Der Sinn des Lebens

Es gibt 460 Antworten in diesem Thema, welches 124.000 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (21. Januar 2020 um 15:16) ist von RenLi.

  • Ich habe den Abschnitt angefangen zu lesen, obwohl ich ja eigentlich mit lesen der Geschichte noch nicht so weit bin. Ich konnte nicht aufhören, brauche ich noch viel mehr zu dem Teil sagen.

    Unabhängig von den sehr realistischen Figuren, sind es spannende Dialoge, die wieder viele tiefe Gedanken anklingen lassen. Auch das es eine Welt ist, in der Mal die Gnostiker die vorherrschende Religion sind, finde ich interessant. Habe mich mit den historischen Gnostikern öfter mal beschäftigt und finde das recht spannend.

    Was mir auch gefällt ist, wie die Magie eingebaut ist, passt gut zum allgemein philosophischem Aufbau der Geschichte.


    Für mehr blümchenpflückende Orks, blutrünstige Elfen und vegetarische Drachen!

  • Hi @Alexander2213

    Mit den historischen Gnostikern habe ich mich leider viel zu wenig beschäftigt, scheinen aber interessante Leute gewesen zu sein (jedenfalls dem Wikipedia-Artikel nach zu urteilen ^^ ). Die Gnosis in meiner Geschichte weicht wohl ziemlich von den historischen Figuren ab. Für ihre 'Erschaffung' haben mich vor allem ein paar Bücher von Rudolf Steiner inspiriert. Falls du dich damit ein bisschen auskennt, werden dir Samuels Lehren über die Erden-/Menschheitsentwicklung bekannt vorkommen. Da habe ich seine Anschauungen vereinfacht und etwas abgewandelt dargestellt. Dass ich Steiners Schriften als Vorlage für die Gnosis genommen habe, heisst jedoch nicht, dass ich ein totaler Steiner-Fan bin. Er bietet einfach eine spannende Grundlage für eine Religion. :) und die Magie lässt sich gut noch einbauen.
    Also dann, cool, dass du noch mitliest!

    LG, RenLi

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • So, @RenLi, ich hab wieder einen Post aufgeholt. War ziemlich viel Text, aber nicht trocken, wie am Anfang von dir befürchtet.
    Und danach hab ich noch sehr interessiert deine Korrespondenz mit Windweber verfolgt zum Thema Aufbau der Kaste Geistlicher, Rangfolge bei den Novizen usw. Anhand dessen, was ich da gelesen habe, hast du seine Vorschläge ja fast alle umgesetzt. Das ist schon toll, wenn man jemand hat, der einem bei einem bestimmten Thema in der Geschichte weiterhelfen kann.
    Ja, nun bin ich gespannt, wie sich Richard einlebt. Nach dem letzten Post scheint er sich in der geistlichen Gemeinschaft sehr wohl zu fühlen, obwohl er sich am Ende fragt, was er eigentlich hier macht. Und grübelt, was der alte Priester wohl gemeint hat mit dem Er ist es.
    Bis demnächst, ich meld mich wieder. ^^

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • Hi @Tariq

    Cool :) da hast du nun einen neuen Abschnitt der Geschichte erreicht. Endlich kriegt Richard ein bisschen Ruhe. Ruhe vor dem Sturm :saint:
    Windwebers Kommentare sind wirklich immer sehr hilfreich und spannend. Hab leider schon seit einiger Zeit nichts mehr von ihm gehört. Würde mich wundernehmen was er so treibt :)
    Übrigens, dein Zitat ist toll! "Wenn wir wüssten, wie kurz das Leben ist, würden wir uns gegenseitig mehr Freude machen." Das sollte sich jeder mal zu Herzen nehmen, da sähe die Welt doch schon ein Stückchen anders aus :thumbsup:

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
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    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Überarbeitet am 10.05.2018


    Edwin, ohne Augen, aber mit Herz (566 n. Rh.)
    Edwin streifte alleine durch das Anwesen. Am Morgen war er bei Mina in der Malstunde gewesen. Die mochte er tatsächlich. Es tat gut, seinen Gefühlen auf diese Weise Ausdruck zu geben und er war gerne mit Maria zusammen. Sie war unkompliziert und trug ihr Herz meistens auf der Zunge und bereits die kleinste Regung konnte man in ihrem Gesicht ablesen. Oder sie ließ aufs Papier fließen, was sie gerade beschäftigte. Heute hatte sie ihm ein Bild geschenkt, auf dem einer ihrer farbigen Wirbel zu sehen war. Edwin war aufgefallen, dass sie je nach Stimmung mit anderen Farben malte. Dunklere, wenn sie traurig oder wütend war, helle, leuchtende, wenn sie fröhlich war.
    Die anderen Unterrichtsstunden mied er, obwohl Elvira ihn mehrfach ermuntert hatte, hinzugehen. Ihm war einfach nicht danach, sich den anderen Kindern anzuschließen. Er hatte versucht, sich mit einigen von ihnen anzufreunden, aber es klappte einfach nicht. Sie fanden ihn seltsam oder verrückt. Außerdem hatte er nun erkannt, dass einige eifersüchtig auf ihn waren, was er nicht wirklich verstand. Vielleicht bin ich wirklich seltsam, dachte er etwas entmutigt. Sogar Lotar hat eine schwere Zeit mit mir. Zusammen mit Gilbert im Wald war das Leben einfacher…
    In Gedanken versunken schritt er einen der vielen Flure entlang. Er bog um eine Ecke und stieß mit jemandem zusammen. Das Mädchen fiel nach hinten und landete auf dem Boden. „Entschuldige“, stammelte sie.
    „Mir tut es leid, ich habe nicht aufgepasst“, erwiderte er und streckte ihr eine Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen, doch das Mädchen ignorierte sein Angebot, wandte sich ab und zog sich an der Wand hoch. Mit zittrigen Gliedern stand sie da und hielt sich fest.
    Edwin ließ die Hand sinken. „Geht es dir nicht gut?“, fragte er verunsichert.
    Sie schaute nach wie vor die Wand an, als sie antwortete: „Mir geht es gut, danke.“ Mit vorsichtigen Schritten begann sie weiterzugehen, wobei sie mit den Händen an der Wand entlangtastete. Es war offensichtlich, dass er ihr nicht gut ging, fand Edwin. Dazu musste er nicht einmal in Verbindung mit ihrem Geist treten. „Kann ich dir helfen?“
    Sie schüttelte den Kopf und ging weiter, langsam, Schritt für Schritt. Wie habe ich nur in sie hineinlaufen können?, fragte Edwin sich. Sie wirkt so zerbrechlich.
    Unschlüssig schaute er ihr nach, wie sie sich in unglaublicher Langsamkeit den Flur entlangkämpfte. Weshalb hält sie sich noch immer an der Wand fest? Hat sie sich etwa verletzt? Er gab sich einen Ruck und lief ihr hinterher. „Wie heißt du?“, fragte er, als er sie eingeholt hatte.
    Sie blieb stehen, wandte das Gesicht ab von ihm. „Lea“, antwortete sie leise. Nach einer kurzen Pause fragte sie zögernd: „Und wer bist du?“ Dabei blickte sie auf einen Punkt auf dem Boden irgendwo neben ihm.
    „Mein Name ist Edwin. Es tut mir wirklich leid, dass ich in dich reingelaufen bin. Wohin willst du? Ich helfe dir gerne.“
    Doch sie schüttelte abermals den Kopf. „Es geht.“
    „Bist du schon lange hier? Ich habe dich noch nie gesehen.“
    „Ungefähr ein Jahr.“
    Überrascht sah er sie an. „Oh, dann bist du mir vielleicht einfach nicht aufgefallen. Ich selbst bin noch nicht lange hier. – Und ich bin selten im Unterricht“, gab er zu. Sie machte ein paar wacklige Schritte vorwärts. „Warte, bist du verletzt? Das wollte ich nicht.“
    „Nein, mir geht es gut. Du brauchst dich nicht um mich zu kümmern.“ Der Trotz in ihrer Stimme konnte das Zittern darin nicht verbergen. Was versuchte sie zu beweisen? Sein Blick fiel auf ihre feingliedrigen Arme, die mit blauen Flecken überzogen waren. Stürzte sie einfach oft oder hatte jemand sie geschlagen?
    „Warum nicht?“ Ohne zu antworten, ging sie weiter, noch immer beide Hände an der Wand. „Warte, da ist ein Stuhl“, rief Edwin, doch sie war bereits hineingelaufen. Er verzog das Gesicht. Das musste geschmerzt haben und bestimmt würde sie einen weiteren blauen Flecken davontragen. „Hast du ihn nicht gesehen?“, fragte er verwirrt.
    „Tut mir leid“, stammelte sie mit erstickter Stimme und machte sich daran, um den Stuhl herumzugehen. Dabei glitten ihre schlanken Finger über das Polster, als würde sie sich darum herumtasten.
    Endlich ging Edwin ein Licht auf. „Du bist blind“, stellte er überrascht fest. Sie zuckte zusammen, ging jedoch weiter. „Ah, ich wollte dich nicht irgendwie verletzen“, fügte er schnell hinzu. „Das macht doch nichts. Sag mir einfach, wo du hinwillst, dann führe ich dich.“
    Sie blieb stehen und schaute ihn an. Ihre blauen Augen erinnerten ihn an den Himmel, wenn er von feinen Dunstwolken überzogen war. Sie schimmerten feucht. „Ich möchte alleine gehen lernen, immer bin ich anderen eine Last“, sagte sie bitter. „Und Deborah ist verletzt, nur weil ich nicht selbst auf mich aufpassen kann.“
    „Wer ist Deborah? Deine Schwester?“
    „Sie ist meine Freundin“, erzählte Lea. „Sie hilft mir immer, aber ich konnte nie etwas für sie tun. Ich möchte nicht blind sein, ich möchte wie die anderen sehen können und auch Helena helfen!“, rief sie mit tränenerstickter Stimme.
    Edwin konnte nur zu gut verstehen wie sie sich fühlte. Er selbst hatte so oft erlebt, wie es war, sich hilflos zu fühlen. „Vielleicht kann ich dir helfen. Du kannst bestimmt lernen, dich besser zurecht zu finden. Aber fürs Erste, wo willst du überhaupt hin?“
    „Ich möchte Helena helfen, damit sie wieder gesund wird. Deshalb wollte ich…“ Sie brach ab und ihre Wangen wurden rot, dann nuschelte sie etwas, das er nicht verstand.
    „Was wolltest du?“, fragte er nach.
    „Im Garten“, hörte er sie sagen. „Deborah mag Blumen. Sie würde sich sicher darüber freuen.“
    „Das ist eine gute Idee. Wir können zusammen nach draußen gehen. Bitte lass mich dir helfen.“ Er streckte ihr die Hand entgegen. Dann fiel ihm ein, dass sie dies ja gar nicht sehen konnte, also fügte er hinzu: „Hier, du kannst meine Hand halten. Oder besser meinen Arm.“
    Noch immer verunsichert löste sie eine Hand von der Wand, zögerte. „Bist du sicher?“ Er sah Furcht auf ihrem Gesicht.
    „Ganz sicher. Ich lass dich schon nicht fallen“, versprach er.
    Langsam streckte sie die Hand aus, er ergriff sie und platzierte sie auf einem Unterarm. Noch immer etwas fahrig strich sie sich eine Strähne ihres aschblonden, schulterlangen Haares hinters Ohr. „So kann ich dich überall hinführen“, sagte er mit einem Lächeln, das sie nicht sehen konnte. Sie schaute auf den Boden vor ihnen, presste die Lippen zusammen. „Hab keine Angst. Ich gehe nun vorwärts.“ Sie nickte tapfer. Langsam machte er ein paar Schritte und sie ließ sich führen. Wie ein steifes Brett hing sie an seinem Arm. „Wenn du dich entspannst, dann geht es besser.“ Sie erwiderte nichts und blieb weiterhin verkrampft. Manches baucht eben Geduld, dachte er und beließ es dabei. Sie erreichten das Treppenhaus. „Pass auf, hier kommt die erste Stufe. Wenn du willst, kannst du dich am Geländer auch noch festhalten.“
    Ihr Fuß tastete sich an den Rand der Treppe, vorsichtig begannen sie den Abstieg. „Puh, erste Treppe geschafft“, sagte Edwin als sie unten ankamen.
    „Ich bin doch eine Last für dich“, murmelte sie und wollte sich von ihm losmachen. „Dabei habe ich mir so fest vorgenommen, von nun an alleine zurecht zu kommen.“
    „Nein, so war das nicht gemeint“, versicherte er ihr schnell. „Es macht mir Spaß, so zu gehen. Wirklich, du bist keine Last für mich. Ich habe nichts zu tun und es ist schön, das Haus einmal in dieser Geschwindigkeit zu erkunden. Du brauchst nichts zu überstürzen.“
    „Ich gehe in den Schlafsaal“, sagte sie.
    „Aber der ist oben“, meinte Edwin.
    „Tut mir leid, ich gehe zurück.“
    „Aber die Blumen“, setzte er an, doch sie entzog ihm ihren Arm. Verloren stand sie im Raum, ohne einen Ort, an dem sie sich hätte festhalten oder orientieren können. Es schmerzte ihn, sie so zu sehen. „Bitte, ich möchte dir helfen. Für mich ist es doch so einfach. Kann ich dich wenigstens zurückbringen?“
    Sie schüttelte den Kopf, tastete nach dem Treppengeländer. Er nahm ihre Hand und wollte sie hinführen, doch sie keuchte erschrocken auf. „Tut mir leid“, wiederholte sie, fand das Geländer und begann den Aufstieg. Traurig sah er ihr nach, verfolgte, wie sie oben ankam und ihren Weg zurück in den Flur suchte. Beinahe wäre sie gestolpert, fing sich aber im letzten Moment doch noch, dann verschwand sie aus seinem Blickfeld. Warum nur?
    Schwarze Schatten begannen vor Edwins Augen zu tanzen. Er rieb sich darüber, merkte, dass sein Kopf sich seltsam schwer anfühlte. Auch sein Körper war auf einmal von einer eigenartigen Mattigkeit erfüllt. Schwer atmend ließ er sich auf die unterste Treppenstufe nieder. Was ist los?, fragte er sich träge. Mein Kopf surrt. Werde ich nun auch blind? Das Treppenhaus begann sich aufzulösen, zerfloss.
    Langsam glitt Edwin über in eine andere, längst vergangene Welt und das erste, das er erkannte, war Diligos Gesicht. „Ihr könnt ihnen nur helfen, wenn sie sich helfen lassen wollen“, sagte Diligo und legte eine Hand auf ihre Schulter. Gerne hätte Anastasia sich an ihn gelehnt, doch das konnte sie sich nicht erlauben. Bereits diese harmlose Berührung entfachten Gefühle in ihr, die sie seit Jahren für tot gehalten hatte und sie wusste nicht, wie lange sie sich noch im Griff haben würde. Reiß dich zusammen!, gebot sie sich. Dies ist nicht der richtige Moment für Schwäche.
    Wie so oft in den letzten Wochen waren sie mit einer Gruppe von Helfern aus der Hauptstadt ausgeritten, um die umliegenden Dörfer zu besuchen. Nahrungsmittel waren noch immer knapp, ebenso wie medizinische Versorgung. Doch wenigstens um die Hauptstadt herum waren die Verhältnisse wieder überschaubar. Das Ausmaß an Gewalt hatte bereits beträchtlich abgenommen, seit Rahmnus die Reinigung der Gebetsstätten abgeschlossen hatte und die Dämonen auch von den Ländereien und aus den Herzen der Menschen vertrieb. Anastasia konnte nur staunen, wenn sie ihn wirken sah. Stets sammelten sich viele Menschen um ihn, als würden sie magisch von ihm angezogen. Alle wollten seine Aufmerksamkeit und seine Hilfe. Manchmal begleitete der König ihn. Anastasia verfolgte dies mit Misstrauen, denn ihr war klar, dass Cedrus sich nur unter das gewöhnliche Volk mischte, um den Eindruck zu erwecken, dass er für die Anwesenheit und das Tun des Weisen verantwortlich war. Es widerte Anastasia an, wie er neben Rhamnus her stolzierte, als würde er selbst die Wunder vollbringen und nicht Rhamnus. Dabei war er in den Unterrichtsstunden mit dem Heiligen nicht wirklich zu gebrauchen, so erzählte es jedenfalls Diligo. Ungezügelt, vorlaut oder schlicht gelangweilt. Anastasia selbst durfte nicht teilnehmen. In dieser Angelegenheit war Cedrus unerbittlich. Wenigstens ließ er sie mit Diligo ziehen, wenn er mit ein paar freiwilligen Helfern einen Ausritt wie heute unternahm. Von ihm hatte sie bereits viel gelernt, auch wenn sie das vor ihrem Gemahl verborgen hielt.
    „Unheil kommt über uns!“, riefen die beiden Frauen, die ihnen eben noch gedroht hatten. Sie rafften ihre schmutzigen Röcke und wateten den Fluss hinauf. Zwei einfache Waschweiber, kinderlos, ehelos. Sie weigerten sich, den neuen Glauben anzunehmen und den alten Göttern abzuschwören.
    „Warum nur?“, fragte Anastasia verständnislos. „Warum wehren sie sich gegen die heilende Kraft, die der Heilige Rhamnus in unser Land bringt?“ Eine der Frauen rutschte aus, konnte sich jedoch gerade noch auffangen. Schimpfend stützte sie sich auf einen aus dem Wasser ragenden Stein. Anastasia wollte ihr zu Hilfe eilen, doch Diligo hielt sie zurück. Sie versuchte seine erneute Berührung zu ignorieren, doch entgegen ihres Willens, antwortete ihr Herz mit aufgeregtem Trommeln. Bei den alten Göttern! Allmählich verliere ich die Herrschaft über meinen Körper, fluchte sie innerlich.
    Als hätte er ihre Gedanken gehört, ließ er sie augenblicklich wieder los und trat einen Schritt zurück. „Entschuldigt, Königin, aber sie würden es als eine Erniedrigung empfinden, wenn Ihr ihnen helft“, erklärte Diligo sein Einschreiten. Anastasia beobachtete, wie Xerxes, ein Hüne von unglaublichem Ausmaß, einen Schritt nähertrat. Wäre Diligo nicht beinahe ebenso angesehen gewesen wie sein Meister, hätte ihre Leibgarde sein Verhalten nicht geduldet. Diligo blieb gelassen, er würdigte den Krieger keines Blickes und fuhr fort: „Sie sind zu sehr in alten Mustern gefangen. Das macht sie in gewisser Weise zu Blinden. Sie können den Wandel des Landes nicht sehen, oder nicht an eine positive Veränderung glauben“, erklärte er. „Eine sehr menschliche Eigenschaft wie mir scheint.“ Er nahm den Strick seines Pferdes und führte es weiter.
    Anastasia folgte ihm. „Könnt Ihr ihnen nicht die Augen öffnen? Sie quälen sich. Wenn sie sehen könnten, wie viel sie durch den neuen Glauben lernen können, dann würden sie sich anders entscheiden. Sie könnten ein ganz neues Leben beginnen.“ Sie dachte dabei daran, wie sehr die Weisheiten des Wanderers ihr eigenes Leben bereits beeinflusst und verändert hatten. Es war nicht mehr wiederzuerkennen, sie selbst war nicht mehr wiederzuerkennen.
    „Man kann die Menschen nicht zwingen, ihren Glauben zu ändern. Man kann sie nur Stück für Stück davon überzeugen, wenn sie sehen, welche Vorteile der neue Glaube bringt. Lasst ihnen Zeit, sie werden es noch merken.“
    „Wie könnt Ihr dabei so gelassen bleiben?“, fragte sie und versuchte die Mischung aus Bewunderung und Neid zu verbergen, die sie empfand.
    „Jahre der Übung“, gab er zur Antwort. „Außerdem bin ich von Natur aus ein sehr ruhiger Mensch.“
    „Darf ich Euch eine Frage stellen?“
    „Nur zu.“ Dabei sah er sie mit diesem Funkeln in den Augen an, das sie schon seit ihrem ersten Gespräch gefangen genommen hatte. Sie musste unweigerlich lächeln. War es nicht unglaublich, dass er sich tatsächlich dafür interessierte, was ihre Frage war? Oder ihre Meinung, ihre Gedanken. Wie konnten er und Cedrus so grundverschieden sein? Letzterer interessierte sich nicht im Geringsten für sie.
    „Es ist eine persönliche Frage, Ihr müsst selbstverständlich nicht antworten, wenn Ihr nicht wollt“, fügte sie an und er bedeutete ihr, fortzufahren. „Ihr seid hier einfach eines Tages aufgetaucht. Weshalb hier und was habt ihr zuvor getan? Wo seid Ihr aufgewachsen und wie habt Ihr den weisen Wanderer kennengelernt?“, fragte Anastasia. Obwohl Diligo und Rhamnus nun schon eine Weile in ihrem Land lebten, hatte sie sich nie getraut, ihn nach seiner Vergangenheit zu fragen. Auch jetzt fiel es ihr nicht leicht, die Worte über die Lippen zu bringen, aber sie hatte nun bereits so viel Zeit mit den Gedanken daran verbracht, dass sie sie nicht mehr hatte zurückhalten können.
    Ihre Intuition bestätigte sich, als er antwortete: „Ich soll nicht darüber sprechen. Woher Rhamnus selbst kommt, das weiß auch ich nicht. Er hat mir nie erzählt, wo er aufgewachsen ist. Manchmal denke ich, dass er nicht einmal von diesem Planeten stammt.“
    Gebannt hörte sie zu und es schien ihr, als rückten auch ihre Begleiter etwas näher, um mithören zu können.
    „Er hat mich gefunden, als ich noch ein kleines Kind war. Er hat mich aufgezogen, deshalb ist er Vater, Mutter, Meister und Freund in einer Person für mich. Ich fürchte, mehr kann ich Euch nicht erzählen.“
    Sie spürte einen Stich von Eifersucht in ihrem Herzen. Rhamnus war Diligo so nah, wie sie ihm nie würde sein können. Sie hatten so viele Jahre zusammen verbracht, was waren da die paar Monate, die sie Diligo nun kannte? Was für dumme Gedanken, dachte sie. Ich sollte mich nicht so gehen lassen. „Seid Ihr nicht ungefähr in demselben Alter?“, fragte sie schließlich.
    Er lächelte und sie spürte, wie ein warmes Gefühl in ihrer Brust erwachte, als würde eine kleine Sonne in ihr zu leuchten beginnen. Schnell wandte sie den Blick von seinem Gesicht ab und fixierte die Straße vor sich. „Das ist Euch aufgefallen? Ihr hört gut zu und kombiniert schnell“, lobte er sie. „Soviel kann ich Euch wohl verraten. Rhamnus altert langsamer als die übrigen Menschen. Bald werde ich ihn eingeholt haben, aber im Geiste und in der Seele ist er viel älter als seine körperliche Erscheinung es vermittelt.“
    Wie sonderbar, dachte sie. Vielleicht hat Diligo recht und er kommt wirklich nicht von der Erde. Aber woher kommt er dann?
    „Königin, wir werden bald das Dorf erreichen“, machte Xerxes sie auf ihre Umgebung aufmerksam. „Wir werden vorausreiten, wenn Ihr es erlaubt.“
    Anastasia nickte und der Hüne schwang sich auf sein Pferd und preschte mit zwei anderen Kriegern der königlichen Garde davon. Staub wirbelte hinter ihnen auf. „Es hat lange nicht geregnet“, sprach Diligo ihre Gedanken aus.
    „Ist dies das Tun der Dämonen?“, fragte Anastasia. „Ebenso wie die Krankheiten, die das Wasser und die Tiere verseuchen?“
    Diligo betrachtete den Himmel, der sich wolkenlos über sie spannte. „Spürt Ihr diese drückende Atmosphäre? Sie trocknen den Himmel aus.“
    Anastasia sah ebenfalls hoch, doch sie spürte nur die milden Strahlen der Sonne auf ihrer Haut, nichts Drückendes. Dass die Luft sehr trocken war, konnte jedoch niemand abstreiten. „Wird der Heilige die Wolken beeinflussen, damit es regnet?“ Sie erinnerte sich noch lebhaft an den Vorfall, an dem Rhamnus den Himmel verdunkelt und den König beinahe erstickt hätte.
    „Er ist ein Heiliger, niemand kann voraussehen was er tun wird. Auch ich nicht. Aber ich habe tiefes Vertrauen in ihn. Er spricht mit den Göttern, er wird wissen, was er tun muss und wann die richtige Zeit dazu gekommen ist“, antwortete Diligo und Anastasia hörte die tiefe Verehrung in seiner Stimme.
    Warum nur ist er so vernarrt in seinen Meister?, fragte sie sich und hätte sich selbst für diesen Gedanken schelten mögen. Hatte er nicht vor wenigen Augenblicken gesagt, er sei von ihm großgezogen worden? Außerdem war die Macht von Rhamnus offensichtlich. Sie selbst wurde genauso sehr in seinen Bann gezogen, wie die anderen Menschen des Landes, die zu ihm strömten. Wie konnte sie Diligo da etwas vorhalten? Ich sollte mich von ihm fernhalten, dachte sie bitter. Es ist nicht gut für mich, mit ihm zusammen zu sein, gar gefährlich. Sie übergab ihr Pferd einem Knappen und ließ sich etwas zurückfallen. Hör auf zu fantasieren und komm auf den Boden der Tatsachen zurück. Liebe ist ein Luxus, den du nicht hast!, schärfte sie sich ein und erschrak selbst bei ihren Worten. Liebe? Liebte sie ihn denn? Sie ertappte sich dabei, wie sie seine schlanke Gestalt musterte. Seine langen, braunen Haare fielen über seinen Rücken und bewegten sich mit seinem Gang. Die schlanken Finger, mit denen er den Zügel seines Pferdes hielt, wirkten so elegant und doch kräftig. Sie dachte an sein Lächeln, an das Strahlen seiner Augen, die Sanftheit in seiner Stimme oder die Begeisterung, wenn er von den Lichtwesen sprach. Die Wahrheit traf sie wie ein Hammer vor die Brust und nahm ihr den Atem. Als wäre sie in eine Wand gelaufen, blieb sie abrupt stehen. Um Fassung ringend stand sie da und sah seiner Gestalt nach, die sich langsam von ihr entfernte. Ich liebe ihn, dachte sie, noch immer mit Schrecken. „Königin, fühlt Ihr Euch nicht wohl?“, fragte ihr Knappe, doch sie nahm ihn kaum wahr.
    „Das kann ich nicht erlauben“, murmelte sie.
    „Wollt Ihr Euer Pferd selber führen?“, fragte der besorgte Junge weiter.
    Verständnislos schaute sie ihn an. „Nein, behalte es“, erwiderte sie und wurde sich bewusst, dass sie die Aufmerksamkeit zu vieler Menschen auf sich zog. Wie kann ich mich nur so gehen lassen? Wegen so einer Kleinigkeit!
    Sie strich ihr Kleid glatt und reihte sich wieder in die Gruppe ein, mit der sie unterwegs war. Erschrocken stellte sie fest, dass Diligo am Eingang des Dorfes auf sie wartete. Führsorglich strich er seinem Pferd über den Hals. Als sie zu ihm trat, umspielte ein sanftes Lächeln seine Lippen. „Sind sie nicht wundervolle Tiere?“, fragte er und Anastasia wusste nicht, ob der warmherzige Ausdruck in seinen Augen ihr oder dem Pferd galt.
    „Wunderschön“, antwortete sie, überrumpelt von der Anziehungskraft, die er auf sie ausübte. Etwas zu schnell wandte sie sich von ihm ab. Wusste er denn nicht, dass er ihr mit seiner aufmerksamen Art das Leben schwer machte?
    Edwin schlug die Augen auf. Sein Kopf schmerzte und sein Herz schlug viel zu schnell, doch wenigstens sah er wieder klar. Er lag auf der Treppe, in einer unglaublich unbequemen Stellung, sodass er kaum glauben konnte, wie er so hatte schlafen können. Oder war er eher ohnmächtig gewesen? Muss ich nun immer aufpassen, dass ich nicht plötzlich umfalle, weil mich eine Erinnerung von früher überflutet?
    Er rappelte sich auf und musste sich am Treppengeländer festhalten, weil er sich noch immer benommen fühlte. „Diligo“, murmelte er. Wie seltsam, seinen Namen laut auszusprechen. Ein unangenehmes Ziehen machte sich in seiner Brust bemerkbar. „Ist das Liebe?“ Das ist schmerzhafter, als ich geglaubt habe, dachte er. Und viel komplizierter.
    Nach kurzem Durchatmen machte Edwin sich auf den Weg nach draußen. Während er hinauf in die Äste eines Baumes kletterte, drehten sich seine Gedanken noch immer um den Traum. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Stamm. Wie schön, dachte er und atmete die frische Luft ein. Seit ein paar Tagen war dies sein liebstes Plätzchen. Hier konnte er dem Atem der Natur lauschen und den Naturgeistchen bei der Arbeit zusehen. Beinahe wie zuhause oder im Wald.
    Weshalb war ich verliebt in ihn? Was ist das für eine Macht, die mich an ihn gebunden hat? Noch nie hatte er in seinem Leben Gefühle wie diese verspürt, sie waren ihm fremd. Und auch Anastasia hatte nicht damit umgehen können. Sie hat versucht, sie loszuwerden. Sie wollte nicht verliebt sein.
    Während Edwin so auf dem Ast saß, döste er ein.

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

    2 Mal editiert, zuletzt von RenLi (10. Mai 2018 um 15:43)

  • Hallo @RenLi,

    ich hab mal weitergelesen bei dir. Und ich bin bei Post 149 gelandet

    Hallo zusammen. Findet ihr Richards 'Rückfall' zu seinem unglücklichen, selbstverachtenden Ich etwas übertrieben? Lg, RenLi

    Ja, die Frage würde ich dir gern beantworten, denn genau das war mein Gedanke. Ich hab extra nochmal zurückgeschaut an den Beginn der Geschichte, weil ich zugegebenermaßen nicht mehr wusste, wie alt Richard zu diesem Zeitpunkt ist. Nun hab ich gefunden, dass er zu Beginn zehn Jahre alt war. Dann müsste er jetzt sechzehn sein.
    Tut mir leid. Aber da war ich dann doch verwundert. In meinen Augen verhält er sich eher wie ein zwölfjähriger. Dieses Ich-bin-schlecht-und-schade-anderen-nur-Mantra mag ja tief verwurzelt in ihm sein, aber DIESE REaktion, nachdem ihn Sessilia förmlich retten musste, ist in meinen Augen schon recht kindisch. Sie einfach so zurückzulassen... Kein Gedanke daran, sie zu beschützen.
    Ich verstehe auch nicht, warum er nicht längst einmal mit Vater Samuel darüber gesprochen hat. Er wurde gefragt: bedrückt dioch etwas? Und alles, was er sagt, ist,

    „Ich vermisse die Natur, die frische Luft, die Bewegung. Es gefällt mir sehr hier, wirklich! Aber, ich vermisse mein Zuhause.“

    Was ist mit den Ängsten, die ihm so zu schaffen machen? Will er nicht endlich mal Klarheit haben?
    Ich hoffe, er redet mal mit Vater Samuel. Kann ja nicht so weitergehen.
    Ansonsten wie immer - wunderbar geschrieben!! Ich hoffe nun, dass mit diesem Ausflug die mit der Zeit doch recht anstrengend zu lesenden ausführlichen Erklärungen über Gnosis, Ducatus und Weltbild erst einmal pausieren. Ich freu mich darauf, dass wir endlich wiedermal den Ducatus verlassen. :thumbup:
    Bald wieder mehr von mir.
    LG Tariq

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
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    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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    • Offizieller Beitrag

    Puh, das war ein langer Part... und ein schwerer noch dazu. Schwer, weil ich zweimal nen Kloß im Hals hatte.

    Erst mal zu deiner Frage:

    Ist es realistisch so?

    Ich gehe mal davon aus du meinst die Situation zum Schluss. Ja, ich denke schon.

    Zwischen den zwei Rückblenden ist übrigens ziemlich viel Zeit vergangen,

    Hättest du das allerdings nicht vorher geschrieben, wäre es mir wahrscheinlich nicht aufgefallen. Es liest sich eher so ob es der Tag darauf wäre oder so.

    Also, ich fand das mit dem blinden Kind war der vielleicht beste Part in diesem Abschnitt. Die Erkenntnis war super rüber gebracht. Mir fiel es quasi Zeitgleich mit Edwin auf. Auch alle Szenen danach mit dem Mädchen. (Kloß Numero Uno) Es war schwer zu ertragen wie schwer sich das Mädchen tut und sich nachher auch wieder abwendet. Das war et gut beschrieben. Ich habe richtig Mitleid empfunden.
    Die Rückblende danach, fasst das Thema wieder gut auf, ist für meinen Geschmack aber ein bisschen zu lang.
    Naja, kommen wie zum 2. Kloß
    (Kloß Numero dos) Natürlich die Schlussszene mit der verwehrten Liebe. Was das ganze hier natürlich so schwer macht, ist das ja durchaus Liebe VON Diligo FÜR Anastasia vorhanden ist. (klingt irgendwie komisch). Und dennoch will es nicht funktionieren. Er wirkt hier sehr verblendet durch Ramnus (was wie gesagt nicht unlogisch erscheint. Siehe Zolibat und son kack.) In den letzten zwei Zeilen wird er dazu noch etwas unangenehm, weil er Anastasia einfach komplett abtroopfen lässt.
    Sehr anschaulich ist, wie viel Worte Anastasia zu ihm sagt, währed seine zum Schluss hin immer weniger werden.

  • Hi @Tariq
    Cool, dass du so ausführlich schreibst! Ich werde die Szene sicherlich noch überarbeiten, schliesslich lerne ich immer mehr über meine Figuren und so gelingt es mir - hoffentlich - immer besser, mich in sie hineinzuversetzen. Er wird sich Samuel später noch anvertrauen und bekommt die Gelegenheit an seinem Knacks zu arbeiten.

    Ich hoffe nun, dass mit diesem Ausflug die mit der Zeit doch recht anstrengend zu lesenden ausführlichen Erklärungen über Gnosis, Ducatus und Weltbild erst einmal pausieren.

    Es wird jetzt glücklicherweise praktischer, da Richard aus dem Ducatus rauskommt. Auf das Erzählen dieser Reise hab ich mich richtig gefreut. Hast du dich bis zu letzt durch die Gnosis-Theorie durchringen können? Würdest du etwas kürzen?
    Ich werd es sicher so einrichten, dass in der Endversion durch Jakob und Edwin etwas Auflockerung in die Sache reinkommt. Aber vielleicht ist es trotzdem zu theoretisch... mal sehen.

    Hi @Etiam
    Gut, dass die erste Szene mit Lea (das blinde Mädchen) gut rüberkommt, ich habe vor sie noch weiter einzubauen.

    Hättest du das allerdings nicht vorher geschrieben, wäre es mir wahrscheinlich nicht aufgefallen. Es liest sich eher so ob es der Tag darauf wäre oder so.

    Dann muss ich da noch was einfügen, damit es klarer wird. Sonst passt das irgendwie nicht. Danke für den Hinweis!

    Er wirkt hier sehr verblendet durch Ramnus (was wie gesagt nicht unlogisch erscheint. Siehe Zolibat und son kack.)

    Super! Genau das wollte ich rüberbringen. :) Er ist ziemlich verstockt in Sachen Frauen, was natürlich von Rhamnus kommt. Der hat da selbst seine Probleme, wie man später noch merken wird :D hihi, von wegen heilig ;)

    Also dann, danke euch beiden! Geniesst das Wochenende! :)

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • :D Es war eine ruhige Nachtschicht, @RenLi , und deine Geschichte hat ja sowieso einen gewissen Suchtfaktor. Da kann man das Handy schwer weglegen. Mit Edwin geht es jetzt ja weiter. Da bin ich echt gespannt.
    Richard hat sich aus meiner Sicht super entwickelt. Wurde ja auch Zeit, dass er mal aus seinem Loch des Selbstmitleides herauskrabbelt und anfängt, sein Leben in die Hand zu nehmen. Immer wird Samuel nicht für ihn da sein können.
    Überhaupt Samuel - da hast du einen wirklich guten Charakter geschaffen. Irgendwie hatte ich da so ein bisschen Jesus vor meinem geistigen Auge , als er den Dorfbewohnern so Mut gemacht hat. Er ist wirklich stark. Ich hoffe nur, dass du ihn uns noch eine Weile erhältst. Ein bisschen gemein ist es schon, uns jetzt so im Ungewissen zu lassen, was mit ihnen passiert, mit Richard, Samuel, Sessilia, Roland und natürlich Sinister (toller Name übrigens für diesen Char!). Man hat sich dran gewöhnt, sie zu begleiten, und jetzt, wo es ihnen wirklich mies geht, nimmst du die Leser weg von ihnen.
    Ich bleib dir und deiner Geschichte auf jeden Fall erhalten, nur ist sie für mich nichts zum einfach zwischendurch lesen. Da brauch ch Zeit und Ruhe, da will ich richtig "eintauchen können". Von daher - bis zum nächsten Part. Du hörst von mir! ^^
    LG Tari

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • Hallo zusammen
    Der nächste Abschnitt ist fertig. Mal eine etwas andere Sicht auf die Dinge. Ist es nicht cool, dass man sich schier unendlich viele Theorien über das Leben und dessen Bedeutung aufstellen kann? Und besonders schön find ich es, wenn sie auch noch zusammenpassen :)

    @Tariq Cool, dass du voll drin bist!

    Wurde ja auch Zeit, dass er mal aus seinem Loch des Selbstmitleides herauskrabbelt

    da hast du total recht. langsam bekommt er Rückgrat


    Edwin, Schachspiel (566 n. Rh.)
    Edwin schreckte hoch. Er atmete schwer und wäre beinahe vom Ast gefallen. Er brauchte einen Moment um zu realisieren, wo er war. Noch immer fühlte er Anastasias Verwirrung in seinem Körper. „Ich halt das nicht aus“, sagte er laut und wie zur Antwort trommelte ein Specht gegen einen Baumstamm in der Nähe. „Muss ich denn alles zweimal erleben?“ Er brauchte lange, bis er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. Ich dachte, Liebe sei etwas Positives. Angestrengt versuchte er, Klarheit in sein Gefühlsleben zurückzubringen. Ich wollte doch gar nicht, dass es soweit kommt. Er hat mich geküsst, nicht ich ihn. Und dann wendet er sich von mir ab, urplötzlich. Weshalb? Er denkt, er sei so weise, aber wenn es um Gefühle geht, hat er keine Ahnung!, schimpfte Edwin innerlich und hörte deutlich Anastasias Stimme aus sich heraus.
    Das bin nicht ich, das ist längst vergangen, versuchte er sich zu überzeugen, jedoch ohne Erfolg. Die Gefühle waren zu real und zu intensiv. Dabei weiß ich noch nicht einmal, was später passiert ist. Ob Elvira vielleicht mehr Erfahrung mit Liebe hat? Edwin überlegte, ob er sie schon einmal mit einem Mann zusammen gesehen hatte, doch ihm fiel niemand ein, der ihr Geliebte sein könnte. Talmud vielleicht? Er würde sie fragen müssen. Vielleichte erzählt sie mir von ihrer Beziehung zu Anastasias Vater. Er erinnerte sich daran, dass diese beiden ganz vernarrt ineinander gewesen waren.
    Mit neuer Entschlusskraft kletterte er den Baum hinunter und machte sich auf den Weg zu Elviras Arbeitszimmer. Unterwegs strömte ihm eine Schaar schnatternder Kinder entgegen, die vom Speisesaal her kamen. Anscheinend hatte er schon wieder eine Mahlzeit versäumt. Einige warfen ihm ablehnende Blicke zu, die meisten beachteten ihn nicht. Schnell schlug er einen anderen Weg ein, um nicht Lotar über den Weg zu laufen. Auf eine Standpauke von ihm hatte er nun wirklich keine Lust. Unertappt gelangte Edwin in das zweite Stockwerk, in welchem Elviras Empfangsraum lag. Als er eintrat, fand er das Zimmer dunkel und verlassen vor. Womöglich war sie noch unten, denn meist aß sie mit den Kindern zusammen. Er würde hier auf sie warten.
    Edwin schloss die Tür hinter sich und betrat den dunklen Raum. Weshalb hatte sie wohl die Fenster abgedunkelt? Als er die Vorhänge beiseite zog, hörte er dumpfes Gelächter. Unverkennbar Gilbert. Nun da er auf Geräusche achtete, vernahm er auch dessen Stimme, jedoch nur gedämpft. Er musste sich im Raum gleich nebenan befinden. Drei Türen führten von dem Arbeitszimmer weg. Eine zurück in den Vorraum und dann in den Flur hinaus, eine zu Edwins Rechten in Elviras Schlafgemach und eine dritte zu seiner Linken, welcher er bislang nie Beachtung geschenkt hatte. Edwin streckte gewohnheitsmäßig seine geistigen Fühler aus, um die andere Seite der Wand abzutasten und schritt auf die Tür zu. Noch bevor er sie öffnete, wusste er, dass sich Elvira, Talmud und Gilbert zusammen in dem Raum befanden, doch er spürte, wie Elvira sich vor ihm zurückzog. „Edwin, das sollst du doch lassen!“, rief Talmud in dem Moment, in dem er seinen Kopf durch die Tür streckte.
    Schuldbewusst sah er auf den Boden. „Tut mir leid, ich hab es nicht absichtlich gemacht“, entschuldigte er sich. Seit ein paar Tagen waren Elvira und Talmud auf seine Kontaktaufnahmen aufmerksam geworden und wiesen ihn zurecht, wenn er seinen Geist allzu frei wandern ließ. Gilbert schien entweder keine Notiz davon zu nehmen, oder es war ihm schlichtweg gleichgültig, ob Edwin ihn nun auf dieser Ebene berührte oder nicht.
    „Komm rein“, lud Elvira ihn ein. Sie saß, die Beine untergeschlagen, auf einem bequemen Sessel, ein Buch auf der Armlehne, in welchem sie wohl gerade noch gelesen hatte. Talmud und Gilbert saßen sich an einem kleinen Tischchen gegenüber, beide in ein Brettspiel vertieft. Schach, dachte Edwin und brauchte einen Moment, bis er begriff, dass Anastasia dieses Spiel gekannt haben musste. Er betrat den Raum, in dem es angenehm warm war und nach frischen Kräutern duftete. Tatsächlich täuschte ihn seine Nase nicht, denn er erspähte ein paar Bünde, die über dem Kamin zum Trocknen aufgehängt worden waren. Wie zu Hause, dachte er. Der vertraute Geruch beruhigte ihn. Er setzte sich zu Elvira in einen Sessel und betrachtete ihr Gesicht. Sie hatte sich wieder in ihr Buch vertieft und eine kleine Falte hatte sich zwischen ihren Brauen gebildet. Ob er sie wohl stören durfte?
    „Na, hast du etwas ausgefressen?“, fragte Talmud. „Falls du Rachel suchst, sie ist gerade an einer Besprechung drüben im Ducatus. Ihr habt morgen eure erste Unterrichtsstunde, oder?“
    Edwin schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht deswegen hier.“
    „Möchtest du einen Tee?“, fragte Talmud weiter. „Du siehst aus, als könntest du einen Baldriantee vertragen. Oder eher Lindenblüten?“
    „Papa hat mir meist einen Lindenblüten-Kamillentee gemacht, wenn ich nicht schlafen konnte“, meinte Edwin und erinnerte sich an die Abende zurück, in denen er voller Angst wachgelegen hatte. Die Furcht vor seinen Alpträumen hatten ihn so manchmal am Einschlafen gehindert. Dann hatte sein Vater ihn auf den Schoß genommen, ihm die Hand aufgelegt und hatte mit ihm in die Sterne geschaut, bis Edwin seinen Tee ausgetrunken hatte. Dieses kleine Ritual hatte er geliebt und oft hatte er sich absichtlich Zeit mit dem Trinken gelassen.
    Talmud stand auf und holte eine Kanne, die auf einem Haken über der Glut baumelte. Das Wasser dampfte und zischte, als er es in einen Becher leerte. „Dein Zug“, brummte Gilbert und sah von dem karierten Spielbrett auf.
    Edwin nahm den Keramikbecher entgegen und sank in die Kissen zurück. Vorsichtig bliess er über die heiße Oberfläche des Getränks und der Geruch nach Schlaf, Beruhigung und Geborgenheit stieg ihm in die Nase. Talmud war inzwischen wieder Gilbert gegenübergetreten und musterte das Schachbrett. „Du hast den Springer vorgerückt?“, fragte er und setzte sich. „Was genau bezweckst du damit?“ Er schien keine Antwort zu erwarten, denn er fuhr fort: „Bist du wirklich so waghalsig oder bist du einfach allmählich unaufmerksam?“ Talmud sah seinen Freund forschend an, doch Gilberts Gesicht blieb ausdruckslos. „Ich kann Edwin schon verstehen, manchmal bin ich ja selbst der Versuchung nahe, in dich hinein zu schauen“, meinte Talmud und setzte sich.
    „Das würde dir nicht gut bekommen“, erwiderte Gilbert. „Und zurechtfinden würdest du dich auch nicht.“
    „Gut möglich.“ Talmud wandte sich wieder den Figuren zu und ließ seine Hand über sie hinwegschweben, als müsse er erspüren, welche denn die richtige sei. Schließlich entschied er sich für einen Zug mit seinem Läufer.
    Gilbert grinste. „Wie ich es von dir erwartet habe. Du witterst immer eine Falle, wenn man dir ein zu leichtes Opfer bietet. Aber manchmal solltest du dir doch etwas mehr Zeit zum Überlegen nehmen.“ Er griff nach seinem zweiten Springer und hüpfte über eine seiner eigenen Spielfiguren hinweg. „Schach.“
    „Das heißt noch gar nichts.“ Talmud zog den weißen König ein Feld weiter. Edwin verfolgte das Spiel gebannt. Allmählich kamen ihm nicht nur die Namen der Figuren wieder in den Sinn, sondern auch die Regeln. Anastasia hatte das Spiel gemocht. Diligo hatte es ihr beigebracht und schon bald war sie besser darin gewesen als er.
    „Wieder Schach.“
    „Ach, deine verfluchte Königin würde ich doch zu gerne aus dem Spiel verbannen“, murrte Talmud. „Aber Matt bin ich noch lange nicht.“
    Fünf Züge später war das Spiel entschieden. „Ich habe eben beim Meister des Schachs gelernt“, frohlockte Gilbert.
    „Und wer soll das sein?“
    „Ben. Er war ein begnadeter Stratege.“
    Edwin horchte auf. „Mein Vater?“
    „Natürlich, eine Zeit lang war er ganz vernarrt in dieses Spiel. Das erinnert mich daran, was er einmal bei einer Partie gesagt hat: Das Leben ist wie ein Schachspiel. Alleine spielen macht keinen Spaß, aber wenn man einen Gegner hat, wird es interessant.“
    „Hat er das Leben als Kampf gesehen?“, fragte Talmud überrascht. „Das passt gar nicht zu dem Bild, das ich von ihm habe.“
    „Mit Kämpfen hatte er nichts am Hut“, antwortete Gilbert. „Er hätte sich wohl anders ausgedrückt.“
    Edwin fiel auf, dass Elvira ihr Buch beiseitegelegt hatte und dem Gespräch der zwei ebenfalls lauschte. „Dasselbe hat er mir einmal erzählt“, erinnerte sie sich. „Er hat damit auf das Verhältnis von Form und Formlosem angespielt.“
    „Was ist das?“, fragte Edwin.
    „Markus hat in diesen Worten gepredigt“, erklärte sie. „Er sagte, dass die Welt, die wir sehen und mit unseren Sinnen wahrnehmen, die Welt der Form ist. Alles, was du berühren kannst, ist Form. Aber diese ist aus dem Formlosen entstanden. Du kannst es auch Gott nennen, wenn du willst. Gott, Schöpfer, Urkraft, wie auch immer.“
    Edwin musterte das Schachbrett. Er sah keinen Zusammenhang zwischen einem Gott und diesem Spiel. „Stell es dir so vor: Gott saß alleine da, um ihn war nichts“, begann Gilbert die Worte seiner Schwester zu erklären. „Deshalb wurde es ihm langweilig. Ich meine, alleine zu sein, hat ja sein Gutes, aber wenn du für Jahrmillionen ohne Gesellschaft bist, dann kann das schon auch unangenehm sein.“ Edwin nickte. Er war gerne alleine, aber nicht immer. „Also hat Gott die Welt geschaffen, wie auch das ganze Universum, mit allen Sternen und dem ganzen Kram, denn er wollte nicht mehr alleine sein. Es ist dasselbe Prinzip wie beim Schach. Alleine spielen macht keinen Spaß, also suchst du dir einen Gegner.“
    „Oder Mitspieler“, warf Elvira ein.
    Talmud nickte. „Je nach Perspektive“, grinste er. „Du machst dir deine Welt“, fügte er an Gilbert gewandt hinzu.
    Gilbert zuckte mit den Schultern. „Wie dem auch sei. Gott erschuf sich also eine ganze Horde von Mitspielern. Das sind wir. Wir alle sind Figuren auf dem riesigen Spielbrett Gottes, nur hier zu seiner Unterhaltung“, führte er aus und deutete eine Verbeugung an.
    „Dir gelingt es einfach zu gut, alles negativ darzustellen“, bemerkte Elvira. „Das klingt, als sei Gott ein quengelndes Kind.“
    Gilbert zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist er das ja auch. Sieh dich doch mal um. Wer würde eine solche Welt erschaffen? Erkennt man nicht an der Schöpfung den Schöpfer? Die Welt ist verrückt, also liegt die Vermutung nahe, dass auch ihr Erschaffer wenigstens einen leichten Knall hat – oder hatte.“
    „Ich glaube nicht, dass es so ist, wie du es sagst. Denk nur einmal an Markus zurück. Er war ein Bote Gottes und er hat nicht im Geringsten verrückt gewirkt“, lenkte Elvira ein.
    Edwin sog alles in sich auf, was er hörte. Schon lange hatte er keine so spannende Diskussion mehr mitverfolgen können. Diligo hatte ganz anders von den Göttern gesprochen. Seiner Ansicht nach gab es unzählige verschiedene Götterwesen, die alle unterschiedliche Aufgaben ausführten und die Menschen auf der Erde leiteten. „Ist es nicht die Aufgabe der Menschen, selbst zu göttlichen Wesen zu werden?“, fragte er also, um Klarheit für sich zu schaffen.
    „Du klingst wie diese weißen Würmer“, knurrte Gilbert. „Die reden andauernd davon. Aber was sie meinen, ist nicht die wahre Erlösung. Sie bleiben in ihrem engstirnigen Denken gefangen, ob mit oder ohne festem Körper.“
    Edwin legte den Kopf schief und schaute seinen Freund fragend an, doch an seiner Statt nahm Elvira den Faden wieder auf: „Die Priester der Gnosis glauben, dass sie ihren irdischen Körper zurücklassen können, um als geistige Wesen aufzusteigen. Der Legende nach soll dies auch mit dem Heiligen Rhamnus geschehen sein. Mehrere Jahre lang hat er sich in die Berge zurückgezogen, hat dort in Einsamkeit gelebt und meditiert. Bis sich eines Tages sein Körper gewandelt hat und man nur noch seine Kleidung gefunden hat. Seither soll er unter den Geistwesen leben.“ Vor Edwins innerem Auge sah er einen alten, dürren Rhamnus mit weißem Bart, der alleine auf einem Berg saß, bis er durchscheinend wurde und verschwand. Wie es wohl wirklich gewesen war? Vielleicht würde er sich daran erinnern. Oder war Anastasia womöglich vor ihm gestorben? Schließlich alterte Rhamnus weniger schnell als andere Menschen. Elviras fuhr fort: „Laut den Priestern ist die Entwicklung des Menschen als eine Art Leiter zu sehen. Sowohl ihre körperliche wie auch ihre geistige Form entwickelt sich von Stufe zu Stufe und unsere Aufgabe ist es, immer höher zu steigen. Doch laut Markus ist dies ein endloses Unterfangen und beruht nur auf Äußerlichkeiten. Er lehrte uns, dass es unsere Aufgabe ist, zu Gott zurückzufinden. Ob dies nun in einem menschlichen Körper sei oder in einem vergeistigten, sei nicht relevant.“
    Talmud nickte. „Wenn wir nur darauf bedacht sind, unser Gefäß zu verherrlichen und weiterzuentwickeln, werden wir übersehen, dass wir bereits in Gott sind. Laut den Priestern ist eine Pflanze weniger wert als ein Mensch, da er sich auf einer höheren Stufe als sie befindet. Aber laut Markus sind alle Geschöpfe gleichwertig, da alle aus Gott geschaffen wurden. Die ganze Schöpfung ist vor Gott gleich, denn die Schöpfung und der Schöpfer sind untrennbar miteinander verbunden.“
    „Aber hat Rhamnus nicht gesehen wie die Welt entstanden ist und wie die Menschen sich Stufe um Stufe weiterentwickelt haben?“, fragte Edwin, aus den Erinnerungen seines früheren Lebens schöpfend.
    „Er hat das wohl gesehen“, sagte Elvira. „Und es mag auch so gewesen sein, aber es ist im Grunde genommen nicht relevant – auch wenn es interessant ist. Aber worauf es wirklich ankommt, ist, dass wir Gott innerhalb dieser physischen Form erkennen.“
    „Was heißt das?“, wollte Edwin wissen.
    „Stell dir vor, Gott spielt dieses Spiel nun seit ewiger Zeit“, begann Elvira nach kurzem Nachdenken zu erklären. „Er hat sich verkleidet als alles, was du hier siehst. Als dich und mich, als dieser Stuhl, der Tisch, dein Tee, alles. Und weil Gott ein wahrer Verkleidungskünstler ist, hat er selbst vergessen, dass er mit sich selber ein Spiel spielt. Er weiß nicht mehr, dass er du ist und der Tisch und ebenso alle Pflanzen und Tiere und die gesamte Schöpfung. Deshalb wird für ihn das Spiel plötzlich zur Wirklichkeit. Und genau daraus entsteht all das Leid in der Welt.“
    „Weshalb?“, fragte Edwin. „Weshalb entsteht das Leiden?“ Diese Frage hatte ihn schon seit langer Zeit beschäftigt. All seine Träume, seine Erfahrungen auf den Reisen mit Gilbert hatten ihn immer mehr an den Menschen zweifeln lassen und immer wieder auf diese Frage zurückgeführt.
    „Auch hier kannst du das Leben mit einem Spiel vergleichen. Wenn du mit jemandem Schach spielst und du die Partie zu ernst nimmst, dann wirst du wütend, wenn du verlierst. Du kannst gar in einen Streit mit deinem Mitspieler verfallen, beleidigt oder gekränkt sein, wenn es nicht so verläuft, wie du es dir vorstellst. Dann leidest du. Wenn du aber im Auge behältst, dass es sich nur um ein Spiel handelt und nicht um die Realität, dann kannst du mit Gelassenheit deine Niederlage hinnehmen und voller Freude eine neue Runde beginnen“, fügte Talmud ein und wandte sich mit einem Grinsen an Gilbert. „Ich bin jederzeit für einen Rachefeldzug zu haben.“
    „Ich ruhe mich lieber noch ein wenig auf meinen Lorbeeren aus“, antwortete dieser und lehnte sich genüsslich in seinem Stuhl zurück.
    Elvira überging seinen Kommentar und knüpfte an Talmuds Ausführung an: „Im Leben ist es dasselbe. Weil wir vergessen haben, dass das Leben nicht so ernst ist wie es scheint, erschaffen wir unser Leid selber. Würden wir erkennen, dass die Form nur eine Hülle ist und in Wahrheit alles aus Gott besteht, wir also immer nur uns selbst gegenüberstehen, dann hätten wir viel weniger Probleme. Würden wir erkennen, dass wir alle ein und dasselbe Geschöpf sind, wie könnten wir uns weiterhin streiten? Wie könnten wir uns weiterhin gegenseitig bestehlen, bekämpfen oder hintergehen? Wir würden erkennen, wie sinnlos all dies ist und könnten in Harmonie und Liebe zusammenleben.“
    „Also, wenn ich erkenne, dass du und ich dasselbe sind, dann müssen wir nicht streiten?“, fragte Edwin. Ich bin doch ich, dachte er. Und Elvira ist Elvira.
    „So ungefähr“, bestätigte Talmud. „Wenn du ein Stück Kuchen hast, dann brauchst du dich ja nicht mit dir selbst darüber zu streiten, wer das Stück nun essen darf. Egal, wer es isst, du isst es.“
    „Wie seltsam“, meinte Edwin. Das Ganze klang schon etwas absurd in seinen Ohren. „Wir könnten das Stück doch einfach teilen, das wäre einfacher.“ Er dachte weiter über das Beispiel nach. „Aber dann müsste doch niemand mehr verhungern, oder? Wenn ich du bin und alle anderen Menschen, Tiere und Pflanzen auch, weshalb verhungern dann manche und andere nicht? Sollte ich dann nicht für andere essen können?“
    Gilbert prustete los. „Du bist unschlagbar. Ich stell mir gerade vor, wie du in der Küche sitzt und Berge von Maisgrütze vertilgst, in der Hoffnung, dass alle unterernährten Kinder von Caput wieder etwas auf die Rippen kriegen.“
    „Da hast du wohl etwas falsch verstanden“, meinte Talmud, ebenfalls grinsend. „Wir sind zwar alle im Kern dasselbe, aber trotzdem besitzen wir alle einen anderen Körper. Das ist mit der Form und dem Formlosen gemeint. Von der Form her sind wir alle verschieden. Aber aus der Perspektive des Formlosen betrachtet sind wir alle gleich.“
    „Aber dann ändert sich doch nichts“, klagte Edwin, allmählich ziemlich verwirrt.
    „Nein, nein. Es ändert sich sehr vieles“, erwiderte Talmud. „Wenn wir das Formlose erkennen, dann entsteht eine Verbindung zwischen uns und allem, die das Leben eines Menschen grundsätzlich verändert. Dieses Erkennen löscht allen Egoismus aus. Und somit alles Leid, welches aus Egoismus entsteht. Hass, Eifersucht, Neid, Missgunst. All dies wird überflüssig.“
    „Und wird durch Liebe, Einheit und Verständnis ersetzt“, ergänzte Elvira.
    „Aber trotzdem sterbe ich, wenn ich nicht selbst etwas esse“, beharrte Edwin.
    „Natürlich, du musst deinen Körper noch immer pflegen. Aber würden alle Menschen das Formlose in allem erkennen, würden sie gegenseitig aufeinander Acht geben und die Nahrung teilen, die ihnen zur Verfügung steht. Würden nicht ein paar wenige vieles horten, dann gäbe es kaum noch Hungernde“, führte Talmud weiter aus. „Kein Mensch wäre mehr wert als der andere.“
    „Kein Mensch ist mehr wert als der andere“, berichtigte ihn Elvira.
    „Also ich wäre auch verwirrt bei deiner Erklärung“, sagte Gilbert zu Talmud.
    „Mir ist gerade nichts Besseres eingefallen.“
    Elvira ergriff das Wort: „Man kann es auch so sehen: Die Finger deiner Hand streiten sich doch auch nicht untereinander, oder? Sie arbeiten zusammen, weil sie wissen, dass alle zu derselben Hand gehören. Und trotzdem, wenn du deinen kleinen Finger abschneidest, dann ist der nun mal weg und die anderen sind noch da.“
    Edwin betrachtete seine Hände. „Dann bist du mein kleiner Finger, Gilbert mein Daumen und Talmud mein Zeigefinger? Und ich bin die Hand?“
    „Wer was ist, spielt keine Rolle. Jeder hat seine Aufgabe im Ganzen, welche ist im Grunde bedeutungslos“, antwortete Elvira.
    „Solange ich der Anführer bin, ist alles in Ordnung“, gab Gilbert seinen Kommentar ab.
    Edwin dachte über ihre Worte nach. Für seine Finger ergab es wirklich keinen Sinn, gegeneinander zu arbeiten. Sollten sie jedoch vergessen, dass sie zu derselben Hand gehörten, könnte es vielleicht vorkommen, dass sie sich gegeneinander wandten? Er würde später noch einmal in Ruhe darüber nachdenken müssen, nun brannte ihm eine weitere Frage auf der Zunge: „Könnt ihr das Formlose denn erkennen?“ Neugierig schaute Edwin seine drei Freunde an.
    „Ich dachte, ich könne es“, brummte Gilbert. „Als Markus noch da war, da schienen seine Worte zur Wirklichkeit zu werden, noch während er sie aussprach. Aber diese Zeiten sind lange her.“ Er machte eine kurze Pause und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Meist fühle ich mich vom Göttlichen so weit entfernt wie der Mond von der Erde“, gestand er. „Und oft verliere ich den Glauben daran. Nichts als Geschichten, erzählt von einem längst vergessenen Irren.“ Er lehnte sich zurück und starrte auf zur Decke.
    „Aber diese anderen Zeiten hat es gegeben“, beharrte Elvira. „Ich weiß noch genau, wie du mit leuchtenden Augen zu mir gekommen bist und mir erzählt hast, du könnest das Licht in den Herzen der Menschen sehen. Damals war ich eifersüchtig auf dich, weil ich es nicht sehen konnte und wollte dir nicht glauben. Aber ich wusste damals wie heute, dass du dir das nicht nur eingebildet hast.“
    Gilbert zuckte mit den Schultern. „Es ist lange her. Tatsache ist, dass ich es heute nicht mehr sehe. Was zählt schon die Vergangenheit? Nur was jetzt hier ist, das ist real.“
    „Wie hat das ausgesehen, dieses Licht?“, fragte Edwin aufgeregt.
    Gilbert fixierte ihn mit einem durchdringenden Blick. „Sag bloß, du hast sowas schon einmal gesehen?“
    Doch Edwin schüttelte den Kopf. „Noch nie.“
    Gilbert seufzte. „Dir hätte ich es geglaubt“, brummte er, dann schaute er wieder hoch zur Decke. „Es war, als seien die Schleier gefallen. Die Menschen waren nichts als Figuren in einem Theaterstück. Sie alle führten ihre Rollen aus, mit unglaublicher Überzeugung und trotzdem konnte ich durch den Trug sehen, denn ich erkannte, was da in ihren Herzen saß. Es ist, als erwachest du plötzlich aus einem Traum und du merkst, dass du geschlafen hast und alles nur Einbildung war. Nichts ist wirklich real, alles ist nur ein Spiel. Es war ein unglaubliches Gefühl von Freiheit, niemals wieder habe ich mich so gut gefühlt wie in jenem Moment.“
    Tief berührt saß Edwin da und lauschte seinen Worten. Er begriff nicht alles, was er sagte, doch spürte er, dass dieses Erlebnis von unschätzbarem Wert für Gilbert gewesen war. Und doch. Trotz dessen war er nun weit entfernt von seinem Ziel? „Und wie hast du das gemacht?“
    Gilbert rieb sich über das Gesicht. „Wenn ich das wüsste, dann wäre ich jetzt nicht so wie ich bin. Glaub mir, ich habe Stunde um Stunde damit verbracht, diesen Zustand wiederzuerlangen und es ist mir nie gelungen.“
    „Nur Rachel hatte eine ähnliche Erfahrung. Aber davon kann sie dir selber berichten, wenn ihr morgen euer Treffen habt“, sagte Elvira.
    Edwin gähnte. „Ich wollte dich eigentlich noch etwas fragen, aber ich glaube, nun bin ich zu müde“, sagte er an seine Mutter gewandt. Er wischte eine Träne aus dem Augenwinkel. „Ich freue mich schon auf morgen. Vielleicht kann Rachel mir sagen, wie ich das Formlose erkennen kann.“
    „Versuch es ruhig“, meinte Gilbert. „Das passt zu dir. Du bist sicherlich erfolgsversprechender als ich. Und wenn du herausgefunden hast wie man da hinkommt, dann kannst du mir ja erklären wie es geht.“
    „Mach ich“, grinste Edwin.
    „Alles klar, ich verlass mich auf dich“, sagte Gilbert.
    „Aber nun ist es erst mal Zeit fürs Bett“, ermahnte Elvira.
    Edwin leerte seinen Becher, dann erhob er sich. Bevor er sich zum Gehen wandte, drückte er Elvira einen Kuss auf die Wange und sie wünschte ihm eine gute Nacht. Gilbert gesellte sich zu ihm, als er zur Tür trat und gemeinsam machten sie sich auf in Richtung Turm.

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Hi Ren Li!
    Ich hole langsam auf :D
    Mal wieder hab ich die komplette Geschichte gelesen... ok, bis Post 155 (Richard, Abreise (566 n. Rh.)). Den und alle späteren muss ich noch.
    Es macht wirklich spaß, deine Geschichte zu lesen. Dein Stil ist einfach, deine Beschreibungen schön, du erinnerst mich sogar etwas an meine lieblings Authorin. (Trudy Canavan)

    Ich habe bemerkt, dass ich wohl extrem auf Magie Schulen stehe XD Die Parts mir Robert gefallen mir unglaublich gut. Schade, dass sowohl Sinister wie auch Justus scheinbar so blöde sind, wie sie am Anfang scheinen. Da hätte ich mir tatsächlich etwas weniger vorhersehbarkeit gewünscht. Oder gillt es schon als Klischee? Der "Böse Lehrer" hat Beef mit dem Mentor des Helden. Außerdem hat der "Böse Lehrer" einen "Lieblingsschüler", der natürlich dann auf dem Helden hinabsieht und ihm das Leben zur Hölle machen möchte. Etwas mehr Tiefe hätte ich mir da gewünscht, da du sonst so eine wundervolle Welt hast. Auch die Namen passen perfekt zu Antagonisten - gibt es Figuren, die Sinister heißen, aber gut sind? :hmm:
    Aber wer weiß, vielleicht überraschen mich Sinister oder Justus doch noch.

    Etwas verwirrend ist es auch, dass du früher bei fast jedem Part die Sicht verändert hast und ab dem zweiten Teil sich alles nur noch um Robert dreht. Es ist tatsächlich etwas einfacher zu lesen, ohne so viele wechsel. Obwohl ich seine Parts auch ehrlich sehr unterhaltsam finde, zieht es sich ein bisschen - weil man sich fragt, was die anderen "gerade" machen. Dem kommt aber zugute, dass du das deutlich als Teil 2 betitelt hast und dafür bin ich um so gespannter, wie es mit Erwin und Jakob später weitergehen wird.

    Sonst habe ich absolut nichts zu mekern. Es ist eine Wohltat, deine Geschichte zu lesen. Ich wünschte, ich hätte es als Buch in der Hand :thumbsup:

    Wenn alles nach Plan verläuft, lese ich Morgen den Rest :D


    Edit 20.04 - 09:35: Ich habe gerade Post 164 (Die drei Reiter) fertig gelesen. Dieser Part gefällt mir so gut! Ob Sinister es ehrlich meint? Wenn ja, tut mir leid, Vater Justus, dass ich an euch gezfeifelt habe xD

    Deine Geschichte ist so spannend <3 Die Figuren sind so toll und ich bin mega froh, dass Sinister nun mit ihnen reist.
    Ich les dann mal weiter xD konnte mir das hier nur nicht verkneifen. Vielleicht ändert sich im nächsten Part ja wieder alles, aber gerade deswegen ist es so spannend.

    EDIT 2 20.04 - 12:01:

    Ist es zu unrealistisch, dass sie zurückgehen? Hatte vorher eine andere Version, in der sie einfach abhauen...
    Diesen Abschnitt muss ich nochmal überarbeiten, habe ihn vielleicht etwas voreilig ins Forum gestellt. Vor allem Sessilias Reaktionen muss ich, wie du sagst, noch mals überdenken...
    "Also habe ich meinen Körper selbst ausgeschaltet." Ja, Sessilia wird mit Sicherheit unterschätzt neben Richard oder eher aus Richards Sicht geht sie etwas unter (obwohl er in sie verliebt ist), ausserdem in einer Welt, in der Frauen als minderwertig betrachtet werden.


    Bin froh, dass du etwas zu Rolands Worten schreibst. Ich war mir nicht sicher, ob ich das überhaupt reinnehmen sollte. Vielleicht streich ich es auch wieder. Ich frage mich manchmal, wie das ganze Sternenkin-Gelaber auf den Leser wirkt. Wie nehmt ihr das auf? Nimmt man bei diesem Stand der Geschichte selbstverständlich an, dass Richard der 'Erlöser' / 'Auserwählte' ist? Stellt sich Richard zu dumm an in dieser Beziehung? Er vermutet zwar, dass er mit dem Sternenkind gemeint ist, hat aber zu wenig Selbstvertrauen, diese Möglichkeit wirklich in Betracht zu ziehen.

    Nein, ich fand es nicht unrealistisch. Sondern sehr logisch. Es passt auch zu Richard. Würde er Roland einfach alleine lassen, würde er ja gegen sein neuen Lebensweg handeln. "Niemand zurücklassen". Es ist logisch, dass er für Roland hilfe suchen möchte. Es ist logisch, dass er sich nach Samuel sehnt und ihm zu hilfe eilen möchte (ebenso wie ihn an seiner Seite wissen, da Samuel ihm Kraft und Mut gibt)


    Ich finde es toll, dass man hier so gut gesehen hat, dass Sessilia sehr Fähig ist.


    Richard erschien oft zu schwach, um das Sternenkind zu sein. Immerhin hat Edwin ein viel größeres Talent gezeigt. Richard schien immer eher... nicht magisch begabt zu sein. Du gehst da aber mit einem angenehmen Tempo ran, daher finde ich es nicht seltsam oder gar erzwungen.


    ****
    Der Cliffhänger von Richard ist echt gemein xD


    ****


    Das mit dem Reh: er hat Gilbert lockalisiert und weiss, dass das Reh zwischen ihnen beiden steht. Also wirft er den Stein, um es in Gilberts Richtung zu scheuchen. Was hier ein Problem ist: warum erschiesst er es nicht gleich selbst? Dafür brauch ich noch eine Erklärung. Evtl traut er sich das nicht zu, er hat Mitleid oder es steht ungünstig, sein Bogen ist nicht stark genug für ein solches Ziel (find ich am plausibelsten) oder so. Da muss ich noch ein oder zwei Sätze dazu einbauen.

    Er liebt Tiere und mag es nicht, zu töten. Er hat verstanden, dass es notwenig ist. Aber wenn er es vermeiden kann, es selbst tun zu müssen, warum nicht? Er ist immerhin noch ein Kind, da fänd ich das völlig normal, dass er "unangenehme Aufgaben" von anderen erledigen lässt (wenn es denn geht)


    Bin nun bei Seite 8 angekommen xD vll werde ich ja Morgen fertig xD

    Genesis: Sie ist Azathoth, das amorphe Chaos in der zentralen Leere
    Josh: Meine Prophetin!

    4 Mal editiert, zuletzt von Aztiluth (20. April 2018 um 11:58)

  • @Aztiluth

    Seh ich richtig????!!! 8o8|8o=O:dash::lol::panik:
    Azz is wiiieeder daaa!!! Juhuu! Schön, von dir zu lesen :) Und du hast sogar wieder von vorne begonnen, unglaublich! Und schon in Edwins Part angekommen, toll! Danke vielmals für deine Rückmeldungen! Trudy C. kenn ich leider nicht, wer weiss, vielleicht ändert sich da ja noch.
    Gut, dass ich das 'böse Lehrer'-Klischee etwas brechen konnte. Möchte eigentlich keine allzuleicht vorhersehbaren Figuren zeichnen. Auch die ganze Geschichte lebt vom Unwissen des Lesers (hihi) und den verschiedenen Zeitsträngen, das wird mit der Zeit noch klarer, da gibts viele Rückblenden.

    Etwas verwirrend ist es auch, dass du früher bei fast jedem Part die Sicht verändert hast und ab dem zweiten Teil sich alles nur noch um Robert dreht. Es ist tatsächlich etwas einfacher zu lesen, ohne so viele wechsel. Obwohl ich seine Parts auch ehrlich sehr unterhaltsam finde, zieht es sich ein bisschen - weil man sich fragt, was die anderen "gerade" mache

    Hatte eigentlich geplant, die ganze Geschichte abwechselnd aus der Sicht der drei Jungs zu schreiben. Aber da ich selbst Mühe hatte, mich immer abwechselnd in die drei hineinzuversetzen und ich viel flüssiger schreiben kann, wenn ich mich auf einen konzentriere, mach ich es vorläufig mal so. In der Endversion werd ich aber wieder alles zusammenwürfeln, wie es mir passt. :)

    Ich feu mich schon auf weitere Kommentare von dir!!!

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • So, bei dem Kapitel hatte ich so meine Mühen. Etwas viel auf einmal und so weiter. Ich bin noch nicht ganz überzeugt davon, bringe es aber im Moment nicht besser zu stande. Vielleicht könnt ihr mir noch ein paar Tips geben. Ein Aussenstehender sieht oftmals besser, wo es noch klemmt. Und da kommt es:

    (24.04.18: so, das ist die alte Version hier. Bin gerade an einer neuen Version dran. Da gibts eine ziemliche Änderung...)


    Edwin, Rachel (566 n. Rh.)
    „Was Gilbert als Licht in den Herzen der Menschen wahrnimmt, wird in Rhamnus‘ Lehre als Erkennung des göttlichen Potentials beschrieben“, erzählte Rachel.
    Sie saßen einander im Turmzimmer gegenüber. Gilbert war bereits nach draußen gegangen, während Edwin sein erstes Treffen mit seiner neuen Lehrerin hatte. Als erstes hatte sie genau hören wollen, welche Erfahrungen er bisher gemacht hatte und wie er aufgewachsen war. Zuletzt hatte er ihr von dem Gespräch am Vorabend erzählt. „In der Geschichte der Gnosis wird nur selten von diesem Phänomen gesprochen. Das liegt wohl daran, dass sie nicht genau wissen, was es tatsächlich damit auf sich hat und dass sie nicht darauf hinarbeiten.“
    „Mutter Elvira hat gesagt, dass du auch einmal diese Erfahrung gemacht hast“, sagte Edwin, neugierig mehr darüber zu erfahren.
    Rachel nickte. „Vielleicht sollte ich dir erst etwas mehr über mich erzählen“, überlegte sie. Edwin setzte sich gerade hin, gerne wollte er mehr über seine Lehrerin erfahren. „Ich bin in einem Dorf im Süden aufgewachsen“, begann sie. „Wir waren neun Geschwister, aber zu meiner Zwillingsschwester hatte ich immer die beste Beziehung, obwohl wir schon früher sehr verschieden waren. Sie wollte schon als kleines Mädchen eine Priesterin werden, ich jedoch hatte wenig mit der Gnosis am Hut. Ich spielte lieber draußen mit meinen Brüdern, während sie Lesen lernen wollte. Wann immer sie Zeit hatte, besuchte sie den Priester in Nachbardorf – bei uns gab es keinen, da unser Dorf nur aus ein paar wenigen Hütten bestand.“ Edwin stellte sich vor, wie Rachel und ihre Schwester als Kind ausgesehen haben mochten. Zwei kraushaarige Mädchen, die sich aufs Haar glichen, eines von oben bis unten mit Dreck beschmiert, das andere ordentlich gekleidet und mit einem Buch unter dem Arm. „Sie hatte Talent, also bildete der Priester sie aus. Oft erzählte sie mir bei der Arbeit oder am Abend im Bett, was sie gelernt hatte. Vieles fand ich interessant, doch es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, mich ihrem Weg anzuschließen. Lieber zog ich mit den Ziegen durch die Gegend oder half meinem Vater Schlingen zu legen. Du kannst das bestimmt nachvollziehen. Die Natur war mir oft näher als die Menschen im Dorf.“ Edwin nickte zustimmend und ein Gefühl von Vertrautheit bildete sich in seiner Brust. Vielleicht waren er und Rachel gar nicht so verschieden. „So wurden wir älter und meine Schwester sollte auf eine richtige Schule geschickt werden. Das hieß, dass sie unsere Heimat verlassen musste. Ich war sehr unglücklich über diese Trennung, doch ich wollte ihrem Traum nicht im Wege stehen. Also ging sie. Über meine Zukunft hatte ich mir nie sonderlich viel Gedanken gemacht. Ich war glücklich so wie ich lebte, worüber sollte ich mir also Gedanken machen? Doch eines Tages, nicht lange, nachdem meine Schwester weggegangen war, sagten meine Eltern, ich solle endlich über eine Heirat nachdenken. Ein Junge aus dem Dorf interessierte sich für mich. Wir waren zusammen aufgewachsen, hatten als Kinder oft im Wald und auf den Feldern gespielt und er war wie ein Bruder für mich. Doch ich konnte mir nicht vorstellen, ihn zu heiraten, überhaupt irgendjemandes Frau zu werden. Wenn ich meine Eltern ansah und ich daran dachte, so wie sie zu werden, dann wurde mir übel. Ein solches Leben wollte ich nicht. Aber meine Eltern machten zunehmend mehr Druck, bis ich schließlich von zu Hause davonlief.“
    „Weshalb wolltest du nicht so werden wie deine Eltern?“
    „Sie waren ein schreckliches Paar“, sagte Rachel mit einem Lächeln. „Heute weiß ich, dass nicht alle Ehen so sind wie ihre, aber eine Seltenheit ist es nicht. Ich mochte sie beide, sie waren gute Eltern, doch zusammen konnte ich sie nicht ausstehen. Mein Vater verbrachte die meiste Zeit draußen und arbeitete hart. Wenn er dann heimkam, war er oft übel gelaunt. Dann ließ er seinen Frust entweder an meiner Mutter aus oder er ignorierte sie komplett. Meist hatten sie einander nichts zu sagen. Und meine Mutter war nicht besser als er. Ständig nörgelte sie an etwas herum, wenn er nach Hause kam oder beschwerte sich darüber, dass er nicht ordentlich genug war oder sonst etwas. Sich bei ihm zu beklagen schien ihre Lieblingsbeschäftigung zu sein. Kein Wunder, dass Vater es nicht bei ihr ausgehalten hat.“
    Edwin war erstaunt, diese Geschichte zu hören. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Vater und seine Mutter ebenso gewesen waren. „Und was hast du dann gemacht, als du weggelaufen bist?“
    „Ich habe meine Schwester gesucht, und gefunden. Ich wusste, dass die Priester und Priesterinnen der Gnosis nicht heiraten dürfen und damals dachte ich: alles ist besser, als zu heiraten.“ Sie schmunzelte belustigt und schüttelte über sich selbst den Kopf. „Es war meine persönliche Rebellion gegen die Ehe meiner Eltern. Allerdings gab es ein paar Schwierigkeiten mit meiner Aufnahme an der Schule, da ich weder Lesen noch Schreiben konnte, aber da ich viel von meiner Schwester gelernt hatte, waren die Lehrer doch willig, mich aufzunehmen.“
    „Und wie haben deine Eltern reagiert?“
    „Zuerst waren sie außer sich, doch irgendwann haben sie nachgegeben. Meine Schwester hat mir viel geholfen, damit ich nicht von der Schule geflogen bin, nur dank ihr habe ich die Prüfungen dort bestanden. Ich war zwar nicht mit allem einverstanden, was wir lernten und ich sehnte mich nach meinem unbeschwerten Leben mit den Tieren, aber immerhin hatte ich einen Ort, an dem ich bleiben konnte. Da meine Schwester sehr talentiert ist, wurde sie nach Caput versetzt, damit sie im Ducatus weiterlernen konnte, damals waren wir sechzehn Jahre alt. Wieder mussten wir voneinander Abschied nehmen.“
    „Ist sie noch immer im Ducatus?“ Edwin konnte sich nicht vorstellen, dass die Schwester von Rachel in diesem düsteren Bau wohnte.
    „Nein, sie wurde ins Himmelskloster versetzt. Dort leben die Priesterinnen zusammen. Manchmal besuche ich sie, doch die Regeln im Kloster sind sehr strikt. Ihr ist nicht viel Kontakt mit der Außenwelt erlaubt. Aber manchmal, das könnte dich interessieren, sprechen wir auch über diese Distanz miteinander.“
    Edwins Herz schlug höher. „Kannst du sie auch spüren?“, fragte er aufgeregt. „Wie kannst du mit ihr sprechen?“
    Sie grinste. „Hab ich mir doch gedacht, dass du das wissen willst. Wenn wir zur selben Zeit in Versenkung gehen und uns aufeinander konzentrieren, dann verstärkt sich das Band zwischen uns. In diesem Zustand spielt die körperliche Entfernung keine Rolle mehr. Es fühlt sich an, als säße sie neben mir, oder noch näher. Es ist nicht immer einfach die richtige Distanz zu halten, es kann vorkommen, dass sich Teile von uns vermischen und das kann gefährlich sein. Aber inzwischen haben wir Übung darin. So können wir uns austauschen. Sie erfährt mehr über das Geschehen auf der Erde und sie erzählt mir von ihren Erkenntnissen. Manchmal sieht sie nahende Veränderungen sogar schneller als wir, da sie vom Kloster aus den besseren Überblick hat.“
    „Glaubst du, dass ich nicht mit Richard sprechen kann, weil er nicht versucht, sich mit mir in Verbindung zu setzen?“, mutmaßte Edwin.
    „Es sieht ganz danach aus.“
    „Wenn er nur wüsste, dass ich noch am Leben bin. Wahrscheinlich hält er mich für tot. Wie kann ich lernen, ihn besser zu spüren? Ich weiß, dass er lebt, aber ich habe keine Ahnung, wo er ist.“
    „Du wirst es lernen, aber bist du nicht aus einem anderen Grund mein Schüler geworden?“
    „Stimmt“, gestand Edwin. „Ich möchte meine Kräfte kontrollieren lernen. Aber ich möchte auch Richard finden.“ Hoffnungsvoll blickte er zu Rachel auf, doch sie schien nicht weiter auf diese Möglichkeit der Kommunikation eingehen zu wollen.
    „Ich weiß nicht, ob es dein Weg ist, diese Art von Verbindung mit Richard zu teilen“, sagte sie. „Wir werden uns zu einem späteren Zeitpunkt wieder über dieses Thema unterhalten, ich glaube, nun ist es noch zu früh.“ Edwin wollte bereits widersprechen, doch Rachel fuhr fort: „Bevor wir für heute schlussmachen, zeige ich dir eine Übung, die du anwenden kannst, um deine Gefühle aufzulösen. Wahrscheinlich hast du Ähnliches bereits selbst entdeckt, aber manchmal hilft es, eine klare Anweisung zu erhalten.“
    Edwin nickte zögernd. Er wollte viel lieber weiter über Richard sprechen, doch Rachel schien mit diesem Thema bereits abgeschlossen zu haben. Er würde später wieder darauf zurückkommen, bis sie ihm mehr erzählte und bis dahin würde er weiter auf eigene Faust versuchen, mit seinem Bruder in Verbindung zu treten. „Was soll ich tun?“, fragte er schließlich, damit sie ihm die versprochene Übung erklärte.
    „Setz dich gerade hin, eine aufrechte Position hilft dir, die Energiebahnen in deinem Körper auszurichten und durchgängiger zu machen.“
    Edwin richtete sich auf, wie sie es von ihm verlangte.
    „Fühlst du dich wohl im Schneidersitz?“
    „Ich sitze immer so.“
    „Gut, dann schließe deine Augen. Richte deine Aufmerksamkeit nach innen.“ Edwin senkte die Lider und fühlte in sich hinein. „Was geht im Moment in dir vor? Stell dir diese Frage und dann lausche“, wies sie ihn an.
    Was geht in mir vor? Edwin spürte, wie die Luft in seine Lungen strömte, wie sich sein Bauch langsam ausdehnte und wieder zurücksank. Sein Herzschlag war noch etwas schnell, da er ein bisschen aufgeregt war. „Versuche, die Gefühle nicht zu benennen, schau sie dir einfach an.“ Die Aufregung war wie ein Vibrieren in seiner Brust, als wäre dort zu viel Energie angestaut. Nicht benennen, ermahnte er sich und schaute zu, wie sich das Gefühl zu verändern begann. Zuerst wurde es ein bisschen stärker, sein Herz folgte mit einer schnelleren Abfolge von Schlägen, doch dann fühlte er, wie sich die Energie in seiner Brust zu verteilen begann. Und allmählich, wie eine Wolke, die sich am Himmel auflöst und nur den klaren, blauen Himmel zurücklässt, verschwand die Aufregung in seiner Brust, sein Herzschlag beruhigte sich. „Und nun schau wieder genau hin, was sonst noch vor sich geht“, hörte er Rachels weiche Stimme. „Verlagere deine Aufmerksamkeit weiter nach unten, in deinen Bauchraum.“
    Dieselbe Übung wie mit Vater, schwirrte ein Gedanke durch seinen Kopf. Edwin beobachtete, wie der Gedanke Gefühle mit sich brachte. Zusehen, nicht benennen. – Ob Richard auch manchmal meditiert? „Achte nicht auf deine Gedanken. Sie sind unwichtig“, kommentierte Rachel.
    Kann sie in meinen Kopf hineinsehen?, fragte er sich und richtete seine Aufmerksamkeit nach außen. Er spürte ihre Anwesenheit unweit von ihm, ihren Herzschlag, ihre Atmung. Er entspannte seinen Geist weiter und sogleich nahm er ein lichtes Feld um Rachel herum wahr, das seinen eigenen Körper miteinschloss. Nun da er sich dessen gewahr wurde, erkannte er, dass es ihr Geist war, der sich im Raum ausgebreitet hatte. Wie wohlig er sich darin fühlte! Edwin streckte sich aus, entspannte sich in dieses lichte Feld hinein. Ein klangloses Lachen hüllte ihn ein. Rachels Geist schien zu tanzen. Er spürte ihre Freude, die Liebe, die sie für das Leben empfand und die große Ruhe, die sie erfüllte. Willkommen, Edwin, hörte er ihre Stimme, die körperlos im Raum schwebte. Er fühlte sich von ihr aufgenommen und getragen.
    Sprichst du so mit deiner Schwester?, fragte er neugierig.
    So ähnlich, war die Antwort und darauf folgte ein Bild von zwei Mädchen, die Hand in Hand einen Feldweg entlanggingen. Ohne zu fragen wusste er, dass dies Rachel und ihre Schwester waren. Die Gefühle, damit einhergingen waren wie ein sanfter Sonnenstrahl an einem Frühlingsmorgen und Edwin fühlte sich an seine Zeit mit Richard erinnert. Bitterkeit stieg in ihm hoch und mischte sich in Rachels Empfindung. Du musst nicht traurig sein, Edwin, hörte er die Stimme und ihm war, als striche eine Hand zärtlich über seine Wange. Wir sind nie wirklich getrennt. Sobald du dies erkennst, wird dein Schmerz vergehen.
    Woher willst du das wissen?, fragte er zweifelnd. Er ist nicht hier.
    Ich habe es erlebt, ähnlich wie Gilbert. Wir kommen alle aus derselben Quelle. Unsere Hüllen sind nur Maskerade, nichts weiter als Form. Wenn du dahinter blickst, erkennst du, dass alles ein und dasselbe ist.
    Die Bestimmtheit und die vertrauensvolle Zuversicht, die Rachel bei diesen Worten ausstrahlte, ließen Edwin gelassener werden. Vielleicht hatte sie ja tatsächlich recht? Auch wenn er die Welt nicht so wahrnahm wie sie, schien sie wirklich überzeugt von ihrer Sicht zu sein. Über alle Schranken sind wir verbunden. In dem einen Raum. Nicht einmal der Tod kann uns noch trennen. Keine Illusionen, keine Türen, keine Wände. Über alle Schranken, vereint im Geheimen, klang die Stimme seines Vaters in Edwins Geist. Vater hat es gewusst!, ereiferte er sich, plötzlich aufgeregt durch seine Entdeckung. Glaubst du, dass dies die Bedeutung des Liedes ist?
    Rachels Lachen fiel in seine Freude ein und verband sich mit ihm. Zu schade, dass ich Ben nicht selbst kennengelernt habe. Ja, ich glaube, er wird wohl auf die Einheit allen Lebens angesprochen haben. Hat dein Vater dieses Lied selbst gedichtet?
    Ich glaube schon, sicher bin ich mir nicht, gestand Edwin. Warum hat er mir nicht alles früher erklärt?
    Es wäre wohl noch zu früh gewesen.
    Edwin jubelte Rachel entgegen, wollte weiter in sie eintauchen und mit ihr seine Freude teilen, doch sie zog sich etwas zurück. Gib Acht, dass du dich nicht in mir verlierst. Spürst du deinen Körper noch?
    Nur widerwillig sah sich Edwin nach seiner begrenzenden Hülle um. Sie war noch da.
    Dann geh fürs Erste wieder dorthin zurück, forderte Rachel ihn auf.
    Weshalb?, wollte Edwin wissen. Auch Elvira sagt immer, ich solle meinen Geist nicht mit Menschen verbinden, aber ich mache das ja nicht mit schlechten Absichten. Ich möchte ihnen nur nahe sein.
    Das verstehe ich, vernahm er Rachels Stimme und spürte, dass sie es wirklich ernst meinte. Aber erinnere dich daran, dass wir ein anderes Ziel verfolgen. Du sollst lernen, Verantwortung für deine Gefühle zu übernehmen.
    Das hatte er bereits vergessen. Er hatte sich so darüber gefreut, seine neue Entdeckung mit Rachel zu teilen und endlich jemanden gefunden zu haben, mit dem er im geistigen Raum kommunizieren konnte, dass alles andere unwichtig geworden war. Unwillig richtete Edwin seinen Fokus wieder auf seinen Körper und ließ sich in dessen beschränkten Raum sinken. Immer wenn er so zurückkehrte, schien ein Stück seiner Lebensfreude zu verblassen und er fühlte sich etwas erdrückt. Nun kam das Gefühl von Trennung hinzu, welches er empfand, weil Rachel nun wieder ein entferntes Etwas außerhalb von ihm war. „Es ist wunderbar, dass du auf diese Weise Kontakt mit den Menschen aufnehmen kannst“, hörte er ihre Stimme, doch seine Ohren gaben die Geräusche nur gedämpft an ihn weiter, als sei ihnen ihre Arbeit nicht mehr vertraut. „Viel wichtiger ist jedoch, dass du als erstes lernst, mit dir selbst klarzukommen. Sonst verlierst du dich in der Welt, in anderen Wesen oder Energieströmen. Schau dir mal an, wie es in dir aussieht.“
    Edwin musste zugeben, dass er nun in Aufruhr war. In seine Euphorie mischte sich Verlustschmerz, Ungeduld, Unwille und ein bisschen Frust. Er atmete tief ein, begab sich zurück auf seinen Aussichtsposten, von wo aus er die Gefühle in sich besser beobachten konnte, ohne von ihnen eingenommen zu werden. Doch diesmal gelang es ihm nicht so gut Abstand zu nehmen, denn immer wieder schwirrten Gedanken durch seinen Kopf, die ihn davon abhielten, eine entspannte Position einzunehmen. Ich würde lieber in den Raum fließen, dachte er und sein Unwille verstärkte sich.
    „Lass dich von deinen Gedanken nicht ablenken. Sie sind unwichtig. Du musst ihnen keinen Glauben schenken.“
    „Aber ich verstehe nicht, weshalb ich in diesem Körper eingesperrt sein musst“, flüsterte Edwin. Es fiel ihm gar nicht so einfach, seine Stimme zu gebrauchen. Es war so viel einfacher über Gedanken zu kommunizieren. „Der Körper ist doch nur hinderlich. Er ist langsam, träge, schwer, unhandlich und hat viel zu viele Bedürfnisse. Ständig muss man Essen, Schlafen und das alles“, beklagte er sich. „Wofür brauchen wir ihn überhaupt?“
    „Es stimmt, eine physische Hülle zu haben, hat seine Nachteile.“
    Edwin öffnete langsam die Augen. Das Licht der Sonne erschien ihm viel zu grell und die Eindrücke, die seine Augen aufnahmen viel zu intensiv, also blinzelte er ein paarmal, bis er sich wieder daran gewöhnt hatte. Rachel saß noch immer vor ihm und sah ihn mit einem verschmitzten Lächeln an. „Was denkst du, wofür wir einen Körper haben?“, fragte sie ihn nun.
    „Ich weiß es nicht“, murrte er. „Ich verstehe die Priester der Gnosis; dass sie ihn loswerden wollen.“
    „Ich kann nicht leugnen, dass ein feinstofflicher Körper seine Vorteile hat. Aber glaub mir, es ist ein Glück, dass wir in diesem festen, trägen Sack hier festhängen“, sagte sie und klopfte sich mit der flachen Hand auf die Arme. „Wir sind noch nicht bereit, einen feinstofflichen Körper zu bewohnen. Dies zu lernen ist eine Aufgabe der Menschen auf der Erde.“
    „Das klingt wie die Lehren von Rhamnus, aber gestern haben die anderen drei erklärt, dass es nicht unsere Aufgabe ist, aufzusteigen, sondern zurückzukehren“, wandte Edwin ein.
    Rachel nickte. „Das alles mag sich kompliziert für dich anhören, aber eigentlich ist es recht simpel. Das wichtigste Ziel ist es, das Formlose zu erkennen. Haben wir erfahren, dass wir alle eins sind, dann löst sich das Ego auf und wir sind frei. Das ist eigentlich alles, was überhaupt eine Rolle spielt. Alles andere sind Äußerlichkeiten. Natürlich ist ein feinstofflicher Körper praktisch, ebenso wie es von Vorteil ist, immer Nahrung zur Verfügung zu haben oder in einem weichen Bett zu schlafen und ein Dach über dem Kopf zu haben. Aber das sind nur Bequemlichkeiten. Unser Glück und unsere Freiheit hängen aber nicht davon ab. Ist dir aufgefallen, dass Menschen nicht unbedingt glücklicher sind, wenn sie viel besitzen? Oder wenn sie mit dem Pferd reisen können und nicht zu Fuß gehen müssen?“
    Edwin dachte an Anastasia. Sie war die Königin eines ganzen Landes gewesen und doch war sie oft unglücklich gewesen. Er verstand sehr gut, was Rachel meinte.
    „Siehst du. Reichtum ist keine Garantie für ein zufriedenes Leben und ebenso ist es mit einem feinstofflichen Körper. Es ist schön und praktisch, einen feinstofflichen Körper zu haben oder sogar körperlos zu sein, aber es ist kein Grund für Glück. Und solange wir hier auf der Erde wirken wollen brauchen wir ein festes Gefäß. Würden wir ihn auf einen Schlag verlieren, was würde dann passieren? Die meisten Menschen wären komplett orientierungslos. Sie würden sich verlieren und in alle Himmelsrichtungen zerstreuen. Du musst langsam lernen, klarer in deinem Geist zu werden, um später einen feinstofflichen Leib bewohnen zu können.“
    „Ich habe schon viel gelernt“, versicherte Edwin eifrig.
    „Das sehe ich. Aber du vergisst schon wieder, dass es nicht wirklich relevant ist, ob wir nun in einem festen Körper stecken oder nicht“, ermahnte sie ihn.
    „Hab ich verstanden. Aber muss ich deswegen aufhören, meinen Geist wandern zu lassen? Es ist doch viel schöner, mit den Menschen und der Natur verbunden zu sein, als alleine. Das ist so kalt und einsam. Die Welt beginnt erst richtig zu leben, wenn ich mich ihr hingebe“, versuchte er zu erklären.
    „Ich sage nicht, dass du das nicht mehr tun sollst. Es ist wunderbar, dass du dies entdeckt hast! Das ist wirklich beeindruckend. Ich möchte dir dies auch gar nicht nehmen“, versicherte sie ihm. „Aber sei dir bewusst, dass du andere Menschen stark verwirren kannst, wenn sie sich solche Verbindungen nicht gewohnt sind. Zudem dringst du in ihre Privatsphäre ein und das wollen die meisten Menschen nicht. Dafür musst du erst ihre Zustimmung haben. Und vergiss nicht, dass du immer wieder in deinen Körper zurückmusst. Diese Ausflüge sollten nicht zu einer Flucht werden. Bleibe immer mit beiden Füßen fest auf dem Boden. Sonst verlierst du das wahre Ziel aus den Augen, das nicht von äußeren Umständen abhängt.“
    Edwin dachte über ihre Worte nach. War es eine Flucht, wenn er sich wünschte, seinem Körper zu entfliehen? Da musste er grinsen. Die Antwort lag bereits in der Frage verborgen. Wenn ich dem Körper entfliehen will, dann kann das ja nur eine Flucht sein. „Nun gut, ich glaube, ich verstehe was du meinst.“
    Sie hob eine Braue. „Das werden wir sehen“, sagte sie mit einem Grinsen. „Du wirst selber ausprobieren müssen, was gut für dich ist. Jeder muss seinen eigenen Weg finden, aber du kannst darauf vertrauen, dass das Leben dich immer wieder auf die richtige Bahn lenken wird, solltest du in eine falsche Richtung gehen.“
    „Wie macht es das denn?“
    „Es gibt ganz unterschiedliche Zeichen, du musst nur offen dafür sein. Vielleicht kommt jemand und gibt dir einen Rat oder du brichst dir ein Bein oder jemand stiehlt dir dein Geld oder was auch immer. Das Leben ist kreativ, es wird sich schon etwas einfallen lassen.“
    „Ich habe keine Lust, mir mein Bein zu brechen“, überlegte er.
    „Dann solltest du dich bemühen, auf dem richtigen Weg zu bleiben“, sagte sie und lachte. „So, nun ist es schon spät. Ich sollte los. Kann ich dich so alleine lassen?“
    „Klar“, antwortete er. Warum auch nicht?
    „Übe dich darin, deine Gefühle auch wenn du nicht meditierst wahrzunehmen und einen gewissen Abstand zu ihnen zu halten. Lass dich nicht von ihnen davonschwemmen wie ein Stück Holz von einer Flutwelle. Beobachten ist der Schlüssel. Und verurteile dich nicht, wenn es nicht funktioniert. Ich denke, du kannst das eigentlich schon recht gut, aber es braucht viel Zeit bis du nicht mehr so identifiziert mit deinen Gefühlen bist.“ Rachel erhob sich. „Was meinst du, wollen wir uns in drei Tagen wieder treffen? Bis dahin übst du fleißig und dann kannst du mir erzählen, was du erlebt hast.“
    Edwin nickte. „Ich übe immer.“
    „Gut so.“ Sie öffnete die Luke. Ich freu mich schon darauf, weiter mit dir zu arbeiten. Sie stieg hinunter und die Luke fiel hinter ihr zu.
    Erst jetzt merkte er, dass sie in seinem Kopf gesprochen hatte. Erschöpft legte Edwin sich auf den Rücken und streckte alle Viere von sich. Er schloss die Augen. Welche Gefühle sind in mir?, fragte er sich.

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

    Einmal editiert, zuletzt von RenLi (24. April 2018 um 20:51)

  • Hallo @RenLi,

    ich bin weitergekommen und stehe jetzt vor Post 269. Du siehst, ich komme dir näher. ^^ Da ich nächste Woche Urlaub habe, wäre ich über ein zwei Regentage nicht böse, denn dann könnte ich mal aufholen bis zum neuesten Post.

    Edwin ist jetzt also bei Elvira. Im Moment tue ich mich ja ein kleines bisschen schwer mit ihm. Er ist für meinen Geschmack ein wenig sehr naiv. Ja, ich weiß, er ist ein besonderes Kind und er ist das Leben in einem Waisenhaus nicht gewohnt und er hat auch noch keine Erfahrungen mit reiner Bosheit gemacht bzw. sie als solche erkannt.
    Aber sein Verhalten wirkt manchmal doch sehr kindlich. Zum Beispiel die erste Begegnung mit Lotar. Der schätzt ihn auch jünger ein, eben weil er sich nicht wie ein Zwölfjähriger verhält. Oder das Gespräch mit dem Priester. Elvira muss ja in tausend Ängsten geschwebt haben, die Ärmste. Oder dieser (sorry) kindische Ausbruch, Richard sofort aus dem Ducatus holen zu wollen.
    Vielleicht lernt er ja nun, sich in der Welt ein bisschen besser zurechtzufinden. Er muss es lernen. Die Welt ist böse, und so ein reiner, unverdorbener Charakter kommt in ihr schnell unter die Räder.

    Sehr spannend finde ich die Rückblicke zu Anastasia. Da bewundere ich immer die fließenden Übergänge, die du nur dadurch deutlich machst, dass du einfach das Personlapronomen wechselst. Genial, ein klasse Stilmittel. :thumbsup:
    So, bis hierher erstmal. Du hörst wieder von mir. Bis dahin - alles Liebe!

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • Hi @Tariq

    Cool! Ein regnerischer Ferientag bringt die richtige Stimmung :) Heute Abend hats bei uns auch endlich mal wieder geregnet, war auch Zeit, sonst gibts Probleme in der Landwirtschaft - und so muss ich meinen Garten nicht giessen ^^
    Edwin ist schon ziemlich naiv, das kann man nicht leugnen. Aber er entwickelt ich, wie auch Richard mit seiner selbstzerstörerischen Art.
    Cool, dass dir Anastasias Rückblenden gefallen, macht mir auch grossen Spass, damit zu spielen :saint:

    Also dann, vielleicht bist du ja schon bald 'up to date' :D

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
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    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Hey! Nachdem ich die letzten Tage immer nur ein Beitrag weiterlesen konnte, wollte ich heute Abend den Rest schaffen. Ich befürchte aber, 4 Teile fehlen mir noch. Die schaff ich nicht mehr :rofl: Bin hundemüde xD

    Ein paar Sachen wollte ich aber loswerden, ehe ich sie Morgen vergessen habe :hmm:

    Aber hier weiß ich nicht, wohin mit mir. Ich könnte Lesen lernen wie die anderen Kinder, aber wozu? Ich möchte Richard und meinen Vater finden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir Lesen dabei helfen wird.“
    Lotar nickte zögernd. „Vielleicht hast du sogar Recht.“

    Boah. Edwin hat mich hier die ganze Zeit gewurmt. Warum Lesen wichtig ist? :dwarf: DAS hätte ich ihm schon klar gemacht!! :grumble::grumble::grumble:
    Ich verstehe, dass ein Naturjunge das etwas anders sieht, aber meine Lese Herz hat geblutet. Übrigens ist dies keine Kritik, oder ähnliches. Es passt perfekt zur Figur, ich konnte diese Einstellung nur nicht schweigend ignorieren xD

    Wer wohl alles noch auf dem aktuellsten Stand ist? Würde mich wunder nehmen, wie ihr auf die Enthüllung von Richards früherer Identität reagiert. Doch nicht Rhamnus, sondern sein Schüler und zu allem auch noch "Edwins" Geliebter

    Auf dem "aktuellsten Stand" bin ich noch nicht, aber schon so weit, dass ich das gelesen habe ;)
    Und ich war so baff. Ich steh total auf wiedergeburten, Seelenpartner und wiedertreffen in neue Leben. So sehr, dass es auch in meiner Welt eine sehr große Rolle spielt. Ich liebe so etwas einfach.

    Sie waren geliebte und im nächsten (Oder einem der nächsten Leben?) treffen sie sich wieder. Und sie lieben sich noch immer bedingungslos. Auch Geschwisterliebe ist etwas ganz besonderes, reines. Diese Wendung hat mir unglaublich gut gefallen.

    Du beschreibst so viele Sachen, die ich so gerne in meiner Geschichte hätte (In "Nielis", nicht in "Schwarze Seele"). Ich kann nur hoffen dass mir ein paar Sachen mindestens halb so gut gelingen werden, wie dir. Die Reinheit von Edwin ist so greifbar. Er ist ein so wundervoller Charakter. Deine Figuren sind so lebendig, so voller Gefühle und Menschlichkeit. Die Situationen in denen du sie wirfst sind, trotz all der Magie und Fantasie, so real und greifbar. Die Philosophischen Ansätze regen zum Nachdenken an, wirken nicht aufgezwungen. Ich hab ja hier im Forum noch nicht viel gelesen, aber wär das hier ein Buch, wäre es eins der besten, dich ich je gelesen hätte. Und das mein ich wirklich ernst.

    Ich vergesse auch wieder total viel, von dem was ich sagen wollte xD

    -Ich vermisse Jakob xD

    -Die Idee, das Gilber in Edwin verliebt sein könnte hat mich umgehauen. :rofl: Ich gehöre zu denen, die gerne Figuren "verschwulen"... (wenn es denn passt.)
    Aber ernsthaft? Die beiden? Ich hab nie etwas anderes in ihnen gesehen als Freundschaft, ein Mentor-Schüler dasein oder höchstens noch ein väterliches Vorbild. Aber liebende? Also, "SO" liebende? Niemals.

    Wenn ich ehrlich bin, hatte ich das Gefühl eher bei Richard und Samuel. Eine kleine, süße verliebtheit. Ich hab das allerdings auf mein "verschwulen" geschoben und hätte nicht gedacht, dass andere das nur annähernd so empfinden würden :rofl:

    Außerdem hat Richard ja jemand ganz anderes im Visier :grinstare:

    Sooo. Ich gehe ins Bett. Ich freu mich darauf, bald aufgeholt zu haben. Und gleichzeitig wünschte ich mir, dass ich noch dutzende Seiten vor mir hätte. Hut ab vor der Geschichte, es ist eine Freude, sie zu lesen. :heart::heart::heart:

    Genesis: Sie ist Azathoth, das amorphe Chaos in der zentralen Leere
    Josh: Meine Prophetin!

  • Hi @Aztiluth
    Wow, das ist wohl das grösste Kompliment, das ich je bekommen habe! :kiwi::kiwi::sack::panik: Danke!!!!
    Jakob vermiss ich auch, und Richard. Kann grad nur im Kopf weiter an ihnen basteln. Jakob wird ein echter Krieger, da freu ich mich schon drauf :D

    Haha, deine Reaktion auf Edwins Lese-Streik :) seh ich auch so, hihi

    Boah. Edwin hat mich hier die ganze Zeit gewurmt. Warum Lesen wichtig ist? DAS hätte ich ihm schon klar gemacht!!

    Immerhin kann man sagen, dass er in seinem früheren Leben viel gelesen hat. Anastasia war ein richtiger Bücherwurm :)

    Sie waren geliebte und im nächsten (Oder einem der nächsten Leben?) treffen sie sich wieder. Und sie lieben sich noch immer bedingungslos. Auch Geschwisterliebe ist etwas ganz besonderes, reines. Diese Wendung hat mir unglaublich gut gefallen.

    Gut, dass es so ankommt. Könnte auch schräg rüberkommen, aber dann ist's ja gut.

    Samuel und Richard, hihi, das wär doch was :P abeer nein, die zwei haben ein anderes Verhältnis. Aber eine andere 'Liebesgeschichte' wird euch noch überraschen, bin schon auf die Reaktionen der Leser gespannt, aber bis zur Enthüllung kann es noch Jahre dauern. :D:evil:

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    von einem Herzen zum andern;
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    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • So, liebe @RenLi

    ich hab wieder ein Stück aufgeholt.

    Spoiler anzeigen

    Die Reinheit von Edwin ist so greifbar. Er ist ein so wundervoller Charakter.

    Sorry, aber hier kann ich nicht ganz mitgehen. Ich kann mir nicht helfen, aber der Junge büßt momentan zunehmend Sympathiepunkte bei mir ein. Regelrecht bedenklich finde ich seinen Ausflug in die nächtliche Stadt. Und seine Ignoranz von Regeln.
    Besonders dieses Verhalten im Waisenhaus: "Ich bin nun einmal anders. Ich habe keine Lust, in den Unterricht zu gehen, will lieber in den Wald. Lesen lernen will ich auch nicht. Und die bösen Kinder mögen mich alle nicht." Puh, ich kann ehrlich gesagt, die Erwachsenen nicht verstehen, denn sie leisten mit ihrem Verhalten dem Ganzen nur Vorschub. Wieso wird Edwin nur so bevorzugt behandelt? Nein, er muss nicht in den Unterricht, wenn er nicht will. Er kriegt nen Privatlehrer stattdessen. Super, das hilft ihm, sich einzugliedern. Und was? Du willst nicht im Waisenhaus bleiben? KeinProblem, Onkel Gilbert nimmt dich wieder mit auf Reisen.

    Momentan tue ich mich schwer mit dem Lesen, das gesteh ich ganz ehrlich. Und ich muss auch sagen, ich sehn mich nach Richard und nach Jakob, denn im Moment hab ich von dem kleinen Muttersöhnchen ... ähm, isser ja nicht, also ... Gilbert-Ziehkind ganz schön die Nase voll. Irgendjemand sollte ihm erklären, dass man nicht immer kriegt oder tun kann, was man will. :cursing:

    Natürlich hat er auch seine liebenswerte Seite. Die Begegnung mit Lea lässt uns wieder an den alten Edwin denken, der er mMn nicht mehr ist. Leider.

    Du hast vorhin mal in einem der Parts gefragt, was die Leser davon halten, dass Richard die Wiedergeburt von Diligo ist. Das - finde ich - verkompliziert die Lage erheblich. Edwin wird wohl wahrscheinlich nie wieder in der Lage sein, in Richard "nur" seinen Bruder zu sehen. Als Wiedergeburt von Anastasia hat er ja jetzt auch noch Zorn auf Diligo wegen der verschmähten Liebe. Obwohl ich dessen Gründe nachvollziehen kann... :/

    Naja. Ich werd auf jeden Fall sehen, wie du das Ganze weiterführst. Keine Sorge, ich bleib dran, auch wenn Edwin mir momentan ein wenig quer liegt. Man muss ja nicht alle Charaktere in einer Geschichte mögen. Und wer weiß - vielleicht hat er ja auch noch Überraschungen parat. ^^

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Hi @Tariq

    Sorry, aber hier kann ich nicht ganz mitgehen. Ich kann mir nicht helfen, aber der Junge büßt momentan zunehmend Sympathiepunkte bei mir ein. Regelrecht bedenklich finde ich seinen Ausflug in die nächtliche Stadt. Und seine Ignoranz von Regeln.

    Gefällt mir, dass du nicht alles so rosig siehst. Edwin befindet sich meiner Meinung nach auf einer Schwertschneide mit seiner Naivität. Er kann jeder Zeit auf die eine oder andere Seite abgleiten. Ein Beispiel davon ist sein Wutausbruch in Elviras Büro. Da zeigt sich, dass seine intuitive Art eben nicht nur Voreile hat. Er lässt sich sehr von seinen Gefühlen leiten. Und Elvira ebenfalls. Sie bevorzugt ihn, weil er ihr Kind war in ihrem letzten Leben und sie in ihrem jetzigen eigentlich auch gerne Kinder gehabt hätte. Deshalb sieht sie ihren eigenen Sohn in ihm und eigentlich ist sie der ganzen Sache nicht ganz gewachsen. Gilbert auch nicht, da er mit seinem eigenen Leben nicht zurecht kommt und in Edwin eine Art Rettungsleine sieht, der der Junge jedoch nicht gerecht werden kann - das kann niemand.
    Edwin ist sehr einfühlsam und will nur das Beste für jeden, muss aber noch vieles lernen. Für seinen jungen Geist ist das Erlebte eigentlich viel zu viel und mit der Verarbeitung hat er Mühe. Was ihn noch erhält, ist seine Verbindung zum Leben. In den Momenten, in denen er sich verbunden fühlt mit der Natur, verblasst alles andere und er kann aufatmen. Aber sonst übt das Leben einen viel zu grossen Druck auf ihn aus. Ausserdem ist er so eingenommen von seinem Bruder, dass er total abhängig von ihm ist, auch wenn er diesen seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hat. Er ist so von der Vorstellung, Richard wiederzusehen, besessen, dass er sein ganzes Leben darauf ausrichtet, was total ungesund ist. :)
    Wenn ich ehrlich bin, bemüh ich mich gerade, Edwin vor einem Kollaps zu bewahren, was gar nicht so einfach ist. Kein Wunder, dass du mit ihm gerade Mühe hast. Er ist ein komplexer Haufen. Er ist grad in einem Wandel drin, von dem naiven und süssen Kind zu, naja, was auch immer er dann werden wird. Er ist nah dran, auf eine ungesunde Seite abzurutschen. Mal sehen, ob er sich halten kann und dann stärker und klarer aus diesen Erfahrungen herausgehen wird.

    Schön, dass du trotzdem nicht aufgibst :D

    Ach ja, zu dem Diligo/Richard-Ding:
    Mit ihrer Liebesgeschichte geht es noch weiter. So kann man das doch nicht enden lassen :) Schliesslich hat Edwin auch noch eine andere Erinnerung, die er aber vorläufig nicht mehr im Kopf hat: Diligo hat Anastasia versprochen, sie im nächsten Leben wieder zu finden. Das klingt doch ganz nach Liebespaar ;) Aber ja, es verwirrt ihn natürlich, eine solche Beziehung zu seinem Bruder gehabt zu haben. Wo er doch noch keine Ahnung von Liebe hat und so. Könnte ja auch passieren, dass er da in eine Kriese gerät und mit diesen Gefühlen nicht umgehen kann.

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi