichts“, sagte Edwin matt. Nun wäre er am liebsten auch alleine gewesen. Oder mit Jeela irgendwo im Wald. Versteckt, so dass ihn niemand finden konnte.
    „Lass uns reingehen.“
    „Jeela ist noch draußen“, wandte Edwin ein. Er versuchte sich zu öffnen und mit seinem Geist nach ihr zu rufen, wie er es immer tat, doch es gelang ihm nicht. Die Grenzen seines Körpers blieben fest und unnachgiebig, als hätte die Trauer sie zu Stein erstarren lassen. „Ich gehe sie suchen.“ Schon trat er hinaus auf den Kiesweg, der von dem überdachten Eingang wegführte. Regentropfen klatschten ihm ins Gesicht. „Jeela!“, rief er.
    „Warte.“ Elvira trat vor ihn. „Sie kommt schon wieder. Lass uns reingehen.“
    Doch Edwin ignorierte sie, stapfte weiter, über die Wiese und auf die Stelle zu, an der Jeela zwischen den Büschen verschwunden war. Wie seltsam es war, nur sich selbst zu fühlen. Es schien Edwin, als sei der Rest der Welt gestorben. Alles wirkte distanziert und kalt, unerreichbar für ihn. „Jeela!“ Hätte er sie im Geist gerufen, wäre sie längst bei ihm. Doch der Ruf seiner kläglichen, menschlichen Stimme trug nicht weit. Es war gut möglich, dass sie ihn nicht hörte.
    Edwin kämpfte sich durch das Buschwerk. Es war ihm egal, dass die Äste in seine Haut stachen und er nass und schmutzig war. Wenigstens fühlte er so eine kleine Verbindung mit der Welt, auch wenn die körperliche Berührung kein Ersatz für die Verbundenheit mit ihrem Inneren war. Eine Hand packte ihn, er schüttelte sie ab und kämpfte sich weiter. „Jeelaaa!“, schrie er so laut er konnte, steckte allen Schmerz in seine Stimme, als könne er ihn so in die Welt hinausschicken. Dabei wurde ihm bewusst, dass er nicht nur nach Jeela schrie. Er wünschte sich seinen Vater herbei, seinen Onkel, Richard, Gilbert, die unberührte, magische Zeit seiner Kindheit, eine Welt, die noch nicht zerbrochen war. „Ich wollte das alles gar nicht wissen!“ Tränen rannen ihm über die Wangen und vermischten sich mit dem Regen. „Weshalb ist das Leben nur so, wie es ist?!“ Gilbert hätte dableiben sollen, er hätte wissen müssen, dass ich ihn brauche, dachte Edwin bitter. Nein, ich hätte besser auf ihn aufpassen sollen. Er leidet doch genauso. Es ist so schwierig!
    Frustriert blieb er stehen. Erst jetzt realisierte er, dass Elvira ihm nicht mehr folgte. Ich habe sie einfach stehenlassen. Habe ich ihr damit auch wehgetan? „Weshalb sind Menschen so kompliziert?“ Er lehnte sich an den Stamm eines Baumes. Nass und kalt klebten ihm die Kleider am Körper. Er schaute auf seine nackten Füße hinunter. Sie waren ganz rot vor Kälte und mit Matsch beschmiert. Wie im Wald, dachte er und schloss seine Augen. Still stand er da und atmete, lauschte. Der Klang der Regentropfen auf dem Blätterdach. Viel mehr hörte er nicht. Nur das Prasseln des Regens. Überall um ihn und gleichzeitig unendlich weit entfernt. Wie aus einer anderen Welt. Er lauschte, ignorierte die beißende Kälte. Weshalb fühle ich mich, als sei ich gar nicht hier? So kenne ich mich überhaupt nicht. Was hat sich verändert? Er horchte in sich hinein, auf der Suche nach einer Antwort. Die Verwirrung und der Schmerz legten sich allmählich. Er stand da, wartete, bis sich die Wellen geglättet hatten und es in seinem Innern wieder etwas ordentlicher aussah. Weshalb muss ich leiden?, fragte er sich. Weil die Menschen sich gegenseitig wehtun. Er dachte an die Kinder, die den ganzen Tag lang Uhren herstellen mussten, an Richard, der gepeinigt am Boden lag. Schon waren die Schmerzen, die Trauer, die Hilflosigkeit zurückgekehrt. Edwin griff sich an die Brust. Woher kommen diese Gefühle? Wie aus dem Nichts heraus überfallen sie mich. Wie durch Magie erscheinen sie in mir, ohne, dass ich mich wehren kann. Seine Gedanken wanderten weiter zu Gilbert. Er ist ohne mich gegangen, dachte er und fühlte die Bitterkeit des Verlassenwerdens.
    Da entfachte ein Funke der Erkenntnis in seinem Herzen. Wie Magie!, dachte er. Ist es nicht unglaublich, wie auf Gedanken Gefühle folgen? Begeisterung erfüllte ihn. Aber ja, es ist so einfach! Er gluckste verwundert. „Weshalb habe ich es nicht früher erkannt?“ Nun erschien es ihm so klar und logisch, dass er sich nicht vorstellen konnte, wie er nicht eher darauf gekommen war. „Das Denken ist der Schlüssel“, rief er freudig. „Elvira!“ Edwin rannte los, den Weg zurück, den er gekommen war. Alles erschien ihm auf einmal leicht. Meine Gedanken sind es, die mir Schmerzen verursachen, oder Glück, oder Verzweiflung. Nur Gedanken, nichts weiter.
    Er brach durch die Büsche. Ob sie überhaupt noch da ist? Sofort folgte dem Gedanken Verunsicherung. Es funktioniert! Hochgefühl. Er grinste. Magie!
    Sie war tatsächlich noch da! Sie saß auf den Stufen, die vom Hauseingang hinunter in den Garten führten, die Ellbogen auf den Knien und den Kopf in die Hände gestützt. Als er ihren Namen rief, sah sie auf. Sie lief ihm entgegen, hinaus in den Regen. „Elvira! Jetzt weiß ich es!“, rief Edwin und umarmte sie stürmisch. „Es ist ganz einfach! Würden die Menschen nur Gutes denken, dann müssten sie nicht leiden!“ Erfreut stellte er fest, dass er nun die Welt wieder spürte. Auf einmal schien sie wieder von Leben durchdrungen. Die Wärme von Elviras Körper, ihr Atem, ihr Herzschlag waren ganz nah. Der Regen, der auf sie niederfiel fühlte sich echt an und die Luft, die seine Lungen füllte belebte ihn von den Zehen bis zum Scheitel.
    Eine Mischung aus Erleichterung und Verunsicherung strahlten ihm von Elvira entgegen. Was sie wohl dachte? Er schaute sie an. Bei ihr musste er nicht weit hochsehen, da sie nicht viel größer war als er. „Du bist recht klein“, stellte er fest.
    Überraschung zeigte sich auf ihrem Gesicht. Dann Besorgnis. „Geht es dir gut, Edwin? Du hast Jeela nicht finden können?“
    „Keine Sorgen, ich finde sie gleich.“ Er breitete seinen Geist aus, nun ging es ganz leicht. Gilbert war bereits von dem Gelände verschwunden, er konnte seine Präsenz nicht wahrnehmen, dafür aber die von seiner treuen Freundin Jeela. Sie befand sich auf der anderen Seite des Hauses, jagte einem Vogel nach. Als er sie rief, ließ sie augenblicklich von dem kleinen Geschöpf ab, machte Kehrt und rannte zu ihm zurück. „Sie ist gleich da.“
    „Woher weißt du das?“, fragte Elvira.
    „Ich spüre sie“, antwortete Edwin grinsend. Schon hörte er ihre Pfoten auf dem weichen Untergrund, ihren hechelnden Atem. Dann kam sie um die Ecke des Hauses gerannt, geradewegs auf ihn zu. „Jeela!“, lachte er, als sie an ihm hochsprang. Sie tauschten eine nasse Umarmung aus. „Dir gefällt es hier, nicht wahr?“ Sie schüttelte sich, sodass die Wassertropfen nur so durch die Luft flogen.

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    Rumi

  • Jetzt wird es wirklich wieder philosophisch. In jedem Menschen steckt ein Teufel - er ist von Grund auf böse (frei nach Thomas Hobbes). Eine sehr negative Sicht auf die Dinge. Homo homini lupus und so... Hälst du noch Gegenmodelle dagegen wie der Mensch ist von Grund auf gut oder ein Reittier, das von Gott oder dem Teufel geritten wird (Martin Luther) (also von Grund auf zunächst neutral)? Das Thema finde ich persönlich wahnsinnig spannend...
    Und dann, wenn Leute nur Gutes denken würden, würden sie nicht leiden. Interessant... Sicher, mit einer positiven Betrachtungsweise kann man manches Übel mindern, aber so ganz überzeugt bin ich ja nicht. :hmm:

    Inhaltlich merkt man, dass die beiden etwas zu viel Zeit allein im Wald verbracht haben. So ganz der Etikette folgen die beiden ja nicht... :D Und du hast einfach tolle Namen - Talmud, einfach super! ^^

  • Oh je, der arme Edwin. Manchmal tut er mir wirklich leid, weil er so schrecklich sensibel ist und alle Einflüsse aus seiner Umwelt auf ihn einströmen und er sie kaum verarbeiten kann. Dass er nun zu der Erkenntnis kommt, sich über seine Gedanken und eine positve Grundeinstellung ein wenig Linderung zu verschaffen, freut mich. Sicher ist es nicht von der Hand zu weisen, dass der Kopf...oder sagen wir mal, der Verstand einem manchmal irgendwie im Weg steht. Wenn man immer nur das Schlechte sieht und sich hineinsteigert, wird sich das Schlechte mehren und so wird das Ganze zu einem Teufelskreis....quasi im Sinne der "sich selbst erfüllenden Prophezeiung"...

    Wirklich mal wieder ganz interessante Gedanken, die du hier in diesem Teil verarbeitest :) ...hat mir gut gefallen.

    LG,
    Rainbow

  • Hallo zusammen

    Ihr seid ja wieder mal schnell wie ein Blitz.
    Finde die Frage auch spannend, was denn nun der Kern des Menschen ist. Böse? Gut? Manchmal sieht man ja Kindern zu und denkt, das sind schon richtige, kleine Teufel. Haben die das jetzt schon den Erwachsenen abgeschaut oder woher kommt es, dass sie manchmal auf Schnecken rumtrampeln oder ihre Freunde pisaken...
    Gilbert ist ein Schwarzmaler, oft. Er glaubt, dass in jedem Menschen ein böses Ungeheuer lauert. Nun da er Edwin kennengelernt hat, beginnt er zwar etwas zu zweifeln - oder zu hoffen. Weil er in Edwin nichts Böses entdecken kann. Aber er traut der Sache noch nicht ganz, wartet igrendwie unbewusst darauf, dass auch in Edwin das Dunkle erwacht.
    Elvira hat die Gegenteilige Ansicht. Sie glaubt, dass der Mensch im Grunde genommen gut ist. Doch auch sie zweifelt manchmal angesichts der erschütternden Dinge, die in der Welt geschehen. Sie sind zwar Geschwister, aber doch sehr unterschiedlich.
    Edwins Gedankenexperiment ist an diesem Teil noch nicht abgeschlossen. Das würd ich doch auch sehr infrage Stellen. Ich denke, es ist einfach ein Teil der Wahrheit. Man kann mit positiven - oder auch negativen - Gedanken sehr viel machen. Die eigene Einstellung und so beeinflussen die Wahrnehmung der Welt enorm. Aber das Ende des Leidens ist noch lange nicht mit positiv Denken erreicht.

    Inhaltlich merkt man, dass die beiden etwas zu viel Zeit allein im Wald verbracht haben.

    Hihi, ja, sie sind schon etwas schräg drauf. Find ich toll, sie passen nicht wirklich in ein Haus mit Wänden und Dach und 'normalen' Menschen...

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  • Ich denke ja, dass die Menschen eher böse sind. Das Ungeheuer in ins muss kontrolliert werden. Ich kann Gilbert gut verstehen.
    Holocaust, Ruanda, die Kreuzzüge, das Bahnhofsviertel in Frankfurt etc, sind gute Zeugen für meine Ansicht.
    Wenn die Kategorien Gut oder Böse überhaupt reale Kategorien sind, was sie wohl nicht sind.

    @RenLi
    Ein schöner Abschnitt.
    Edwin dringt ja mühelos in Mensch und Tier ein. Eine schöne Fähigkeit für einen Guten, ein ungeheures Machtinstrument für einen Bösen. Gibt es auch Böse mit dieser Fähigkeit?

  • @Sensenbach
    Ja, das sieht manchmal recht schwarz aus. Meiner Meinung nach macht das 'Böse' aber auch einfach viel mehr Krach. Das Gute ist meistens leise und unaffällig. Ausserdem braucht es viel mehr Zeit, um etwas tolles aufzubauen, als es dann wieder zu zerstören - man denke an die Zeit, in der der böse, grosse Burder, oder die kleine, nervige Schwester immer den tollen Klötzchenturm zerstört hat, den man zuvor müehvoll aufgebaut hat ;)

    Wenn die Kategorien Gut oder Böse überhaupt reale Kategorien sind, was sie wohl nicht sind.

    Total, was ist denn Gut und Böse? Wo ist da der Übergang? Finde auch, dass man die Welt nicht einfach in Schwarz und Weiss einteilen kann...

    Gibt es auch Böse mit dieser Fähigkeit?

    Die gibt es. Man denke an den schwarzen Reiter vom Anfang. Er ist der 'Bösewicht' in meiner Geschichte, obwohl es eigentlich gar keinen Bösewichten gibt. Oder man denke an die Dämonen. Auch sie 'dingen in die Menschen ein' und verändern ihre Gedanken, beeinflussen ihr Handeln.

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  • Edwin, Gedankenspiel (566 n. Rh.) Teil II
    „Was hast du vorher gemeint? Mit den guten Gedanken“, fragte Elvira, als sie mit Jeela im Schlepptau durch das große Haus gingen, das nun wieder wie ausgestorben wirkte.
    „Wenn ich daran denke, dass die Menschen schlecht sind und sich böses antun, dann geht es mit nicht gut. Dann werde ich traurig und es schmerzt. Aber wenn ich an etwas Gutes denke, dann fühle ich mich gleich besser. Es ist wie Magie“, versuchte er zu erklären.
    Sie schmunzelte. „Bist du ganz alleine darauf gekommen?“
    „Ja, gerade eben. Weshalb wissen die Menschen das nicht? Warum entscheiden sich nicht einfach alle dazu, glücklich zu sein?“
    „Ganz so einfach ist es halt doch nicht“, meinte Elvira. „Auch wenn du mit deinen Gedanken deine Gefühle sehr stark beeinflussen kannst, sind sie doch nicht alleine maßgebend. Nicht alle Emotionen entspringen einem Gedanken. Wenn du beispielsweise in einer gefährlichen Situation bist, dann bekommst du es mit der Angst zu tun. Dazu sind keine Gedanken nötig.“
    „Stimmt.“ Nun, da er darüber nachdachte, fielen ihm noch weitere Beispiele ein. Als er dem Bettler begegnet war, hatte er nicht denken müssen, um Ekel, Mitleid oder Trauer zu empfinden. Oder als er mit Gilbert oben auf der Spitze des Berges angekommen war, hatte er auch ohne darüber nachzudenken Freude empfunden.
    „Gedanken sind mächtig, aber man kann nicht alles mit ihnen machen. – Gut, wir sind da.“ Elvira blieb vor einer der vielen Türen stehen. Sie befanden sich im ersten Stockwerk in einem der langen Flure, in die Edwin am Abend zuvor hineingespäht hatte. „Ich habe Lotar bereits gesagt, dass ich ihn heute aus der Klasse nehme. Er wird dir alles zeigen, was du wissen musst.“ Sie klopfte an die Tür und öffnete sie einen Spalt weit.
    Neugierig versuchte Edwin an ihr vorbei in das Zimmer zu spähen. Er sah eine Frau mit krausen Haaren am einen Ende des Raumes stehen. Sie hatte sich mehreren Jungen und Mädchen zugewandt, die alle an kleinen Tischen saßen und zu ihr nach vorne schauten. Hinter ihr befand sich eine schwarze Tafel, auf der allerlei seltsame Symbole und Zeichnungen zu sehen waren. Edwin fragte sich, was sie wohl taten und wozu diese Zeichen gut sein mochten, als Elvira einen Jungen zu sich rief. Er war älter als Edwin, mehr als volljährig. Er nickte der Frau mit den Kraushaaren zu und trat dann zu ihnen in den Flur, die Tür schloss er hinter sich.
    „Hallo, du musst Edwin sein. Mein Name ist Lotar“, stellte der junge Mann sich vor. Er machte einen freundlichen Eindruck. Edwin gefiel der wache und aufrichtige Blick seiner Augen, die ihn neugierig musterten.
    „Hallo, was habt ihr da drin gemacht?“, fragte Edwin sofort.
    Lotar grinste. „Wir haben Unterricht bei Rachel.“
    „Was heißt das?“
    „Sie bringt uns vieles über die Wirkung von Heilkräutern bei, wo man sie findet und wie man sie anwendet.“
    Edwin schaute Lotar schräg an. „Und weshalb macht ihr das in dem Zimmer? Wäre es nicht besser, draußen zu lernen? Mein Onkel hat mich manchmal in den Wald mitgenommen. Ein paar Kräuter kenne ich. Zum Beispiel den Waldmeister. Er hat feine Blätter und kleine, weiße Blüten, kennst du ihn?“
    Lotar schüttelte den Kopf. „Den Waldmeister habe ich noch nie gesehen. Vielleicht erzählst du mir ja später mehr von den Pflanzen, die du kennst. Wie gut erinnerst du dich an sie? Könntest du sie zeichnen?“
    „In die Erde? Ich weiß nicht, ob du sie erkennen könntest. Aber ich kann sie dir im Wald zeigen.“
    Lotar lachte. „Du kommst aus einer anderen Welt als ich“, stellte er fest. „Vielleicht können wir ja wirklich einmal einen Ausflug in den Wald machen. Was meinst du, Elvira?“
    Sie grinste. „Ich werde sehen, ob es sich einrichten lässt. Eigentlich wäre es ja sinnvoll, den Unterricht etwas praktischer zu gestalten. Ich spreche mit Rachel darüber. – Nun lasse ich euch allein. Ihr scheint euch ja bereits zu verstehen. Bei Lotar bist du gut aufgehoben, Edwin. Und Lotar, kümmere dich doch bitte als erstes um seine Kleider.“
    Lotar nickte. „Ich habe mich schon gefragt, wo ihr herkommt.“ Erst jetzt fiel Edwin wieder ein, dass er noch immer nass und schmutzig war. Ebenso Elvira. „Ich zeig dir den Waschraum.“
    Edwin verabschiedete sich von Elvira und folgte dem Älteren. „Bist du schon lange hier?“, fragte Edwin neugierig.
    „Seit ich ungefähr fünf Jahre alt bin. Ich war einer der ersten, die Elvira von der Straße aufgelesen hat. Zusammen mit meinem Bruder hat sie mich aufgenommen.“
    „Ist er noch hier?“
    „Nein. Er hat nun ein Geschäft in der Stadt und wohnt auch da.“
    Wie schön, wenn man weiß, wo der eigene Bruder ist, dachte Edwin. Sie betraten einen großen Raum mit gefliestem Boden. Mehrere Waschtröge befanden sich an den Wänden, dazu mehrere Waschzuber. „Ich lass dir warmes Wasser ein, dann hole ich dir frische Kleider. Wie groß bist du?“
    Edwin trat an Lotar heran und fuhr mit der Hand von seinem Scheitel auf Lotar zu. „Ich komme dir bis unter die Achseln“, stellte er fest.
    Lotar musste lachen. „In Ordnung. Ich hole dir also bis-unter-die-Achsel-Kleidung.“
    Lotar verließ den Raum, die Tür fiel hinter ihm zu. Einen Moment stand Edwin einfach da, genoss die Stille, die mit Lotars Weggehen in den Raum eingekehrt war. Nun hörte er das Rauschen des Regens wieder, doch sehen konnte er ihn nicht, denn Fenster besaß der Raum keine. Edwin zog seine Kleider aus und legte sie sorgfältig über den Rand eines Trogs. Das Wasser im Zuber dampfte, vorsichtig prüfte Edwin die Temperatur. Ein bisschen heiß, aber gerade noch auszuhalten. Seine kalten Füße kribbelten, als er sie in das Wasser tauchte.

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    Rumi

  • Die Lösung der guten Gedanken wird also etwas zurückgenommen - leider völlig zurecht. Aber bisweilen kann es helfen, ein kluger Rat, trotz alledem! Ein Ausflug in den Wald also, Kräuter sammeln. Sehr schön. Das wird Edwin guttun.
    Hygiene spielt offenbar eine nicht zu verachtende Rolle in dieser Kultur - schon wieder eine Badeszene. ^^ Das ist eine gute Sache, vielleicht spielt Reinheit ja eine Rolle in der Religion? Bei einem Kastensystem wäre das auch alles andere als abwegig... Aber ich überinterpretiere. :D Was mich etwas irritiert: Gibt es genormte Kleidergrößen? In unserer Welt wären die ja eher etwas Modernes, aber warum auch nicht?

    Wenn ich daran denke, dass die Menschen schlecht sind und sich böses antun, dann geht es mit

    "mir" statt "mit" - der Tippfehler passiert mir auch oft. r und t sind ja direkt nebeneinander und Korrekturprogramme erkennen das nicht zuverlässig - sind ja beides richtig geschriebene Worte... :D

  • Hi Windweber
    Tja, das mit den Gedanken ist eine Strategie, aber doch leider nicht die Lösung aller Probleme.
    Die Hygiene-Sache überschätzt du wohl etwas. Hat in diesem Fall nichts mit Religion zu tun, obwohl das auch interessant wäre. Im Falle der Gnosis würde das noch passen.
    Die Badehausszene war im Jahr 565 n.Rh. und nötig, weil sie schliesslich nicht dreckig und abgerissen in ein Geschäft für Leute von höherem Stand gehen können. Zudem muss er ja seinen Einfluss als Mitglied der Familie Kornell geltend machen, als er beim Uhrmacher seine Lüge von Handelsbeziehungen mit dem Nachbarland auftischt.
    Und jetzt ist Edwin halt einfach nach langer Zeit im Wald zum ersten Mal wieder unter Menschen, da ist es schon anegbracht, dass er mal ein Bad nimmt. Denk ich mal. Aber stimmt schon, die Szenen folgen in der Geschichte etwas rasch aufeinander.
    Hmm, das mit den Kleidergrössen muss ich mir nochmals durch den Kopf gehen lassen. Vielleicht überdenk ich mir das nochmals. Sinn würde es vielleicht machen, wenn alle Kinder dieselbe 'Uniform' tragen würden. Aber das passt nicht zu diesem Waisenhaus, wo Individualismus gefördert wird.

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Hey,

    der Teil war für deine Verhältnisse ja richtig kurz :) Ein kleiner Snack für zwischendurch quasi...

    Mir ist beim Lesen nur eine Sache aufgefallen. Vielleicht ist das jetzt wieder ein klasssisches Rainbow-problem...keine Ahnung. Ich habe mich nur gefragt, wie so schnell das heiße Wasser in den Zuber gekommen ist, da Lotar doch sagt: Ich lass dir warmes Wasser ein...und dann verabschiedet er sich, um die Kleidung zu organisieren...Edwin dreht sch dann um und steigt in den befüllten Zuber :hmm: Seeeehr merkwürdig ;)

    Ich meine diesen Teil hier:

    „Ich lass dir warmes Wasser ein, dann hole ich dir frische Kleider. Wie groß bist du?“
    Edwin trat an Lotar heran und fuhr mit der Hand von seinem Scheitel auf Lotar zu. „Ich komme dir bis unter die Achseln“, stellte er fest.
    Lotar musste lachen. „In Ordnung. Ich hole dir also bis-unter-die-Achsel-Kleidung.“
    Lotar verließ den Raum, die Tür fiel hinter ihm zu. Einen Moment stand Edwin einfach da, genoss die Stille, die mit Lotars Weggehen in den Raum eingekehrt war. Nun hörte er das Rauschen des Regens wieder, doch sehen konnte er ihn nicht, denn Fenster besaß der Raum keine. Edwin zog seine Kleider aus und legte sie sorgfältig über den Rand eines Trogs. Das Wasser im Zuber

    Ansonsten finde ich cool, dass wir einen neuen Charakter kennenlernen dürfen. Lotar scheint nett zu sein.

    LG,
    Rainbow

  • Hi Rainbow

    Stimmt schon, da hast du recht. Da war ich zu faul, aber wenn es stört, dann füg ich noch einen Kommentar dazu ein. Ich habe gemerkt, dass ich gerade nicht so viel Lust dazu hatte, die Waisenhaus-Sache zu schreiben. Auch als Edwin durch das Haus geht und die Kinder antrifft, scheint er nicht wirklich Interesse an ihnen zu haben. Aber eigentlich würden ihn die Kinder schon wundernehmen. Nur hab ich grad nicht so viel Interesse an ihnen. Kommt noch. Hatte eine tolle Idee, die Umzusetzen find ich spannend. Im Moment würd ich eher in die Zukunft switchen wollen und da weiterschreiben. Aber erst mal kommt das Waisenhaus, bevor es dann wieder Action gibt...

    Liebe Grüsse und schöne Weihnachten! Hui! Bald ist Heiligabend schon vorbei....

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • So, alle gut rübergerutscht? Und schon wieder im Forum aktiv? Mal sehen, was ihr vom nächsten Teil haltet. Bin noch nicht ganz davon überzeugt, deshlab bin ich umsomehr froh um eure Rückmeldungen!


    Edwin, der Heilige Ausrufer (566 n. Rh.)
    Während Edwin alleine in dem warmen Wasser saß, die Knie angezogen und die Arme darum geschlungen, trugen ihn seine Gedanken fort, zu Richard. Ob Elvira bereits im Gefängnis war? Wie kann ich Richard finden? Wie schon so oft verfolgte Edwin das Gefühl, welches er mit seinem Bruder verband. Wo bist du, Richard? Doch wie jedes Mal, bekam er keine Antwort. Ob Richard denn nicht spürte, dass er nach ihm rief? Bisher hatte er keine Anzeichen dafür erhalten, dass auch Richard ihn bewusst wahrnahm. Vielleicht wusste sein Bruder gar nicht, dass er nach ihm suchte. Edwin rutschte tiefer, bis seine Nase gerade noch über der Wasseroberfläche war.
    Da kam ihm eine Idee. Fait! Ein Lächeln voller freudiger Erwartung breitete sich in Edwin aus und unwillkürlich machte er sich weit, schwang seinen Geist höher, bis hinauf zu den Türmen. Doch Fait war nicht da. Also dehnte er sich weiter aus. Fait! Da entdeckte er den Habicht. Der Vogel saß auf einem Hausdach nicht weit entfernt und beobachtete eine Krähe. Er ließ zu, dass Edwin in ihn eindrang, mit ihm verschmolz. Dann breitete er die Flügel aus, schoss hinter dem Schornstein hervor, der ihm als Deckung gedient hatte, und hielt auf die Krähe zu. Diese flatterte auf, um aus seiner Reichweite zu kommen, doch mit einer geschickten Drehung schnitt er ihr den Weg ab und grub seine starken Krallen in ihren Bauch. Die Beute schlug um sich, konnte sich jedoch nicht befreien. Sie hatte bereits verloren. Geduldig wartete Fait, bis die Krähe erschlaffte. Edwin wollte sich abwenden. Es war schon etwas ganz anderes, den Vogel bei Beutefang zu beobachten, als tatsächlich hautnah dabei zu sein. Hätte er Hände gehabt, so hätte er sich die Ohren zugehalten, als Fait seinen Schnabel ins Fleisch deiner Beute bohrte. Da er aber im Körper des Jägers steckte, war es ihm unmöglich, sich von dem grausigen Schauspiel abzukehren. Fait spürte Edwins Unbehagen. Dies schien ihn jedoch nicht zu stören. Edwin kam es vor, als würde der Vogel sagen: „Na und? Isst du denn nicht auch?“
    Stimmt wohl, dachte Edwin. Zögerlich entspannte er sich ein wenig. Die Krähe ist tot, weshalb stelle ich mich so an?, fragte er sich. So oft hatte er in den letzten zwei Jahren bereits ein Tier erlegt und Gilbert geholfen, es auszuschlachten.
    Nun wandte er sich nicht mehr ab, sondern beobachtete Fait aufmerksam. Der Vogel war ganz ruhig. Weder während des Flugs noch während des Packens der Beute war er sonderlich aufgeregt gewesen. Sein Herzschlag hatte sich zwar beschleunigt, aber er hatte weder Triumph noch Genugtuung verspürt, als er die Krähe geschlagen hatte. Das ist etwas ganz Normales, Alltägliches für dich, nicht wahr?
    „Wach auf!“, dröhnte eine Stimme an seinem Ohr. Edwin wurde unsanft zurück in seinen Körper befördert. Verschwommen erkannte er das Gesicht von Lotar. „Den Göttern sei Dank! Ich dachte schon, du seist ohnmächtig.“
    „Tut mir leid“, murmelte Edwin verwirrt und nahm verschwommen wahr, dass sich um ihn herum Wasser befand, er saß noch immer im Waschzuber. „Ich hab ganz vergessen, dass ich ja im Bad bin.“
    „Was war das? Geht es dir nicht gut?“
    „Nein, alles in Ordnung. Ich war nur kurz weg.“ Edwin merkte, dass er das näher erklären musste, wenn er Lotar nicht weiter beunruhigen wollte. „Gestern habe ich entdeckt, dass ich mit Fait den Körper teilen kann. Ich wollte nur sehen, ob das immer noch geht.“ Um Richard zu finden.
    „Wie? Den Körper teilen? Mit wem?“
    „Fait ist der Habicht, den Gilbert und ich zur Jagd mitnehmen. Er hat uns die zwei Jahre auf unserer Reise begleitet. Und gestern habe ich zum ersten Mal versucht, mit meinem Geist in seinen Körper einzutreten.“ Edwin konnte an Lotars Miene erkennen, wie unglaublich seine Geschichte klingen musste. „Ich weiß auch nicht, wie es geht“, fügte er etwas verunsichert an.
    „Elvira hat mir ja gesagt, dass du ein spezieller Junge bist, aber du überrascht mich trotzdem“, meinte Lotar. „Und es ist wirklich alles in Ordnung?“
    Edwin nickte. Er wusste nicht, wie er Lotar deuten sollte. Hatte ihn Edwins Geschichte beunruhigt? „Bisher habe ich den Weg noch immer wieder zurückgefunden. Tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe.“
    „Mach dir nichts draus“, meinte Lotar und richtete sich auf. „Ich bin nur froh, dass dir nichts passiert ist“, fügte er mit einem Seufzen an. „Also dann, zieh dich erst mal um. Ich warte draußen auf dich.“
    „Danke.“ Edwin beeilte sich, sich fertig zu waschen und in die neuen Kleider zu steigen. Gerade praktisch wären die ja nicht für die Jagd, dachte er bei sich. Aber nun bin ich nicht mehr im Wald, erinnerte er sich. Für den Moment bin ich hier. Um Richard zu finden. Seinen Erkundungsflug mit Fait musste er wohl auf später verschieben. Erstmal musste er sich um Lotar kümmern. Er wollte ihn nicht noch mehr beunruhigen.
    Edwin trat zu dem jungen Mann in den Flur hinaus. Während sie durch das weitläufige Gebäude gingen, erklärte Lotar ihm vieles über das Waisenhaus. Jedem Kind, das aufgenommen wurde, wurde ein großen Bruder oder eine große Schwester zugeteilt. Diese Rolle hatte Lotar nun bei ihm übernommen. Seine Aufgabe bestand darin, Edwin dabei zu helfen, sich zurecht zu finden und gut einzuleben. Lotar führte ihn hinunter in ein tiefergelegenes Stockwerk, wo sie einen weitläufigen Saal betraten, in welchem viele Tische mit langen Bankreihen standen. Die Decke war gewölbt und wurde von etlichen Säulen gestützt. Ehrfürchtig schaute Edwin nach oben. Dunkle Holzbalken verliefen wie ein Spinnennetz über die Decke, dazwischen befanden sich künstlerische Verzierungen in hellen Blautönen. Verschlungene Blumenmuster mit Ranken, Blüten und Blättern.
    „Das ist der Speisesaal. Hier essen wir alle zusammen. Und da drüben befindet sich das Anschlagbrett.“ Lotar deutete auf eine Wand, an der mehrere große Papierbögen aufgespannt waren. Sie traten näher und Lotar erklärte ihm, was die einzelnen bedeuteten. „Hier siehst du die Namen der Kinder, die in der Küche helfen müssen, da alle, die zur Gartenarbeit eingeteilt sind und was es halt sonst noch so gibt. Kannst du eigentlich lesen?“
    Edwin schaute die Zeichen an. „Ich glaube, das ist ein E“, vermutete er. Richard hatte früher einmal versucht, ihm das Lesen beizubringen, doch es hatte nichts gebracht. Die seltsamen Buchstaben bedeuteten ihm nichts. Er hatte nur seinen eigenen Namen schreiben gelernt, aber inzwischen hatte er ihn wieder vergessen.
    „Es ist ein F“, berichtigte ihn Lotar. „Du kannst also nicht lesen. Macht nichts, hier wirst du es schnell lernen.“
    „Wozu?“, fragte Edwin. „Wozu brauche ich das?“
    Die Frage schien Lotar zu überraschen. „Dann kannst du Bücher lesen und dir neues Wissen aneignen. Wer nicht lesen kann, der muss einfach glauben, was andere ihm sagen. Wenn du lesen kannst, dann bist du anderen Menschen nicht so ausgeliefert.“
    „Das verstehe ich nicht. Was steht denn in Büchern, was so unglaublich wichtig ist? Und weshalb sollte mir jemand etwas Falsches darüber erzählen?“
    Lotar kratzte sich am Kopf. „Du stellst Fragen“, seufzte er. „Also zum Beispiel die Gnosis. Kennst du die Gnosis?“
    Edwin nickte. „Gilbert hat mir von ihnen erzählt. Die Priester wohnen in dem schwarzen Gebäude gleich nebenan. Sie regieren über das Land und versuchen die Menschen zu kontrollieren. Gilbert mag sie nicht.“
    „Ja, so ungefähr. Und da siehst du es schon. Sie beziehen ihr Wissen über die Götter und den Heiligen Rhamnus aus Büchern. Darin ist viel Wissen über ihn aufgeschrieben. Wenn sie die einzigen wären, die Lesen könnten, dann wäre es leicht für sie, die Wahrheit so zu verdrehen, dass alle nach ihrer Pfeife tanzen müssen. Aber so lange es Menschen gibt, die ebenso in den alten Schriften lesen können, müssen sie vorsichtig bleiben. Sie können uns nicht einfach alles vorsetzen und erwarten, dass wir es glauben.“
    Edwin wiegte sachte mit dem Kopf. „Das macht wohl Sinn“, gestand er. „Wenn man den Menschen nicht vertrauen kann, dann ist es wohl so. Aber weshalb müssen sie die Schriften lesen? Können sie die Götter denn nicht sehen? Können sie nicht mit ihnen sprechen?“
    Lotar öffnete den Mund, schloss ihn wieder. „Hmm, nun ja“, begann er. „Es behaupten wohl ein paar, dass sie es können. Aber sicher bin ich mir nicht. Auf jeden Fall wagen sie es nicht, sich auf die gleiche Ebene mit dem Heiligen Rhamnus zu stellen. Das käme so etwas wie Gotteslästerung gleich. Sein Wort ist Gesetz. Obwohl, sagen sie nicht immer, es sei das Ziel, mit den Göttern auf eine Ebene zu kommen? – Du bringst mich auf Gedanken“, sagte er kopfschüttelnd. „Darüber muss später in Ruhe noch einmal nachdenken.“
    Edwin zuckte mit den Schultern. „Ich würde keinem Priester glauben, der nicht selbst mit den Göttern sprechen kann. Und vielleicht gibt es die Götter ja gar nicht“, überlegte er laut. „Wer kann das schon wissen. Und…“ Er hielt kurz inne. Mit solchen Gedanken hatte er sich bisher nie beschäftigt. Aber nun nahmen sie plötzlich Gestalt in ihm an. „Ist es denn wichtig, ob es Götter gibt? Die Realität ist doch so, wie sie jetzt ist, egal ob es sie gibt oder nicht.“
    Lotar runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“
    „Ich weiß nicht genau, wie ich es sagen soll… Die Welt ist so, wie sie jetzt ist, oder? Also nehmen wir an, es hat nie Götter gegeben und es gibt auch keine. Und sie ist so wie sie ist. Das sehen wir jeden Tag. Dann ist es so und nicht anders. Vielleicht würde es dann besser werden, wenn es plötzlich Götter gäbe, aber das wissen wir nicht.
    Und dann nehmen wir dann, die Welt ist so wie sie ist und es gibt die Götter. Dann ist sie trotzdem genau so. Und wenn es sie plötzlich nicht mehr gäbe, würde sie vielleicht schlechter werden“, erläuterte Edwin völlig fasziniert von diesen Gedanken. Ein Blick ins Gesichts seines Adoptivbruders zeigte ihm jedoch, dass dieser seine Faszination nicht teilte. Deshalb fügte er an: „Verstehst du, was ich meine?“
    „Ich bin mir nicht sicher“, gab Lotar zu.
    Edwin merkte, dass er etwas zurücklehnte, eine distanzierende Haltung einnahm. Er versuchte trotzdem, weiter zu erklären, was ihm durch den Kopf ging: „Also egal, ob es die Götter gibt, die Welt ist so wie sie ist. Daran kann man nichts ändern. Oder nicht? Es kommt also nicht drauf an, ob es Götter gibt oder nicht. Wenn es sie gibt, dann gibt es sie und wenn nicht, dann eben nicht. Glaubst du, dass es Götter gibt?“
    Lotar schürzte die Lippen. „Ehrlich gesagt, habe ich das noch nie infrage gestellt. Ich bin mit dem Glauben aufgewachsen, dass es Götter gibt. Wie sollte die Welt sonst entstanden sein? Und wie sollte es ohne sie Magie geben? Wie wäre es möglich, dass so viele Menschen von ihnen berichten?“ Seine Stimme klang mit jedem Satz zuversichtlicher. „Das Leben würde ohne sie doch gar keinen Sinn ergeben.“ Er sah ihn fragend an. „Was glaubst du denn, gibt es sie?“
    Edwin zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich glaube wirklich, dass es nicht so wichtig ist. Ich sehe die Welt, ich sehe die Menschen, ich sehe die Geistwesen in den Wäldern und sehe wie sie sich um die anderen Wesen kümmern.“ Da hielt Edwin inne. Eine Erinnerung holte ihn ein. Er saß in dem Keller, in welchem die Menschenhändler ihn mit den anderen Kindern gefangen gehalten hatten. Damals war er im Geist einem Waldgeist in den Himmel hinauf gefolgt. Dort hatte er den Ursprung, den Schöpfer der Naturwesen getroffen. „Der Hüter der Natur“, murmelte er. Ein reines, gütiges Wesen. „Er sendet seine Helfer aus, hinaus in die Welt. Er ist beseelt von Liebe und Mitgefühl. Vielleicht ist er eine Art Gottheit?“ Er hatte seit den Tagen im Keller nicht mehr an ihn gedacht. Aber wäre es nicht möglich, dass er damals einem Gott begegnet war?
    „Was meinst du?“
    „Tut mir leid“, entschuldigte sich Edwin von neuem, als er bemerkte, dass er Lotar in seinem Eifer für einen Moment vergessen hatte. „Hast du etwas von einem Hüter der Natur gehört? Es ist ein großes Wesen, das kleine Naturgeister ausstrahlt, die den Tieren und Pflanzen helfen.“
    „Schon möglich“, überlegte Lotar. „Rachel hat auch schon von Wesen erzählt, welche die meisten Menschen nicht sehen können. Wie die Engel besitzen sie keine feststofflichen Körper. Es gibt sehr viele von ihnen. Solche, die in Gewässern leben, andere in Wäldern oder in der Luft. Vielleicht meinst du solche? Ich bin mir sicher, dass wir mehr Informationen über sie in einem Buch finden könnten. – Hast du schon einmal ein solches Wesen gesehen?“
    Edwin betrachtete Lotar mit schiefem Kopf. War es nur Neugier oder noch etwas anderes, das sich in Lotars Stimme gemischt hatte? Edwin tastete sich mit seinem Geist näher an Lotar heran, um es herauszufinden, doch der junge Mann zuckte zurück, als er ihn berührte. „Was tust du?!“, fragte er erschrocken.
    „Entschuldige“, stammelte Edwin, der selbst einen Schreck gekriegt hatte, weil er nicht erwartet hatte, dass Lotar auf seine Berührung reagieren würde. „Hast du gerade etwas gespürt?“
    „Ja, da war etwas, hast du das gemacht?“ Verwirrung, Misstrauen und Verärgerung zeigten sich auf Lotars Gesicht.
    „Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich wollte nur schauen, wie du dich fühlst“, murmelte Edwin.
    „Was?! Wie soll das gehen?“ Was war es, das seinen Mund so unansehnlich verzog und ihn dazu bewog, sich weiter von Edwin zurückzuziehen? Edwin wollte die Distanz zwischen ihnen wieder schließen, doch Lotar entfernte sich nur weiter von ihm. Da erschien ein Funke von Verstehen in den Augen seines Gegenübers. „Wie mit dem Vogel? Du hast gesagt, du hättest den Körper von dem Habicht in Besitz genommen.“
    „Ich glaube nicht, dass es das Gleiche ist“, meinte Edwin.
    „Versuch das lieber nicht nochmal“, warnte Lotar ihn. „Das ist mir nicht geheuer. Vielleicht ist es sogar gefährlich.“
    Edwin spürte, dass sich eine kalte Mauer zwischen ihnen aufgebaut hatte. „Ich wollte wirklich nichts Schlechtes tun“, versicherte er.
    „Du musst lernen, die Grenzen anderer zu respektieren. Ich werde mit Elvira darüber sprechen. Du musst erst lernen, wie du dich unter Menschen zu verhalten hast. Die Zeit mit Gilbert im Wald hat dich mehr von den Menschen entfremdet, als sie vielleicht denkt.“ Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und stieß pfeifend Luft aus. „Gut, ich glaube, ich bringe dich für’s Erste auf dein Zimmer zurück. Du schläfst mit Gilbert oben im Turm, richtig?“
    Edwin nickte. War es wirklich falsch, was er getan hatte? Eine schwere Traurigkeit legte sich auf ihn. Er hatte nichts Böses gewollt. Ohne ein weiteres Wort trottete er Lotar hinterher, bis sie zum Treppenhaus gelangten. Auch Lotar sagte nichts mehr. Wie schade, dachte Edwin. Ich dachte, wir würden uns verstehen. „Von hier aus finde ich den Weg.“
    Lotar musterte ihn einen Moment lang. War es Misstrauen, welches er in seinem Blick sah? Edwin hätte zu gerne nachgesehen, ob er ihn richtig deutete, doch er wagte es nicht, ihn noch einmal mit seinem Geist zu berühren. „Nun gut, geh. Ich hole dich später wieder.“
    Edwin lief davon, die Treppe hinauf. Er schaute nicht zurück, während er die Stufen erklomm. Menschen sind so kompliziert!, dachte er bitter. Vielleicht sind mir Tiere auch lieber, wie Gilbert. Er dachte an den Herrn der Natur. Er ist auch nicht so schwierig wie die Menschen. Er sorgt sich liebevoll um die anderen Geschöpfe. Nur die Menschen sind so seltsam!
    Keuchend und mit Tränen in den Augen erreichte er die gewundene Treppe, die hinauf in das Turmzimmer führte. Hier hielt er kurz inne. Gute Gedanken, dachte er. Bald sehe ich Richard wieder! Doch es half nichts. Er verzog den Mund und kämpfte gegen die Tränen. „Bald sehe ich Richard wieder!“, rief er, doch schon hörte er ein Schluchzen aus seiner Kehle aufsteigen. „Warum geht es jetzt nicht?“ Er lief die Treppe hoch und stieß die Klappe auf. Er kam nach oben und fand sich unter einem wolkenlosen, blauen Himmel wieder. Der Anblick der Bergkette in der Ferne verschlug ihm den Atem. Ein Moment gedankenloser Stille, die ihn seine Trauer vergessen ließ, hüllte ihn ein. Dann kehrte seine Aufmerksamkeit zurück zu seinem Kummer. Grimmig presste er die Lippen aufeinander. Sein Blick schweifte über die Stadt, blieb an dem schwarzen Gebäude hängen. „Priester der Gnosis. Sollte ich Lesen lernen?“ Er wandte dem Ducatus den Rücken zu und setzte sich auf die Schlafmatte, hüllte sich in Decken ein. „Ich finde Richard“, sagte er mit bitterer Entschlossenheit und schloss die Augen.
    Als er sich etwas beruhigt hatte, öffnete er sich der Welt des Geistes. Bald fand er Fait. Der Habicht war stattgefressen und etwas träge. Trotzdem ließ er sich zu einem Rundflug überreden. Die Stadt ist ja riesig!, dachte Edwin, als sie über die bunten Hausdächer kurvten. Langsam gewöhnte Edwin sich an die Wahrnehmung des Vogels. Denn nicht nur sein Körperbau war ganz anders als der eines Menschen, er nahm die Welt durch seine Augen auch anders wahr. Er sah viel schärfer und zudem mehr unterschiedliche Farben. Im Vergleich dazu wirkte die menschliche Sicht geradezu fade. Edwin konnte sich kaum sattsehen an dem Spektakel, welches ihm die Welt durch die Augen seines Gefährten bot.
    Edwin lenkte Fait zu einer Straße, die von unzähligen Menschen bevölkert war. Es musste sich um eine Marktstraße handeln. Wie soll ich Richard da finden? Es sind einfach zu viele Menschen. Doch er gab nicht auf. Auf und ab flogen sie, immer dichter über den Köpfen der Stadtbewohner. Hier gab es ganz verschiedene Menschen. Alte, junge, reiche, arme, Männer und Frauen, Diener und Herren, Händler und Käufer. Alles wuselte wild durcheinander, oftmals rücksichtslos und nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Edwin sah wie sie sich gegenseitig bestahlen, in die Haare bekamen, Verwünschungen nachschrien, betrogen und logen. An einem Ort wie diesem lagen die Niedrigkeiten der Menschen offen für jedermann ersichtlich. In dem Getümmel fielen ihm drei weißgekleidete Männer auf. Die Menschen machten ihnen Platz, wenn sie vorbeigingen. Neugierig landete Edwin auf einer Stange oberhalb der Männer, als diese vor einem Stand stehenblieben. Ob das Priester sind?, fragte sich Edwin. Er hatte noch nie einen Priester gesehen, woher sollte er es also wissen?
    „Vater Samuel!“, hörte er den Verkäufer rufen. „Was für eine Ehre, Euch hier zu begegnen. Wie kann ich Euch helfen?“
    „Ich bin nicht hier, um etwas zu kaufen. Ich möchte mich vielmehr um Euer Wohlergehen und das Eurer Frau erkundigen. Ich habe gehört, es gehe ihr nicht gut“, antwortete der mit Vater angesprochene.
    „Das stimmt. Sie ist krank. Aber Ihr solltet Euch nicht um solche Kleinigkeiten kümmern, ehrenwerter Vater“, sagte der Verkäufer und senkte demütig den Kopf. „Wenn die Götter gnädig sind, wird sie wieder gesund werden.“
    „Die Götter oder die Menschen, die in ihrem Sinne handeln. Wenn ich mich richtig erinnere, dann habt Ihr fünf Kinder. Es wäre eine Schande, wenn sie ohne Mutter aufwachsen müssten. Meldet Euch im medizinischen Zentrum, dort wird man sich um sie kümmern.“
    „Bei allem Respekt, Hohepriester, aber sie werden mich nicht anhören. Die Heiler und Ärzte sind viel zu beschäftigt“, sagte der Mann, doch Hoffnung hatte sich in seine Stimme gemischt.
    „Gebt ihnen dieses Zeichen, dann solltet Ihr keine Probleme haben.“ Der weißgewandete Mann hielt dem Verkäufer ein Siegel entgegen. Mit zitternden Fingern nahm der verblüffte Standbesitzer es an sich.
    „Die Götter schicken Euch!“, rief er aus und küsste dem Weißen die Hand. „Wie kann ich Euch jemals danken?“
    „Indem ihr nun keine Zeit mehr verliert. Wie ich hörte, steht es wirklich nicht gut um Eure Frau“, entgegnete der Hohepriester.
    Der Verkäufer nickte, schaute noch einmal ungläubig zu dem Vater auf, dann rannte er davon, seinen Stand ließ er einfach stehen. Die drei Weißgewandeten wandten sich ab, folgten weiter dem Verlauf der Straße. Neugierig geworden nahm Edwin die Verfolgung auf. Immer wieder warfen sich Menschen vor den Männern auf den Boden, baten um Almosen, Heilung oder Vergebung. Ohne Unterlass kniete sich der Hohepriester hin, hörte die verschiedenen Menschen an und richtete sie wieder auf. Manchmal gab er ihnen Geld, manchmal einen Rat oder seinen Segen. Seine Begleiter blieben stumm, sahen zu wie der andere wirkte. Vielleicht sind die Priester gar nicht so schlecht, dachte Edwin. Dieser jedenfalls kümmert sich um die Menschen. Aber auch er kann kaum etwas ausrichten. So viel Leid.
    Immer mehr Menschen strömten heran, wollten eine Gabe. Schließlich hatten sich die Weißen zu einem Platz vorgearbeitet. Dort bestieg ihr Anführer ein Podest. Als er eine Hand erhob, kehrte allmählich Ruhe unter den Menschen ein. „Seid gegrüßt, ihr Bürger von Caput“, begann er. Seine Stimme klang laut und klar über den Platz. „Mit vielen von euch durfte ich heute sprechen, durfte ich Rat und Zuversicht spenden. Hier, wo das Volk lebt, hier herrscht das Leben. Wer glaubt, dass es nur in der Kirche zu finden ist, der irrt sich. Wer nur fromm und gläubig ist, wenn er das Haus der Götter betritt, der sollte sich nicht gottesfürchtig nennen. In allem Tun ist das Wirken der höheren Wesen enthalten. Doch wenn ich durch eure Reihen gehe, sehe ich Gewalt und Missgunst. Viele habe ich heute aufgerichtet. Weshalb tut ihr es mir nicht gleich?
    Ich wurde von den Göttern gesandt, um euch die Augen zu öffnen. Ihr sollt nicht nur an euer eigenes Los denken, sondern auch an die Nöte eurer Mitmenschen. Wie viel mehr könntet ihr erreichen, wenn ihr miteinander, Hand in Hand arbeiten würdet! Doch immer wieder sehe ich, wie ihr einander verstoßt und nur im eigenen Sinne handelt. Ich sage euch: Bald wird die prophezeite Wende eintreten. Der Stern des Erlösers ist bereits aufgegangen. Hell erleuchtet er den Himmel und scheint über Lux. Nun ist eure Gelegenheit, euch zu besinnen. Weshalb seid ihr hier? Seid ihr hier, um zur Treppe zu werden oder selbst emporzusteigen?“ Er machte eine Pause, ließ seinen forschenden Blick über die Menschen schweifen. „Weshalb seid ihr auf dieser Erde? Um euch gegenseitig das Leben schwer zu machen? Überlegt euch die Antwort. Der Erlöser naht. Wer sich besinnt und dem Weg des Heiligen Rhamnus folgt, der wird von ihm getragen werden. Der Erlöser wird die Tore in den Himmel öffnen und sein Licht wird die Seelen der Menschen ins Reich der Götter führen. Wenn ihr euch jedoch verschließt, dann wird selbst er euch nicht erretten können.“
    Edwin erblickte Elvira, sie stand nicht weit von der Tribüne entfernt. Ihrem Gesicht war nicht zu entnehmen, was sie dachte. Sie hielt die Arme vor der Brust verschränkt und schaute gleichgültig zu dem Mann in Weiß hoch. „Wer ist es?!“, rief jemand. „Wer ist der Erlöser?!“
    „Wann kommt er?!“, rief ein anderer.
    Viele erhoben nun ihre Stimme, doch der Hohepriester gebot ihnen Ruhe. „Die Zeit seiner Enthüllung ist noch nicht gekommen. Doch viel Zeit wird nicht mehr bleiben. Deshalb rate ich euch: Besinnt euch! Wendet euch den wichtigen Dingen im Leben zu. Wir alle haben das unglaubliche Glück in diese Zeit geboren zu sein.“ Edwin bemerkte, wie sich ein paar Männer durch die Menge schoben, auf das Podest zu. Er sah, dass sie bewaffnet waren. Ob der Hohepriester sie bemerkt hatte? Er ließ sich jedenfalls nichts anmerken und fuhr unbeirrt fort: „Lasst uns diese kostbare Zeit nutzen. Auch wenn wir unzählige Leben noch vor uns haben, lasst uns dieses eine zur Erfüllung werden!“ Er breitete die Arme aus und da war Edwin, als sähe er einen goldenen Glanz um die Gestalt des Mannes erstrahlen. Ein Raunen ging durch die Menge. Ob die Menschen das Licht auch wahrnehmen konnten? „Gesegnet seid ihr, ihr Menschen von Lux. Mögen die Götter über euch wachen und der Heilige Rhamnus euch in das Licht führen.“ Dann faltete er die Hände und verbeugte sich.
    Die bewaffneten Männer hatten nun das Podest erreicht. Edwin war sich nicht sicher, was sie wollten, doch es schien keine Gefahr von ihnen auszugehen. Einer von ihnen wechselte ein Wort mit den Priestern, dann stieg der Hohepriester von dem Podest hinunter. Die Menschen bedrängten die Weißgewandeten, doch die Krieger hielten sie fern von ihnen. Womöglich sind das Stadtwachen, erklärte sich Edwin ihr Verhalten. Er zog einen weiteren Kreis über die Priester, als ihr Anführer zu ihm hochblickte. Kurz trafen sich ihre Augen, dann senkte er sein Haupt wieder und schritt weiter durch die Menge. Konnte es sein, dass er ihn innerhalb von Fait gesehen hatte? Woher sollte Edwin wissen, wozu ein Priester fähig war? Er beschloss, zu seinem Körper zurückzukehren. Danke, Fait. Wir sehen uns später. Sie flogen noch ein Stück weit zurück zum Waisenhaus, dann ließ Edwin den Habicht los und ließ sich zurück zu seinem Körper treiben.
    Angekommen in der eigenen Haut bemerkte er, dass Hunger ihn plagte. Außerdem war ihm trotz der Decken kalt. Edwin blieb noch eine Weile lang sitzen, bis er sich wieder vollständig zuhause in seinem Körper fühlte, dann öffnete er langsam die Augen. Er erhob sich, trat an die verglaste Fensterfront und blickte dem Ducatus entgegen. Vielleicht wirkt er ja nur so dunkel und bedrohlich. Vielleicht ist es innen ganz hell und freundlich, überlegte er. Die Gewänder der Priester sind weiß und strahlend. Er ignorierte das Knurren seines Magens und ließ sich die Worte des Hohepriesters Samuel noch einmal durch den Kopf gehen. Er hatte von einem Erlöser gesprochen. Nun fiel ihm ein, dass auch Elvira und Gilbert vor Kurzem einen Erlöser erwähnt hatten, doch er erinnerte sich nicht mehr genau an ihre Worte. Damals war er viel zu müde gewesen, als dass er sich wirklich auf ihre Worte hätte konzentrieren können. Edwin dachte an die beiden Lichtgestalten, die Anastasia damals von ihrer Krankheit geheilt hatten. Wer war der zweite? Wer war das, der neben Richard den Raum betreten hatte? Edwin kniff die Augen zusammen und versuchte sich zu erinnern, doch das Rumoren seines leeren Magens lenkte ihn ab.
    Also gab er es auf, in der Vergangenheit zu stöbern und wandte sich seinen derzeitigen Bedürfnissen zu. Lotar hatte gesagt, er würde ihn holen, also wäre es wohl klüger hierzubleiben. Edwin blickte zu der Klappe im Boden hinüber. Zu seiner Überraschung stand dort eine Schale mit Linsensuppe und ein Kanten Brot. Freudig hüpfte er zu dem Essen hinüber. Ob Lotar ihm das hingestellt hatte? Womöglich war er doch nicht wütend auf ihn! Schnell öffnete er die Klappe und streckte den Kopf hinunter. „Lotar?“, fragte er in die Dunkelheit der Treppe hinunter. Keine Antwort.
    Also zog er sich wieder zurück und machte sich voller Appetit über das Essen her. Wenn man richtig Hunger hat, schmeckt es doch gleich viel besser! Die Suppe war zwar kalt, aber sie war trotzdem lecker. Während er noch am Essen war, klopfte es von unten an die Klappe. Edwin rutschte zur Seite, denn er hatte gerade darauf gesessen, und öffnete sie. Lotars Gesicht erschien in der Öffnung.
    „Darf ich zu dir hochkommen?“, fragte er unsicher.
    „Klar“, erwiderte Edwin und machte ihm Platz, damit er durch das Loch steigen konnte. „Es tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe“, sagte Edwin, sobald Lotar sich gesetzt hatte.
    „Nein, mir tut es leid. Ich habe die Aufgabe, dich einzuführen und auf dich aufzupassen, außerdem bin ich älter als du. Ich habe mich sehr unreif verhalten.“ Er lächelte schwach. „Ich muss zugeben, dass ich einen Moment lang überfordert war, aber nun habe ich mich wieder gesammelt, mach dir also keine Sorgen.“ Er hielt einen Moment inne, um sich wieder durch die blonden Haare zu fahren. „Wie wäre es, wenn wir uns erst einmal etwas kennenlernen? Elvira hat mir gesagt, du seist mit deinem Vater und deinem Bruder in der Nähe des Palus Sumpfes aufgewachsen.“
    „Palus? Schon möglich, dass er so heißt.“ Edwin zuckte mit den Schultern. „Unser Onkel war auch noch da.“
    „Wovon habt ihr gelebt? – Also, wenn du nicht erzählen willst, dann musst du natürlich nicht“, fügte er an. Edwin spürte, dass Lotar die Situation nicht ganz angenehm war und er immer noch unsicher war. Also beschloss er, ihm die Geschichte seiner Kindheit zu erzählen. Vielleicht half es ja wirklich, die Mauer zwischen ihnen zu überwinden.
    Er begann mit der Beschreibung der Umgebung, den Spielen mit seinem Bruder im Wald, den Abenteuern auf dem Sumpf, den Ausflügen auf die andere Seite. Er erzählte ihm von seinen kleinen, durchscheinenden Freunden, den vielen Fremden, die sie über den Sumpf begleitet hatten.
    „Ihr habt den Boden des Sumpfes verfestigt? Aber den Händlern hat euer Vater erzählt, dass er einen sicheren Weg über den Sumpf kennt? Weshalb wollte er nicht sagen, dass er Magie benutzt?“, fragte Lotar nach einer Weile.
    „Ich weiß nicht“, gab Edwin zu. „Ich habe auch nicht gewusst, dass es Magie ist, welche den Boden fest macht. Für mich war das nichts Besonderes.“ Er fuhr fort zu erzählen, nun kam er zu dem Tag, an welchem Vater mit Onkel Johan zurückgekehrt war, den Onkel gestützt, weil er krank war und nicht mehr alleine gehen konnte. „Damals hat alles begonnen, sich zu verändern“, seufzte er und berichtete, wie Richard und er versucht hatte, ihren Onkel gesundzupflegen. „Wir haben alle Kräuter ausprobiert, die wir finden konnten. Aber nichts hat geholfen. Er ist trotzdem gestorben und Vater ist nicht mehr zurückgekommen.“
    Betretenes Schweigen breitete sich aus. Lotar senkte den Blick. „Was habt ihr dann gemacht?“
    „Wir sind über den Sumpf gegangen. Wir wollten Vater suchen, denn ich weiß, dass er noch lebt. Elvira und Gilbert helfen mir, ihn und Richard zu finden. Sie kennen meinen Vater. Er hat früher hier in Caput gelebt.“
    „Wie heißt er denn?“
    „Benjamin Rinstein.“
    „Sagt mir nichts… Wie hast du denn Richard verloren?“
    „Ich bin vorausgelaufen und einem der Waldgeistchen gefolgt.“ Die Erinnerung schien schon Ewigkeiten zurückzuliegen. Weshalb bin ich ihm nachgelaufen? Vielleicht hätte ich Richard nicht verloren, wenn ich bei ihm geblieben wäre… „Danach konnte ich ihn nicht mehr finden und bin einer Gruppe von Menschenhändlern in die Arme gelaufen.“
    Edwin erzählte von seiner Zeit im Keller mit den anderen Kindern und von dem Tag, an dem Gilbert und Talmud sie gerettet hatten. „Davon habe ich gehört! Kurz darauf sind Talmud und die anderen mit den Verbrechern in Caput eingetroffen. Das war ein riesiger Tumult!“, warf Lotar dazwischen. „Die Verbrecher sind verhört worden. Wir hatten bereits Hoffnung, dass man den Entführern endlich auf die Spur kommen würde, aber es ist nichts dabei rausgekommen. Aber das weißt du bestimmt schon.“
    Edwin nickte. „Wir haben weitergesucht. Gilbert und ich haben die Spur der Händler verfolgt, aber wir haben bisher nichts gefunden. Auch meinen Vater und Richard haben wir nicht finden können.“
    „Du hast bei der Verfolgung der Verbrecher geholfen? Das habt ihr also die ganze Zeit gemacht!“, rief Lotar erstaunt. „Aber du bist doch erst ungefähr zehn Jahre alt!“
    „Ich bin zwölf“, sagte Edwin, wusste jedoch nicht, ob das einen Unterschied machte.
    „Und weshalb seid ihr nun hier?“ Echte Neugier klang aus Lotars Stimme.
    Edwin lächelte. Die Mauer hatte sich tatsächlich wieder gelegt, das freute ihn. „Ich hatte Träume, die uns hergeführt haben.“ Sollte er mehr erzählen? Noch eine komplizierte Geschichte mehr? Er entschied sich dagegen. Vielleicht ein andermal. „Gilbert hat mir oft vorgeschlagen, herzukommen. Aber ich fühle mich wohl draußen in der Natur, deshalb wollte ich nicht. Ich weiß noch nicht, wie lange ich bleibe. Hier drin fühle ich mich eingesperrt, ich verstehe, dass Gilbert nicht oft herkommt. Außerdem habe ich das Gefühl, hier nichts tun zu können. Im Wald gab es immer etwas Wichtiges. Aber hier weiß ich nicht, wohin mit mir. Ich könnte Lesen lernen wie die anderen Kinder, aber wozu? Ich möchte Richard und meinen Vater finden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir Lesen dabei helfen wird.“
    Lotar nickte zögernd. „Vielleicht hast du sogar Recht.“ Er musterte ihn mit einer Mischung aus Neugier und Erschöpfung. „Die Aufgabe, dich als kleinen Bruder zu haben, ist herausfordernder als ich dachte. Ich hatte ein völlig falsches Bild von dir. Ich dachte, du wärst ein Kind wie die andern. So wie Elvira gesprochen hatte, dachte ich, du würdest nun hierbleiben, mit uns lernen und leben. Aber dem ist wohl nicht so. Nun verstehe ich, dass sie dich anders behandelt als die Übrigen.“ Er brachte ein Lächeln zustande. „Gut, dass sie dich mir anvertraut hat. Ich bin ja schon überfordert mit der Geschichte. – Gut, wenn du möchtest, werde ich dir auch von mir erzählen. Aber nun ist es schon bald Zeit für’s Abendessen und Elvira hat gesagt, ich solle dich vorher noch zu ihr bringen. Ist das in Ordnung für dich?“
    Edwin nickte. Eigentlich fühlte er sich selbst ziemlich erschöpft, aber er wollte unbedingt wissen, ob sie etwas über Richard herausgefunden hatte.

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Hey RenLi,

    auch dir ein frohes Neues :) ... und du startest direkt wieder mit einem schönen langen Teil, der mir gut gefallen hat. Lotar hat es ja wirklich nicht leicht mit Edwin. Das muss man sagen. Die Gedanken, die er sich macht und seine Ansichten sind für Lotar bestimmt ziemlich fremdartig und abgedreht.
    Der Ausflug mit Fait und die Beobachtungen, die Edwin auf dem Marktplatz macht, hast du gut geschildert. Edwin hatte bislang ja noch kaum Berührungspunkte mit den Gnosis, richtig? Und nun trifft er direkt auf Samuel. Irgendwie witzig.
    Ich packe dir noch ein paar Sachen in den Spoiler:

    Spoiler anzeigen


    Es war schon etwas ganz anderes, den Vogel bei Beutefang zu beobachten...

    beim Beutefang (?)


    So oft hatte er in den letzten zwei Jahren bereits ein Tier erlegt und Gilbert geholfen, es auszuschlachten.

    Ich weiß nicht warum, aber ich bin beim Lesen über das Wort "ausschlachten" gestolpert, wahrscheinlich, weil es sich für Edwins Vokabular so brutal anhört. Mir wäre eher "ausweiden" oder "ausnehmen" in den Sinn gekommen...(nur so vom Gefühl)

    Er hatte nur seinen eigenen Namen schreiben gelernt, aber inzwischen hatte er ihn wieder vergessen.

    Das klingt ein bisschen danach, als habe er seinen Namen vergessen...vielleicht:

    ...aber inzwischen hatte er auch das wieder verlernt.....(?)


    Edwin merkte, dass er ... etwas zurücklehnte, eine distanzierte Haltung...

    sich (?)


    Da erschien ein Funke von Verstehen in den Augen seines Gegenübers.

    Ich glaube, ich würde hier eher schreiben "...ein Funke von Erkenntnis..."oder "...ein Hauch von Erkenntnis...."


    „Entschuldige“, stammelte Edwin, der selbst einen Schreck gekriegt hatte, weil er nicht erwartet hatte, dass Lotar auf seine Berührung reagieren würde. „Hast du gerade etwas gespürt?“
    „Ja, da war etwas, hast du das gemacht?“ Verwirrung, Misstrauen und Verärgerung zeigten sich auf Lotars Gesicht.
    „Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich wollte nur schauen, wie du dich fühlst“, murmelte Edwin.
    „Was?! Wie soll das gehen?“ Was war es, das seinen Mund so unansehnlich verzog und ihn dazu bewog, sich weiter von Edwin zurückzuziehen? Edwin wollte die Distanz zwischen ihnen wieder schließen, doch Lotar entfernte sich nur weiter von ihm. Da erschien ein Funke von Verstehen in den Augen seines Gegenübers. „Wie mit dem Vogel? Du hast gesagt, du hättest den Körper von dem Habicht in Besitz genommen.“
    „Ich glaube nicht, dass es das Gleiche ist“, meinte Edwin.
    „Versuch das lieber nicht nochmal“, warnte L


    Ich kann Lotar verstehen.ich glaube, mir wäre das auch nicht geheuer, vor allem, nachdem, was Edwin ihm zuvor noch über den Habicht erzählt hat. Aus Edwins Sicht ist die Verwirrung ebenfalls gut nachvollziehbar, schließlich hat er nie irgendwelche negativen Absichten und ist die personifizierte Güte...der Konflikt wird hier ganz gut dargestellt, wie ich finde.

    Konnte es sein, dass er ihn innerhalb von Fait gesehen hatte?


    Die Formulierung finde ich etwas unglücklich gewählt. Ich würde schreiben: "Konnte es sein, dass er ihn gesehen hatte, obwohl er im Körper des Habichts steckte?"


    Während er noch am Essen war,klopfte es an die Tür

    Irgendwie klingt das sehr umgangssprachlich. Vielleicht eher: "Noch während er aß, klopfte es an die Tür..." (oder so ähnlich)


    Sollte er mehr erzählen? Noch eine komplizierte Geschichte mehr?

    auf ein "mehr" würde ich verzichten

    LG,
    Rainbow

  • Liebe @RenLi

    Ein sehr schöner Abschnitt.

    Spoiler anzeigen

    „Gestern habe ich entdeckt, dass ich mit Fait den Körper teilen kann. Ich wollte nur sehen, ob das immer noch geht.“ Um Richard zu finden.
    „Wie? Den Körper teilen? Mit wem?“

    Edwin ist ja ziemlich krass naiv. So etwas hätte ich meinem besten Freund nicht gesagt, selbst mit zwölf nicht. Das fand ich hart an der Grenze und dann versucht er es noch ansatzweise bei einem Menschen! Bei Star Wars würde ich sagen, er ist so gut, dass er der dunklen Seite der Macht schon wieder nahe kommt. Einmal um die Spähre der Macht herum, sozusagen. Aber so ist er wohl, unser Edwin!

    Während Edwin alleine in dem warmen Wasser saß, die Knie angezogen und die Arme darum geschlungen, trugen ihn seine Gedanken fort, zu Richard. Ob Elvira bereits im Gefängnis war? Wie kann ich Richard finden?

    Hier hast du "Wie kann ich Richard finden" kursiv geschrieben, aber den Satz vorher nicht. Gehört nicht beides zu seinen Gedanken?
    Möglicherweise hilft es beim Lesen einen Absatz zu machen, wenn er einen Gedanken hat.

  • Hallo zusammen!
    Da bin ich froh, dass ihr den Abschnitt passend findet. Habe eure Korrekturen bereits integriert.
    Zu deinem Kommentar, Sensenbach:

    Edwin ist ja ziemlich krass naiv. So etwas hätte ich meinem besten Freund nicht gesagt, selbst mit zwölf nicht. Das fand ich hart an der Grenze und dann versucht er es noch ansatzweise bei einem Menschen! Bei Star Wars würde ich sagen, er ist so gut, dass er der dunklen Seite der Macht schon wieder nahe kommt. Einmal um die Spähre der Macht herum, sozusagen. Aber so ist er wohl, unser Edwin!

    Den hab ich mir mal als Randnotiz in den Text eingefügt. Ist ja tatsächlich nicht das erste Mal, dass Edwin etwas schräg rüber kommt, deshalb will ich's mir merken und später, mit etwas mehr Abstand zum Text nochmals durch den Kopf gehen.
    Damit man ihn besser versteht: er hat keine Ahnung, was normal ist und was nicht. Ich denke, er empfindet sich selbst als ziemlich normal, da er ja kaum jemanden zum Vergleich hat. Aber das ändert sich nun. Wird ihm auch nicht nur Rosen einbringen in nächster Zeit...

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    Rumi

  • Hallo zusammen

    Tut mit leid, dass ich im Moment nicht so regelmässig neue Abschnitte poste. Beim Jahreswechsel war recht viel los und auch der Jahresanfang hat viel Trubel gebracht. Bald sollte sich der Wind jedoch wieder etwas legen und ich mehr Zeit zum Schreiben finden. Dann gehts weiter mit Edwin und seiner Suche nach einem Platz in dieser Welt, nach Richard, seinem Vater, verlorenen Kindern und dem Sinn des Lebens.
    Übrigens cool, dass du seit Neuestem auch dabei bist, @Alexander2213 :D

    Also dann, hoffe mal bis bald
    RenLi

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    Rumi