Es gibt 460 Antworten in diesem Thema, welches 125.486 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (21. Januar 2020 um 15:16) ist von RenLi.

  • Uiuiui, das nimmt kein gutes Ende mit diesem Sinister... Bisher funktioniert es, aber so staut sich nur Frust an und explodiert dann richtig. Ich bin richtig angespannt, erwarte den Schlag.
    Aber was hat es wohl mit dieser Stimme auf sich? Und warum studiert Sinister ein verbotenes Wissen (obwohl es, offen wie er damit umgeht, nicht verboten zum Studium, nur in der Anwendung ist)? Das wird noch interessant.

  • Ein schöner Teil...wie immer :) Bin auch gespannt, wie sich das weiterentwickelt.

    Ich bin nur über eine einzige Stelle gestolpert, bei der ich mir aber nicht sicher bin, ob du dich da vielleicht vertan hast:

    Richard hörte gespannt zu, vielleicht würde Samuel ihm erklären, dass dies nicht möglich sei....

    meintest du vielleicht:"...dass dies nicht nötig sei" (?)

    Viele Grüße,
    Rainbow

  • Hallo zusammen
    Nun geht es nicht mehr lange, diese Woche kann ich meine Bachelor-Arbeit endlich abgeben und mich dann wieder richtig dem Forum zuwenden :) Juheee!
    @Windweber meinst du das mit dem Frust allgemein oder ist das nur auf Richard oder nur auf Sinister bezogen? Richard ist nicht so der Typ, der schnell wütend wird. Auf Sinister passt das eher. Das Geheimnis um die Stimme wird leider erst viel später gelüftet :)
    @Rainbow es ist tatsächlich 'möglich', könnte aber auch 'nötig' sein, das würde auch Sinn machen. Könnte ja sein, dass es nicht möglich, ist, da Samuel seine Ruhe braucht, verbindliche Gespräche führen muss oder sonst was.

    Die Gedichte in dem Teil sind wieder von Rumi.


    Richard, Liebe und Schmerz (566 n. Rh.)
    Seit Sinister sich um ihn kümmerte, war sein Leben anstrengender geworden. Ein paar Mal noch versuchte Richard, ein Gespräch mit dem Candidatus anzufangen, doch dieser antwortete stets kurzangebunden und abweisend. Also gab Richard seine Bemühungen auf und fand sich mit der Anwesenheit seines stillschweigenden Schattens ab. Ansonsten verlief sein Leben in ruhigen Bahnen. Wie immer las er viel, lernte, machte seine Übungen und traf sich mit seinen Freunden. Sessilia sah er einmal von Weitem, doch er getraute sich nicht, sich ihr zu nähern, solange Sinister jeden seiner Schritte überwachte. Jeden Abend bevor er sich zum Schlafen hinlegte, las er in dem Gedichtebuch. Bisher hatte er erst vier Gedichte daraus gelesen. Sie kamen ihm zu wertvoll vor, als dass er sie alle am Stück durchlesen wollte. Dafür las er die einzelnen immer mehrfach, ließ sie auf sich wirken. Auch nach dem hundertsten Mal hatten sie ihre Magie nicht verloren, aber eine solch eingehende Wirkung wie bei der Begegnung mit Sessilia hatten sie nicht mehr auf ihn.
    Er saß auf seinem Bett, das Buch im Schoss und rezitierte mit geschlossenen Augen:

    „Licht und Schatten
    entstehen durch den Tanz der Liebe
    Liebe ist absichtslos

    Nur Liebe versteht die Geheimnisse Gottes
    Der Liebende und die Liebe sind untrennbar und zeitlos
    Auch wenn ich versuchen mag die Liebe zu beschreiben
    wenn ich sie selbst erlebe, bin ich sprachlos!

    Auch wenn ich versuchen mag über Liebe zu schreiben
    ist dies nur ein hoffnungsloser Versuch.
    Meine Feder bricht und das Papier fliegt davon
    zu jenem unbeschreiblichen Ort,
    wo der Liebende, die Liebe und der Geliebte eins sind.
    Jeder Augenblick wird wundervoll im Licht der Liebe.“

    Ob der Verfasser nicht weiß, dass es mehrere Götterwesen gibt?, wunderte sich Richard. Es war ihm aufgefallen, dass in den Gedichten immer nur von einem Gott die Rede war.

    „Ohne Grund gab uns Gott das Sein;
    ohne Grund - gib es wieder zurück.“

    Gott. Wie mächtig das klingt. Ohne Grund gab uns Gott das Sein. Das Sein? Das Leben? Ohne Grund? Also ohne Sinn? Sinnlos? Das klingt, als hätte Gott die Welt ohne Sinn erschaffen. „Ich verstehe diesen Dichter nicht“, murmelte Richard. Und trotzdem spüre ich die Macht dieser Worte. Ein Geheimnis versteckt sich in ihnen. Wie können der Geliebte und der Liebende eins sein?

    Die Tage verstrichen unglaublich langsam. Richard bemühte sich, wachsam zu bleiben. Aber ständig schweiften seine Gedanken ab. Immer öfter erwischte er sich dabei, wie er an der Bedeutung der Gedichte herumstudierte oder an Sessilia dachte. Dabei sollte er sich auf seine Studien konzentrieren. Doch die Luft im Ducatus war ihm zu stickig geworden. Ob es daran lag, dass Sinister ihn auf Schritt und Tritt verfolgte, oder weil er seine Übungen seit einer Weile vernachlässigte, konnte er nicht sagen. Er wünschte sich nach hinaus, weg von diesem stickigen, einengenden Ort. Wie lange es doch her war, dass er draußen in der Natur gewesen war. Es schien ihm, als hätten Aarons Worte das Bedürfnis nach Sonne, Natur und Freiheit in sein Herz gepflanzt. Er sehnte sich nach den Wäldern und Wiesen seiner Kindheit. Sogar den Sumpf vermisste er. Viel zu viel Zeit verbrachte er im Innern des Ducatus. Wenn er doch nur weg von Sinister irgendwo hingehen könnte. Vielleicht zusammen mit Aaron, Eli und Fried. Oder sogar mit Sessilia?
    Doch gleichzeitig schämte er sich für solche Gedanken. Es kam ihm vor, als würde er die Freundlichkeit Samuels mit Füssen treten.
    Und dann kam die Nacht, in der er von ihr Träumte. Anstelle seiner Albträume, die ihn sonst mit unglaublicher Beständigkeit heimsuchten, träumte er von Sessilia. Sie gingen zusammen über eine Wiese, weit weg vom Ducatus. Er hielt ihre Hand. Ein unbeschreibliches Gefühl von Glück füllte ihn aus, doch gleichzeitig verspürte er Angst. Sie blieb stehen und er schaute zurück. „Geh nicht“, flüsterte sie. Trauer senkte sich über ihn. Er fühlte sich um Jahre gealtert. „Es ist mein Schicksal“, hörte er sich sagen. Ihre Augen füllte sich mit Tränen. Auch sie schien auf einmal viel älter zu sein.
    „Ich weiß“, sagte sie sanft und schmiegte sich an ihn. Wie selbstverständlich legte er seine Arme um sie und hielt sie fest, als wolle er sie nie wieder loslassen. Ich komme zurück, dachte er verzweifelt, doch er wusste, dass es eine Lüge war.
    Einmal mehr wurde er vom eindringlichen Klopfen Sinisters aus seinem Traum gerissen. Doch diesmal spürte er nicht die Erleichterung, einem Albtraum entkommen zu sein. Schmerz schnürte seine Brust enger. Was für ein Traum! Er setzte sich auf, ignorierte das Klopfen von draußen. Die Angst, dieses bittere Gefühl des Verlustes steckte noch immer tief in seinen Knochen. Es ist nur ein Traum. Aber was für einer. Er war ihm so real vorgekommen. Die Tür öffnete sich einen Spalt weit. „Dein Frühstück“, sagte Sinister.
    „Stell es einfach hin“, krächzte Richard. Er räusperte sich. Seine Stimme brauchte anscheinend ebenfalls noch etwas Zeit, um sich von den nächtlichen Erlebnissen zu erholen.
    Sinister bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick, stellte das Tablett auf den Boden und verschwand wieder. Was ist in dem Traum geschehen? Er versuchte sich zu erinnern. Die Bilder waren bereits dabei, zu verblassen. Sessilia und ich, ich glaube, wir waren ein Liebespaar. Sein Herz schlug höher. Es ist nicht erlaubt. Frauen sind Ablenkung. Außerdem kenne ich sie doch gar nicht. Der Traum muss durch meine Gedanken entstanden sein. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als wolle er die Gedanken und Gefühle wegwischen. Wovor hatte ich so schreckliche Angst? Sie zu verlieren? Ist dies die Anhaftung, vor der Rhamnus warnt? Sie fesselt uns an diese Welt. Liebe bedeutet Gefahr. „Der Liebende und die Liebe sind untrennbar und zeitlos. Auch wenn ich versuchen mag die Liebe zu beschreiben, wenn ich sie selbst erlebe, bin ich sprachlos“, murmelte er. Ist das nicht Anhaftung? Die Liebe mag sprachlos machen, aber wenn ich mich nicht von der Liebe trennen kann, dann bin ich doch der Anhaftung verfallen. Ich muss aufpassen mit diesen Gedichten, sie könnten zu Fesseln werden.
    Er zog das Büchlein unter seinem Kopfkissen hervor. So unscheinbar und klein, aber mit so viel Macht. Ich sollte es zurückbringen. Mit diesem Entschluss stieg er aus dem Bett, zog sich an, steckte das Büchlein ein uns trat hinaus. Sein Frühstück hatte er vergessen. Schnurstraks steuerte er auf die Tür am anderen Ende des Empfangszimmers zu. „Du siehst aus, als hättest du in eine extra saure Zitrone gebissen“, hörte er die Stimme seines Lehrers.
    Richard drehte sich um. Er hatte Samuel und Sinister gar nicht gesehen. Sie saßen zusammen, zwei Tassen Tee und ein Buch zwischen sich, am Fenster und schauten ihn überrascht an. „Ich gehe in die Bibliothek“, erklärte Richard.
    „Manchmal würde ich ja gerne in deinen Kopf hineinschauen können“, meinte Samuel schmunzelnd. „Die Bücher werden schon nicht anbrennen.“ Sinister machte Anstalten, sich zu erheben. „Du bleibst hier, wir sind noch nicht fertig“, sagte Samuel entschieden. Richard wollte schon widersprechen, als er merkte, dass Samuel Sinister meinte. Unsicherheit zeigte sich für einen kurzen Moment auf Sinisters Gesicht. Ein Ausdruck, den Richard noch nie bei ihm gesehen hatte.
    „Bis später“, sagte Richard und verschwand nach draußen. Er wollte Sinister keine Gelegenheit geben, ihn zu verfolgen. Er war Samuel dankbar, dass er seinen Begleiter genau in diesem Augenblick bei sich behalten hatte. Es muss wohl so sein. Heute bringe ich das Buch zurück, dachte er entschlossen. Schnellen Schrittes legte er den Weg zu Bibliothek zurück. Was ist eigentlich eine Zitrone?, dachte er und gleich darauf: Wo kommt nun der Gedanke her? Er wischte beides beiseite und betrat die Bibliothek. Das Büchlein wog schwer in seiner Tasche. Ich muss es zurückbringen und dann nicht mehr daran denken. Weder an die Gedichte, noch an sie.
    Er stieg die Stufen empor und mit jeder Treppe schwand seine Entschlossenheit etwas mehr. Er schalt sich selbst. Ich kenne sie gar nicht, wer sagt denn, dass ich verliebt bin. Das ist Blödsinn. Nur wegen diesen Gedichten. Und weil Aaron mich deswegen aufgezogen hat.
    Er erreichte den obersten Balkon. Vielleicht ist sie gar nicht hier, dachte er und wusste nicht, ob ihn das erleichtern oder enttäuschen sollte. Sein Herz klopfte, vom Aufstieg und von der Aufregung.
    Er schaute auf, ihr Platz war leer. Ein Stich bitterer Enttäuschung fuhr durch seine Brust. Sie ist nicht da. Auch gut, dann gebe ich es ihr ein andermal zurück.
    Er wollte sich umdrehen und gehen, als er sie nicht weit entfernt am Geländer stehen sah. Sie blickte ihm entgegen und seine Sorgen lösten sich auf in ihrem Lächeln. Er eilte zu ihr und merkte erst, dass er sie anstrahlte, als er vor ihr stand. „Ich habe jeden Abend in dem Buch gelesen“, sagte er und zog das Büchlein aus seine Tasche hervor.
    „Sie sind wunderschön, nicht wahr?“ Ihre Augen leuchteten.
    Richard nickte. „Aber ich verstehe sie nicht. Es ist ganz anders, als die Schriften der Gnosis.“
    „Welches magst du am liebsten?“, fragte sie, Aufregung in der Stimme.
    „Ich weiß nicht, ich habe noch nicht alle gelesen“, gestand er. „Ich wollte nicht alle auf einmal…“
    Sie nickte verständnisvoll. „Ich weiß, was du meinst. Es wäre wie eine Entweihung, nicht wahr?“
    Er schaute in ihre Augen und wurde überwältigt von der unglaublichen Vertrautheit, die zwischen ihnen bestand. Es war, als würden ihre Herzen im Gleichtakt schlagen. Er musste ihr nicht erklären, dass er schon viel früher hatte wiederkommen wollen. Sie wusste es auch so.
    „Ich kann nicht sehr lange bleiben“, sagte er.
    „Wegen Sinister?“, fragte sie.
    „Du weißt, dass er den Auftrag hat, mich einen Monat lang zu begleiten?“, fragte Richard überrascht.
    Sie lachte. „Nein, aber er war dir in letzter Zeit ja immer dicht auf den Fersen. Gut zu wissen, dass das nur einen Monat lang so gehen soll.“
    Hat sie mich beobachtet?, fragte sich Richard und wurde rot. Er selbst hatte ja oft genug zum höchsten Balkon hinaufgeschaut. Keine Anhaftung, dachte Richard etwas ärgerlich.
    Sie setzten sich in die Nische am Fenster, Richard legte das Büchlein zwischen sie auf den niederen Tisch. „Welches ist dein Lieblingsgedicht?“, fragte er.
    „Das ist schwierig. Alle gefallen mir so gut.“ Sie schlug eine Seite auf. „Ich glaube, diese Stelle gefällt mir gerade am besten: Ohne Grund gab uns Gott das Sein; ohne Grund - gib es wieder zurück.“
    „Wirklich?“, fragte Richard überrascht. „Das ist doch schrecklich. Oder verstehe ich es einfach falsch? Das klingt so hoffnungslos.“
    Sie legte den Kopf schräg und betrachtete die Zeilen eingehend. „Weshalb?“
    „Heißt das nicht, dass das Leben sinnlos ist?“
    „Findest du? Braucht Gott einen Grund, um Leben zu geben und zu nehmen? Ich denke, wir Menschen sind zu eingeschränkt, um die Beweggründe Gottes zu verstehen. Muss er sich vor uns rechtfertigen?“, überlegte Sessilia.
    „Was ist mit Gott überhaupt gemeint? Es gibt doch so viele Götter.“
    „Soweit ich weiß, stammte der Dichter aus einem weit entfernten Land, in dem die Menschen nur an einen einzigen, allmächtigen Gott geglaubt haben. Vielleicht ist dieser Gott viel mächtiger, als all die Geistwesen, mit denen die Gnosis in Kontakt steht. Ich glaube, dass da ein viel mächtigeres Wesen ist, ein Wesen voller Liebe.“ Sie breitete die Arme aus, um die Weite dieses Gottes darzustellen.
    Richards Seele hüpfte. Ein Gott, noch viel größer als alle Geistwesen. Ist das möglich?
    „Hast du dir noch nie überlegt, was vor der Entstehung des Menschen war? Wer hat die Wesen erschaffen, die den Menschen erschaffen haben?“
    Er hatte daran gedacht. Aber er hatte sich damit abgefunden, dass die Menschen noch nicht mehr wussten. „Nicht einmal der Heilige Rhamnus hat weiter in der Geschichte zurückblicken können, als bis zur Erschaffung des Menschen durch die Throne. Glaubst du, dieser Dichter hat noch mehr gewusst, als die Eingeweihten der Gnosis?“
    „Vielleicht. Wer weiß. Es ist mehr ein Gefühl in mir, das mir sagt, dass seine Worte tiefer reichen als alles, was ich bisher gehört habe.“
    „Auf Gefühle solltest du dich nicht verlassen“, sagte Richard sofort. „Sie sind irreführend.“
    „Und auf wen willst du dann vertrauen? Auf deinen Verstand? Sind Gedanken nicht ebenso irreführend?“, fragte sie keck.
    „Wenn man sie in die gesetzmäßige Ordnung der Geistwelt bringen kann, dann nicht mehr“, meinte er. Er suchte in seinem Kopf die Lehren der Gnosis zusammen. „Es ist wichtig, die Kontrolle über Gefühle und Gedanken zu haben.“
    „Aber wirst du dann nicht zu einem toten Wesen?“
    „Man muss das Gleichgewicht wahren“, antwortete er.
    „Ich weiß nicht. Was spürst du, wenn du die Gedichte liest?“
    Richard musste zugeben, dass er selbst das Gefühl kannte, von dem sie sprach. Es war eine vertraute Sicherheit, als würden die Worte dieselbe Melodie wie sein Herz spielen. „Ich lese dir noch eines vor, vielleicht hast du es noch nicht gesehen“, sagte Sessilia und blätterte in dem Buch.

    „Die Seele empfängt Erkenntnis allein
    durch die Seele und nicht durch das Denken.
    Aus Sprache und Büchern kann Erkenntnis nicht sein,
    sie kommt nach der Leerheit im Denken.
    Mysterien erkennen, das kommt so wie Licht von vielen Kerzen,
    das erleuchtet die Seele der Menschen
    und in ihnen auch ihre Herzen.

    Bevor der Verstand sich entschließt, einen Schritt zu tun,
    hat die Liebe den siebten Himmel erreicht.“

    „Vater Justus hat einmal gesagt, dass Liebe ohne Weisheit in die Irre führt. Was ist Liebe überhaupt. Ständig ist die Rede von Liebe, aber ich verstehe sie nicht“, sagte Richard, leicht frustriert.
    „Gibt es denn keine Menschen in deinem Leben, die dir wirklich wichtig sind?“, fragte Sessilia.
    Richards Herz zog sich zusammen. „Die gab es. Doch nun, wann immer ich an sie denke, spüre ich nur Schmerz.“ Er wollte nicht zurückdenken. Solange er nicht an seine Familie dachte, konnte er glücklich sein.
    „Glaubst du nicht, das liegt daran, dass du sie so sehr geliebt hast?“, fragte Sessilia.
    „Vielleicht.“ Bevor Onkel Johan gestorben war, hatten sie eine wunderschöne Zeit zusammen erlebt. „Aber ist das nicht schrecklich? Je mehr ich jemanden liebe, desto mehr werde ich nachher leiden, wenn derjenige nicht mehr da ist.“
    „Stimmt.“ Sie schwiegen eine Weile.
    Richard fiel ein, was Eli vor Kurzem über den Tod gesagt hatte: „Eli sagt, dass Anhaftung und Selbstsucht die Gründe dafür sind, dass wir die Toten nicht gehen lassen wollen.“
    Sessilia nickte. „Eli ist der blonde Candidatus, mit dem du oft unterwegs bist, oder?“, fragte sie. „Er ist auch oft in der Bibliothek und liest.“
    „Genau. Er weiß unglaublich viel.“
    „Vielleicht sollen wir also ohne Anhaftung lieben. Vielleicht ist das mit Weisheit gemeint. Liebe ohne Weisheit ist anhaftende Liebe“, überlegte Sessilia.
    „Das könnte sein“, meinte Richard, zunehmend begeistert. „Liebe ohne Anhaftung, so könnte es gemeint sein. Dann wird auch der Schmerz weggehen, nicht wahr? Ich werde versuchen, wieder mehr an sie zu denken. Denn eigentlich vermisse ich sie.“

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

    2 Mal editiert, zuletzt von RenLi (17. September 2017 um 13:32)

  • Bin wie immer begeistert und merke, dass ich den Anfang meiner Kommentare irgendwie besser variieren muss :)

    Richards Auseinandersetzung mit den Gedichten und seine Gedanken, die er sich dazu macht, hast du gut eingefangen. Der Traum war mysteriös und lässt mich vermuten, dass das sowas wie ein Blick in die Zukunft gewesen sein könnte...dann das Aufeinandertreffen mit Sessilia, das Richard binnen weniger Sekunden vergessen lässt, was er eigentlich vorgehabt hatte...nämlich ihr das Buch wieder zurückzugeben...

    Sehr schön, sehr schön!

    Viele Grüße,
    Rainbow

  • Sooo, bevor ich den nächsten Teil reinstelle hier noch ein Wort an die Frauen dieser Erde: dass die Gnosis die Frau hier unter den Mann stellt, ist keineswegs meine Ansicht. Ich entschuldige mich hiermit offiziell für das schlechte Benehmen meiner armen Figuren ;) Also dann, der nächste Abschnitt:

    Richard, Geschlechterteilung (566 n. Rh.)
    Anhaftung, dachte Richard bitter. Wenn es so einfach wäre. Der Monat wollte einfach nicht zu Ende gehen. Richard fühlte sich hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis, Sessilia wieder zu sehen und den Schuldgefühlen, die er deswegen hatte. Er musste zugeben, dass er sie mochte. Aber auch, dass er zu viel an sie dachte. Immer, wenn er in den Fluren des Ducatus unterwegs war, hoffte er, auf sie zu treffen. Und wenn er die Bibliothek betrat, wurde sein Blick wie magisch vom obersten Balkon angezogen. Ob Sinister bereits aufgefallen war, dass er immer nach oben schaute? Gesagt hatte er nie etwas, aber was mochte schon in seinem schweigsamen Begleiter vorgehen?
    Der Druck auf Richard wurde stärker, nahm ihm den Atem. Je mehr Zeit verstrich, desto mehr sehnte er sich nach Luft, Freiheit.
    Eines Abends, nachdem Sinister sich verabschiedet hatte und Samuel und Richard noch beisammensaßen und Tee tranken, kamen sie auf das Thema Frauen zu sprechen.
    „Weshalb gibt es keine Frauen, die Priester sind?“, fragte Richard seinen Lehrer. Längst war Samuel wieder so gesprächig wie am Anfang. Solange er nicht auf die Bedeutung der Sterne ansprach, antwortete sein Lehrer mit Freude und unendlicher Geduld.
    „Das trifft nicht ganz zu. Es gibt achtzehn Priesterinnen der Gnosis, doch sie wohnen alle in einem Kloster in den Bergen. Dahin haben sie sich mit anderen Frauen zurückgezogen, fernab von der Zivilisation. Sie leben für sich und senden ihre Gebete auf die Erde hinunter. Wenn eine Frau den Stand eines Candidatus erreicht, dann begibt sie sich ins Himmelskloster. Dort setzt sie ihre Ausbildung fort. Doch es geschieht nur ganz selten, dass eine Frau Priesterin wird“, erklärte Samuel. „Das hängt mit der Menschheitsentwicklung zusammen. Ich habe dir doch erzählt, dass die Menschen früher nur ein Geschlecht gehabt haben.“
    Richard nickte. Erst vor kurzem hatte Samuel ihm den Rest der Malereien im Rundgang erklärt. Die Erde hatte, angefangen beim Zustand des kalten Feuers, die früheren Entwicklungsstufen noch einmal im kleinen Rahmen durchlaufen. Deshalb sah das erste Bild der Erde dem Feuerzustand auch so ähnlich. Auch der Mensch hatte seine bisherige Entwicklung erneut vollzogen, nur schneller. Eine Zeit lang war sein Körper noch dunstförmig gewesen, später war er immer fester geworden, gemeinsam mit der Erde. „Mit der Verfestigung des Körpers mussten die Menschen einen anderen Weg der Fortpflanzung finden. Sie konnten nicht länger ein neues Lebewesen einfach aus ihrem Körper formen und dieses abspalten. Außerdem war es an der Zeit, dass sich die Anlagen des Verstandes, das menschliche Gehirn, ausbilden konnten. Indem die Menschen sich in zwei Geschlechter aufteilten und so nur gemeinsam Nachkommen bilden konnten, blieb jedem einzelnen mehr Energie für andere Zwecke übrig. Diese haben sie in die Ausbildung des Verstandes investiert. Diese Entwicklung wurde natürlich von höheren Wesen angeleitet. Der Mensch selbst wäre nicht dazu imstande gewesen. Nun ist es jedoch so, dass die Frau wesentlich mehr an der Fortpflanzung beteiligt ist, da sie das Kind über neun Monde hinweg in ihrem Bauch trägt. Demnach bleibt ihr nicht gleich viel Energie für die Verstandesentwicklung übrig wie dem Mann. Für die Frau ist es deshalb schwerer, in der geistigen Entwicklung Fortschritte zu machen. Sie muss sich mehr anstrengen und erzielt doch geringere Resultate. Natürlich gibt es auch hoch entwickelte Frauen. Es sind solche, die schon mehrere Leben dem Studium des geistigen Weges gewidmet haben“, führte Samuel aus. „Fleiß ist eine Eigenschaft, die bei den Frauen glücklicherweise oftmals großzügig vorhanden ist. Außerdem ist das Geschlecht nichts Festgelegtes. In diesem Leben mögen wir beide dem männlichen Geschlecht angehören, aber im nächsten werden wir vielleicht in einem weiblichen Körper wiedergeboren.“
    Richard ließ das Gehörte einen Moment sinken. Dies war also der Grund dafür, dass Frauen in der Gesellschaft schlechter gestellt waren als die Männer? „Die Frauen haben sich also geopfert für die Männer? Wie die Erde, Pflanzen und Tiere sich für den Aufstieg der Menschen geopfert haben?“
    „In gewissem Masse ja. Aber auch Frauen haben noch die Möglichkeit, die höchste Vollendung zu erreichen, was den anderen Lebensformen auf dieser Erde nicht mehr möglich sein wird.“
    „Weshalb nicht? Kann ein Tier nicht als ein Mensch wiedergeboren werden?“
    „Nein, die Tiere sind nicht nur auf der körperlichen Ebene zurückgeblieben. Der Mensch hat sich auch seelisch und geistig von den Tieren abgespalten, sodass eine ganz andere Gattung entstehen konnte. Geist und Seele der Tiere werden als Tiere wiedergeboren, sie könnten sich nicht mit einem menschlichen Körper verbinden. Das wäre wie ein Schlüssel, der nicht ins Schloss passt. Der Körper des Menschen ist auf eine höher entwickelte Seele und Geist ausgerichtet.“
    „Aber sie werden sich doch auch weiterentwickeln, oder nicht?“
    „Ja, auf dem nächsten Zustand unseres Planeten werden sie auf derselben Bewusstseinsstufe sein wie der Mensch heute. Jedenfalls einige von ihnen. Auch sie werden wieder auf Kosten ihrer eigenen Lebensform wachsen können. Sieh dir doch die verschiedenen Arten der Tiere an. Man sieht deutlich, dass sie sich auf ganz unterschiedlichen Stufen befinden. Vergleiche eine Heuschrecke mit einem Hund. Der Hund ist dem Menschen schon recht ähnlich, wobei die Heuschrecke eine viel eingeschränktere Intelligenz und ein viel eingeschränkteres Gefühlsleben besitzt als der Hund.“
    „Was ist eigentlich die Seele, Samuel? Meist wird nur vom Geist gesprochen.“
    „Die Seele ist der Anteil in uns, der sich im Gefühlsleben ausdrückt. Sie ist die Vermittlerin zwischen dem Körper und dem Geist. Der Körper ist mit den verschiedenen Sinnesorganen ausgestattet. Über ihn nehmen wir die sinnliche, physische Welt wahr. Die Seele leitet diese Eindrücke weiter und verarbeitet diese. Sie gibt allem einen gefühlsmäßigen Charakter und entschiedet darüber, ob wir etwas mögen oder nicht. Ob uns etwas anziehend oder abstoßend erscheint. Der Geist hingegen steht in Verbindung mit der geistigen Welt. Er besitzt den Verstand als Werkzeug und wird durch die Seele mit der Sinneswelt verbunden. Durch ihn können wir mit Absicht und einer gewissen Gesetzmäßigkeit in der Welt wirken. Ohne ihn würden wir nur unseren Trieben folgen, die in der Seele verankert sind.“
    „Wenn ich also ein schönes Gemälde sehe, dann ist es mein Auge, das diese Informationen an die Seele weitergibt und die Seele sagt mir, dass ich es schön finde und gibt dies an den Geist weiter?“, fragte Richard.
    „So ungefähr.“
    „Aber wo bin dann ich? Bin ich alle drei zusammen oder bin ich nur der Geist, der eine Seele und einen Körper besitzt?“
    Samuel nahm einen Schluck Tee, während er nach den richtigen Worten suchte. „Es ist wichtig, dass du siehst, dass wir weder unser Körper noch unsere Gefühle sind. Wir haben einen Körper und wir haben Gefühle, also eine Seele. Aber die wahre Natur des Menschen ist rein geistig.
    Um in dieser Welt wirken und Erfahrungen machen zu können, brauchen wir allerdings den Körper und die Seele, sie sind nützliche Werkzeuge, aber nicht unser wahres Selbst.“
    „Und was geschieht dann, wenn ich sterbe?“
    „Dann lösen sich Seele und Geist vom Körper. Nach der Reinigung im Fegefeuer lösen sich auch Seele und Geist voneinander und der Geist geht weiter in die geistige Welt.“
    „Weshalb erinnert man sich nicht daran? Und auch nicht an vorherige Leben?“
    „Du bist wirklich unersättlich, nicht wahr, Richard?“ Samuel schmunzelte. „Ich denke manchmal, du lebst nur noch vom Wissen allein.“
    Richard senkte den Blick. „Eigentlich“, begann er, wusste jedoch nicht, wie er weitersprechen sollte. Samuel war so gut zu ihm. Seit er hier war, hatte er so unglaublich viel gelernt, er wollte nicht um noch mehr bitten. Aber die innere Unruhe, die ihn seit mehreren Tagen erfasst hatte, quälte ihn.
    „Sprich, Richard. Du kannst mir erzählen, wenn dich etwas bedrückt.“
    Richard fasste Mut und fuhr fort: „Ich vermisse die Natur, die frische Luft, die Bewegung. Es gefällt mir sehr hier, wirklich! Aber, ich vermisse mein Zuhause.“ Ich vermisse meine Familie.
    Samuels Blick war sehr weich, als Richard wieder aufsah. „Und ich dachte schon, ich müsse dich bei meinem nächsten Ausflug hierlassen, weil du dich in Büchern vergräbst.“ Er lächelte sanft. „Ich habe den Auftrag bekommen, in ein weit im Westen liegendes Dorf zu reisen und dort nach dem Rechten zu sehen. Der dort eingesetzte Priester ist noch recht jung und etwas überfordert. Du kannst mich gerne begleiten.“
    „Das würde ich unglaublich gerne!“, rief Richard begeistert. Er konnte sein Glück noch kaum fassen. „Vielen Dank, Samuel!“ Er wäre dem Priester am liebsten um den Hals gefallen, aber er hielt sich zurück und beließ es bei einer kleinen Verbeugung. Er war froh, seinen Lehrer nicht mit Vater ansprechen zu müssen, aber sonst bemühte er sich, die Regeln des Respektes zu wahren. „Wann gehen wir?“
    „Du freust dich ja wirklich sehr. Es dauert wohl noch ein paar Tage. Es gibt noch einiges, was ich erledigen muss, bevor wir aufbrechen können.“
    Richard nickte. Er würde sich gedulden müssen. Aber nun, da er wusste, dass sie bald gehen würden, fiel es ihm schwer, sich im Zaum zu halten.
    „Bevor wir gehen, sollst du noch einmal eine Blutprobe abgeben. Der Arzt, der dich letztes Mal untersucht hat, kennt die Ursachen deiner Krankheit noch immer nicht und weshalb du überlebt hast ist ihm nach wie vor schleierhaft. Er befürchtet, sie könnte wieder ausbrechen, deshalb will er dich im Auge behalten.“
    Richard graute es davor, dass dies geschehen könnte. Alles, nur nicht das. Die Stunden im Zimmer des Gefängnisarztes hatte er bestmöglich aus seinem Gedächtnis getilgt. Nun durchfuhr ihn ein kalter Schauer, als er daran dachte. Als würden sich Gewitterwolken über ihm sammeln. Obwohl, war es wirklich so schlimm gewesen? Ja, sagte er sich. Schlimmer als bei lebendigem Leib verbrannt zu werden.
    Samuel schien seine Gedanken erraten zu haben, denn er sagte: „Bisher ist ja nichts geschehen. Hoffen wir, dass du es überstanden hast.“
    Richard wechselte schnell das Thema: „Wann lerne ich eigentlich, Magie zu wirken?“
    „Du hast wohl noch gar nicht gemerkt, dass wir bereits mit dem Erkunden von Magie angefangen haben.“ Samuel schmunzelte angesichts von Richards verblüffter Mine. „Alle Magie stammt aus dem Geistigen. Die Übungen, die ich dir aufgetragen habe, tragen dazu bei, dass die Magie in dir Fuß fassen und wachsen kann. Dein Geist nimmt Verbindung mit der geistigen Welt auf, sodass die Energie frei in dich hineinfließen kann und du sie nutzen kannst. Deshalb musst du deine Übungen machen und dich weiter in die Lehre vertiefen.“
    „In letzter Zeit fällt es mir schwer, mich zu konzentrieren“, gestand Richard und versuchte, nicht an Sessilia zu denken.
    „Das ist normal. Ein ständiges auf und ab. Wie eine Welle, die aber kontinuierlich höher steigt. Vorausgesetzt, du übst fleißig. Es wird dir gut tun, wieder einmal nach draußen zu kommen. Hier gerät man in die Gefahr der Einseitigkeit. Gewohnheiten können sehr schnell zu Trägheit und somit zu einem Hindernis werden.“
    Richard nickte. Was er brauchte, war frische Luft zum Atmen. Danach würde er mit einem klareren Geist zurückkommen können.

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
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    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

    Einmal editiert, zuletzt von RenLi (17. September 2017 um 13:31)

  • Hi RenLi,

    da haben sich die Gnosis ja eine tolle Theorie zu der geistigen Entwicklung von Frauen ausgedacht. :rofl:

    Nun ist es jedoch so, dass die Frau wesentlich mehr an der Fortpflanzung beteiligt ist, da sie das Kind über neun Monde hinweg in ihrem Bauch trägt. Demnach bleibt ihr nicht gleich viel Energie für die Verstandesentwicklung übrig wie dem Mann. Für die Frau ist es deshalb schwerer, in der geistigen Entwicklung Fortschritte zu machen.

    Samuel schmunzelte angesichts von Richards verblüffter Mine.

    "Miene"

    Ich kann Richard verstehen, dass er sich auf den Ausflug freut. Bin mal gespannt, was ihn dort erwartet... :)

    Viele Grüße,
    Rainbow

  • Oh man, hier ist ja sehr viel weitergeschrieben worden und ich Idiot hab's voll übersehen :panik: da muss ich gleich mal wieder anfangen, hui... @RenLi sei wissend, das ich noch da bin und deine wunderbare Geschichte weiterhin mit großer Begeisterung verfolge!

  • Hallo zusammen
    @Rainbow ich fand es schon schrecklich, sowas zu schreiben. Aber wenn mans mit den Christen früher vergleicht, dann ist das noch absolut heilige. Habe gerade das Buch 'Die Päpstin' gelesen. Echt sehr gut geschrieben und total packend! Das war wieder mal so ein Buch, das ich innerhalb von drei Tagen durchgelesen habe ^^ Was die Männer und die Kirche (welche damals noch aus Männern bestand) da aus den Frauen machen, ist wirklich unglaublich und bemerkenswert idiotisch.

    @Tnodm0309 heeeyy, cool, dass du weiterliest. :thumbsup: ich dachte schon, ich hätte dich vertrieben 8| aber demfall viel Spass! was die Reise angeht, da wird es endlich mal etwas Action geben. huiiiii!! ich freu mich schon drauf :saint:

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Richard, der Bote des Todes (566 n. Rh.)
    Der Tag der Abreise rückte näher. Und wie so oft stöberte Richard in der Bibliothek nach Büchern. Er hatte gehofft, für die Reise eine spannende Lektüre zu finden, doch heute plagte ihn die Unruhe schrecklich. Und dies obwohl Sinister für einmal nicht in seiner Nähe war. Angeblich hatte Vater Justus ihn zu sich gerufen. Richard war dies gerade recht. So konnte er sich ungestört nach Büchern umsehen. Eigentlich wäre dies die beste Gelegenheit, Sessilia vor der Abreise noch einmal zu sehen, dachte er und schaute nach oben. Nein, ich habe ihr das Buch bereits zurückgegeben. Es gibt keinen Grund, sie zu sehen.
    Richard entschied sich, doch ohne Bücher zurück auf sein Zimmer zu gehen. Unbefriedigt und etwas unschlüssig, wie er die Zeit bis zur nächsten Messe verbringen sollte, machte er sich auf den Weg zum Ausgang der Bibliothek. In Gedanken versunken ging er zwischen den Regalen entlang und bemerkte die Novizen nicht, der ihm aus der Bibliothek hinausfolgten. Zuerst schlug Richard den Weg in die Gemächer von Samuel ein, doch dann entschied er sich, vorher noch in den Kristallgarten zu gehen. Vielleicht würde es ihm dort gelingen, seinen rastlosen Geist zur Ruhe zu bringen. Der Raum war nicht weit von der Bibliothek entfernt und so würde der Umweg nicht weit sein.
    Richard erreichte die schlichte, schmiedeeiserne Tür. Nichts an ihr ließ vermuten, dass dahinter ein solch schillerndes Geheimnis versteckt lag. Er zog die schwere Tür auf und schlüpfte durch den Spalt, hinein in ein Meer aus funkelndem Licht. Die Tür fiel hinter ihm zu. Erleichtert stellte er fest, dass niemand außer ihm da war.
    Richard atmete langsam aus und ließ den Raum auf sich wirken. Das Licht, das von den unzähligen Kristallen ausgestrahlt wurde war reinstes Weiß. Doch sobald es auf die glatten Oberflächen traf und zurückgeworfen wurde, schimmerte es in allen Farben des Regenbogens. Wie Pflanzen rankten sich kristallene Bänder über die Wände und die Decke des Raumes, bildeten viele verschiedene Formen. Von Gebilden, die kleinen Blüten glichen bis zu solchen, die große Kelche bildeten. Knospen, Blätter, ganze Bäume. Und wenn man ganz aufmerksam hinsah, bemerkte man, dass sie sich in einem ständigen Wandel befanden. Ganz langsam bewegten sich die Kristalle fort, änderten ihre Form und Größe, sodass der Raum in einem gemächlichen Fließen inbegriffen war.
    Hier war der beste Ort, um sich der neuen Übung zu widmen, die Samuel ihm gezeigt hatte. Die Übung des göttlichen Lichtes.
    Gerade, als er sich auf den Strahl göttlichen Lichts konzentrieren wollte, der aus den höheren, geistigen Welten aus strahlte, wurde die Tür hinter Richard geöffnet. Er schaute sich um. Vier blaugewandete Novizen betraten den Garten. Sinister, gefolgt von drei seiner üblichen Begleiter. Er begegnete Sinisters Blick. Was tut er hier?, fragte sich Richard. Wie hat er mich so schnell gefunden? Augenblicklich verstärkte sich die Unruhe, die ihn plagte. Er wandte sich von den Vieren ab und ging weiter in den Raum hinein. Die Tür fiel zu. Vielleicht ist es Zufall, dass er hier ist. Richard gab vor, sich ganz auf die Muster einer Kristallblume zu konzentrieren, doch er schaute sie kaum an. Vielmehr lauschte er angestrengt auf die raschelnden Gewänder, die schlurfenden Schritte. Sie kamen näher. Er hielt den Atem an, es prickelte in seinem Nacken und er sah aus den Augenwinkeln, dass sie sich um ihn herum aufgestellt hatten. Er konnte nicht mehr vorgeben, sich für die funkelnden Kristallgebilde zu interessieren. Er richtete sich auf, drehte sich um.
    „Nun, Junge, hast du dich gut eingelebt?“, fragte einer. Sein Gesicht war ausdruckslos, doch seine Stimme verriet, dass er sich nicht um Richards Wohlergehen sorgte.
    „Es geht schon“, antwortete Richard angespannt, sein Blick wanderte zu Sinister. Das Gesicht des Candidatus verriet Anspannung, seine Mundwinkel zuckten. Er kann mich wirklich nicht leiden.
    „Ich habe lange genug zugesehen, habe dich lange genug beobachtet“, begann Sinister finster. „Ich kann mir nicht erklären, was Vater Samuel an dir findet. Ein Straßenjunge, mehr gibt es da nicht zu sehen.“ Richards Atem stockte. Die anderen nickten zustimmend. Was sollte das bedeuten? Was wollten sie von ihm? War er es leid, seine Zeit mit ihm verschwenden zu müssen? Dann musst du dich bei Vater Justus beschweren, nicht bei mir, dachte Richard.
    „Wenigstens Vater Justus hat erkannt, dass du nichts weiter bist, als ein Taugenichts.“ Sie zogen ihren Kreis enger und Richard wich weiter zur Wand zurück.
    „Heißt das, du musst nicht mehr… auf mich aufpassen? Hast du darüber mit Vater Justus gesprochen?“
    Einer der vier schnaubte verächtlich, Sinisters Mund verzog sich zu einem Grinsen. Dieser Moment schien ihm Genugtuung zu bereiten und er gab sich nicht sonderlich Mühe, es zu verbergen. „Denk doch einmal nach, Richard“, forderte Sinister ihn mit einem überlegenen Ausdruck auf. „Erkennst du es nicht? Dass ich auf dich aufpassen soll, war nur ein Vorwand. Vater Justus ist längst nicht davon überzeugt, dass du etwas Besonderes bist. Deshalb hat er mich beauftragt, dich zu überwachen.“
    Richard starrte ihn ungläubig an. Konnte es sein? Natürlich. Weshalb sonst hätte Sinister sich solche Mühe gegeben, ihn nicht aus den Augen zu lassen? „Es war ein Test?“
    Sinister nickte. „Und du bist durchgefallen.“
    Richards Gedanken überschlugen sich. Natürlich, aber weshalb hat Samuel nie etwas gesagt? Ich wusste nicht, dass das eine Prüfung ist. Sonst hätte ich mir mehr Mühe gegeben! Aber hätte das etwas geändert?
    „Du gehörst nicht hierher, Richard. Das war von Anfang an klar“, fuhr Sinister fort. „Ein Kind aus der Gosse, zu jung, elternlos. Hast du geglaubt, man würde dich hier einfach so aufnehmen?“
    „Aber weshalb? Weshalb haben sie mich überhaupt hergebracht?“, fragte Richard, dem diese Frage schon seit Anfang auf dem Magen gelegen hatte.
    „Selbst die weisesten Männer können sich einmal irren. Dass du diese Krankheit überlebt hast, hat wohl alle etwas stutzig gemacht. Aber das scheint ja wohl pures Glück gewesen zu sein. Ein Glück, das einem Mörder wie dir nicht vergönnt werden sollte.“
    „Einem Mörder?“ Richard fühlte sich, als hätte man ihn geschlagen. Theodor! Wie hatte er das nur vergessen können? „Ich habe ihn nicht getötet! Samuel glaubt mir!“
    „Das wurde bisher nicht bewiesen. Der Knecht hat klar gegen dich ausgesagt, du bist der Letzte, der den Wirten an jenem Abend gesehen hat. Ein Mörder und ein Feigling noch dazu. Du hast diese Hallen lange genug entweiht! Es wäre besser für alle, du würdest schleunigst von hier verschwinden!“
    Mörder! Richard schüttelte den Kopf. „Ich habe niemanden getötet.“ Sinister konnte nicht wissen, wie tief ihn diese Anschuldigung tatsächlich getroffen hatte. Mörder! Brudermörder! Ich hätte Edwin retten können. „Es war nicht meine Schuld!“ Brudermörder! Wie hatte er dies in den vergangenen Wochen nur vergessen können? Er hatte Vater versprochen, auf seinen Bruder aufzupassen, doch er hatte ihn im Stich gelassen. Er hatte ihn verraten und versucht, sich hier ein bequemes Leben einzurichten. Ich verdiene es nicht, glücklich zu sein! Die Gedanken breiteten sich in seinem Geist aus wie ein Feuer, das alles andere verzehrte. Sie verschlangen jeden rationalen Gedanken.
    „Du weißt, dass das nicht stimmt, Richard. Hör auf, dir etwas anderes einzureden. Du kannst froh sein, dass wir dich nicht im Gefängnis gelassen haben. Wenn du jetzt gehst, dann lassen wir dich laufen.“
    Gehen? Wohin? „Es gibt keinen Ort für mich auf dieser Welt“, keuchte er und sah panisch um sich, als könnte er so ein möglichst dunkles Loch finden, in dem er sich verkriechen könnte.
    „Nein, ein Mörder wird nirgends Frieden finden. Wie weit du auch gehst, was du auch tust. Für dich wird es keinen Frieden geben.“
    „Aber ich hab es nicht getan“, flehte er. „Ich habe niemanden umgebracht!“ Vater tot. Edwin tot. Onkel Johan, tot! Theodor, tot. Alle, die mir nahe kommen sind tot.
    „Büße für deine Sünden. Dann wird dir vielleicht in deinem nächsten Leben die Gnade einer neuen Chance zuteil werden. Wenn du aber bleibst, dann wirst du uns alle ins Unglück stürzen. Du befleckst diesen Ort. Selbst das Licht der Kristalle scheint trüb zu werden in deiner Anwesenheit. Geh weg, weit weg“, flüsterte es an seinem Ohr.
    Jeder, der mir zu nahe kommt, stirbt. Wie habe ich das vergessen können? Ich war zu selbstsüchtig. In Richards Kopf drehte sich alles. Weggehen, aber wohin? Weg von Samuel. Samuel! „Er ist in Gefahr, solange ich hier bin“, murmelte Richard. Und auch Sessilia. Solange ich hier bin, sind sie in Gefahr. Ich darf mich mit niemandem anfreunden. Mit niemandem sprechen.
    Er spürte eine Hand auf seiner Schulter. „Du kannst das, Richard. Diese eine Sache bist du den Menschen schuldig. Indem du gehst, kannst du für deine Sünde büßen.“
    „Was soll das?!“ Sessilias laute Stimme durchfuhr Richard. Sein Blick flog in Richtung Tür. Gefahr! Lass sie nicht näherkommen!
    Doch sie stürmte bereits auf ihn zu und stellte sich vor ihn. „Was soll das?!“, wiederholte sie aufgebracht. „Weshalb bedroht ihr ihn? Nur weil er anders ist als ihr, nur weil ihr ihn nicht versteht? Ihr wisst nichts über ihn! Ihr handelt nur aus eurer eigenen Angst heraus. Wie könnt ihr euch Novizen der Gnosis nennen?!“
    Die Männer wichen zurück. „Sie haben Recht, Sessilia. Geh weg von mir“, flehte Richard. „Ich bringe nur Unglück.“
    „Wenn du das wirklich denkst, weshalb hälst du mich dann fest?“, fragte sie ohne ihn anzusehen.
    Erstaunt sah er auf seine Hand, die sich an ihren Oberarm klammerte, wie ein Ertrinkender an ein Stück Holz im Wasser.
    „Misch dich nicht ein, Weib!“, rief Sinister aufgebracht. „Von dir möchte ich so etwas nicht hören! Wenn er dir so lieb ist, kannst du dich ihm gerne anschließen und von hier verschwinden. Eine wie du sollte ebenfalls gar nicht hier sein.“
    „Ich habe eine Erlaubnis von Vater Aurel, dass ich mich im Ducatus aufhalten darf. Willst du etwa gegen ihn sprechen?“
    „Du solltest dich schämen, die Güte unseres lieben Vaters auszunutzen. Wem würde Vater Aurel eine Bitte schon abschlagen? Er würde selbst einem halbtoten Hund noch helfen wollen. Da ist es kein Wunder, dass er auch mit einem niederen Geschöpf wie dir Mitleid hat.“
    „Alle Menschen haben dieselbe Chance, zu einem höheren Wesen aufzusteigen, ist das nicht, was ihr predigt?“, fuhr sie unbeirrt fort.
    „Richtig, das ist, was wir dem niederen Volke predigen. Aber wenn man sich tiefer mit den Lehren und dem Erkenntnisweg befasst, dann muss einem auffallen, dass immer nur eine ausgewählte Gruppe die nächst höhere Stufe erreicht. Und zu dieser gehörst du mit Sicherheit nicht. Welcher Kaste gehörst du an, Mädchen? So blind und langsam wie du bist, würde ich dich glatt in eine Kaste mit den Würmern stecken“, spie Sinister aus.
    „Wärst du nicht in der Gnosis, wärst du bestimmt bei den Ratten gelandet“, gab sie giftig zurück.
    Mit offenem Mund starrte Richard Sessilia an. Nun sah sie nicht wie ein Lichtengel, sondern eher wie ein zorniger Racheengel aus, was sie nicht minder schön machte. „Stinkende Ratten!“ , setzte sie nach.
    Die Hand des Candidatus schnitt durch die Luft und klatschte gegen Sessilias Wange. Sie keuchte erschrocken auf und fasste sich an die rote Stelle.
    „Nicht!“, rief Richard. „Sessilia, warum machst du sie wütend?“, zischte er und zog sie zurück.
    „Siehst du, Weib, er ist einsichtiger als du. Verschwindet von hier. Ungeziefer wie ihr habt hier nichts zu suchen. Ihr beschmutzt diesen reinen Ort“, rief Sinister wütend.
    „Ihr seid es, die diesen Ort krank machen!“, schrie Sessilia. Sie packte Richard am Arm und zog ihn mit sich auf die Tür zu.
    „Miststück!“ Sinister bekam Sessilias Haar zu fassen und zog sie zurück, sodass sie ins Straucheln geriet. Ein gezielter Faustschlag traf ihr Gesicht, sie schrie und betastete ihre Lippe. Mit Schrecken sah Richard, dass sie blutete.
    „Das soll dir eine Lehre sein, kleines Mädchen. Und nun verschwinde!“ Der Novize stieß sie von sich, sodass sie in Richard hineinstolperte. Dieser konnte sich und Sessilia gerade noch vor einem Sturz bewahren. Sessilia wollte sich schon zu Sinister umdrehen, doch Richard zog sie mit sich. „Komm“, flehte er.
    Er sah, wie sie um Fassung rang, dann drehte sie sich um und gemeinsam drückten sie die Tür auf. Richard blickte zurück. In Sinisters Gesicht las er blinde Wut. Er sah noch, wie Sinister seine Hand vors Gesicht hob, seine Augen weiteten sich erschrocken, dann schob sich die Tür zwischen Richard und die Novizen.
    Sessilia sah noch immer wütend aus. Mit forschem Schritt zog sie Richard mit sich. Er wusste nicht, wohin sie ihn führte, es interessierte ihn auch gar nicht. In ihm tobte ein Kampf der Gefühle. Wut, Verwirrung, Angst und am schlimmsten das Gefühl von Abscheu. Vor sich selbst. Ich kann mich nicht ausstehen!, schrie etwas in ihm. Ich bin wie Gift, das alles in der Nähe umbringt.
    Sessilia zog ihn in eine kleine, verlassene Kammer hinein. Erst hier ließ sie ihn los. Ich darf nicht mit ihr zusammen sein. Vielleicht ist es schon zu spät, vielleicht ist sie schon vergiftet. Mit Schrecken merkte er, dass dieser Gedanke wohltuend war, dann bräuchte er sich nicht mehr von ihr fernzuhalten. „Ich bin widerlich!“, spuckte er aus. „Ich bin ein Monster!“ Weg, weg! Er drehte sich zur Tür.
    Da hörte er ein Schluchzen. In seiner Panik hatte er gar nicht mehr auf Sessilia geachtet. Sie war in sich zusammengesunken, zitterte am ganzen Leib. Schluchzend verbarg sie ihr Gesicht in den Händen, ihre Lippe bebte. Richards Blick blieb an der geschwollenen Stelle und dem Blut hängen.
    Er wollte zu ihr gehen. Er wollte sie beschützen. Schon streckte er eine Hand nach ihr aus, aber die Abscheu vor sich selbst hielt ihn von ihr fern. Wenn ich sie berühre, dann stirbt sie. Ich muss mich fernhalten. Ohne mich ist sie besser dran.
    Er drehte sich um und floh. Hinaus in die Gänge des Ducatus, bis er schließlich auf seinem Bett erschöpft niedersank.


    Hallo zusammen. Findet ihr Richards 'Rückfall' zu seinem unglücklichen, selbstverachtenden Ich etwas übertrieben? Lg, RenLi

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

    3 Mal editiert, zuletzt von RenLi (18. September 2017 um 09:42)

  • Hey,

    ich finde, du hast sein Gefühlschaos gut beschrieben, als die Jungs ihn fertig machen. Dass er Sessilia nicht hilft und sie im Gegenteil alleine und weinend in der Kammer zurück lässt, finde ich allerdings schon krass. Ganz nebenbei: Nachdem sie den Faustschlag abbekommt, könnte sie noch irgendeine Reaktion zeigen...einen verächtlichen Blick oder irgendwas, bevor sie mit Richars abhaut. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das so einfach wegsteckt. Vor allem, weil sie vorher noch so kämpferisch war-was ich im Übrigen total gut fand.

    Vielleicht könnte der innere Kampf, den Richard mit sich austrägt am Ende noch deuticher werden, indem er sich auf Sessilia zubewegt und die Hand nach ihr ausstreckt, um sie zu trösten, (weil das eigentlich eine angemessene Reaktion gewesen wäre) doch dann rennt er wie in einer "Kurzschlussreaktion" davon....

    Was ich noch gefunden habe, packe ich in den Spoiler:

    Spoiler anzeigen


    Richard erreichte die schlichte, schmiedeeiserne Tür. Nichts an ihr ließ vermuten, dass dahinter ein solch schillerndes Geheimnis versteckt lag. Er zog die schwere Tür auf und schlüpfte durch den Spalt, hinein in ein Meer aus funkelndem Licht. Die Tür fiel hinter ihm zu.

    Wiederholung


    Das Gesicht des Candidatus verreit Anspannung,

    verriet


    du bist der letzte, der den Wirt an dem Abend gesehen hat

    Letzte


    Welcher Kast gehörst du an, Mädchen?

    Kaste

    Viele Grüße,
    Rainbow

  • meinst du das mit dem Frust allgemein oder ist das nur auf Richard oder nur auf Sinister bezogen?

    Auf Sinister bezogen.

    Nun ist es jedoch so, dass die Frau wesentlich mehr an der Fortpflanzung beteiligt ist, da sie das Kind über neun Monde hinweg in ihrem Bauch trägt. Demnach bleibt ihr nicht gleich viel Energie für die Verstandesentwicklung übrig wie dem Mann.

    :rofl: Sehr nett!

    In gewissem Masse

    Maße... Aber ihr habt kein ß auf der schweizer Tastatur, wenn ich mich recht erinnere? Aber Masse und Maße sind doch zwei verschiedene Dinge... Hm...

    Welcher Kast gehörst du an

    Kaste

    Findet ihr Richards 'Rückfall' zu seinem unglücklichen, selbstverachtenden Ich etwas übertrieben?

    Nein. Sowas überwindet man nicht mal eben. Man verdrängt es vielleicht, aber dann kommt ein Trigger, wie du ihn hier beschreibst und es bricht stärker denn je hervor. Es ist erschreckend realistisch und traurig. Arme Leute, blöder Sinister! Aber Phantasie hast du! Diese Welt ist einfach super durchdacht.

  • Hallo @Windweber

    Suuper, dass es realistisch rüberkommt. Dann baue ich noch Rainbows Kommentare ein, dann kommts gut.
    Wie ist das mit dem Mass/Maß? Was ist nun was?
    Mass im sinne von Masseinheit und Mass im sinne von Masse, massig, viel Gewicht?
    Das mit Sinister hast du ja gut erraten :D

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
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    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Maß ist eine Einheit zum Messen. Das rechte Maß - die richtige Menge und so. Masse ist so was wie das Gewicht eines Gegenstandes. Maß hat ein langes, Masse ein kurzes a. Aber wenn du kein schwarfes S hast, ist das ohnehin egal. Man versteht es ja, ich bin nur kurz darüber gestolpert. :)

  • Richard, Abreise (566 n. Rh.)
    Richard wurde sanft geweckt. Er blickte in das freundliche Gesicht seines Lehrers. Wie schön, dachte er zufrieden.
    „Was schläfst du denn mitten am Tag? Ich habe dich nicht in der Messe gesehen“, sagte Samuel. Es war keine Rüge, denn er lächelte verschmitzt.
    Doch mit dem Suchen nach einer Antwort stolperte Richard auch wieder über die Geschehnisse im Kristallgarten und noch schlimmer, was danach geschehen war. Er hatte Sessilia allein zurückgelassen, nachdem sie ihn so mutig beschützt hatte! Richard begann zu zittern. Auch Samuel durfte ihm nicht zu nahe kommen. Ich bin ein Vermittler des Todes!
    „Na, na, was ist denn passiert?“, fragte Samuel und unter dem liebevollen Blick seines Lehrers schmolz sein Wille sich abzuwenden dahin. Schluchzend suchte er Zuflucht in Samuels Armen. Er krallte sich an seinem weißen Gewand fest. Wie ein kleines, hilfloses Kind! Doch er konnte nicht mehr. Schon seit er hier war hatte er die Ablehnung vieler Novizen gespürt. Schon die ganze Zeit hatte er sich gefragt, was er hier verloren hatte. Wie habe ich ernsthaft in Erwägung ziehen können, das Sternenkind zu sein? Wie arrogant ich war! Und nun habe ich auch noch Sessilia mit hineingezogen.
    „Ich muss weggehen“, schluchzte Richard, doch nun in den schützenden Armen seines Lehrers klang er nicht mehr so überzeugt.
    Samuel gluckste vergnügt. „Das stimmt wohl.“
    Überrascht blickte Richard zu seinem Lehrer hoch. Wusste er es bereits? Dass er durchgefallen war? Dass Vater Justus ihn wegschickte? Oder hatte er schon die ganze Zeit von der Prüfung gewusst? Oder noch schlimmer. Wusste er gar, was in ihm war? Wusste er um sein Geheimnis?
    „Was schaust du mich so schockiert an? Wir müssen schon bald los. Ach, ich habe es dir noch gar nicht gesagt. Wir können früher gehen als geplant. So wie es aussieht ist es auch bitter nötig, Agmen scheint ziemliche Schwierigkeiten zu haben. Wir werden schon bald aufbrechen.“
    Richards Gedanken wirbelten wild durcheinander, er hatte die Reise gänzlich vergessen. Aber vielleicht war dies seine Gelegenheit. Wenn er mitging, konnte er im richtigen Moment untertauchen. Und dann? Irgendwohin. Oder sterben? Vielleicht.
    Samuel setzte sich zu Richard aufs Bett. „Erzähl mir, was passiert ist.“ Der Spaß war aus seiner Stimme verschwunden, nun klang er ernst. Richard öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Wusste Samuel etwa doch nicht von Vater Justus‘ Entscheidung? War er etwa gar anderer Meinung? Richard schüttelte entschieden den Kopf. Ich biege mir schon wieder alles hin! Es geht nicht darum, ob ich durchgefallen bin oder nicht. Es geht darum, dass ich ein Unglücksbringer bin. Sogar Sessilia habe ich mit meinem Unglück angesteckt. „Es ist nichts“, sagte er kleinlaut. Er wischte sich die Tränen vom Gesicht. Nun schämte er sich, dass er so schwach war und vor Samuel geweint hatte, schon wieder.
    Samuel seufzte tief. „Wie soll ich dich unterrichten, wenn du mir nicht erzählst, was in dir vorgeht?“
    Doch Richard blieb stumm.
    „Was du auch ausgefressen hast, ich werde nicht böse. Bin ich je wütend geworden, Richard?“
    Richard schüttelte den Kopf.
    „Na also. Erzähl es mir, ich bitte dich. Erzähl mir, was dich bedrückt.“
    Sie sterben, alle sterben und lassen mich allein. Er merkte, wie er sich von seinen Gefühlen zu distanzieren begann. Er fühlte sich nicht mehr wirklich anwesend, eher wie ein Zuschauer. Er war froh darum, so fiel es ihm einfacher, alles zu erzählen. „Mutter starb, als Edwin zur Welt kam“, begann Richard mechanisch, tonlos. „Dann starb Vater im Sumpf. Onkel Johann starb kurz darauf an einer Krankheit. Edwin als nächstes. Ich habe ihn nicht beschützt. Aber das wäre meine Aufgabe gewesen. Ich habe ihn allein gelassen. Dann Onkel Theodor. Und nun bin ich hier und Sessilia…“ Er brach ab und presste die Lippen zusammen. Nun würde Samuel erkennen. Und er würde nicht zögern, ihn zu verstoßen. Vielleicht war es das Beste so. Er musste von allen verlassen werden oder selbst derjenige sein, der alle verließ. Wenn das sein Schicksal war, dann musste er es annehmen.
    „Du hast viel Schweres durchgemacht. Doch nun bist du hier, es wird dir nichts geschehen.“
    Nein, er versteht nicht! Mit voller Wucht waren die Gefühle wieder da. Er muss es verstehen! „Aber es geht nicht um mich! Ich bin das Problem! Ich bin ein Vorbote des Todes!“, stieß er heftig hervor.
    „Wie kommst du auf so etwas? Weil du miterleben musstest, dass viele Menschen, die dir nahe standen gestorben sind? Hast du denn nichts gelernt? Habe ich dir denn nicht die Grundlagen des Karmas beigebracht?“
    „Ja doch, aber ich…“, setzte Richard an, doch Samuel gebot ihm mit einer Handbewegung zu schweigen.
    „Diese Idee von dir ist zu egozentrisch“, begann Samuel streng. „Wir Menschen verfallen gerne in diese sehr eingeschränkte Sichtweise und glauben, wir seien der Nabel der Welt. Verwirf diese Vorstellung wieder, augenblicklich.“ Der Blick seines Lehrers war ernst und eindringlich. „Du bist nicht verantwortlich für das Leben oder das Sterben anderer Menschen.“
    „Aber- „
    „Kein Aber.“
    Richard nickte.
    „Na also.“
    „Ich habe Edwin nicht beschützt. Ich war zu feige. Ich habe es nicht gewagt, ihn in der Dunkelheit zu suchen. Nicht während diese Männer da waren. Ich hatte viel zu viel Angst um mein eigenes Leben. Dabei wäre es besser gewesen, wenn ich –„ Hoffnung begann sich in sein Herz zu schleichen. Vielleicht konnte Samuel ihm einen Rat geben, ihn irgendwie von dieser Last befreien.
    „Du tust den Göttern und allen anderen Wesen Unrecht, wenn du glaubst, es sei um dich besser bestellt, wenn du tot wärest. Die Welt ist nicht einfach schwarz, Richard. Sie ist die Schöpfung der Götter. Die Gnade der Geistwesen. Hier wird uns die Möglichkeit gegeben, uns zu entwickeln und aus unserer Unvollständigkeit zu entkommen. Unser Leben ist ein Geschenk, welches wir in jedem Moment schätzen sollten.“
    Richard ließ den Kopf hängen. Er wusste es ja. Und er war auch dankbar dafür, dass er von Samuel lernen durfte, dass er hier hatte Freunde finden können. Aber durfte er wirklich glücklich sein?
    „Wie kann ich wissen, dass ich das Glück verdiene?“, fragte er verzweifelt.
    „Wir sind nicht in erster Linie hier, um zu leiden. Natürlich lernen wir viel, gerade aus den schweren Zeiten. Aber auch die glücklichen Zeiten gehören zum Leben. Und überleg einmal, was würde es der Entwicklung der Erde und der Menschheit nützen, wenn du dich der Hoffnungslosigkeit hingibst? Der Plan der Götterwesen ist ein wunderbares Werk voller Licht, Hoffnung und Freude. Mit Trostlosigkeit und Selbstvorwürfen wirst du nicht dazu beitragen können.“
    „Weshalb bin ich hier?“, fragte Richard. „Weshalb habt ihr mich aus dem Gefängnis hierher geholt?“
    „Lerne zu vertrauen. Alles hat einen Sinn. Du wirst die Antwort auf deine Fragen noch früh genug finden.“
    Richard atmete tief ein und wieder aus. Samuel hatte ihm schon wieder keine richtige Antwort auf seine Frage gegeben. Weshalb bin ich hier? Ist es wirklich in Ordnung für mich, hier zu sein? Was, wenn Samuel plötzlich… „Aber Edwin.“
    „Glaubst du, Edwin wäre glücklich darüber, dich so leiden zu sehen? Er hätte auch nicht gewollt, dass du mit ihm stirbst.“
    Nein, Edwin war zu rein und zu gut, er würde niemanden leiden sehen wollen. Aber ich habe es verdient, zu leiden.
    „Was denkst du gerade, Richard?“
    Richard fühlte sich wie ein kleines Kind, das bei etwas Verbotenem ertappt wurde. „Ich habe gedacht, dass ich es verdient habe.“
    „Was verdient?“
    „Das Leiden“, antwortete er schuldbewusst.
    Wieder seufzte Samuel. „Daran werden wir wohl noch lange arbeiten müssen. Solche Gedanken sind sinnlos und sogar äußerst zerstörerisch. Du musst lernen, die Schönheit und den unglaublichen Wert deiner Existenz er erkennen. Ich habe eine neue Aufgabe für dich.“ Richard blickte seinen Lehrer an. Was konnte es sein, das er ihm auftrug? Konnte es sein, dass er seine Sünde wieder gutmachen konnte? „Auf unserer Reise konzentrierst du dich ganz auf deine Gedanken. Dort fängt alles an. Beobachte, wie negative Gedanken negative Gefühle in dir auslösen. Und wie positive Gedanken positive Gefühle in dir wachrufen. Für alles Negative sollst du zehn positive Dinge finden. Konzentriere dich ganz auf diese Aufgabe.“ Damit hatte er nicht gerechnet. Hatte er ihm nicht zugehört? „Und noch etwas. Jeder Mensch ist unglaublich wertvoll. Keiner ist mehr oder weniger wert als ein anderer. Du eingeschlossen. Unendlich wertvoll.“ Samuel erhob sich. „Wir sprechen später wieder darüber, nachdem du eine Weile geübt hast. Nun muss ich die letzten Vorbereitungen treffen. In einer Stunde komme ich dich holen. Sieh zu, dass du bis dann bereit bist.“ Er stand bereits bei der Tür, doch da fiel Richard noch etwas ein.
    „Samuel!“
    „Ja?“
    „Es ist schon wieder passiert.“ Samuel wartete geduldig, bis er weitersprach. „Ich habe Sessilia im Stich gelassen. Wie Edwin. Ich habe mich überhaupt nicht verändert.“
    „Ich weiß zwar nicht genau, was passiert ist, aber falls du in so einer Situation wirklich anders reagieren möchtest, dann musst du eine mentale Übung daraus machen. Nimm es dir vor, Richard. Präge es dir ganz fest ein. Das nächste Mal, wenn du in die Situation kommst, für einen anderen Menschen einzustehen, wirst du nicht zögern. Du wirst nicht an dich denken, sondern handeln.“ Er schwieg einen Moment. „Aber weißt du, manchmal ist es auch gut, nicht zu handeln. Du solltest dich auch nicht unnötig in Gefahr bringen.“
    Richard nickte. Beim nächsten Mal!

    Richard warf den Pferden einen unsicheren Blick zu, dann bestieg er zum ersten Mal in seinem Leben eine Kutsche. Wenn alles gut ging, würden sie in weniger als einer Woche ankommen, hatte Samuel gesagt. Nun saß er seinem Lehrer gegenüber. Richard war noch nicht vollständig davon überzeugt, dass er es wagen konnte, weiter in der Gegenwart anderer Menschen zu sein, aber er war froh, dem Ducatus und den Blicken der Novizen entkommen zu sein. Nun konnte er seine ganze Zeit mit Samuel verbringen. Ohne Störungen und Pflichten.
    „Du denkst wohl gerade an etwas Gutes?“, bemerkte sein Lehrer erfreut.
    Richard wurde rot, er nickte. Er hätte es gar nicht bemerkt, wenn Samuel nichts gesagt hätte, aber ein zartes Glücksgefühl hatte sich in seiner Brust bemerkbar gemacht. Mit Samuel allein.
    Die Kutsche setzte sich in Bewegung. Richard hielt sich an der Sitzbank fest. Es holperte ordentlich.
    „Ah, was für ein Gerumpel“, lachte Samuel. „Deshalb bevorzuge ich es, zu Fuß zu gehen.“
    Richard sah aus dem Fenster, vor dem die Stadt vorüberzog. Es war ein regnerischer Tag und die meisten Bewohner befanden sich in den Häusern oder hasteten von einem Unterstand zum nächsten.
    Nun war er endlich draußen und es regnete. Erwischt, dachte er.
    „Wie kann man positiv über den Regen denken?“, fragte Richard.
    Ohne zu zögern antwortete Samuel: „Wasser ist Leben. Ohne würden wir alle, Pflanzen und Tiere verdursten. Wir sollten dankbar sein für den Regen, der auf unsere Äcker fällt. Ah, Richard, ich habe etwas für dich machen lassen.“ Samuel zog einen Stein an einem Band aus seinem Gewand und hielt ihn Richard entgegen. „Dieser Stein wird dich auf der Reise beschützen. Trag ihn immer direkt auf der Haut.“
    Richard nahm den Stein entgegen. Er war durchsichtig, feine Adern zogen sich durch ihn und er leuchtete ganz schwach. Als er ihn berührte, bemerkte Richard, dass er warm war. „Danke“, murmelte er und legte sich den Stein um den Hals. Wovor er mich wohl beschützen soll? Vor mir selbst?
    Als sie Caput verlassen hatten, blickte Richard noch einmal zurück. Ich habe mich nicht einmal von meinen Freunden verabschiedet. Auch nicht von Sessilia. Er hatte sich aufgemacht, um sie zu suchen, hatte sie aber nirgends finden können. Ein Teil von ihm war froh, ihr nicht begegnet zu sein, aus Angst. Doch ein weitaus größerer Teil wünschte sich Vergebung. Das schlechte Gewissen nagte an ihm und ließ ihn nicht in Ruhe. Aber vielleicht war es auch besser so, vielleicht wäre es besser, er würde nicht zurückkehren. Ob sie mir vergeben wird?

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

    Einmal editiert, zuletzt von RenLi (13. September 2017 um 17:19)

  • Sooo, macht euch auf was gefasst. von nun an wirds für eine Weile ein bisschen düsterer ;(:evil::saint:

    Richard, der Dämon von Aper (566 n. Rh.)
    Die Landschaft im westlichen Teil des Landes war wesentlich karger als in der Umgebung der Stadt. Es gab weniger Felder und die Dörfer lagen weiter auseinander. Samuel erklärte Richard, dass es hier trockener war und die Böden weniger fruchtbar. Die Menschen hier führten ein hartes Leben. Wann immer sie eine Siedlung erreichten scharten sich Menschen um sie, sobald sie Samuel erblickten. Sie alle wollten von Samuel gesegnet werden, ihn berühren oder einfach kurz mit ihm sprechen.
    „Weshalb sind die Menschen hier so anders als in der Nähe von Caput?“, wollte Richard wissen.
    „Es sind sehr gläubige Menschen, die viel Schweres durchleiden müssen. Das Land um Caput ist reich beschenkt mit guter Ernte und die Menschen werden durch die Gnosis beschützt. Aber je weiter entfernt von der Hauptstadt, desto geringer wird die Macht der Kirche. Deshalb fürchten sich die Menschen hier mehr.“
    „Wovor fürchten sie sich?“
    „Vor Wegelagerer, Banditen, Krankheiten, Waldbränden, wilden Tieren. Vor allem Möglichen.“
    „Bauen sie deshalb Palisaden um ihre Siedlungen?“
    Samuel nickte. „Ihre Behausungen können sie auf diese Weise schützen. Aber die Felder liegen trotzdem offen da.“
    In der Zeit, in der sie zusammen in der Kutsche saßen, erzählte Samuel seinem Schüler von den Zeiten nach Rhamnus‘ Erscheinung, in welchen die Menschen ohne die Furcht vor Dämonen und Unheil hatten leben können. „Er hat die Menschen und das Land gereinigt. Deshalb gab es noch viele Jahre nach seinem Tod keine Krankheiten in diesem Land.“
    „Was sind Dämonen, ich habe von ihnen im Buch über das Leben von Rhamnus gelesen.“
    „Es sind geistige Wesen, die ihren Weg verloren haben. Sie sind in die Dunkelheit gefallen und wo auch immer sie hingehen, verbreiten sie Zwietracht und Krankheiten. Sie machen die Menschen, Tiere, Pflanzen und die Erde selbst krank. Bis auch sie zu Dämonen werden.“
    „Und da wo wir hingehen, dort gibt es Dämonen?“
    „Deshalb hat der Vater mich dahin geschickt. Bereits als Kind bin ich zum ersten Mal einem Dämon begegnet. Es scheint meine Aufgabe zu sein, mich um diese Geschöpfe zu kümmern.“
    „Ist es gefährlich?“
    „Natürlich. Wie schon gesagt, kannst du dich selbst verlieren, wenn du einem Dämon begegnest. Wenn du nicht wachsam bist, dann manipuliert er deine Gedanken. Er nährt die Dunkelheit in dir, bis du von ihr verschlungen wirst. Aber mach dir keine Sorgen. Praktiziere einfach weiter die Licht-Werdung und bete das Schutzgebet. Die Welt ist erfüllt von Lichtwesen, sie werden dich beschützen, wenn du es zulässt. Außerdem bin ich bei dir.“
    Es war erstaunlich. Seit sie unterwegs waren, fühlte sich Richard merklich besser. Zwar schmerzten seine Glieder vom Reisen in der Kutsche, abends fühlte er sich steif und ungelenk, wenn sie endlich in einem Dorf für die Nacht Halt machten, aber das war unwichtig. Sie waren unterwegs, er und Samuel. Alles andere ließ er hinter sich. Schließlich hatte er auf diese Reise gehen wollen, um seine Gedanken zu klären und etwas Abstand zu allem zu bekommen. Es fiel ihm wieder leichter, seine Übungen zu machen. Langsam gelang es Richard, sich so weit zu öffnen, dass das göttliche Licht in seinen Körper eindringen und sich ausbreiten konnte. Das freute ihn, denn es reinigte ihn und erfüllte ihn mit Frieden. Wenn er nun daran zurückdachte, wie sehr er durch den Wind gewesen war, als Sinister und die anderen ihn im diamantenen Garten bedroht hatten, kam er sich lächerlich vor. Er wusste nicht einmal, ob sie die Wahrheit gesagt hatten, aber solange Samuel bei ihm war, würde ihm nichts geschehen. Er hätte nicht an seinem Lehrer zweifeln dürfen. Und ein Mörder bin ich nicht, dachte er so entschieden wie möglich.
    Die Kutsche hielt an. Richard sah aus dem Fenster. Das nächste Dorf lag noch ein gutes Stück weit entfernt. Der Kutscher öffnete die Luke und schaute zu ihnen ins Wageninnere. „Hier muss vor Kurzem ein Unwetter getobt haben, Vater Samuel. Umgestürzte Bäume versperren den Weg.“
    Samuel und Richard steigen aus. Es lagen tatsächlich zwei mächtige Bäume auf der Straße, der Stamm des einen war gespalten, ein Teil völlig zersplittert. „Wir sind nun nicht mehr weit von Agmens Dorf entfernt“, sagte Samuel. „Ich bezweifle, dass das ein Unwetter war.“
    Der Kutscher führte die Pferde um die Bäume herum, danach stiegen sie wieder ein, um die Reise auf der Straße fortzusetzen. „Von nun an müssen wir Wachsam sein. Bleib dicht bei mir, wenn wir ins Dorf da vorne kommen. Es ist zwar noch etwas früh, aber wir werden diese Nacht in Aper verbringen und erst am nächsten Morgen weiter zu Agmen nach Pulvis fahren.“
    Richard nickte und begann das Schutzgebet in seinen Gedanken zu rezitieren. Sofort wurde ihm lichter zumute.
    Sie erreichten die Palisaden, die das Dorf einfassten. Ein Mann stand oberhalb des Tores und schaute misstrauisch auf die Kutsche hinunter. Samuel stieg aus und bat um Einlass. „Seid Ihr ein Priester?“, rief dieser nach unten.
    „Ich bin Vater Samuel, Priester der Gnosis.“
    Der Mann verschwand außer Sichtweite und schon hörte man ihn rufen: „Es ist ein Priester gekommen!“ Das Läuten einer Glocke war zu hören, dann öffnete sich das Tor. „Ein Priester der Gnosis!“, schrie der Mann und wieder ertönte das Läuten.
    Als sie das Dorf Aper betraten, strömten bereits viele Menschen herbei. Sie umringten die Kutsche und drängten zu Samuel hin. Richard war froh, in der Kutsche geblieben zu sein, denn die Menschen waren außer sich und redeten wild durcheinander auf den Priester ein.
    „Herr, der Eber!“
    „Die ganze Ernte ist dahin!“
    „Er tyrannisiert alle, die auf den Feldern arbeiten wollen.“
    „Mein Cousin wurde verletzt! Das Ungeheuer hat ihn niedergetrampelt.“
    Richard war beeindruckt, dass Samuel bei dem ganzen Durcheinander die Ruhe bewahren konnte. In der Kutsche gerade eben hatte man ihm seine Müdigkeit noch allzu gut anmerken können, doch nun nahm er sich für die Menschen Zeit und hörte ihnen aufmerksam zu.
    „Wo hat man den Eber zuletzt gesehen?“, fragte Samuel.
    Schon redeten alle durcheinander.
    „Am Waldrand!“
    „Nein, bei der Wasserstelle!“
    „Ich schwöre, ich habe ihn gestern Nacht an der Palisade entlangschleichen sehen!“
    Samuel hob beschwichtigend die Hände. „Könnt ihr mir die verwüsteten Stellen zeigen?“
    „Man sieht sie von weitem!“
    „Er hat alles zunichte gemacht!“
    Die aufgeregten Leute führten Samuel zur Palisade und dort eine Leiter hinauf zu einer Aussichtsplattform. Richard wagte sich aus der Kutsche und blieb etwas abseits neben dem Kutscher stehen. Die Menschen schenkten ihm keinerlei Beachtung. Er sah zu, wie die Leute wild gestikulierend durcheinander redeten, schrien, bisweilen einander gar an den Kragen packten. Wie die Tiere, dachte Richard. Sie können nicht mehr richtig urteilen. Weshalb? Sie haben Angst.
    Samuel kam die Leiter wieder heruntergeklettert. Er richtete sich an die Dorfbewohner. „Ich werde euch helfen.“ Augenblicklich trat Stille ein. „Wenn ich mich nicht täusche, dann ist der Eber von einem Dämon besessen. Kein normales Tier würde solch eine Verwüstung anrichten.“
    Ein Raunen ging durch die Menschen. „Was können wir tun, Vater? Wir beten schon seit Tagen. Selbst Opfer haben wir dargebracht.“
    Samuels Brauen zogen sich zusammen. „Zeigt mir die Opfer, die ihr gemacht habt. Und erzählt mir, was geschehen ist, bevor der Eber in eurer Gegend aufgetaucht ist.“ Die Menschen wollten ihn schon mit sich ziehen, da wandte sich Samuel an Richard. „Komm her, Richard.“ Richard erinnerte sich daran, dass er bei Samuel bleiben sollte und beeilte sich, an dessen Seite zu kommen. Die Dorfbewohner ließen ihn durch, doch ihre Blicke schienen ihn zu durchlöchern. Wahrscheinlich gab er keine sonderlich beeindruckende Figur ab, so hager und klein wie er war. Sicherlich fragten sie sich, weshalb einer wie er mit dem hochwürdigen Priester unterwegs war. „Was habe ich dir übers Denken gesagt?“, murmelte Samuel mahnend.
    Richard biss sich auf die Lippe. „Entschuldige.“
    Der Priester wandte sich wieder an die Menschen. „Gut, führt uns zu der Opferstätte“, gebot Samuel.
    Die Menge setzte sich in Bewegung und die Menschen führten sie zu einer kleinen Kapelle in der Dorfmitte. Auf dem Platz davor hatte man einen Tisch aufgebaut. Richard graute vor dem Anblick. Mit Opfer hatten sie wohl Tiere gemeint, denn der Tisch und der Boden waren von dunklem Blut getränkt. Samuel trat an den Tisch heran. „Aus welchen Schriften habt ihr die Anleitung zu den Opferungen entnommen?“, wollte Samuel wissen.
    Dem Mann, den er angesprochen hatte, war die Frage sichtlich unangenehm. „Wir haben nur getan, was üblich ist“, verteidigte er sich. „Es ist seit jeher bekannt, dass man böse Geister mit Blutopfern besänftigen kann.“
    Einige nickten zustimmend.
    „Gibt es denn keinen Priester hier?“, fragte Samuel weiter.
    „Nein. Nur im Nachbardorf. Ein halber Junge, wie man hört. Seiner Aufgabe nicht ganz gewachsen“, murrte er.
    Eine Frau stieß ihn ärgerlich an. „Wir sind froh, nun Euch hier zu haben, Vater. Wir bitten Euch, helft uns den Dämon zu vertreiben.“
    Samuel hakte nach: „Sprecht Ihr von Vater Agmen? Er wurde erst vor Kurzen zum Priester geweiht und hat anschließend eine Stellung im Dorf Pulvis angenommen.“
    Der Mann nickte. „Genau der. Doch seither ist da oben die Hölle los. Aber darum kümmern können wir uns nicht. Eigene Probleme, wie Ihr seht, Vater.“
    „Zu Vater Agmen sind wir unterwegs. Ich würde später gerne Genaueres darüber erfahren, was dort vor sich geht.“ Der Mann verzog säuerlich sein Gesicht. „Aber nun zu diesem Altar hier. In den Schriften steht, dass die Menschen zur Zeit des heiligen Rhamnus ähnliche Praktiken vollzogen haben, weil sie mit Dämonen aller Art zu kämpfen hatten. Doch mit seinem geistigen Auge erblickte Rhamnus wie die Dämonen sich an diesen Opfern labten und daran erstarken konnten. Noch mehr Unheil überkam die Menschen, welche diese Blutopfer dargebracht hatten.“
    „Unsinn! Die Götter haben zu uns gesprochen und uns den Auftrag jener Opfer erteilt!“, rief ein alter Mann mit brüchiger Stimme. Die Menschen wichen zurück und ließen ihn zum Altar vortreten. „Dieses Blut beschwichtigt die bösen Mächte! Ohne hätte der Eber längst eine Bresche in die Palisaden geschlagen!“ Der Mann gestikulierte wild und klopfte mit seiner knorrigen Hand auf den Holztisch. Wahnsinn leuchtete in seinen Augen. „Er vermag es die Erde aufzureißen, Bäume durch die Luft zu schleudern und der Fluss wird zu seinem giftigen, stinkenden Rinnsal, wenn er das Wasser berührt!“
    Samuel blieb ruhig. „Wisst ihr, weshalb sich die Priester der Gnosis fleischlos ernähren?“
    Die Frage schien den Alten zu überraschen. „Woher soll ich das wissen? Interessiert mich nicht, was euresgleichen isst“, knurrte er. „Und den Dämon kümmert es nicht!“
    „Alle, die sich dem göttlichen Wege verschreiben verzichten auf den Verzehr von Fleisch, weil alle Tiere unsere Brüder und Schwestern im Geiste sind. Sie mögen sich auf einer niederen Entwicklungsstufe befinden, doch sind sie ebenso fühlende Wesen wie wir. Wer dies erkennt, der wird Mitleid mit allen Kreaturen dieser Erde haben. Daran, wie wir mit unseren Tieren umgehen, erkennt man die Reinheit der Seele eines Menschen.“
    „Ihr würdet auch Fleisch essen, wenn Ihr in dieser unwirtlichen Gegend leben müsstet. Wir sind nicht mit so viel guter Erde beschenkt wie ihr in der Hauptstadt“, entgegnete der Alte mürrisch.
    „Lass gut sein, Väterchen. Es ist nicht ratsam, gegen einen Priester zu sprechen“, sagte eine Frau, die sich neben den Alten gestellt hatte.
    „Von solchen Dingen verstehst du nichts, Weib. Ich spreche, wie es mir gefällt! Was würdet Ihr essen, Priester, wenn ihr neben euren Ziegen nichts hättet? Würdet Ihr eher sterben, als eine zu schlachten?“
    „Selbstverständlich gibt es Situationen, in denen der Verzehr von Fleisch nicht zu vermeiden ist. Daran ist nichts Verwerfliches. Aber meistens gibt es andere Wege. Und dies hier.“ Samuel deutete auf den Altar. „Besser wäre es gewesen, sie zu essen, auch wenn niemandes Leben von ihrem Fleisch abhängt. Es schmerz die Götter, eine solche sinnlose Tötung mitansehen zu müssen. Sie weinen um die armen Geschöpfe. Und noch mehr weinen sie um die Menschen, die mit ihren Taten sich selbst beflecken.“
    „Was können wir tun, Vater?“, flehten die Menschen.
    „Hilf uns!“
    „Hört nicht auf ihn! Er ist ein Verrückter! Woher will er wissen, was die Götter denken?!“, tobte der Alte.
    „Ach halt‘s Maul!“, rief jemand.
    „Wir denken nicht wie er, Vater. Wir wollen Busse tun, um unser Vergehen wieder gut zu machen.“
    „Er hat uns verführt! Er hat uns angelogen und gesagt, die Götter hätten zu ihm gesprochen!“
    „Es ist die Wahrheit!“
    „Soll er eine Woche lang nur noch Blut trinken! Dann sieht er, was er von seinen Opfern hat!“
    „Ruhe!“, donnerte Samuel. Richard hatte seinen Lehrer noch nie mit solch lauter Stimme sprechen hören. Es ging ihm durch Mark und Bein und alle waren augenblicklich still und schauten ihn gebannt an.
    „Wie könnt ihr in Erwägung ziehen, diesem Mann Schaden zuzufügen? Seht ihr nicht ein, dass dies ein noch viel schlimmeres Vergehen wäre? Schadet euch nicht noch mehr, als ihr es ohnehin schon getan habt!“
    „Sagt uns, was wir tun können, Vater! Wir sind blind und taub gegenüber den Worten der Götter. Erleuchtet uns!“
    „Wer rein ist im Geiste und in der Seele, den werden die Dämonen nicht berühren können. Geht hinaus und sammelt weiße Blüten. Denn sie sind unberührt und rein. Pflückt sie mit Respekt und mit aufrichtiger Reue für eure Taten. Doch vergesst nicht, dass auch die Pflanzen Kinder der Götter sind. Betet jedes Mal, bevor ihr eine Blume an euch nehmt, das Dankesgebet. Dann bringt die Blüten hierher und legt sie auf den Altar.“
    „Wird das die Dämonen vertreiben, Herr?“, wollten sie hoffnungsvoll wissen.
    „Dies ist der erste Schritt. Nun, bevor ihr geht, legt die Hände aneinander zum Gebet. Wir wollen gemeinsam das Dankesgebet sprechen.“
    Die Menschen taten wie geheißen. Auch Richard legte die Handflächen aneinander. Gemeinsam sprachen sie. Es wurde nur zu deutlich, dass die meisten den korrekten Wortlaut des Gebetes nicht kannten. Deshalb wiederholten sie das Gebet noch mehrere Male, bis der Chor der Stimme voll und sicher erklang. Erst jetzt fiel Richard auf, dass der Alte nicht mehr unter ihnen war. Er wollte Samuel darauf aufmerksam machen, doch dieser war bereits wieder umringt von Menschen, die auf ihn einredeten.
    „Vater, was ist mit dem Eber? Wenn wir nach draußen gehen, sind wir ihm schutzlos ausgeliefert.“
    „Ihr habt ihn mit euren Gedanken und Taten genährt. Nur durch euch konnte er so stark werden, wie er es nun ist. Worüber also klagt ihr? Stellt euch euren Ängsten, nur so könnt ihr sie überwinden.“
    Eine Frau brach in Tränen aus. „Er wird uns töten!“
    Samuel schritt auf sie zu und legte eine Hand auf ihr Haupt. „Wer mit aufrichtiger Reue hinausgeht, dem wird nichts geschehen. Reinigt eure Herzen. Ich werde mit euch gehen und den Dämon fernhalten.“
    Die Frau warf sich schluchzend vor ihm nieder. „Der Himmel hat uns einen Heiligen geschickt!“
    „Steht auf, in jedem Wesen ist das Heil vorhanden. Ich bin kein Heiliger, ebenso wenig wie ihr es seid. Doch werde ich tun, was in meiner Macht steht, um euch zu helfen. Die Götter werden uns beistehen.“
    Samuel sah sich nach Richard um, er winkte ihn zu sich und nahm ihn bei der Hand. „Lass uns hinausgehen.“
    Mit Samuel und Richard an der Spitze gingen sie zum Tor zurück. Dort stand noch immer der Kutscher mit dem Wagen und den davor gespannten Pferden. Er schaute unsicher zu Samuel, die Hand in der Mähne eines Pferdes vergraben. Samuel wies ihn an, die Pferde abzuschirren. Einer der Dorfbewohner erklärte sich bereit, sie in seinem Stall unterzubringen. Eines jedoch behielt Samuel bei sich. Er nahm es am Zügel.
    So zogen sie hinaus in das karge Land. „Kannst du reiten, Richard?“
    „Nein“, antwortete Richard unsicher. Pferde waren ihm nicht geheuer. In seiner Kindheit hatte er zwar öfter welche gesehen, da die Händler meist mit Pferden oder Mauleseln unterwegs waren, doch er hatte sich stets von den großen Tieren ferngehalten.
    „Nun, es ist nicht so schwierig.“
    „Soll ich etwa alleine reiten?“, fragte Richard.
    „Nein, ich werde hinter dir sitzen.“ Samuel half ihm, auf das Pferd zu steigen. Richard war sich sicher, dass er sich geweigert hätte, hätte ihn irgendjemand anderes dazu aufgefordert, aber der Anweisung seines Lehrers musste er Folge leisten. Nicht, dass Samuel ihn je zu etwas gezwungen hatte. Aber Richard vertraute ihm, bei ihm fühlte er sich sicher. Also ließ er sich auf das Pferd helfen. Samuel schwang sich hinter ihm in den Sattel und ergriff die Zügel. „Bleibt nahe beieinander. Ich möchte euch und die Umgebung im Blick haben können“, ordnete Samuel an. „Und vergesst nicht, das Dankesgebet zu sprechen.“
    Die Dorfbewohner gingen los, über die karge Ebene hinweg. Ob es hier überhaupt Blumen gibt?, fragte sich Richard. Da sah er, wie sich die ersten bereits niederknieten, die Hände aneinander legten und innehielten um das Gebet zu sprechen.
    Nervös blickte Richard sich um. Er konnte nirgends ein Ungeheuer entdecken, doch nun sah er die Zerstörung, die es angerichtet hatte. Ganze Felder, wo vorher Hirse oder Mais gestanden hatte, waren verwüstet, die Erde umgewühlt, die Pflanzen zertrampelt. Mehrere Bäume lagen quer oder waren zertrümmert wie jene auf der Straße. Das Tier musste unglaubliche Kraft besitzen. Richard wurde etwas mulmig zumute und war froh, dass er mit Samuel auf dem Pferd saß. Aber all die Menschen. Kein Wunder fürchteten sie sich.
    „Der Eber ist von einem Dämon besessen, Richard. Sollte er auftauchen, dann ist es unsere Aufgabe, die Menschen zu beschützen.“
    „Wie“, stotterte Richard. „Was können wir tun?“
    „Sammle deinen Geist. Er ist deine mächtigste Waffe. Ich hoffe, du hast die Meditation des göttlichen Lichtes gut geübt.“
    Richards Nervosität stieg an. Er hatte seinem Lehrer nicht erzählt, wie viel Mühe ihm die Übungen vor ihrer Abreise bereitet hatten. Erst seit Kurzem hatte er damit wieder Erfolg gehabt. „Dies ist nun deine erste Lektion im Gebrauch von Magie. Schließe für einen Moment die Augen. Stell dir vor, dass das Licht unzähliger göttlicher Wesen durch deine Schädeldecke in dein Inneres fließt.“
    Richards Herzschlag beschleunigte sich, als er der Anweisung Samuels folgte. Magie, würde er tatsächlich Magie wirken können? Er stellte sich das göttliche Licht vor, wie es auf ihn schien und in ihn eindrang. „Es ist rein und klar. Spüre, wie es sich in deinem Körper ausbreitet. Spüre, wie es dich öffnet und schwerelos macht.“
    Richard versuchte, es sich vorzustellen. Er begleitete das Licht durch den Kopf und Hals, in die Schultern, den Brustkorb. Dort breitete es sich aus, sein Herz weitete sich. Das Licht schien weiter, hinab in den Bauch, in die Arme und Beine.
    „Wenn dein ganzer Körper erfüllt ist von dem Licht und dein Atem ganz still geworden ist, dann öffne langsam deine Augen. Ohne die Verbindung mit dem Licht zu verlieren.“
    Richard beobachtete seinen Atem. Er war ganz langsam und flach geworden, er konnte ihn kaum noch wahrnehmen. Wie einfach es war, wenn Samuel ihn begleitete. Während er die Augen öffnete, konzentrierte er sich weiterhin auf das Licht in seinem Innern. Schließlich waren seine Augen ganz geöffnet, doch er sah die Welt nicht wirklich, da sein Geist noch immer nach innen blickte. „Auf diese Weise kannst du dich mit der Magie, die um dich und in dir ist, verbinden. Die Kräfte eines einzelnen Menschen sind sehr klein und begrenzt. Doch die Natur und vor allem die höheren, geistigen Welten sind voller Energie. Diese kann von einem erfahrenen Magier genutzt werden. Das reine, klare Licht ist ein Symbol für diese Energie. Spürst du es?“
    Richard wagte es nicht, zu sprechen, da er fürchtete, die Verbindung zu verlieren, deshalb nickte er nur. „Bleibe in diesem Zustand. Was auch geschieht, erhalte den Kontakt zu dem Licht.“
    Samuel ritt voran. Richards Augen nahmen nun die Umgebung die wieder wahr, jedoch kam es ihm so vor, als blickte er durch die Augen eines anderen auf die Welt. Er sah alles, jedoch ohne einen Fokuspunkt wie es normalerweise der Fall gewesen wäre. Es fühlte sich so an, als würde die Welt an ihnen vorbeigleiten und nicht als würde er sich über die Erde hinwegbewegen. Er musste lachen. „Wie seltsam.“
    „Konzentrier dich“, ermahnte ihn Samuel. „Er kommt.“
    „Der Eber?“
    „Ja.“
    „Was soll ich tun?“
    „Bleib in dem Licht. Er ist ein Dämon, er wird sich unserer Seele und unseres Geistes bemächtigen wollen. Er macht sich deine Gedanken zu nutze. Wenn du keine Kontrolle über sie hast, wird er sie gegen dich richten. Aber solange du in dem Licht bist, bist du geschützt. Wenn du kannst, dann strahle das Licht auch auf die Dorfbewohner aus. So werden auch sie abgeschirmt werden.“
    Richards Herz beschleunigte sich wieder, eiskalter Schrecken durchfuhr ihn, als er erkannte, dass er die Verbindung zu dem Licht verloren hatte. Panisch suchte er mit den Augen den Waldrand ab, denn von daher vermutete er, dass der Eber sich ihnen nähern würden.
    „Versammelt euch hier!“, rief Samuel den Dorfbewohnern zu. „Passt auf, dass ihr die Blumen nicht beschädigt.“ Die Menschen kamen näher und legten die gesammelten Blumen in einen geflochtenen Weidekorb. Richard brach der Schweiß aus. Er schaffte es nicht, zurück ins Licht zu kommen. Der Gedanke an den Eber erfüllte seinen Geist und tränkte ihn mit Furcht. So war es unmöglich, die Reinheit und Klarheit des Lichtes zu spüren. „Richard, beruhig dich. Lass dich nicht von negativen Gedanken und Gefühlen einnehmen. Das verstärkt die Wirkung des Dämons.“ Samuel legte Richard eine Hand auf den Kopf und das Licht flutete zurück, durch seinen Körper. „Ich werde auch dich beschützen. Wenn ich nicht glauben würde, dass wir der Aufgabe gewachsen sind, hätte ich die Menschen nicht nach draußen geführt.“ An die Menschen gewandt sagte er: „Fasst euch an den Händen. Wir wollen gemeinsam das Gebet sprechen.“
    Die Dorfbewohner taten was er verlangte und bildeten eine lange Menschenkette. Samuel trieb das Pferd an, sodass er und Richard zwischen den Menschen und dem Wald standen.
    „Wir danken euch Engel und Götterwesen, die ihr uns beisteht, zu Lebzeiten und im Tode.“ Lautes Krachen, Knacken und Knirschen drang vom Wald her zu ihnen herüber. Es hörte sich an, als würde eine ganze Herde wilder Tiere sich einen Weg durch die Bäume bahnen, doch die Menschen beteten weiter: „Durch eure liebevolle Arbeit erhalten wir die Gelegenheit höher zu steigen. Wir danken euch Erde, Pflanzen und Tierwesen, die ihr euch geopfert habt, um uns eine Treppe zu bilden. Durch eure Resignation konnten wir erhöht werden. Wir danken euch ihr heiligen Eingeweihten, die ihr euch dem Weg der Erkenntnis verschrieben habt. Durch eure weise Führung werden wir auch in den schwersten Zeiten unseren Weg nicht verlieren.“
    Die Wipfel der Bäume bebten und schwankten. Ein Baum gab schließlich nach und fiel krachend auf die Erde. Richard erkannte einen schwarzen Schemen im Dunkel zwischen den Büschen. Das Tier kreischte fürchterlich. Ein Laut, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Richard presste sich die Hände auf die Ohren. Ich hätte nicht herkommen sollen! Dies ist das Ende! Der Eber wird uns alle töten. Oder er wird mich als einzigen am Leben lassen. Genau, so ist es! Er wird alle Dorfbewohner und am Ende Samuel töten und ich bin Schuld daran. Weil ich den Tod mit mir trage wie eine Seuche!
    „Richard!“ Er zuckte zusammen. Seine Gedanken hatten ihn völlig überrumpelt! „Wiederholt das Gebet!“
    „Er wird uns alle töten!“, rief jemand.
    „Der heilige Rhamnus beschützt die Menschen! Habt Vertrauen und betet gemeinsam!“, übertönte Samuel die furchtsamen Stimmen.
    Gemeinsam nahmen sie das Gebet wieder auf. Bitte, ihr Götterwesen. Helft mir, das Licht wiederzufinden! Damit ich Samuel helfen kann und ihm nicht nur eine Last bin.
    Ein weiterer Baum fiel um, dann trat der Eber ins Licht der Sonne. Er war mächtig. Viel grösser als es ein Eber sein sollte. Mindestens drei Mal so groß und pechschwarz mit gewaltigen Hauern. Er kreischte, dann setzte er zum Lauf an. Richard schloss die Augen und klammerte sich an den Arm Samuels, der sich um seine Hüfte gelegt hatte. „Atme ruhig.“
    Richard hörte das Kreischen des Tieres und spürte, wie der Boden unter dessen mächtigen Sätzen erzitterte. Er atmete die Angst aus und atmete die Ruhe ein, welche von Samuel ausging. Er atmete die Gedanken aus, die an ihm zerrten und atmete das wogende Gebet der Dorfbewohner ein. Auf einmal war er wieder der kleine Richard im Sumpf. Der Richard, der seinem Bruder nacheilte. Er lauschte dem Rhythmus seines Herzens. Es schlug ruhig und gleichmäßig. Licht fiel durch seinen Scheitel ein und durchflutete seinen Körper. Sanftes Kribbeln durchströmte seine Glieder und aus seinem Bauch stieg ein Hochgefühl empor. Es füllte seine Brust aus, seine Arme, Hals, Kopf. Er war zu klein, um es zu halten und so brach es aus dem engen Gefäß, welches sein Körper war und floss hinaus. Wie eine gewaltige Welle strömte das Licht durch ihn und aus ihm hinaus, überflutete die betenden Menschen, und prallte gegen eine feste Wand vor ihm, wie eine Welle, die an einer Klippe brach. Richard öffnete die Augen und blickte direkt dem Eber entgegen. Seine pechschwarzen Augen fixierten ihn gebannt. Er war die Mauer, die Richard gespürt hatte. An ihm prallte das Licht ab.
    „Hier gibt es nichts für dich zu holen, Schatten! Wende dich ab, wenn dich das Licht nicht aufzehren soll!“, rief Samuel.
    Das Tier schrie, als wäre es verletzt worden. Geifer troff aus seinem Maul. Es warf seinen schauerlichen Kopf zur Seite und stampfte auf dem Boden auf. Die Erde erbebte und riss vor dem Eber auf, doch näherkommen konnte das Ungeheuer nicht. Eine neue Welle von Licht strömte durch Richard hindurch und brach durch die Mauer, die der Dämon errichtet hatte. Das Tier schrie auf, als litte es Qualen, dann machte es kehrt und rannte zurück in den Wald.
    Erst als es außer Sichtweite war, atmete Richard auf. Hinter ihnen brach Jubelgeschrei aus. „Lauf nur, du Ungeheuer!“
    „Wir haben es besiegt!“
    „Soll sich nicht wieder blicken lassen!“
    Samuel ließ die Menschen einen Moment lang ihren Sieg feiern, dann ermahnte er sie wieder zur Ruhe. „Der erste Schritt ist getan.“
    „Der erste Schritt? Ist es denn noch nicht besiegt?“
    „Nein, der Dämon wird wiederkommen. Er wartet nur darauf, uns in einem Moment der Schwäche oder Uneinigkeit vorzufinden, dann wird er wieder zuschlagen. Nun nehmt den Korb mit den gesammelten Blumen auf, wir gehen zurück ins Dorf.“
    Auf dem Rückweg redeten die Menschen aufgeregt durcheinander. „Habt ihr gesehen, wie seine Augen Funken gesprüht haben?“
    „Ich habe seine Stimme in meinem Kopf gehört! Es war schrecklich!“
    Richard dachte an den Augenblick, in dem er allen Mut verloren hatte. Waren das seine Gedanken oder die des Ebers gewesen, die ihn beinahe in die Verzweiflung getrieben hätten? Er nahm sich vor, mit Samuel darüber zu sprechen, sobald sie alleine waren. Noch immer hielt er sich am Arm seines Lehrers fest und war froh, dessen ruhigen Atem hinter sich zu hören.
    Noch bevor sie das Tor erreicht hatten, kamen ihnen die Menschen entgegen, die im Dorf zurückgeblieben waren. Einige Frauen, Kinder und Alte. Mit Freude und Erleichterung wurden sie begrüßt und gemeinsam gingen sie zurück ins Dorf. Der Kutscher kam und nahm das Pferd von Samuel entgegen. Richard war froh, nicht länger auf dem großen Tier sitzen zu müssen, auch wenn ihm seine Angst nach der Begegnung mit dem Eber etwas lächerlich vorkam.
    Samuel führte die Menschen zum Opfertisch. „Einen wichtigen Schritt haben wir bereits getan. Doch bleibt wachsam. Es ist die Spezialität der Dämonen, sich unbemerkt in die Seelen und in den Geist anderer Wesen einzuschleichen. Wenn ihr euch unwohl fühlt, dann sprecht das Gebet oder sprecht es gemeinsam mit einem Menschen, dem ihr vertraut. Vertrauen ist eines der besten Heilmittel gegen Dämonen, denn diese säen Zwietracht unter den Menschen. Habt Vertrauen in euch, eure Mitmenschen und in die göttlichen Wesen, die uns anleiten. Lasst euer Vertrauen unerschütterlich werden, dann wird es wie ein mächtiger Schild zwischen euch und dem Dämon stehen.“ Samuel schaute in die Runde. Die Gesichter der Menschen wirkten entschlossen. Einige hatten sich wie draußen an den Händen gefasst. Wie sehr sich dieses Bild doch verändert hat, dachte Richard. Noch vor Kurzem hatten sie streitend und klagend hiergestanden. Er blickte zu seinem Lehrer hoch und ein Gefühl von Ehrfurcht keimte in ihm auf. Samuel besitzt die Gabe, Menschen zu heilen, dachte Richard.
    „Bringt Holz hierher und schichtet es um den Altar herum auf. Am Abend werden wir ein großes Feuer entzünden. Wascht euch rein, zieht euch festlich an. Heute Abend werden wir Licht in die Dunkelheit tragen.“

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

    Einmal editiert, zuletzt von RenLi (12. September 2017 um 22:19)

  • Da hast du uns ja mal einen ordentlichen Batzen geliefert! ^^

    Samuel setzte sich zu Richard aufs Bett. „Erzähl mir, was passiert ist.“ Der Spaß war aus seiner Stimme verschwunden, nun klang er ernst. Richard öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Wusste Samuel etwa doch nicht von Vater Justus‘ Entscheidung? War er etwa gar anderer Meinung? Richard schüttelte entschieden den Kopf. Ich biege mir schon wieder alles hin! Es geht nicht darum, ob ich durchgefallen bin oder nicht. Es geht darum, dass ich ein Unglücksbringer bin. Sogar Sessilia habe ich mit meinem Unglück angesteckt. „Es ist nichts“, sagte er kleinlaut.

    Hier hätte ich Richard echt schütteln können. Gut, dass der alte Priester das verbal für mich übernommen hat. Ich verspüre einen weiteren Hoffnungsschimmer, dass es aufwärts gehen könnte.

    Die Gnade Geistwesen.

    Die Gnade DER Geisterwesen? Die Gnade, Geisterwesen?

    Mit dem Dämon wird es natürlich nochmal richtig interessant. Etwas Action und Dunkelheit lockert die philosophischem Gedanken etwas auf. Ob es den beiden gelingen wird, ihn entgültig zu bannen? Ich bin gespannt. Blumen, wer hätte gedacht, dass Blumen die Waffe der Wahl wären? ^^

  • Hi Windweber.

    Richard ist wirklich verstockt. Aber die Reise tut ihm gut. Es ist für ihn die Gelegenheit seine eigenen 'Dämonen' auszutreiben.
    Die Action ist in der Geschichte bisher wirklich etwas zu kurz zu kommen. War aber schwierig einzubauen solange Richard noch unter Samuel Schutz im Ducatus war. Die Reise bietet dafür die ideale Gelegenheit :)

    Zu den Blumen: Für mich ist es wichtig, Gewalt nicht mit Gewalt zu bekämpfen. Ich glaube, den Teufel kann man nicht wirklich mit dem Belzebub austreiben. Deshalb die weissen Blumen, ein Zeichen für Reinheit und Unschuld. Die Dämonen stehen für mich für Uneinigkeit, Streit, Zwietracht, Zorn, Vernebelung der Sinn, Wahnsinn und das Licht der Götterwesen für Einheit, Verständnis, klare Wahrnehmung, Selbsterkenntnis, Liebe. Ich hoffe, das kommt mit der Geschichte etwas rüber, mit der Zeit wird es sicherlich noch klarer.

    Lg, RenLi

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • so, hier kommt nun Richards Wendepunkt. Ganz so einfach lass ich ihn zwar nicht von Haken, aber langsam kriegt ers schon noch hin :)
    noch eine Anmerkung zu den Jahreszahlen. Ich hab da ein bisschen ein Durcheinander gemacht. Es ist bereits (seit mehreren Posts) das Jahr 566. Schon im Gefängnis war es das Jahr 566. Ich schau überall nochmals drüber und änder das alte Zeug noch.

    Richard, Wiedergeboren (566 n. Rh.)
    Erschöpft lag Richard auf dem Bett in dem Zimmer, welches er mit Samuel teilte. Die Familie des Dorfvorstehers hatte sie bei sich aufgenommen. Richard fühlte sich seltsam ausgezehrt. Ein paar Mal versuchte er, das Licht in seinen Körper zurück zu holen, doch es gelang ihm nicht. Vielleicht hatte es an Samuels Anwesenheit gelegen oder er war nun einfach zu kraftlos, um sich zu konzentrieren. Samuel war noch immer weg. Er hatte die kleine Kapelle besichtigen und herrichten wollen und kümmerte sich um die verschiedenen Anliegen der Dorfbewohner.
    Wie anstrengend es doch war, ein Priester zu sein. Und gleichzeitig wunderschön. So stellte Richard sich ein erfülltes Leben vor. Man konnte unzähligen Menschen helfen und sie waren dankbar, wenn man zu ihnen kam. Die Veränderung, die Samuel bereits in dem Dorf vollbracht hatte, war unglaublich. Vielleicht könnte auch ich einmal Priester werden, dachte Richard. Aber dann würde ich sicher nicht im Ducatus leben, sondern durch das Land ziehen und den Menschen helfen, so wie Samuel es hier tut.
    Er stellte sich vor, wie er strahlend und in weißer Robe vor die Menschen treten würde und ihnen von den Götterwesen predigen würde. Deutlich sah er die staunenden Gesichter vor sich. Er stellte sich vor, wie er gegen sämtliche Dämonen dieses Landes in den Krieg ziehen würde. Wie dunkel und mächtig sie auch sein würden, sein Licht würde sie überstrahlen. Richard lächelte. Was für eine schöne Vorstellung. Ein richtiges Abenteuer. Noch immer lächelnd schlief er ein. Und die Dunkelheit legte sich über ihn.
    Richard stand auf einer sonnenbeschienenen Wiese. Um ihn blühten wilde Blumen in allen erdenklichen Farben. Zufrieden sah er sich um, als er ein Kind bemerkte, welches zwischen den Blumen saß. Es schien Schmerzen zu leiden, denn es kauerte am Boden und hielt seinen Bauch. Es wimmerte kläglich. Richard trat näher. „Geht es dir nicht gut?“, fragte er.
    Es blickte auf. Da traf es ihn wie einen Schlag. Edwin! Wie hatte er es nicht früher bemerken können? All seine Freude fiel in sich zusammen, als der Junge aufstand. „Du hast mich alleine gelassen!“ Jedes Wort traf Richard wie der Hieb einer Peitsche. „Sie haben mich gepackt! Sie haben mich geschlagen und gequält! Ich habe nach dir gerufen, doch du hast dich nur um dich selbst gekümmert! Sieh nur!“ Edwin deutete auf sein Gesicht und Richard sah, wie Blut aus seinem Haaransatz hinunter zu laufen begann und über die Stirn, den Nasenrücken entlang und über den Mund hinunter rann. „Du hast mir nicht geholfen!“ Die Augen seines Bruders verdrehten sich nach innen, sodass er nur noch das Weiße sehen konnte. Edwin griff sich in die Haare, zerrte sie büschelweise aus.
    „Edwin, tu das nicht!“, jammerte Richard. „Edwin.“ Er fühlte sich so kraftlos. Dann dachte er an das Licht. Richard beschwor das Licht aus dem Himmel und schickte einen Strahl auf Edwin zu. Edwin begann zu schreien, er warf sich auf den Boden und wälzte sich hin und her. „Hör auf! Du verbrennst mich!“, schrie Edwin unter Qualen und tatsächlich fingen seine Kleider Feuer.
    Richard nahm das Licht zurück. „Was du mir angetan hast, ist wohl nicht genug? Du quälst mich weiter.“ Edwin erhob sich und wuchs, seine Haare wurden länger. Wechselten von schwarz zu kastanienbraun, das Feuer verlosch. Sessilia stand vor ihm. Schwankend kam sie auf ihn zu. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet, die Wangen tränennass. „Ich habe dich beschützt, Richard. Doch du hast mich alleine zurückgelassen. Wie konntest du mich zurücklassen? Schutzlos.“ Richard sah die aufgeplatzte Lippe, mit Blut verkrustet. „Nachdem du weg warst, haben sie mich geholt. Sie haben mich an den Händen gefesselt und auf einen Mast aufgezogen.“ Sie packte Richard am Hemd. Sie hustete und Blutstropfen spritze ihm auf Hemd und Gesicht. „Du hast mich alleine gelassen! Nun bin ich tot! Und meine letzte Aufgabe ist es, mich an dir zu rächen. Wenigstens diese Genugtuung ist mir noch geblieben.“ Ihre eiskalten Hände wanderten weiter nach oben und legten sich um seinen Hals. „Stirb, Richard. Und komm mit mir in die ewige Dunkelheit. Für uns wird es keine Wiedergeburt geben. Ich werde dich für immer und ewig daran erinnern, was du mir angetan hast!“
    Ihre Hände schlossen sich fester um seinen Hals, Richard wehrte sich nicht. Es hat keinen Sinn. Ich verdiene es, diese Strafe zu erhalten. Du sollst mein Todesengel sein. Sessilia, hätte ich doch…
    Grelles Licht blendete ihn. Richard hustete und griff sich an den Hals. „Richard!“, rief Samuel und zerrte seine Hände weg. „Genug jetzt!“ Das Licht vertrieb den letzten Rest des Traumes aus Richards Geist, dann verblasste es. Er schaute zu Samuel hoch, der sich über ihn beugte. Sein Hals schmerzte. „Was ist geschehen?“, fragte Richard verwirrt. Seine Stimme klang rau und das Sprechen war schmerzhaft.
    „Bleib liegen. Ich muss mir deinen Hals besehen. Das wird wohl eine Weile wehtun, aber du bist nochmals mit einem blauen Auge davongekommen. Sag mir, was du geträumt hast, Richard. Woran erinnerst du dich?“
    „Da war Edwin.“ Tränen stiegen ihm in die Augen. „Er hat gesagt, ich hätte ihn im Stich gelassen. Überall war Blut. Die Menschen, die ich damals gesehen habe, haben ihn gefoltert und getötet. Dann ist er in Flammen aufgegangen. Und dann kam Sessilia. Auch sie war schwer verletzt. Und es war meine Schuld, weil ich einfach weggelaufen bin. Glaubst du, der Traum sagt die Wahrheit?“, fragte er panisch. „Meinst du, sie ist auch tot?“
    Samuel schüttelte den Kopf. „Nein, das war nicht die Wahrheit. Es war ein Trugbild. Der Dämon muss es auf dich abgesehen haben. Was ist danach passiert?“
    „Aber es war so real!“
    „Nein, Richard. Sei dir gewiss, das war nicht die Wahrheit. Weder Edwin noch Sessilia würden dir etwas Böses wünschen. Es ist der Einfluss des Dämons, der sich die Dunkelheit, die in dir verborgen ist, zunutze macht. Was geschah dann?“
    „Sessilia ist auf mich zugekommen und hat versucht…“ Er griff sich an den Hals.
    „Sie wollte dich erwürgen? Nun, das ist ihr auch beinahe gelungen. Ich habe die Anwesenheit des Dämons im Dorf gespürt, während ich noch mit dem Dorfvorsteher gesprochen habe. Ich dachte erst, der Dämon sei durch die Palisade gebrochen, doch seine Kraft hat mich hierher geführt. Als ich ins Haus kam, hörte ich Schreie von oben und als ich dich fand, hattest du deine eigenen Hände an der Kehle. Es tut mir leid, Richard. Ich habe ihn unterschätzt. Normalerweise sind Dämonen, die sich in physischer Kraft und Zerstörung ausdrücken schwach im Geist. Aber dieser scheint doch mächtiger zu sein, als ich dachte.“
    „Mir geht es gut“, versicherte Richard und versuchte die Schmerzen zu verbergen, die ihm das Sprechen bereiteten.
    „Was der Dämon gesagt hat, glaube ihm nicht. Er nutzt deine Ängste, um dich zu verletzen. Wenn du ihm glaubst, dann hat er gewonnen.“
    „Ich versuche es.“
    „Nein, das reicht nicht. Hast du gehört, was ich zu den Dorfbewohnern über das Vertrauen gesagt habe? Das gilt ganz besonders für dich. Habe Vertrauen in die höheren Mächte, in die Welt, das Leben, in die Menschen um dich, in Sessilia, in Edwin und ganz besonders: habe Vertrauen in dich!“
    Richard verzog das Gesicht, doch er nickte.
    „In deinen Augen lese ich die Lüge.“
    „Ich kann nicht, Samuel. Ich kann mir nicht vertrauen!“
    „Du kannst nur dem Dämon nicht vertrauen. Er manipuliert dich. Du bist ein reines Wesen, Richard. Vertraue in dich.“
    „Ich versuch’s“, wiederholte Richard.
    „Na schön. Dann versprich mir, dass du bei mir bleibst. Ich lass dich nicht mehr aus den Augen.“
    „Denkst du, es war eine schlechte Idee, mich mitzunehmen?“, fragte Richard leise.
    Samuel seufzte. „Das ist wirklich dein Problem. Du vertraust dir nicht, du schätzt dich nicht. Woher kommt das? Nur von der Geschichte mit deinem Bruder? Ich denke, es war das größte Glück, dass ich dich mitgenommen habe. Dies ist deine Gelegenheit, dein Potential zu entdecken und dich deinen Ängsten zu stellen. Schließe Frieden mit dir, der Welt und deiner Vergangenheit. Und, wenn du dich selbst nicht magst, wie du jetzt bist, dann verändere dich. Wir sind schließlich auf dieser Erde zu genau diesem Zweck, um uns zu entwickeln. Deshalb werden dir diese Aufgaben gestellt. Jede Aufgabe ist eine Herausforderung. Weshalb musstest du einen Bruder haben, der so jung stirbt? Weil du diese Herausforderung brauchst, um dich zu entfalten, um zu lernen was Mitgefühl und Liebe sind. Weshalb musste dein Bruder sterben? Weil er diese Erfahrung machen musste. Er musste auch die Erfahrung machen, dich als seinen großen Bruder zu haben, den er lieben und bewundern konnte. Vielleicht wurde er bereits in eine neue Familie hineingeboren und auch dort wird er wiederum Erfahrungen machen müssen, die ihn auf seinem Weg weiterbringen.“
    „Und wenn ich diesen Herausforderungen nicht gewachsen bin?“
    „Das liegt bei dir. Der Himmel gibt dir nur so viel, wie du tragen kannst. Aber wie du mit den Herausforderungen umgehst, das entscheidest du. Wach auf, Richard! Komm aus deinem selbstmitleidigen Loch heraus und stell dich dieser Herausforderung. Stell dich den Dämonen, wie dunkel ihre Abgründe auch sein mögen. Verkriech dich nicht mehr im Dunkel deiner Vergangenheit und erwache zum Leben! Die Entscheidung liegt bei dir. Licht oder Dunkelheit.“
    Richard schaute in die entflammten Augen seines Lehrers. Licht oder Dunkelheit. Habe ich mich der Dunkelheit hingegeben? Den negativen Gedanken. Den Mächten des Dämons.
    „Darf ich…“ Er kam sich seltsam vor, dies zu fragen, aber er musste es tun. „Darf ich wirklich glücklich sein?“
    Die Züge Samuels wurden weich. „Ja, Richard. Es gibt nichts, was die Götter mehr freuen würde.“
    „Dann werde ich kämpfen“, sagte er. Er hörte, dass seine Stimme noch etwas wacklig klang. Er nahm einen tiefen Atemzug. „Ich werde kämpfen!“, sagte er bestimmt. „Und entscheide mich für das Licht!“
    Samuel lächelte. „Sehr gut. Und ich werde an deiner Seite sein. Du bist nicht alleine. Niemand, kein Mensch auf dieser Welt wurde je alleine gelassen.“
    Samuel erhob sich und hielt Richard die Hand hin. „Lass die Vergangenheit hinter dir. Von diesem Augenblick an beginnt ein neues Leben für dich. Sei neugeboren!“ Richard ergriff die Hand und Samuel zog ihn auf die Füße.
    Richard nickte, Freude stieg in ihm auf. Es war, als sei ein Bann gebrochen und eine riesige Last fiel von ihm ab.

    Sie standen am Feuer. Es brannte hoch in den Himmel hinauf. Alle Menschen des Dorfes hatten sich versammelt und in Kreisen standen sie um den lodernden Flammenberg. Sich an den Händen haltend sprachen sie das Dankesgebet. Der Korb mit den Blumen und ein Becken mit harzummantelten Kräutern standen neben Samuel auf einem Tisch. Der Priester löste sich aus den Reihen der Betenden und griff in das Becken. Er warf eine Handvoll Kräuter in die Flammen. Funken stieben und ein würziger Geruch breitete sich aus. „Möge der Himmel diese verseuchte Erde mit heiligem Feuer reinigen.“ Wieder griff er in das Becken und warf weitere Kräuter ins Feuer. „Mögen die Feuer des Himmels auf die Menschen niederkommen und ihre Seelen ausbrennen, bis sie vom seligen Licht erhellt werden.“ Eine weitere Handvoll ließ Funken zum Himmel steigen. „Jetzt, zu dieser Stunde unterziehen wir uns den reinigenden Flammen des Fegefeuers, möge es uns entflammen und die Dunkelheit vertreiben.“
    Die Menschen reihten sich neben Samuel auf. Einer nach dem anderen trat zu dem Priester und dieser legte ihm ein Korn mit Kräutern in den Mund und überreichte ihm eine der gesammelten Blüten, die er ins Feuer werfen sollte. Als letztes kam Richard. Auch ihm legte Samuel ein Korn in den Mund, es schmeckte widerlich. „Dies ist dein Neubeginn. Möge das Feuer dich reinigen von allem, was bisher an dir gehaftet hat. Du bist nun nicht mehr Richard, der Junge aus dem Sumpf. Du bist ein freier Mensch, ein Kind der Throne. Nimm diese reine Blüte und opfere sie den Göttern, dass sie in dir dieselbe reine Unschuld erwecken mögen.“ Richard nahm die Blume entgegen, eine weiße, winzige Blüte, ähnlich derjenigen, die er bei Theodor auf dem Fenstersims gehabt hatte. Vergangenheit, dachte er. Löse dich auf! Er trat auf das Feuer zu. Ein neues Leben erwartet mich. Es hat bereits begonnen. Bitte, helft mir, meinen Weg zu finden. Bitte, helft mir, dieses neue Leben in Reinheit zu leben und meine Aufgabe zu erfüllen. Hiermit ergebe ich mich dem Willen der Götterwesen. Er warf die Blüte in die Flammen.
    „An diesem Abend erwachet zu neuem Leben! Findet zurück zu euren reinen Seelen. Mit diesem Scheiterhaufen entzünden wir Licht in euren Herzen. Tragt Sorge dazu und lasst es nicht mehr ausgehen. Ihr seid eine Gemeinschaft. Kümmert euch nicht zu sehr um eure eigenen Sorgen, sondern kümmert euch um eure Brüder und Schwestern, denn ihr alle seid Menschen und vereint im Geiste.“
    Noch lange Zeit verharrten sie vor dem Feuer. Viele der Kinder waren längst auf dem Schoss ihrer Mutter eingeschlafen. Richard blickte in die züngelnden Flammen und da zeigte sich ihm ein Bild.
    Ein Mann, umgeben von hellem Licht stand mitten in einer Menschenmenge und die Menschen tranken sein Licht und wurden satt davon.
    Richard trat an Samuel heran. „Samuel, ich habe nachgedacht, was ich nun mit meinem mir neu geschenkten Leben anfangen möchte“, begann er. Sein Lehrer blickte ihn erwartungsvoll an. „Von nun an werde ich alle beschützen, die mir wichtig sind. Ich möchte niemals mehr etwas so sehr bereuen müssen, wie den Tod meines Bruders. Ich glaube, dass es meine Aufgabe ist, den Menschen zu helfen. So wie du es tust. Ich möchte mein Leben dem göttlichen Plan und allen Menschen schenken. Dies ist mein Lebensweg.“
    „Ich bin sehr stolz auf dich. Mögen deinen Worten Taten folgen und dein Streben vom Glück begleitet werden.“ Er legte Richard die Hand auf den Kopf. „Du bist ein wunderbarer Junge. Ich bin mir sicher, dass du deine Ziele erreichen wirst und mich auch noch übertreffen kannst. Möge dich die Liebe der Götter erfüllen und dich auf deinem Weg begleiten.“

    Noch zwei weitere Tage blieben Richard und Samuel in dem Dorf. Samuel sprach viel mit den Bewohnern und half ihnen, die Kapelle wieder herzurichten und von niederen Geistern zu reinigen, denn in den letzten Jahren war sie immer mehr verwahrlost. Der Eberdämon ließ sich in dieser Zeit nicht mehr blicken und Richard fühlte sich erfrischt, seine Nächte waren traumlos. Von seinem Entschluss gestärkt begleitete er Samuel überall hin, um möglichst viel von ihm zu lernen. Mehrmals täglich versammelten sich alle Menschen des Dorfes vor der Kapelle, wo noch immer die verkohlte Stelle des Bodens an das Feuer erinnerte. Dann beteten sie gemeinsam und vollführten die Kontemplation des göttlichen Lichtes, welches sie alle verbinden, reinigen und stärken sollte. Samuel brachte den Menschen auch das Gebet des Schutzes bei, welches Richard bereits kannte.
    „Oh heiliger Rhamnus, Gesandter des Himmels. Segne uns und schicke uns die Engel des Lichtes. Mögen sie uns beschützen in diesen dunklen Zeiten. Möge ihr Licht unsere Herzen erfüllen, das Dunkel vertreiben und ihm keinen Einlass mehr gewähren. Mögen die Feuer des Himmels auch den letzten Rest von Dunkelheit in unseren Seelen verzehren, damit unser Licht hell erstrahle. Oh heiliger Rhamnus Bote der göttlichen Wesen. Segne uns und erleuchte unseren Geist, auf dass auch wir die Geister unserer Mitmenschen erleuchten mögen.“
    Immer wieder forderte Samuel die Menschen auf, über ihr Leben nachzudenken und ihr Handeln zu hinterfragen. Stundenlang beichteten die Bewohner des Dorfes ihre Missetaten vor ihm und er gewährte ihnen seinen Segen und Vergebung. „Wenn ihr einseht, dass ihr falsch gehandelt habt und aufrichtig bereut, dann wird euch vergeben werden und ihr werdet die Chance haben, euch zu ändern. Seid kritisch mit euch selbst. Kritischer als mit euren Mitmenschen. Nur wer zuerst bei sich selbst hinschaut, der wird zu wahrer Größe wachsen.“ So predigte er und Richard versuchte, sich die Worte seines Lehrers einzuprägen.
    Jeden Abend saßen sie zu zweit beieinander, bevor sie sich zum Schlafen hinlegten und Samuel führte ihn durch die Licht-Werdung, um ihn auch noch während des Schlafes vor dem Dämon zu schützen. All die Zeit beobachtete Richard seine Gedanken und er stellte erfreut fest, dass auch sie von einer angenehmen Frische erfüllt waren.
    „Ist der Dämon verschwunden, Samuel?“, fragte er eines Abends vor der Meditation.
    „Noch nicht. Aber er verhält sich ruhig. Solange wir hier sind und die Menschen friedlich miteinander umgehen, befindet er sich im Nachteil. Doch sobald wir von hier fortgehen, werden sich die Menschen wieder entzweien. Dies wird er nutzen. Ist dir aufgefallen, dass der alte Mann, der die Opferungen veranlasst hat, seit unserer Ankunft nicht mehr aufgetaucht ist? Er befindet sich nicht mehr im Dorf. Er ist längst vom Dämon verschlungen worden.“
    „Aber dann können wir doch nicht weg von hier! Wir müssen ihnen helfen.“
    „Ich habe bereits einen Brief in die Hauptstadt geschickt und um Hilfe gebeten. Dies ist keine Angelegenheit, die wir so einfach regeln können. Ich habe mit den Dorfbewohnern geredet. Um Pulvis, das Dorf, in welchem Agmen lebt, steht es noch schlimmer, als um dieses hier. Deshalb können wir nicht länger bleiben. Wir müssten eigentlich längst dort sein.“
    „Dann gehen wir schon morgen früh?“
    Samuel nickte. „Es ist nicht mehr weit nach Pulvis. Wenn wir zu zweit auf einem Pferd reiten, sollten wir gegen Mittag dort ankommen.“
    Richard war nicht unbedingt glücklich über die Aussicht, wieder auf einem Pferd sitzen zu müssen. Aber wenn Samuel es von ihm forderte, dann würde er es aushalten können. „Weshalb nehmen wir nicht die Kutsche?“, warf er doch noch vorsichtshalber ein.
    „Mit dem einen Pferd ist der Kutscher unterwegs. Er bringt den Brief nach Caput.“
    „Ach so.“
    „Trägst du dein Stein immer bei dir?“ Richard nickte. „Gut, leg ihn niemals ab. Besonders nicht, wenn wir in Pulvis sind. Und nun lass uns meditieren. Wir müssen uns auf den morgigen Tag vorbereiten.“
    Richard bemerkte, wie müde und angespannt sein Lehrer aussah. Am Tag wirkte er immer von Gelassenheit und Energie erfüllt, aber am Abend, wenn sie nur noch zu zweit waren, merkte man ihm die Anstrengung doch an. „Wäre es nicht besser zu warten, bis sie jemanden der Gnosis schicken?“, wagte Richard zu fragen.
    „Auf keinen Fall. Morgen müssen wir los. Wir sind schon viel zu lange hier. Nun schließe deine Augen. Und vergiss für diesen Moment deine ganzen Sorgen, damit das Licht in dir Platz finden kann.“
    Richard gehorchte. Er setzte sich aufrecht hin und senkte die Lider. Nun, da alles ruhig war und er seine Aufmerksamkeit nach innen wandte, bemerkte er, wie viel Anspannung sich in seinem Körper angesammelt hatte. Seine Arme und Beine prickelten und ächzten, als wäre die Anstrengung des Tages darin angestaut. Und in seiner Brust hockte ein Knoten, der ihm das Atmen erschwerte. Wie konnte man nur so durch den Tag kommen? Unglaublich, mit welchen Lasten man sich beladen konnte. Richard richtete seine Aufmerksamkeit auf seinen Bauch und achtete darauf, den Atem tief hinunter in seinen Bauchraum zu lenken, indem er die Bauchmuskeln entspannte. Er beobachtete, wie die Anspannung in seinen Gliedern in loderndes Feuer getaucht wurde und sich darin auflöste. Die reinigenden Feuer höherer Wesen. Auch der Knoten in seiner Brust wurde lichter und zerfloss allmählich, bis nichts mehr von ihm übrig blieb. Schließlich fühlte sich sein Körper wieder leicht und wohlig an. Das Atmen fiel ihm leicht und auch sein Kopf war wieder klar. In Samuels Anwesenheit war alles so viel einfacher. Sein Lehrer strich ihm mit den Fingern übers Gesicht und hinterließen prickelnde Spuren darauf. Unwillkürlich entspannten sich seine Gesichtsmuskeln. „Stelle dir nun das Licht vor, wie es beständig und erfüllt von Liebe auf deinen Kopf scheint.“
    Richard visualisierte den Lichtstrahl, ausgesandt von den höheren Wesen der Himmelswelten. Er seufzte, als die warmen Strahlen sich in seinen Körper ergossen. Was auch immer an Zweifeln, Ängsten oder Bedenken in ihm noch übrig geblieben waren, lösten sich nun auf und er fühlte, wie sich sein Körper aufzulösen begann, in dem Strahl aus reinem, göttlichem Licht.

    Spoiler anzeigen


    Ein paar Dinge, die Samuel sagt, sind ein bisschen kritisch. Bin gespannt, was ihr dazu zu sagen habt.
    Bsp 1:

    „Jede Aufgabe ist eine Herausforderung. Weshalb musstest du einen Bruder haben, der so jung stirbt? Weil du diese Herausforderung brauchst, um dich zu entfalten, um zu lernen was Mitgefühl und Liebe sind. Weshalb musste dein Bruder sterben? Weil er diese Erfahrung machen musste. Er musste auch die Erfahrung machen, dich als seinen großen Bruder zu haben, den er lieben und bewundern konnte. Vielleicht wurde er bereits in eine neue Familie hineingeboren und auch dort wird er wiederum Erfahrungen machen müssen, die ihn auf seinem Weg weiterbringen.“

    Kann man dem zustimmen? Ist schon eine krasse 'Herausforderung', die einem Menschen gestellt wird.

    Bsp 2:

    „Und wenn ich diesen Herausforderungen nicht gewachsen bin?“
    „Das liegt bei dir. Der Himmel gibt dir nur so viel, wie du tragen kannst. Aber wie du mit den Herausforderungen umgehst, das entscheidest du."
    "Du bist nicht alleine. Niemand, kein Mensch auf dieser Welt wurde je alleine gelassen.“

    Auch das. Wenn man in die Welt hinausschaut, dann sieht man viele Menschen, die an ihren 'Herausforderungen' zerbrechen. Und viele, die in Einsamkeit versinken oder denen kein Retter in der Not erscheint, kein Gott, der eine schützende Hand über die Unschuldigen hält.

    Mal sehn, mal sehn...

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

    3 Mal editiert, zuletzt von RenLi (17. September 2017 um 20:10)

  • Puh, dieser Dämon ist grußlig! Dringt bis ins Intimste, in die Träume vor und nutzt die düstersten Erinnerungen gegen einen- Echt übel! Gut finde ich auch, dass er nach einem Ritual nicht einfach weg ist, sondern nur vorrübergehend vertrieben, auf eine neue Gelegenheit wartend. Das macht ihn als Gegner des Protas spannender.

    Ich habe nach dir gerufen, doch du hast dich nur um dich selbst gekümmert! Sie nur!

    "Sieh nur!" mit h.

    Vertraue in dich.“

    "Vertraue dir" oder "Habe Vertrauen in dich" - zumindest nach meinem Sprachgefühl. Ich tendiere in dem Zusammenhang eher zu Letzterem.

    Du bist ein freier Mensch, ein Kind Gottes. Nimm diese reine Blüte und opfere sie den Göttern

    Erst Singular "Gottes", dann Plural "Göttern"? Dann wäre vielleicht interessant, welchen speziellen Gottes Kind er ist. :)

    „Jede Aufgabe ist eine Herausforderung. Weshalb musstest du einen Bruder haben, der so jung stirbt? Weil du diese Herausforderung brauchst, um dich zu entfalten, um zu lernen was Mitgefühl und Liebe sind. Weshalb musste dein Bruder sterben? Weil er diese Erfahrung machen musste. Er musste auch die Erfahrung machen, dich als seinen großen Bruder zu haben, den er lieben und bewundern konnte. Vielleicht wurde er bereits in eine neue Familie hineingeboren und auch dort wird er wiederum Erfahrungen machen müssen, die ihn auf seinem Weg weiterbringen.“

    Kann man dem zustimmen? Ist schon eine krasse 'Herausforderung', die einem Menschen gestellt wird.

    Eine nicht seltene, nichtsdestotrotz aber in meinen Augen unplausible Antwort auf die Theodizee-Frage. Manche Menschen finden Trost darin, sich vorzustellen, dass jedes Leid einen Sinn hat, dass das Universum oder ein allmächtiger Gott sich schon etwas wichtiges dabei gedacht hat und am Ende alle Beteiligten davon profitieren. Die Theodizee stellt sich freilich nur, wenn man von einem allmächtigen und gnädigen Gott ausgeht. Ist er nicht allmächtig, kann er manches Leid vielleicht einfach nicht verhindern. Ist er nicht gnädig, will er es vielleicht einfach nicht. Wie es um die Macht und Gnädigkeit der Götter dieser Welt bestellt ist, weiß ich natürlich (noch?) nicht.
    Manchen mag diese Antwort tiefen Trost spenden. Das erfordert aber sehr viel Vertrauen und Geduld. Für viele ist sie aber sicher unerträglich. Ich gehöre eher zu Letzteren.
    Ob dieses Risiko ein seelsorgerischer Erfolg oder eine Katastrophe wird, werden die nächsten Kapitel zeigen. Für mich ist es spannend und das Ergebnis offen. :D

    „Und wenn ich diesen Herausforderungen nicht gewachsen bin?“
    „Das liegt bei dir. Der Himmel gibt dir nur so viel, wie du tragen kannst. Aber wie du mit den Herausforderungen umgehst, das entscheidest du."
    "Du bist nicht alleine. Niemand, kein Mensch auf dieser Welt wurde je alleine gelassen.“

    Auch das. Wenn man in die Welt hinausschaut, dann sieht man viele Menschen, die an ihren 'Herausforderungen' zerbrechen. Und viele, die in Einsamkeit versinken oder denen kein Retter in der Not erscheint, kein Gott, der eine schützende Hand über die Unschuldigen hält.

    "Jedem nur so viel, wie er tragen kann" - wo ich oben noch gut verstehen kann, dass es Leuten tröstet, bekomme ich dabei, jedesmal wenn ich es höre, das Kotzen. ^^ Ein Kind wird entführt, vergewaltigt und ermordet - da konnte es aber viel tragen. Und seine Familie erst! Sowas kann eigentlich nur von jemandem kommen, der selbst nie gelitten hat, niemanden im Leid begleitet hat oder sich mit dem Thema Leiden beschäftigt hat. Ein Gummibärchen, das auf einem regenbogenkotzenden Einhorn durch das Teddybärenland reitet. ;)
    Menschen müssen mehr ertragen, als sie können - überall, immer. Ich als Christ kann da nur Trost darin finden, dass es auch Gott selbst nicht besser erging. Von Freunden verraten und verlassen und hilflos wurde er auf eine der grausamsten Arten der Hinrichtung der Menschheitsgeschichte getötet. Somit kann ich da mitgehen, wenn man sagt, kein Mensch würde alleingelassen. Ein verständlisvoller, aber auch oft allzu stiller Begleiter im Leid. Das versönt mich persönlich etwas. Aber ohne das, und Richard verfügt wohl nicht über Vergleichbares, wenn ich micht nicht irre, hätte ich nur ein kaltes Lachen für solche Aussagen übrig.

    Fragt man nach dem Sinn des Lebens, kommt man um den Sinn des Leidens sicher nicht herum. Die Antworten des alten Priesters finde ich wenig zufriedenstellend, muss ich zugeben. Was kein Vorwurf gegen dich als Autorin ist, ganz und gar nicht! Eher mein Kompliment, dass du den Mut hast, einer sonst so strahlenden Gestalt solche Plätze in den Mund zu legen.