Der Sinn des Lebens

Es gibt 460 Antworten in diesem Thema, welches 124.028 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (21. Januar 2020 um 15:16) ist von RenLi.

  • @RenLi
    Vielen Dank für deine Geschichte, ich habe sie sehr gerne gelesen und bin gespannt, wie es weiter geht.

    Du schreibst wirklich gut und hast ein interessantes, komplexes Universum geschaffen.

    Ich habe ja die Befürchtung, dass Samuel es zwar gut meint, aber sein Glaube in die Irre leitet. Wie von dir selbst und von @Choas angedeutet. Das passt alles doch nicht zusammen und ist damit ähnlich wie bei den realen Religionen. Ich bin gespannt, ob Richard im laufe seines Lebens durch eine Glaubenskrise gehen muss und dann echte Weisheit erlangt.

  • @Windweber unglaublich coole Antwort!! Wie toll, einen Theologen als Gegenleser zu haben :D Der Teil mit dem Regenbogenkotzenden Ponny ist super. Ich sehe das auch so, dass vielen Menschen zu viel zugemutet wird. Du hast Recht, das kann nur jemand sagen, der selbst noch nie wirklich gelitten hat. Passt eigentlich nicht ganz zu Samuel. Er hatte zumindest eine schwere Kindheit (sein Bruder hat seine Mutter mit einer Axt vor Samuels Augen zerstückelt). Ich sehe da drei mögliche Erklärungen: 1. es liegt so lange zurück und er hat seither einfach ein zu bequemes Leben im Ducatus geführt, dass er etwas vom wahren Leid entrückt ist (so halbwegs plausibel, rückt ihn aber doch in ein recht schlechtes Licht). oder 2. er möchte Richard einfach beruhigen und sagt, was auch immer ihm einfällt (naja, klingt auch nicht gerade überzeugend) oder 3. er ist wirklich überzeugt davon, dass es über die vielen Leben hinweg einen Sinn ergibt, was aber igendwie krank ist. Sozusagen: du musst in diesem Leben entführt, vergewaltigt und getötet werden, um im nächsten Leben dann Mitgefühl für andere entwickeln zu können.
    Es gibt natürlich noch andere Theorien, um das Leiden zu erklären, wie zum Beispiel Karma oder Bestrafung. Darauf hat er ja aber nicht angespielt an der Stelle. Vielleicht muss ich das nochmals überdenken, ist doch etwas zu krass.

    Der schönste Teil deiner Antwort ist der über Jesus. Es ist wirklich unglaublich, was er durchgestanden hat, wie er von den Menschen, die er geliebt hat, behandelt worden ist. Und bis zu letzt verteidigt er sie "Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." Einfach unglaublich.
    Du schreibst, Gott ist ein stiller Begleiter des Leidens. Dazu fällt mir eine wunderbare Geschichte ein (die ging ungefähr so): Ein Mensch stirbt und steht vor Gott. Der Mensch freut sich, Gott zu sehen, aber dann sieht er auf sein Leben zurück und sagt: "Ich dachte, du würdest mich immer begleiten. Und wenn ich zurückschaue, dann gibt es da zwei paar Spuren, doch immer in den Zeiten, in denen ich am meisten gelitten habe, sehe ich nur eine Spur. Hast du mich alleine gelassen?" Da spricht Gott: "Ich habe dich nie alleine gelassen. In dieser Zeit habe ich dich getragen."
    Ich liebe diese Geschichte. Auch wenn es sich oft nicht so anfühlt. Aber ich glaube doch, dass Gott allgegenwärtig ist.

    @Sensenbach Die Glaubenskriese ist natürlich vorprogrammiert. Ich glaub, es gibt kaum einen Menschen, der ohne auskommt :) Richard wird noch ziemlich auf die Probe gestellt werden. Und Samuel ebenso, er ist nämlich auch nicht mit allem so ganz einverstanden, was in der Gnosis abläuft. Im übernächsten Abschnitt wird das Thema angeschnitten.

    @Windweber zum Singular Gott: habe ich geändert, war falsch (alte Angewohnheit, den Singular zu benutzen). Die Menschen sind nach dem Glauben der Gnosis von den Thronen (hohe geistige Wesen) erschaffen worden. Für sie sind alle hohen geistigen Wesen Engel oder Götter. Habe für die Gnosis übrigens viel von Rudolf Steiner übernommen. Zum beispiel auch die Idee der Geschlechtertrennung. Aber Steiner schreibt nie (soweit ich weiss), dass die Frauen den Männern in irgendeiner Hinsicht unterlegen seien. Das hab ich selbst noch dazugedichtet, weil es so schön verdreht ist und in die Geschichte passt. (da passt Sensenbachs Zitat ja wunderschön dazu. Im klauen bin ich gut :saint: )

    Und zu den Dämonen: Das war erst der Anfang :fie::dash::doofy:

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

    2 Mal editiert, zuletzt von RenLi (17. September 2017 um 20:15)

  • Ich bin noch dran an deiner Geschichte und muss sagen: Ja, Richards Gefühlsentwicklung bleibt realistisch. Sein Rückfall war insofern sinnvoll, dass er sich bisher nie damit auseinandergesetzt hatte, sondern es durch seine Freunde nur zeitweise verdrängt hatte. Natürlich, wirkte es feige von ihm abzuhauen: Aber es war realistisch.
    Die letzten Parts gefallen mir auch ziemlich gut, da ich Dämonen als Motiv sehr schätze. Und die Art wie er die Menschen beeinflusst und in die Träume eindringt, ist schön böse. Sehr gut.

    Ansonsten kann man Richards Erfrischung gut mitfühlen: Es wirkt abwechslungsreich, dass es mal wieder aus dem Ducatus rausgeht.
    Momentan stört es auch gar nicht so sehr, dass es sich nur um Richard dreht, dass ist wegen der komplexen emotionalen Lage ganz praktisch. Auch wenn es gut sein kann, dass ich das Geschehen um die anderen Charaktere nicht mehr richtig einordnen kann, sobald es mal wieder um diese geht. Aber da kommt man dann auch wieder rein.

    Die Art, wie du die Religion der Gnosis ausgestaltest, gefällt mir auch als Agnostiker. Es wirkt realistisch, lebensecht, nicht konstruiert: So könnte eine Religion tatsächlich aussehen. Man merkt, dass du dir Gedanken dazu machst und ich lese die philosophisch-religiösen Gespräche gerne.

    Also, weiter so! ;)

  • @Genesis Hallo Genesis. Gut, dass dir die Dämonen gefallen, das ist ein Thema, das in der Geschichte immer mal wieder kommt.
    Eigentlich interessant, dass du als Agnostiker deinen Profil-Namen Genesis gewählt hast, würd mich wundernehmen, wie du darauf gekommen bist...
    Da bin ich froh, dass die Gnosis realistisch rüberkommt, ich hoffe, das bleibt so :)

    Also dann, es geht weiter...

    Richard, drei Reiter (566 n. Rh.)
    Sie machten sich zur Abreise bereit. Zu Richards Erstaunen legte Samuel seine weiße Robe ab. Stattdessen lieh er sich einfache Kleidung von einem der Männer aus dem Dorfe. Auf seine Frage, weshalb er dies tat, antwortete Samuel: „Dämonen fühlen sich durch Priester des Lichtes bedroht und reagieren mit Wut und Gewalt. Meine Intuition sagt mir, dass es besser ist, von nun an unerkannt weiterzureisen.“
    Kurz nach Sonnenaufgang gesellten sie sich zu den Dorfbewohnern, die sich bereits, wie es nun ihre Gewohnheit war, vor der Kapelle versammelt hatten. Als sie kamen, verstummte das allgemeine Gemurmel und die Köpfe wandten sich ihnen zu. „Hütet euch!“, rief Samuel. „Der Dämon ist noch nicht vertrieben! Er schlummert in den Herzen all derer, die zweifeln. Er schlummert in den Herzen all derer, die verachten. Nur durch Einigkeit könnt ihr ihn von eurem Dorf fernhalten. Vergesst nicht, was ihr in den letzten Tagen vernommen und erfahren habt!“
    Samuel sprach zum letzten Mal seinen Segen über die versammelten Menschen aus und wandte sich dann zum Gehen. Ein Mann kam auf ihn zugeeilt. „Herr, Reiter nähern sich dem Dorf!“, rief er außer Atem.
    Samuel ließ sich sofort auf die Aussichtsplattform führen. Als er wieder herunter kam, wandte er sich an Richard: „Mach dich bereit. Dies ist die erste Gelegenheit für dich, deinen neu gefassten Entschluss auf die Probe zu stellen.“
    Richard konnte sich nicht vorstellen, was diese Reiter mit ihm zu tun haben könnten. Doch ihm blieb keine Zeit, weiter darüber nachzugrübeln, denn Samuel hatte die Dorfbewohner bereits angewiesen, das Tor zu öffnen und die Fremden herein zu lassen. Die drei Reisenden kamen herangeritten. Richard blickte ihnen entgegen. Der eine war offensichtlich ein Novize der Gnosis, seine leuchtend blaue Robe konnte man von Weitem sehen. Neben ihm ritt ein großer, drahtiger Kerl, offenbar ein Krieger, denn er trug ein Schwert an seiner Seite. Wahrscheinlich einer der Ordnungshüter Caputs, als Begleitung des reisenden Novizen. Doch Richards Blick blieb nicht an den beiden Männern, sondern an der Frau hängen, die etwas hinter ihnen ritt. Ihr langes, braungelocktes Haar wehte um ihr Gesicht. Sein Herz setzte einen Schlag lang aus. Konnte es wirklich sein? Die Reiter waren noch zu weit entfernt, als dass er Einzelheiten hätte erkennen können. Wie benommen starrte er die Frau an, während sie näher ritt. „Sessilia“, hauchte er. Ihre Wangen waren vom Wind leicht gerötet, sie wirkte angespannt. Richard stockte der Atem. Seine Brust zog sich zusammen. Nun wusste er, was Samuels Worte zu bedeuten hatten. Dies war der Moment zu zeigen, ob er sein feiges Ich hinter sich gelassen hatte. Tatsächlich war sein erster Gedanke beim Anblick Sessilias von Flucht bestimmt gewesen. Er warf Samuel einen Blick zu. Ob er wusste, was in ihm vorging? Doch sein Lehrer beachtete ihn nicht, er schaute den Ankommenden entgegen. Die drei Reiter passierten das Tor und stiegen von ihren Pferden ab. Richard war beeindruckt von der Leichtigkeit, die Sessilia an den Tag legte. Sie schien keine Scheu vor den mächtigen Tieren zu haben. Ihm fiel auf, dass sie zum ersten Mal in seiner Anwesenheit ihre Haare offen trug. Im Ducatus hatte sie sie immer zu einem Knoten zusammen gebunden gehabt, wie es die meisten Frauen taten. Wie sonderbar, dass ihm das gerade in so einem Moment auffiel. Sein Herz klopfte schneller. Die drei schritten auf Samuel und Richard zu, sein Blick verfing sich in dem ihren. War es Schmerz, der sich kurz auf ihrem Gesicht zeigte? Oder war es seine Einbildung? Am liebsten hätte er sie augenblicklich um Verzeihung gebeten, doch er hielt sich aufrecht. Er musste diesen Moment aushalten. Später würde er bestimmt Gelegenheit bekommen, sich bei ihr zu entschuldigen. Doch würde sie ihm vergeben? Sein Blick wanderte zu ihren Lippen. Er konnte keine Schwellung mehr feststellen.
    Richard zwang sich, seine Aufmerksamkeit dem Novizen zuzuwenden, der Samuel mit einer Verbeugung begrüßte. Richards Augen weiteten sich, als er Sinister erkannte. Wie konnte er hier sein?! Ausgerechnet er! „Sinister, es ist schön, ein vertrautes Gesicht zu sehen“, sagte Samuel. „Wie kommt es, dass ihr hier seid?“
    Samuels ruhige Stimme stand im Kontrast zu der Wut und Verwirrung, die von Richard Besitz ergriffen hatten. Dies ist eine größere Prüfung als ich gedacht hatte. Ich spiele dem Dämon in die Arme, wenn ich mich von diesen Gefühlen vereinnahmen lasse! „Vater Canis war nicht erfreut über Eure so überstürzte Abreise. Er hatte geplant, Euch in Begleitung loszuschicken. Was angesichts der Lage durchaus berechtig ist.“ Sinister linste zu den Dorfbewohnern, die alle gebannt dem Gespräch lauschten. Was in seinem Innern vorging konnte Richard nicht sagen, jedenfalls vermied der Candidatus es ihn anzusehen. „Außerdem hätte es der Gesundheitszustand des Jungen nicht erlaubt, ihn auf eine solche Reise mitzunehmen. Vater Canis war nicht glücklich über Eure Entscheidung.“
    „Der Vater hat Richard in meine Obhut gegeben“, entgegnete Samuel.
    „Natürlich vertraut er auf Euer Urteilsvermögen“, fügte Sinister an. „Aber der Vater besteht darauf, ihm eine ärztliche Führsorge beizustellen.“ Er nickte zu Sessilia hinüber.
    „Ich verstehe“, meinte Samuel. „Nun, wir wollten gerade aufbrechen. Ihr seht nicht so aus, als könntet ihr noch einen weiteren Ritt vertagen. Seid ihr die Nacht durchgeritten?“
    Tatsächlich sahen die drei ziemlich abgekämpft aus. Richard bemerkte, wie der Wächter ein Gähnen zu unterdrücken versuchte. Und schon wieder wurde Richard durch das vertraute Gesicht überrascht. Der Krieger, der die zwei begleitet hatte, war Roland, Elis Onkel. Richard hatte ihm bisher noch gar keine Aufmerksamkeit geschenkt, so sehr war er mit Sessilias und Sinisters Auftauchen beschäftigt gewesen.
    „Wir begleiten Euch, Vater Samuel“, sagte Sinister entschieden. „Nun, da wir Euch eingeholt haben, ist es unsere Aufgabe, nicht mehr von Eurer Seite zu weichen.“ Schon wieder? Will er mich etwa immer noch überwachen? Oder versucht er, mich bei der erstbesten Gelegenheit loszuwerden?
    „Nun denn. Geht und zieht euch um, alle drei. Wir wollen nicht auffallen, wenn wir Pulvis erreichen. Es ist besser, unerkannt zu reisen.“ Samuel wandte sich an die Frau des Dorfvorstehers, die sie bisher beherbergt hatte. „Wäre es möglich, noch weitere Alltagskleider zur Verfügung zu stellen?“ Die Frau nickte nervös. „Vielen Dank, das ist eine große Hilfe.“
    „Wollt ihr jetzt gerade…?“, fragte sie unsicher.
    „Wir besprechen das weitere Vorgehen später.“
    Sessilia trat vor Samuel. „Vater Canis hat mich geschickt, um Richards Gesundheit sicherzustellen. Vor der Abreise würde ich mir gerne ein Bild von seinem Zustand machen.“
    Richard schaute sie ungläubig an. Seit wann war sie denn dafür zuständig?
    „Natürlich. Ich überlasse ihn dir. Ihr habt eine halbe Stunde. Dann reisen wir ab. Brauchst du irgendetwas dazu?“
    „Ich habe das Nötigste bei mir“, antwortete sie. „Nur ein Zimmer, in das wir uns zurückziehen können…“
    „Ihr könnt gerne zu uns kommen“, bot die Frau des Dorfvorstehers an. „Wir waren froh, euch zu Gast zu haben.“
    „Vielen Dank“, sagte Sessilia. Richard meinte, ein Zittern in ihrer Stimme zu hören, doch er war sich nicht sicher, ob seine Sinne ihn täuschten.
    Die Frau führte die Neuangekommenen und Richard zu ihrem Haus. „Ich suche nur rasch nach passenden Kleidern, setzt euch doch hin. Und ihr könnt das Zimmer benutzen, welches du mit dem guten Vater geteilt hast“, meinte die Frau.
    Richard warf Sessilia einen Blick zu. Jeden Moment würde er mit ihr allein sein. Er führte sie die Treppe zum Zimmer hinauf. „Du hast dein Studium doch noch gar nicht abgeschlossen. Weshalb schickt er dich?“ Er hatte eigentlich über anderes mit ihr reden wollen, doch das ganze verwirrte ihn. Seit dem Vorfall im Diamantgarten lag eine befremdliche Distanz zwischen ihnen. Er wollte nicht von ihr bezüglich seiner Gesundheit untersucht werden. Doch wenigstens schien ihre Anwesenheit ihm zum ersten Mal nicht gänzlich die Sinne zu rauben.
    „Der persönliche Arzt Vater Canis’ ist mein Onkel. Ich habe viel von ihm gelernt und ihm manchmal in der Pflege von Vater Canis assistiert. Da der Vater an derselben Krankheit leidet wie du, ist es angemessen, dass er mir deine Gesundheit anvertraut hat“, erklärte sie.
    Sobald ich mich an etwas gewöhnt habe, werde ich überrumpelt, dachte er. Wer ist Sessilia eigentlich? Wieder einmal wurde ihm klar, dass er noch unglaublich vieles nicht wusste und nicht verstand. Sie betraten den Raum, in dem Richard die letzten paar Tage mit Samuel gewohnt hatte. Er fühlte sich äußerst unwohl.
    „Leg dich hin“, kommandierte sie.
    Richard fiel auf, dass sie ihm nicht direkt in die Augen sah. „Sessilia“, begann er. Ein Kloss steckte in seiner Kehle fest und sein Herz schlug ihm schon wieder bis zum Hals. Wie konnte er sich bei ihr entschuldigen? Er hatte ihre Freundschaft so sehr verletzt. Vielleicht konnte er nicht mehr gutmachen, was geschehen war. Nimm dich zusammen!, beschwor er sich. Jetzt oder nie! Sie wartete noch immer darauf, dass er ihrer Forderung nachkam. Er holte tief Luft. Ich bin nicht mehr der kleine, feige Richard, der dich im Stich gelassen hat. „Es tut mir leid, so unglaublich leid“, brachte er hervor. Sein Blick war zu Boden gewandert. Er zwang sich, aufzublicken. Sie wandte ihr Gesicht ab, hatte sie Tränen in den Augen? „Es war absolut feige von mir, dich allein zu lassen, nachdem du mich da rausgeholt hast. Ich verdiene es nicht, dass du dich um mich kümmerst.“
    Sie wagte, ihn anzusehen. Ihre Augen glänzten tatsächlich. „Ich war furchtbar in Sorge um dich“, gestand sie.
    „Wirklich?“ Erstaunt trat er auf sie zu. „Obwohl ich so ungerecht zu dir war?“

    „Bald bin ich licht, bald bin ich trüb,
    bald hart, bald weich, dann bös, dann gut.
    Bin Sonn und Vogel, Staub und Wind,
    so Mond als Kerze, so Strom wie Glut,
    bin arger Geist, bin Engelkind -
    Alles, alles ist gut.“

    Richard erkannte das Gedicht als eines aus dem Büchlein. Als sie geendet hatte, fügte sie hinzu: „Wie könnte ich über dich urteilen? Wir haben uns gerade erst kennengelernt, wie könnte ich von dir etwas erwarten?“
    Ohne zu überlegen trat Richard auf sie zu und umarmte sie. „Ich bin so froh, dass du hier bist!“, flüsterte er. Sie rührte sich nicht. Auf einmal wurde ihm bewusst, was er da tat. Schnell trat er einen Schritt zurück. „Entschuldige“, murmelte er verlegen. Sie war ebenso rot wie er sich fühlte, auch sie schien etwas in Verlegenheit gebracht und er schalt sich dafür, so impulsiv gehandelt zu haben.
    „Du solltest du dich hinlegen. Wir können nicht ewig hier bleiben“, sagte sie rasch und verwies auf das Bett. An die Untersuchung hatte er bereits nicht mehr gedacht. Er würde wohl nicht darum herumkommen. Also legte er sich auf das Bett. Nicht, dass das helfen würde, dachte er und verbannte diesen Gedanken sofort aus seinem Kopf. Sessilia kniete sich neben ihn. Stur sah er zur Decke und versuchte ihre Berührung an seinem Hals zu ignorieren. „Dein Puls ist zu schnell“, meinte sie. „Ist das oft so?“
    Richard fragte sich, ob sie diese Frage ernst meinte. War ihr denn gar nicht aufgefallen, dass er… Er unterbrach sich. „In letzter Zeit ist viel passiert. Aber Samuel und ich meditieren viel, dann ist er ganz ruhig.“ Bin ich denn verliebt in sie? Was weiß ich schon von der Liebe?
    „Kannst du ihn verlangsamen?“
    Richard schloss die Augen und begann Gebete zu rezitieren, um sich abzulenken. Langsam wurde sein Herzschlag gleichmäßiger.
    „Deine Kontrolle ist erstaunlich“, lobte sie. „Hattest du irgendwelche Schmerzen in letzter Zeit?“, fragte sie, während sie das Gefäß zur Blutabnahme bereit machte.
    „Seit dem Ausbruch der Krankheit habe ich nichts mehr davon bemerkt. Ich fühle mich gesund“, antwortete er ohne die Gebete in seinem Kopf zu unterbrechen.
    „Es ist wirklich ungewöhnlich, dass du so gut damit klarkommst. Es ist noch nicht viel über die Krankheit bekannt. Nur, dass sie durch Blut übertragbar ist, teilweise unvermittelt, wie aus dem Nichts auftauchen kann und dass die meisten, die sich mit ihr anstecken nach kurzer Zeit sterben. Man kann den Verlauf verzögern, aber heilen kann man die Krankheit noch nicht. Dass du noch lebst grenzt an ein Wunder. Bist du bereit?“
    Als er leicht nickte, stach sie ihm mit einer Nadel in den Finger. Die Blutabnahme beunruhigte ihn nicht, die Prozedur hatte er im Ducatus oft genug über sich ergehen lassen müssen. Aber es verwunderte ihn, dass sie in seinen Finger stach und nicht in seine Ellenbogenbeuge wie es der Arzt jeweils getan hatte. „Brauchst du nicht mehr Blut?“, fragte er, als sie auf seinen Finger drückte, um ihm einen einzelnen Blutstropfen abzugewinnen.
    „Das sollte reichen. So kurz vor der Abreise solltest du keinen größeren Blutverlust erleiden.“
    Wenn sie auf gleiche Weise vorging wie der Arzt, als nächstes seine Brust und seinen Bauch untersuchen. Richard warf ihr einen Blick zu. Falls ihr das unangenehm war, ließ sie sich nichts anmerken. Obwohl, sie wirkte angespannt. „Soll ich…?“, fragte er unsicher und deutete auf sein Hemd. Sie nickte. Also knöpfte er sein Hemd auf. Weshalb bin ich nur so nervös? Als er fertig war, schloss er seine Augen wieder, um sich besser auf seinen Atem konzentrieren zu können. Er versuchte zwar, Sessilia auszublenden, aber es war unmöglich. Kühle Finger legten sich auf seine Brust, nur ganz leicht. Nicht wie der Arzt, der hatte immer viel mehr Druck gegeben. Dass sie diese Behandlung durchführte, musste bedeuten, dass sie Magie anwenden konnte. Abermals wurde ihm bewusst wie wenig er über Sessilia wusste. Schon spürte er das Kribbeln, das ihre Energie in seinem Körper auslöste. Es ging von ihren Fingern aus, drang tiefer unter die Haut, weiter in sein physisches Herz ein und verbreitete sich mit seinem Blutstrom im Körper. Es war eine seltsame Empfindung und er hatte jedes Mal Mühe, die Prozedur vollkommen bewegungslos über sich ergehen zu lassen. Der Arzt hatte ihm erklärt, dass so sein Blut gereinigt würde. Und da die Krankheit sich vor allem in seinem Blut eingenistet habe, könne dies helfen, sie zu unterdrücken.
    Langsam verebbte das Kribbeln und Richard wagte es, seine Augen wieder zu öffnen. „Ich habe nicht gewusst, dass du Magie anwenden kannst. Es gibt noch so vieles, das ich nicht über dich weiß“, flüsterte er.
    Sessilia antwortete nicht. Wahrscheinlich hatte sie ihn auch gar nicht gehört. Sie wirkte sehr konzentriert. Ihre Brauen hatten sich leicht zusammengezogen und ihr Mund war angespannt. So wirkte sie viel älter, und nicht minder hübsch. Das lange Haar, welches ihr in sanften Wellen über die Schulter fiel, ließ sie noch zarter und weiblicher wirken.
    Sie legte ihre Hände, die inzwischen warm geworden waren, auf seinen Bauch, um ihn abzutasten. „Gut“, sagte sie als sie fertig war. „Du kannst dich aufsetzen.“
    Er tat wie ihm geheißen und war froh, sein Hemd wieder zuknöpfen zu können. Anschließend musste er die Zunge herausstrecken, damit sie diese begutachten konnte, auch seine Augen sah sie sich an. „Du siehst kerngesund aus“, meinte sie. „Fühlst du dich nun anders als vor der Behandlung?“
    „Mir ist etwas schwindlig“, gestand er, war sich jedoch nicht sicher, ob das an der Behandlung selbst lag. Auf Grund ihres besorgten Gesichtsausdrucks fügte er an: „Aber das vergeht sicher gleich wieder.“ Ich glaube, ich bin tatsächlich in sie verliebt, dachte er und war froh, dass sie in diesem Moment seinen Puls nicht maß. Nur ein Lächeln konnte er nicht verbergen. Am liebsten hätte er sie gleich noch einmal in seine Arme geschlossen.
    „Falls irgendetwas nicht gut ist, musst du’s mir sofort sagen. Ich kann zwar nicht viel tun, aber ich werde mein Möglichstes versuchen“, fügte sie an und wandte sich der Tür zu.
    In dem Moment erinnerte sich Richard an ihre Begleiter, die im unteren Stockwerk auf sie warteten. „Warte, Sessilia. Weshalb ist Sinister hier?“, fragte er und sie drehte sich überrascht zu ihm um.
    „Er hat sich freiwillig gemeldet“, sagte sie. Aus ihrer Stimme hörte er Unbehagen.
    „Hat er dir irgendetwas getan, während ihr unterwegs wart?“
    „Nein, er hat kaum mit mir gesprochen. Eigentlich hat er mich vollkommen ignoriert. Ich habe keine Ahnung, weshalb er mitgekommen ist. Es gefällt mir auch nicht. Aber Vater Samuel ist hier, es wird schon nichts geschehen.“
    „Wir sollten ihn im Auge behalten“, meinte Richard, dem die ganze Sache überhaupt nicht gefiel.
    Sie nickte. „Gut, lass uns nun gehen, wir sollten die anderen nicht warten lassen.“
    Gemeinsam stiegen sie die Treppe wieder hinunter. In der Küche saßen Sinister und Roland, beide schweigend. Sie waren nun in einfache Kleider gehüllt, ihre Gastgeberin stand am Trog und wusch ein paar Gläser aus. „Ich habe dir auch einen Rock hingelegt, Kindchen. Dein Kleid sieht noch etwas zu sehr nach Stadtleben aus“, sagte die Frau an Sessilia gewandt. Noch bevor Sessilia ein Wort sagen konnte, bugsierte die Frau sie schon in ein Zimmer nebenan.
    Richard blieb mit den beiden Männern in der Küche zurück. Für einen Moment herrschte drückende Stille, dann erhob sich der Wächter. In diesem kleinen Raum wirkte Roland noch viel größer als zuvor, sein Kopf berührte beinahe die Decke. Sinister sah teilnahmslos in eine Ecke. Konnte es sein, dass Roland auf Sinisters Wunsch mitgekommen war? Er hatte ihn nur einmal gesehen, wer konnte schon wissen, ob er ihm vertrauen konnte? Richard registrierte, dass die Tür in seinem Rücken lag. Ein Fluchtweg wäre also offen. Neben dem Hünen kam er sich winzig vor, außerdem hatte Roland sein Schwert bereits wieder umgebunden. Falls er mit schlechten Absichten hier war, konnte ihn nur die Flucht noch retten. Doch der Krieger senkte das Haupt zu einer kleinen Verbeugung. „Schön, dich wiederzusehen“, sagte der Hüne unverhofft.
    Richard atmete auf, dann verbeugte er sich ebenfalls. „Die Freude ist ganz meinerseits. Wie geht es Eli?“
    „Gut, soweit ich weiß. Er ist wie immer viel mit seinen Studien beschäftigt und lässt sich nur selten blicken.“ Sein Lächeln schien ehrlich zu sein. „Solltest du meine Hilfe brauchen, zögere nicht, dich an mich zu wenden.“
    „Vielen Dank“, sagte Richard und verbeugte sich abermals.
    Sinister hatte sich noch immer nicht gerührt. Er saß da wie versteinert. Richard war froh, als die Bäuerin mit Sessilia zurückkam. „Dann lasst uns gehen“, sagte Roland und schritt auf die Tür zu. Er musste sich tatsächlich leicht ducken, um unter dem Türrahmen hindurchzukommen. Als der Candidatus ihm mit etwas steifen Schritten folgte, entspannte sich Richard etwas. Es war ihm wohler, wenn Sinister vor ihm ging als hinter ihm.
    „Hübsch siehst du aus, Mädchen. Könntest glatt meine Tochter sein“, meinte die Bäuerin, als sie sich auf den Weg machten. Richard musterte Sessilia. In dem schlichten Leinenkleid sah sie aus wie ein Bauernmädchen. Die Tracht auf dem Land gefiel ihm besser als die Gewänder, welche die Menschen in der Stadt zu tragen pflegten. Außerdem hatte die Frau ihre einen Zopf geflochten, sodass ihr Gesicht noch mehr zur Geltung kam. Er musste sich bemühen, sie nicht schon wieder anzustarren. Das wars also mit meiner Auszeit, um meinen Kopf zu klären. Nun haben mich all meine Probleme wieder eingeholt, dachte er. Dann ist es wohl Zeit, mich in Selbstbeherrschung zu üben.
    Am Tor stand ein Karren mit zwei Ochsen bereit, mit Säcken beladen. Samuel erklärte, dass er sich angesichts der veränderten Umstände dazu entschieden hatte als Händler getarnt weiterzureisen. Sie würden ihr Ziel so zwar erst etwas später erreichen, dafür aber konnten sie ohne ihre wahren Absichten preiszugeben, in das Dorf Pulvis gelangen.
    Zum Abschied brachten ihnen die Dorfbewohner Proviant für unterwegs, außerdem überreichten sie jedem von ihnen eine frisch gepflückte Blume als Zeichen ihrer Dankbarkeit. Nach Samuels Anweisungen hatten sie den Wagen mit Korn beladen, eine Lieferung an das Dorf Pulvis. Der Bauer, dem der Karren gehörte, begleitete sie. Er kannte den Weg und er kannte manche Leute aus Pulvis. Er hatte schon früher Lieferungen in das recht abgelegene Dorf gebracht.
    Zu sechst machten sie sich also auf den Weg, zu Fuß.
    „Wir werden erst morgen in Pulvis eintreffen. Diese Nacht schlafen wir im Freien. Nutzt die Zeit, um zu beten und euch zu sammeln. Ich kann euch nicht sagen, was uns in dem Dorf erwarten wird. Um ehrlich zu sein, ich habe kein gutes Gefühl. Wir werden tun, was wir können, aber sollten wir in ernsthafte Gefahr geraten, so werden wir uns zurückziehen“, sagte Samuel. „Ist von euch schon jemand einem Dämon begegnet?“, fragte er in die Runde.
    Nur Sessilia nickte bejahend. „Vielleicht könntest du mir später davon berichten. Es kann dir helfen, mit der neuen Situation umzugehen. Und noch etwas: Auf dieser Reise ist es von größter Wichtigkeit, dass wir an einem Strang ziehen. Sollten noch irgendwelche Streitigkeiten zwischen euch sein, so bitte ich euch, diese für die Dauer dieser Reise beiseite zu legen. Denn genau dies sind Eintrittspforten, welche sich Dämonen zunutze machen.“
    Richard musste ein Schnauben unterdrücken. Von wegen Streitigkeiten. Er wusste nicht, was er von Sinister halten sollte. Hatte er damals tatsächlich auf Befehl von Vater Justus gehandelt? Oder hatte er ihn einfach loswerden wollen, weil er ihn nicht ausstehen konnte? Aber natürlich hatte Samuel recht. Wahrscheinlich war es sogar gefährlich, wenn sie nicht reinen Tisch machten. Aber am liebsten hätte er Sinister einfach im Dorf zurückgelassen. Er schaute zu dem Candidatus hinüber, kurz trafen sich ihre Blicke. Ob er dasselbe dachte? Vielleicht würde er später mit ihm reden. Was konnte es schaden?
    Doch Sinister kam ihm zuvor. „Lass uns etwas abseits gehen“, schlug er vor, als er neben Richard trat. Richard nickte. Sessilia unterhielt sich gerade mit Samuel ein paar Schritt weiter vorne, der Bauer ging voraus, Roland ging neben dem Karren. Solange sie sich nicht zu weit entfernten, konnte nichts passieren. Sie ließen sich ein paar Schritte zurückfallen. „Ich nehme an, du fragst dich, weshalb ich hier bin“, begann Sinister. Richard sagte nichts und wartete stattdessen darauf, dass Sinister fortfuhr.
    „Der Vorfall im Kristallgarten. Das war ein Fehler.“ Richard war überrascht, das hatte er nicht erwartet. Wollte er sich etwa entschuldigen? „Ich habe nach eigenem Ermessen gehandelt und nicht auf Befehl von Vater Justus, wie ich vorgegeben habe. Das bereue ich zutiefst. Ich habe nicht angemessen reagiert und mich von meinen Gefühlen vereinnahmen lassen. Das wird mir nicht wieder passieren.“ War das nun eine Entschuldigung, oder was sollte das werden? Sinister schien seltsam gelassen. Richard konnte die grollende Anspannung und Herablassung in ihm nicht entdecken, die ihm schon vertraut geworden waren. Konnte er es ernst meinen?
    „Weshalb wolltest du, dass ich den Ducatus verlasse?“, fragte Richard schließlich.
    „Du hast vielleicht bemerkt, dass einige nicht damit einverstanden sind, dass du im Hauptsitz lebst.“
    Richard nickte. „Du kannst dir vielleicht auch denken, weshalb.“
    „Weil ich sehr jung und kein offizielles Mitglied der Gnosis bin?“, fragte Richard. Er hatte sich selbst nach all den Wochen noch immer meist als Außenseiter gefühlt. Trotz Eli, Aaron und Fried und den wenigen andern, die sich mit ihm abgegeben hatten. „Weil ich keiner Kaste angehöre und im Gefängnis war? Weil man mich als Mörder angeklagt hat?“
    Sinister nickte, der steinerne Ausdruck war auf sein Gesicht zurückgekehrt. Das Gespräch schien ihm doch nicht so leicht zu fallen, wie er vorgab. „Und weil viele eifersüchtig auf dich sind“, presst er hervor. Richard musterte ihn. Konnte das der Grund sein, weshalb er ihn nicht ausstehen konnte? Beinahe hätte er losgelacht. Sinister war auf ihn eifersüchtig? „Viele von uns studieren die Schriften schon seit Jahren, vollziehen die Übungen und lernen pausenlos. Doch den wenigsten ist es vergönnt, einem so hohen Priester wie Vater Samuel direkt unterstellt zu werden. Die Priester haben alle viel zu tun und nicht die Zeit, sich um einen einzelnen Schüler zu kümmern. Ihre Zeit ist einfach zu wertvoll. Und dann kommst du. Ein dahergelaufener Streuner.“ Sinister klang bitter. „Ich kann nicht leugnen, dass ich selbst es noch immer nicht verstehe. Deshalb bin ich hier. Ich werde dich im Auge behalten, Richard. Und ich werde herausfinden, was dich so besonders macht.“

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Man kann Dämonen einfach täuschen, indem man sich verkleidet? Das ist ja klasse! ^^ Hätte ich jetzt nicht erwartet, wo sie doch so tief in den Geist eindringen können.
    Dann die Liebesgeschichte - sehr mutig von Richard, sich zu entschuldigen. Viele wären wohl einfach davongelaufen. Sein inneres Ringen beschreibst du sehr gut - Gefühle sind eine große Stärke von dir, da macht dir keiner was vor!
    Dass aber Sinister jetzt dabei ist... Er scheint ja auch leichte Besserung erfahren zu haben, aber noch immer lauert er auf Richard wie ein Bussard auf die Maus. Und das auf Dämonenjagd... Hoffentlich nimmt er sich zusammen! :/

    vermied der Candidatus es ihn anzusehen

    "es, (Komma) ihn"

  • Der Teil mit Sessilia gefiel mir besonders gut und hat mich auch tatsächlich gerührt. Kann nicht oft genug sagen, dass du die Gefühle so lebendig beschreibst. Sinister, das war nun jemand, den man nicht gleich wiedersehen wollte, aber es scheint im Moment ja ganz in Ordnung auszusehen. Dennoch traue ich der Situation nicht ganz und kann mir vorstellen, dass die Dämonen einen bösen Einfluss auf ihn haben. Mal sehen.
    Und mein Name, ich weiß ehrlich gesagt nicht so genau wie ich drauf kam. Es gab da mal einen Charakter in FF VII Crisis Core, möglicherweise hatte der einen Eindruck darauf. Als Christ wäre es ja eigentlich anmaßend, sich nach dem 1. Buch Mose zu benennen. Aber mir macht das halt nicht so viel. ;)

    So, ein paar Kleinigkeiten:

    „Du solltest du dich hinlegen.

    Ein du zu viel. ;)

    Wenn sie auf gleiche Weise vorging wie der Arzt, als nächstes seine Brust und seinen Bauch untersuchen.

    Hier fehlt irgendwas wie z.B: "solle sie als nächstes..."

  • @Windweber :) stimmt, mit der Verkleidung kannst du keinen Dämon täuschen, der was auf sich hält ;) aber die Verkleidung ist nicht direkt für die Dämonen, sondern für die Menschen im Dorf. Und da Samuel ein geübter Magier ist, kann er seine Aura ohne Probleme verbergen, das kann man selbst von Sinister erwarten. Und was Richard angeht, der hat den Stein - dazu kommt später noch mehr.
    Bin froh, dass Richard etwas besser abschneidet, schliesslich sollte der letzte Abschnitt für ihn einen Wendepunkt darstellen. Langsam bekommt er etwas mehr Rückgrat.

    @Genesis Ach so, dem Einfluss von prägenden Charakteren kann man sich nicht entziehen :D so erging es auch meiner E-Mail-Adresse, die nach Luna Lovegood benannt worden ist (Harry Potter).


    Danke für die Tips und dass ihr noch immer weiterlest!!!! :alien:

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Hey,

    zu Post 155 Richard Abreise:

    Ich wünschte, ich hätte auch so einen Samuel an meiner Seite, der immer die richtigen Wörte findet, um mich aufzubauen, wenn ich gerade wegen irgendwas am Boden bin. Dieser Dialog ist dir wirklich gut gelungen ...
    Die bevorstehende Reise lässt Spannung aufkommen und man fragt sich zwangsläufig, was die beiden wohl erwarten wird. Und...was es wohl mit dem Stein auf sich hat, den Samuel Richard schenkt.

    Schön, schön! Ich komme im Moment übrigens nicht so schnell mit dem Lesen hinterher, aber du weißt, dass ich noch bei dir bin, ja? Werde versuchen, wieder aufzuholen :)

    Viele Grüße,
    Rainbow

  • Richard, verbunden (566 n. Rh.)
    Sie saßen um das kleine Feuer. Es wurde bereits dunkel. Auf Samuel Geheiß fassten sie sich an den Händen um zu beten. Die inzwischen so vertrauen Worte füllten den Raum mit Wärme. All die Wesen, die Gräser, die Bäume, die Ameisen, Vögel und anderen Geschöpfe hatten sich für die Menschen geopfert vor unendlich vielen Jahren. Selbst die Erde, auf der sie saßen, war ein beseeltes Wesen, das unzählige andere Geschöpfe nährte. An diesem Abend fühlte Richard das Leben in ihr. Ein feines Rauschen lag in der Luft, ein Knistern. Die Erde schien ihn in sich aufzunehmen und einzuhüllen in eine liebevolle Umarmung. Du gehörst zu uns, flüsterten die Geister des Raumes. Und wir zu dir. Und doch kannst du nicht zu uns gehören, denn nie warst du etwas anderes und niemals wirst du es sein.
    Von Samuels Hand zu seiner Linken ging ein Impuls aus. Er floss durch Richards Körper und weiter zu Sessilia. Doch die Energie floss nicht einfach wieder aus ihm hinaus, sie nahm einen Teil von ihm mit sich und Richard spürte, wie er sich mit ihr weiter durch den Kreis von Menschen bewegte. Er erkannte den Bauern, Sinister, Roland. Und von jedem wurde ein Teil mitgetragen bis hin zurück zu Samuel, wo sich der Kreis schloss. Sechs Herzen begannen im Gleichtakt zu schlagen. Sechs Atemrhythmen glichen sich einander an. Reibungslos floss die Energie durch ihre Hände und verband diese sechs so unterschiedlichen Seelen miteinander. Es war wie ein Lächeln, das sie alle einhüllte und welches sie gleichzeitig selbst ausstrahlten. Bilder tauchten vor Richards inneren Augen auf.
    Ein kleines Mädchen, allein und verlassen in einem kalten, grauen Zimmer mit vergittertem Fenstern. Ein gestohlenes Buch, versteckt unter der Matratze des Bettes in der Ecke.
    Ein junger Mann, einen Strauß Blumen in den Händen. Am Grab seiner Frau, ein Säugling auf dem Arm.
    Ein Junge, mit blutenden Striemen auf dem Rücken. Zusammengekauert auf dem Boden vor den Füßen seines Vaters, der die Rute abermals erhob.
    Ein Mann, weinend über den Leichnam seines Freundes gebeugt. Das Schwert von Blut getränkt und das Herz voller Kummer.
    Ein Junge, gelähmt vom Schock beim Anblick des Bruders. Eine Axt, die den Hals der geliebten Mutter durchtrennte.
    Ein kleiner Junge, zusammengekauert unter einem Haus im Wald. Elternlos, hoffnungslos, schutzlos.
    Tiefe Trauer erfüllte die Verbundenen und knüpfte ein unsichtbares Band zwischen ihnen.
    Neue Bilder stiegen in ihren Seelen auf. Ein Mädchen, inmitten eines riesigen Raumes mit unzähligen Regalen voller Bücher. An der Hand einer Frau.
    Ein Mann, auf einer blühenden Wiese, ein lachendes Kind auf dem Rücken.
    Ein junger Mann, knieend vor einem weiß gewandeten Priester, ein schwarzes Zeichen zwischen den Schulterblättern.
    Ein Junge, lachend beim Spiel mit Holzschwertern.
    Ein Paar Augen. Dunkel. Unendlich tief und weit wie ein uferloses Meer. Doch von einem Strahlen erfüllt.
    Nichts blieb übrig, als dieses Strahlen. Und Worte erklangen daraus: Suche David aus Sala.

    „War das deine Erinnerung, Richard?“, fragte Samuel, als sie am nächsten Tag ihren Weg fortsetzten.
    „Welche?“, fragte Richard, obwohl er zu wissen glaubte, welche Samuel meinte.
    „Wann hast du von David aus Sala gehört? Mit wem hast du da gesprochen?“
    „Du kennst diesen David?“, fragte Richard aufgeregt. „Ich dachte schon, der Mann sei vielleicht ein bisschen verrückt gewesen. Das war damals, als ich noch bei Onkel Theodor gearbeitet habe. Der Mann ist eines Morgens in der Wirtsstube aufgetaucht. Es war sehr seltsam, im Nachhinein war ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich das wirklich erlebt habe, oder ob es nur ein Traum war. Er hat mir gesagt, ich solle nach David aus Sala suchen. Aber ich habe es wieder vergessen.“
    „Hat dir der Mann seinen Namen genannt?“
    „Nein, aber er hat meinen gewusst. Es war wirklich seltsam.“
    Samuel schwieg.
    „Kennst du den Mann? Oder David aus Sala?“, fragte Richard.
    „Vor langer Zeit. Und David aus Sala, er war mein Lehrer. Doch er ist aus meinem Leben gegangen, als ich noch recht jung war.“
    „Er war dein Lehrer? Wo ist er jetzt?“
    „Ich weiß nicht, wo er sich aufhält.“
    Sinister, der ihnen anscheinend zugehört hatte, fragte: „Ist er nicht von der Gnosis verbannt worden, weil er diesem Unruhestifter gefolgt ist?“
    Samuel nickte. „Vor einigen Jahren, als ich selbst noch kein Priester war, erschien ein Mann namens Markus Aurelius in Caput. Viele Menschen glaubten in ihm den Nachfolger des heiligen Rhamnus gefunden zu haben und sind seiner Lehre gefolgt. Auch mein Lehrer David hat sich sehr für ihn interessiert.“
    „Und war er der Nachfolger von Rhamnus?“, fragte Richard neugierig.
    „Die Priester haben ihn geprüft. Auch Vater Canis, der damals noch kein Eingeweihter war. Er war sehr angesehen unter den Priestern, er hat viel Gutes für die Menschen getan und war schon damals ein ausgezeichneter Gelehrter. Das war noch vor seiner Krankheit. Sein Spezialgebiet war die Sterndeutung. Er war es, der schlussendlich bestätigt hat, dass Markus Aurelius nicht der Auserwählte sein könne. Er sei zu früh erschienen.“
    Wieder der Auserwählte, dachte Richard. Also suchen sie schon lange nach dem Menschen, von dem die Sterne berichten.
    „Deshalb hat man ihn vertrieben“, schob Sinister ein.
    „Weshalb? Hat er sich denn für den Auserwählten ausgegeben?“, wollte Richard wissen.
    „Das weiß ich nicht so genau“, gab Samuel zu. „Aber seine Anwesenheit hat große Unruhen ausgelöst. Manche Leute haben sich gegen die Gnosis gestellt und es drohte ein Bürgerkrieg auszubrechen. Ich weiß noch, dass ich selbst sehr verunsichert war in dieser Zeit. Als Geistlicher hatte ich mich dem Weg der Gnosis verpflichtet und auf einmal gab es viele Menschen in der Stadt, die gegen die Gnosis gesprochen haben. Bald war es nicht mehr sicher, in der Robe auf die Straße zu gehen. Man musste damit rechnen, beschimpft oder gar mit Steinen beworfen zu werden. David hat versucht, die Unruhen zu besänftigen. Er hat mit Vater Canis gesprochen, der ihm damals sehr nahe gestanden hat, doch die Lage hat sich verschärft und einen Keil zwischen sie getrieben. Ich habe zu jener Zeit noch nicht wirklich verstanden, was vor sich ging. Ich verehrte meinen Lehrer und wäre ihm überallhin gefolgt, doch man hat ihm verboten, weiter zu unterrichten. Und als er sich nicht von den Lehren Markus‘ abwenden wollte, hat man ihn verbannt. Ich habe ihn seither nicht wiedergesehen.“
    „Und was geschah mit Markus?“, fragte Richard weiter.
    „Man hat versucht, mit ihm zu reden und ihn dazu aufgefordert, die Menschen in Ruhe zu lassen. Er wurde mehrfach verwarnt, doch er hat nicht aufgehört, in Caput und in der näheren Umgebung zu predigen und immer mehr Menschen sind durch ihn beeinfluss worden. Um weitere Ausschreitungen zu verhindern, haben die Gnosis und der Hohe Rat die Verhaftung des Predigers angeordnet. Diese ist jedoch nicht gelungen. Markus ist geflohen, wie auch einige seiner Anhänger. Die meisten jedoch haben sich schließlich von ihm abgewandt. Sie mussten einsehen, dass sein Einfluss das Volk entzweit und geschädigt hatte.“
    „Oder sie wurden hingerichtet“, sagte Roland mit seiner ruhigen, tiefen Stimme. „Das sollte man nicht vergessen, Vater Samuel.“
    „Ja, du hast recht. Es ist nicht etwas, das ich vergessen könnte. Ein paar wenige, die sich strikt gewehrt haben, die Gnosis anzuerkennen, wurden öffentlich hingerichtet.“
    Schockiert sah Richard seinen Lehrer an. „Weshalb? Das haben die Priester zugelassen? Was haben sie getan, um den Tod zu verdienen?“
    „Es wurde sogar von den Priestern angeordnet. Und der Hohe Rat war einverstanden damit. Ich muss selbst sagen, dass ich diese Methode nicht wirklich gutheißen kann. Ich glaube, jeder Mensch sollte die Gelegenheit bekommen, sich in diesem Leben noch zu bessern und auf seinen Weg zurückzufinden, sollte er ihn einmal verlieren. Aber einige der Priester sind der Meinung, dass schlimme Verbrecher sich nicht mehr ändern können. Weil sie zu sehr in sich selbst und ihren Vorstellungen gefangen sind. Deshalb erlöst man sie von diesem Körper, diesem Leben und seinen Prägungen. Ich war selbst bei der Hinrichtung dabei, denn es war Pflicht für alle im Ducatus, daran teilzunehmen. Die Verurteilten wurden auf ein Podest geführt, mit verbundenen Augen, die Hände auf dem Rücken gebunden. Ihre Namen wurden genannt und sie wurden ein letztes Mal gefragt, ob sie sich von der falschen Lehre abwenden wollten, oder ob sie sich für den Tod entschieden. Nur wenige haben sich noch umentschieden. Die meisten sind geblieben. Das hat großen Eindruck bei mir gemacht. Damals hätte ich mich wohl nicht für meinen Glauben hinrichten lassen.“ Er strich sich übers Kinn und schaute hinauf zu den Bergwipfeln zu ihrer Linken. Bedächtig fuhr er fort: „Dann haben wir eine öffentliche Messe abgehalten und gebetet. Wir haben dafür gebetet, dass diese Menschen, die von ihrem Weg abgekommen sind, in einen neuen, reinen Körper hineingeboren werden. Ohne die Erinnerung an dieses Leben. Dass sie zur reinen Lehre zurückkehren mögen. Und in ihrem nächsten Leben die Stufen der Kasten emporsteigen mögen, bis zur höchsten, um Rhamnus und den heiligen Wesen zu dienen. Danach wurden sie gehängt.“
    „Ich habe gehört, die Gebete seien noch eine Woche lang weitergeführt worden“, sagte Sinister.
    Samuel nickte. „Alle Novizen und Priester haben sich im Gebet abgewechselt. Es wurden Blumen aufgestellt und Kerzen angezündet. Man hat sich um die Verwandten gekümmert. Jeden Abend versammelten wir uns wieder auf dem Platz, um gemeinsam für die Toten zu beten und ihren Seelen und ihrem Geist eine gute Reise zu ermöglichen. Es mag vielleicht seltsam klingen, aber diese Woche hat uns mehr zusammengeschweißt, als es ein Jahr gemeinsames Lernen und Beten vermocht hätte.“
    „Glaubst du, es war gerecht, so zu handeln?“, fragte Sessilia. Ihre Stimme klang seltsam hohl. Richard hatte gar nicht bemerkt, dass sie sich ebenfalls zu ihnen gesellt hatte. „Glaubst du, diese Menschen konnten eine gute Wiedergeburt erfahren?“
    Samuel legte eine Hand auf ihre Schulter. „Wenn so viele Menschen gemeinsam beten, dann bleibt es nicht ohne Wirkung. Betest du manchmal für sie?“
    „Ja“, hauchte Sessilia. „Ich hoffe, dass sie nun nicht mehr leiden müssen.“
    „Das hoffe ich auch. In ungefähr drei Monaten ist der Gedenktag. Wenn du möchtest, können wir dann gemeinsam beten. Ich entzünde jeweils eine Kerze auf dem Altar im Ducatus für sie und ihre Verwandten, vielleicht möchtest du mitkommen.“
    Sie nickte. „Das wäre schön. Langezeit wusste ich nicht, ob ich überhaupt für sie beten darf. Ich habe immer gedacht, das wäre schlecht.“
    „Nein, jeder Mensch ist etwas Kostbares. Es gibt keine im Grunde schlechten Menschen. Es ist immer etwas sehr Schönes, einem anderen Menschen Glück und Frieden zu wünschen“, beruhigte sie Samuel.
    „Aber was würde geschehen, wenn sie sich wieder an alles erinnern würden?“, warf Sinister ein. „Dann würden sie uns heimsuchen. Oder sie wurden nicht wiedergeboren, sondern kehrten als Dämonen wieder auf die Erde zurück.“
    Wie seltsam, dass Sinister sich für etwas interessiert, dachte Richard. Obwohl, ich kann eigentlich nicht sagen, dass ich ihn kenne. Er hat schließlich auch Freunde und zu denen wird er ja auch nicht so abweisend sein wie zu mir…
    „Diese Märchen, die man sich erzählt, sind haltlos. Das solltest du als Candidatus wissen, Sinister. Wenn ein Mensch stirbt, dann verweilen Seele und Geist noch drei Tage lang im Körper. Dann lösen sie sich davon, um in die Seelenwelt einzutreten. Dort verweilen sie im Fegefeuer, bis die Seele von allen Anhaftungen an die physische Welt gereinigt ist. Dies bedeutet auch, dass jeglicher Groll, alle Wut und aller Schmerz zurückgelassen wird. Erst wenn der Mensch sich von den Lasten des vergangenen Lebens befreit hat, dann vermag sich der Geist von der Seele zu lösen, um seinerseits in die geistige Welt einzutreten.“
    „Was geschieht dann in der geistigen Welt?“, fragte Richard.
    „Sie ist die Heimat aller Lebewesen. Deshalb ist der Tod auch nichts Schlimmes. Es ist ein Heimkommen. Wir kehren zurück in die geistigen Sphären, um uns zu stärken und unseren Weg wiederzufinden. Noch einmal durchlaufen wir unser vergangenes Erdenleben, doch diesmal aus der reinen Sicht des Geistes. Wir erkennen unsere Fehler und sehen, wie wir sie berichtigen können.
    Zudem erhalten wir Einblick in unser nächstes Leben und werden auf die auf uns wartenden Prüfungen vorbereitet. Je weiter wir in unserer geistigen Entwicklung gekommen sind, desto klarer werden diese Einblicke sein und desto eher werden sie uns nach der Geburt wieder führen können. Denn mit der Geburt verlieren wir unsere Erinnerung. Wir werden rein, unschuldig und ohne Wissen in diese Welt geboren. Mit einer gereinigten Seele in einen gereinigten Körper. Es ist nicht möglich, dass nach dem Tod ein Dämon aus einem Menschen entstehen kann. Dies kann nur hier auf der Erde geschehen.“
    Die Gruppe verfiel in Schweigen. Richard fragte sich, in welchem Zusammenhang Sessilia mit den Menschen von damals stand. Weshalb betete sie für die Hingerichteten? Samuel trat zu ihm. „Hat der Mann dir gesagt, wie du David finden sollst?“, fragte er.
    „Er hat nur gesagt, dass er im Hügelgebiet lebt. Aber wo das ist, weiß ich nicht.“
    „Hmmm. Im Hügelgebiet. Da kommen mehrere Gegenden in Frage. Ihr wart damals in Caput? Dann wird es wohl da in der Nähe sein. Möchtest du ihn suchen?“
    „Ich weiß nicht recht. Damals kam es mir so vor, als ob es sehr wichtig sei. Aber im Nachhinein bin ich mir nicht mehr sicher, ob der Mann vielleicht Magie benutzt hat, um mich zu beeinflussen. Aber da ich nun weiß, dass dieser David dein Lehrer war, würde ich ihn doch gerne kennenlernen. Denkst du, er lebt immer noch nach den Lehren von diesem Markus?“
    „Wahrscheinlich. Ich hätte nicht gedacht, dass er überhaupt noch lebt. Er muss schon sehr alt sein. Und ob wir der Information dieses Mannes vertrauen können, wissen wir auch nicht. Aber ich würde David gerne sehen. Oft habe ich mir gewünscht, mit ihm reden zu können. Vielleicht hätte es mir viel Verwirrung und Schmerz erspart. Oder mehr davon beschert. Wer kann das schon wissen. Vielleicht wäre ich sogar mit ihm gegangen, wenn es mir möglich gewesen wäre. Nein, ich wäre mit Sicherheit mit ihm gegangen. Aber ich war jung. Und heute? Ich hoffe, heute besser über solche Dinge urteilen zu können.“ Auch Samuel kann zweifeln, dachte Richard etwas erstaunt. Bisher war ihm sein Lehrer unfehlbar erschienen. Aber auch Samuel ist ein Mensch. „Würdest du mich begleiten, wenn ich mich auf die Suche nach David machen würde?“, fragte Samuel schließlich.
    „Ich würde dich überall hin begleiten“, antwortete Richard mit fester Stimme.
    Samuel lächelte. „Du erinnerst mich an mich selbst von früher. Ich hätte David wohl dasselbe geantwortet.“

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Hi RenLi,

    zu Post 156: ein sehr geiler Abschnitt. Ich bin wie immer beeindruckt :) Deine Beschreibungen sind genial und die düstere Stimmung kommt gut rüber.Mehr kann ich eigentlich schon fast nicht sagen. Alles, was ich gefunden habe, sind ein paar kleine Fehlerchen:


    Samuel und Richard steigen aus.

    stiegen

    „Von nun an müssen wir Wachsam sein.

    wachsam (klein)

    Richards Augen nahmen nun die Umgebung die wieder wahr,

    das "die" ist hier vielleicht zuviel?

    Viele Grüße,
    Rainbow

  • Hey,

    zu Post 159: Richard Wiedergeboren

    Nach @Windwebers Ausführungen war ich kurzzeitig etwas eingeschüchtert und musste das Ganze erst mal sacken lassen, bevor ich mich an eine Antwort herangewagt habe :rofl: Ich bin schwer beeindruckt von deinen philosophischen Gedanken, windweber!

    Also, ich muss ehrlich gestehen, dass ich beim ersten Lesen überhaupt nicht über Samuels Äußerungen gestolpert bin - eher im Gegenteil, ich fand der Teil hat sich wie immer flüssig lesen lassen und war für mich schlüssig. Allerdings kaufe ich dir ja auch alles ab-so, wie du es rüberbringst :) Außerdem schockt mich seit Samuels Anekdote zu der geistigen Kapazität von Frauen nichts mehr... ich glaube, ähnlich abgedrehte Ansichten gibt es wahrscheinlich in jeder Religion und die Argumente, hier er hier anführt, um das Leiden auf der Welt zu erklären, kamen mir jetzt auch nicht unbekannt vor. Samuels Meinung muss sich nicht mit meiner als Leser decken ... aber irgendwie klingt es schon ein bisschen wie "wahre Helden werden im Feuer geschmiedet" oder so. Naja.
    In jedem Fall finde ich es cool, dass Richard sein Tief überwunden hat und endlich wieder neuen Mut schöpft...habe ich schon gesagt, dass ich deine Geschichte liebe???

    Viele Grüße,
    Rainbow

  • Hallo zusammen! Schön zu sehen, dass ihr immer noch mitlest!! Habe eure Anmerkungen natürlich in meinem Skript eingebaut.
    Und vielen, vielen Dank, @Rainbow !! :santa2: es ist jedes Mal wie Weihnachten, wenn ich einen von euren Komentaren lese :) Keeps me going!

    Also und jetzt kommt der nächste Teil, huiii, schlotter, zitter, ächtzzzz. Jetzt wird es böööööööööseeee!!


    Richard, Pulvis (566 n. Rh.)

    Der Bauer Tridan, mit den Ochsen und seinem Karren im Schlepptau, führte sie einen Weg in den Wald hinein. Schon bald begann die Straße anzusteigen und zog sich im Zickzack den Berg hinauf. „Früher war das Dorf der Rückzugsort eines reichen Landbesitzers im Tal. Wundert euch also nicht über die Festung inmitten des Dorfes. Außerdem sind die Häuser von einer steinernen Mauer umgeben. Es wirkt also nicht gerade freundlich“, brummte der Bauer.
    Gegen Mittag gelangten sie zu einem steinernen Torbogen. Er sah sehr alt aus und war beinahe gänzlich von Moos und Flechten bedeckt. „Weshalb steht der hier? Ohne Tor und Mauer?“, fragte Sinister. „Der ist doch zu nichts nütze.“
    „Solche Tore hat man früher zur Abwehr von bösen Geistern gebaut. Man glaubte, dass keine schlechten Wesen ihn durchqueren können“, erklärte Samuel.
    „Und funktioniert das?“, fragte Sinister, während er ohne Behinderung durch den Bogen trat.
    „Mit den richtigen Ritualen wahrscheinlich schon. Aber die sind längst in Vergessenheit geraten.“
    „Und durch dieses abscheuliche Zeug ersetzt worden“, knurrte Sinister und deutete auf etwas, das hinter dem Bogen verborgen war. Als Richard zu ihm trat, drehte sich ihm der Magen um. Auf einen Holzspieß hatte man einen Hasen aufgesteckt. Fliegen schreckten auf und surrten um den Kadaver, in dem sich bereits Maden tummelten.
    „Wie scheußlich!“, keuchte Sessilia.
    „Unnötiges Töten“, brummte Roland.
    „Lass uns weitergehen“, sagte Samuel. „Dies scheint mir erst der Anfang zu sein. Macht euch darauf gefasst, dass wir noch weiteren solcher Opfer begegnen werden.“
    „Können wir es nicht begraben oder sonst etwas für den Hasen tun?“, fragte Sessilia.
    Richard konnte sich nicht vorstellen, das Tier von der Stange zu nehmen, es stank fürchterlich nach Verwesung.
    „Wir wollen die Dorfbewohner nicht schon im Vorneherein verärgern. Deshalb lassen wir ihn hängen“, beschloss Samuel. „Es ist auch nur noch der Körper übrig, Seele und Geist sind bereits weitergegangen.“
    Sie setzten ihren Weg bergauf fort. Bald begann sich der Wald zu lichten und sie konnten die graue Mauer durch die Bäume hindurch sehen. „Wie viele Tiere haben die geschlachtet?!“, keuchte Sinister.
    Richard sah, was er meinte. In großen Buchstaben hatte man Teufel an die Mauer geschrieben.
    „Ist das wirklich Blut?“, fragte Sessilia und sprach somit Richards Gedanken aus.
    „Das wissen wir nicht. Aber die Vermutung liegt nahe.“ Samuel blieb stehen. „Es ist wohl noch schlimmer, als ich gedacht habe. Vielleicht wäre es besser, wir würden umkehren.“
    „Nein, Vater, wir können nicht umkehren!“, entsetzte sich Tridan. „Meine Tochter ist da drin, meine Tochter!“ Der Mann blickte verzweifelt in die Runde. Richard erinnerte sich an das Bild mit dem Kind, welches im Rasen spielte. Und den Mann, der mit einem Säugling auf dem Arm am Grab seiner Frau stand. „Mein einziges Kind, weshalb habe ich sie diesen Mann nur heiraten lassen? Weshalb habe ich sie in dieses Dorf gehen lassen? Wir müssen nach ihr sehen!“
    Samuel blickte zur Mauer hin. „Wir wissen nicht, wie es drinnen aussieht. Ich würde zu gerne wissen, was Agmen tut. Was meinst du, Roland?“, fragte Samuel den Krieger.
    „Wir haben nicht sehr viele Informationen. Und die bekommen wir wohl nur, wenn wir da reingehen. Vielleicht könnten wir auch jemanden reinschicken, um die Lage zu überprüfen, was jedoch eher riskant ist“, überlegte er weiter. „Oder wir suchen uns einen Ort oberhalb, von wo aus man das Dorf überblicken kann.“
    Samuel nickte. „Wie gut kennst du dich hier aus, Tridan? Gibt es einen Weg um das Dorf herum, damit wir uns eine erhöhte Stelle suchen können?“
    „Tut mir leid, ich habe nur immer diesen Weg gewählt, wenn ich Lieferungen gemacht oder meine Tochter besucht habe.“
    Ein hoher Pfiff drang durch die Bäume. „He! Wer ist da unten!? Wenn ihr keine Dämonen seid, dann kommt zwischen den Bäumen hervor und versteckt euch nicht länger!“, bellte eine Stimme von der Mauer hinunter.
    „Sie haben uns gesehen!“
    „Dann haben wir keine Wahl. Lass uns weitergehen.“
    Sie traten aus den Bäumen heraus und auf die Mauer zu. Nun konnten sie oben ein Gesicht erkennen. „Das ist doch ein Junge. Der kann nicht älter als zwölf sein“, murmelte Sinister.
    „Was wollt ihr?!“, rief der Junge hinunter. Nun erschien das Gesicht eines älteren Mannes neben ihm.
    „He, Bursche, kennst du mich nicht?“, rief Tridan hoch.
    Der Junge lehnte sich ein Stück über die Mauer. „Dich hab ich auch schon gesehen, vom Dorf unten.“
    „Ich bringe Mehl mit. Hab gehört, es sei ein bisschen knapp hier oben.“
    „Hier oben ist alles knapp“, meinte der Mann. „Wir können alles gebrauchen, was du an Essbarem mitbringst.“
    „Und weshalb sind die da hier?“, fragte der Junge.
    „Es ist gefährlich, heutzutage allein unterwegs zu sein. In dieser Gegend treibt sich allerlei in den Wäldern herum“, meinte Tridan und der Mann nickte zustimmend. „Und dieser hier ist ein Händler, der will irgendetwas Geschäftliches hier oben erledigen.“
    „Was will er denn?“, fragte der Mann unfreundlich.
    Samuel trat vor. „Mein Kunde züchtet und verkauft Ziegen. Deshalb bin ich auf der Suche nach einer bestimmten Rasse. Er möchte einen guten Bock für seine Herde kaufen.“
    „Nun gut, öffnet das Tor!“, befahl der Mann.
    Die mächtigen Torflügel setzten sich knarzend in Bewegung. „Denkt daran, nicht alleine loszuwandern“, mahnte Samuel sie leise.
    Richard nickte, das hatte er auch nicht vorgehabt. Das Dorf war ihm nicht geheuer. Irgendwie schien hier alles dunkler zu sein als sonst. Drei Männer kamen ihnen von innen entgegen.
    „Der Mann trägt eine Waffe bei sich“, murrte der eine und deutete auf Roland. „Wir sollten sie ihm abnehmen, bevor er eintritt.“
    „Ach was, vor sowas hast du noch Angst? Wenn der Dunkle vor dir steht, dann kannst du mit einem Stück Stahl auch nichts mehr ausrichten“, knurrte ein anderer.
    „Lange nicht gesehen, Tridan“, sagte der dritte und reichte Tridan die Hand. „Wir leben in schweren Zeiten. Das wird kein angenehmer Aufenthalt für dich werden.“
    „Was soll das heißen, Kail“, wollte Tridan wissen.
    „Kommt erst mal rein. Wir besprechen das Übrige drinnen“, sagte Kail und wandte sich zum Tor um.
    „Wartet!“, rief der Junge von oben herab. „Da ist eine Frau!“
    „Was?!“ Die Männer fuhren herum.
    Sessilia stand wie erstarrt da. Richard blickte zwischen ihr und den Männern hin und her. „Gibt es ein Problem?“, fragte Samuel.
    „Sie soll zurückgehen!“
    „Kein Weib kommt in unser Dorf!“
    „Weshalb? Gibt es dafür bestimmte Gründe?“, hakte Samuel nach.
    „Es ist besser für uns alle, wenn sie draußen bleibt“, sagte Kail, der von den drei am ruhigsten geblieben war.
    Richard trat neben Sessilia. „Sie kann doch nicht hier draußen bleiben!“, rief er entsetzt. Ein Blick seines Lehrers brachte ihn zum Schweigen. Unglaublich, dass Samuel selbst jetzt noch die Ruhe bewahren konnte.
    „Ich werde meine Tochter nicht ungeschützt in der Wildnis lassen. Nennt mir eure Gründe“, forderte Samuel.
    „Die Frauen und die Kinder, sie hat es zuerst erwischt.“
    „Halt’s Maul, Emud!“, zischte Kail.
    „Was soll das heißen? Wo sind Klara und die Kinder? Geht es ihnen gut? Wo sind sie?!“, rief Tridan.
    Die Männer wechselten Blicke. „Kommt erst einmal rein. Wir erklären den Rest, wenn wir drin sind.“
    „Aber das Weib bleibt draußen“, beharrte Emud.
    „Ist doch nicht unsere Sache, wenn er sie mitnehmen will“, meinte Kail, offensichtlich genervt.
    „Ist es doch! Es ist gefährlich! Hast du’s noch immer nicht kapiert?!“, schrie Emud und packte Kail am Kragen. „Es wird uns alle töten! Hast du nicht genug gesehen?!“
    „Schwachsinn! Seit wir die Mauer bemalt haben ist nichts mehr geschehen“, wehrte Kail ab.
    „Willst du das auf’s Spiel setzen?!“, knurrte Emud und schüttelte Kail, der sich aus dem Griff des anderen zu befreien versuchte.
    „Was soll das heißen, nichts mehr geschehen? Der alte Torsten hat sich vom Turm gestürzt“, sagte der andere.
    „Der war verrückt!“, rief Kail.
    „Bald sind wir hier alle verrück! Das sag ich dir! Geht fort, ihr alle! Wer sich zu lange hier aufhält, der wird wahnsinnig!“, schrie Emud.
    „Gehen?! Ich werde nicht gehen, bevor ich nicht weiß, was mit meiner Tochter passiert ist!“, rief Tristan außer sich.
    „Beruhigt euch, wir werden nicht lange bleiben. Wenn wir unsere Geschäfte getätigt haben, dann werden wir wieder verschwinden. Auf meine Tochter passe ich selber auf“, sagte Samuel und hob beschwichtigend die Hände. Richard fühlte, wie ein Welle der Ruhe durch seinen Körper gespült wurde. Emud ließ Kail los. „Nun, dein Pech ist es“, murrte er.
    Hat Samuel etwa Magie angewandt, um die Stimmung zu beeinflussen?, fragte sich Richard. Geht so etwas?
    „Wo wollen wir sie unterbringen?“
    „In Betties alter Schenke?“
    „Warum nicht.“
    Die Männer setzten sich in Bewegung und Samuels Gruppe folgte ihnen. Knarzend schloss sich das Tor wieder. Richard blickte zurück und sah, wie drei Jungen das Tor mit einem großen Balken verriegelten. Nicht sehr beruhigend, dachte Richard. Hier eingeschlossen zu sein behagte ihm gar nicht.
    Die Männer führten sie eine von Häusern gesäumte Straße entlang, an deren Ende dunkel und drohend die Festung aufragte. „Ein reicher Fürst hat die vor langer Zeit einmal gebaut. Heute wohnt niemand mehr darin“, erklärte Kail.
    Sie blieben vor einem heruntergekommenen Haus stehen, vor dessen Tür ein Schild mit der Aufschrift Feste hing. „Willkommen in Betties Schenke“, sagte Kail und lachte bitter. „Steht auch schon länger leer. Ihr könnt die Ochsen im Stall unterbringen. Wegen dem Mehl schick ich Bart vorbei. Der erledigt das.“
    „Wollte eh noch zu Bart“, murrte Emud. „Kümmer du dich um die Fremdlinge. Ich geb den anderen Bescheid.“
    „Ist mir auch recht. Und du, Arnold, geh zurück an die Mauer, die Jungen sollten da nicht allein rumstehen“, sagte Kail zu dem dritten.
    Die beiden Männer hasteten in unterschiedliche Richtungen davon. „Ich helf dir beim Versorgen der Ochsen. Ihr könnt schon mal reingehen. Sucht euch irgendwelche Zimmer aus, sie sind nicht abgeschlossen. Wir kommen dann nach.“
    Tridan und Kail begannen sich am Joch der Ochsen zu schaffen zu machen.
    „Dann wollen wir mal“, meinte Samuel und öffnete die Tür zur Gaststube. Und das Tor zu Hölle öffnet sich, dachte Richard. Mit Gasthäusern würde er sich wohl nie anfreunden können.
    Sie traten ein in den dunklen Raum. Nur durch die offene Tür drang ein Streifen Licht ein und beleuchtete das Chaos in der Wirtsstube. Es sah noch viel schlimmer aus als in Uriels Bart. Allerdings schien sie noch immer benutzt zu werden. „Zieht die Vorhänge auf. Wir wollen ein bisschen Licht in den Raum bringen“, wies Samuel seine Begleiter an.
    Das Licht enthüllte das volle Ausmaß der Unordnung. Überall stand dreckiges Geschirr, es türmte sich geradezu in die Höhe. Die meisten Stühle waren kaputt, alles schien schmutzig und abgenutzt zu sein. Wie viel Arbeit das nur geben würde, wollte man das alles aufräumen, dachte Richard und seufzte gequält.
    Sie fanden die Treppe ins obere Stockwerk, wo es mehrere kleine Zimmer gab, mit jeweils zwei oder drei Betten. Sie fanden zwei Dreierzimmer, welche nebeneinanderlagen. „Es wäre mir zwar lieber, wenn wir alle in einem Zimmer Platz hätten, aber es ist wie es ist. Dieses hier besetzen Richard, Sessilia und ich. In dem nebenan werdet ihr, Sinister und Roland mit Tridan schlafen. Wenn wir denn zum Schlafen kommen. Legt euer Gepäck ab. Wir treffen uns wieder unten in der Wirtsstube“, wies Samuel die Gruppe an.
    Richard trat mit Samuel und Sessilia in den Raum ein. „Weshalb wollen sie keine Frauen hier?“, fragte Richard sofort, als sie allein waren.
    „Ich bin mir sicher, wir werden es bald erfahren. Macht euch darum mal keine Sorgen. Solange wir zusammenbleiben und auf die Götterwesen vertrauen, wird uns nichts geschehen.“

    Wenig später fanden sie sich in der Wirtsstube wieder ein. „Wo bleibt Tridan?“, fragte Sinister ungeduldig. „Wie lange kann man brauchen, um zwei Ochsen zu versorgen?“
    „Meinst du, wir sollten nach ihm sehen?“, fragte Sessilia offensichtlich beunruhigt.
    „Wir warten hier bis er wiederkommt. Lasst ihm etwas Zeit“, sagte Samuel.
    Kurz darauf betrat Kail den Raum. Er sah noch verstimmter aus als zuvor. „Wo ist Tridan?“, fragte Sessilia sogleich. Kail funkelte sie böse an und antwortete auf ihre Frage an Samuel gewandt: „Er ist noch im Stall. Er wird wohl noch etwas Zeit brauchen. Er kommt, sobald er sich etwas beruhigt hat.“
    „Was geht in diesem Dorf vor sich?“, fragte Samuel.
    Kails Augen verengten sich. „Außenstehende geht das nichts an“, knurrte er. „Erledigt eure Geschäfte, dann verschwindet von hier.“
    Emud kehrte mit drei weiteren Männern zurück. Er stellte sie der Reihe nach als Bart, Henri und Finn vor. „Du hast ja das ganze Pack mitgebracht“, meinte Kail. „Nun gut. Geht ja auch alle etwas an, nicht wahr?“
    „Das ist die Frau? Kann ich nicht gutheißen“, brummte Bart. „Das Risiko ist zu groß.“
    Henri nickte zustimmend. „Wir sollten sie gleich wieder hinausschaffen.“
    „Könnte mal jemand erklären, was hier vor sich geht?“, fragte Sinister. „Vielleicht können wir euch helfen.“
    „Helfen? Du willst uns helfen? Da kann ich nicht mal drüber lachen“, sagte Bart trocken, die anderen ignorierten Sinsters Bemerkung.
    „Hab gehört, ihr wollt einen Bock kaufen. Hab einen schönen. Ein bisschen alt ist er ja. Aber er erledigt seine Arbeit noch immer ausnahmslos. Wollte ihn eh schon bald schlachten, weil ich einen neuen nachnehme“, meinte Finn. „Den Alten kriegt ihr für wenig Geld, ihr könnt ihn euch ansehen. Wenn er euch passt, dann könnt ihr noch heute wieder gehen. Das wäre allen lieber.“
    „Gut, ich werde mir das Tier ansehen. Ihr bleibt hier und wartet darauf, dass Tridan wieder zurückkommt. Verlasst das Wirtshaus nicht“, befahl Samuel und wandte sich mit dem Ziegenhirten zum Gehen.
    Das Unbehagen, welches von Richard Besitz ergriffen hatte, verstärkte sich. Ohne Samuel fühlte er sich schutzlos. Hatte er nicht gerade noch gesagt, solange sie sich nicht trennten, wäre alles in Ordnung? Als hätte er seine Gedanken gehört, schaute Samuel noch einmal zurück, ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde, dann verließ Samuel die Wirtsstube und trat auf die Straße hinaus. Richard spürte, dass Sessilia neben ihm zitterte. Er fasste sie bei der Hand. Samuel hatte Recht. Nun, während sein Lehrer weg war, musste er sich um die Gruppe kümmern. Innerlich rezitierte er das Schutzgebet. Dies und die Wärme von Sessilias Hand beruhigten ihn wieder etwas. Doch die drückende Stimmung ließ sich nicht aufhellen.
    „Wo ist das Mehl, ich möchte es mir ansehen“, sagte Bart. „Ich hoffe, die Qualität ist besser als beim letzten Mal.“
    „Es ist noch draußen auf dem Karren“, antwortete Kail und wandte sich dann an die ungebetenen Gäste. „Ihr bleibt hier und rührt euch nicht vom Fleck.“
    Die Männer verschwanden nach draußen.
    „Wir sollten beten“, meinte Richard, als die Tür ins Schloss fiel. Er hielt Sinister seine freie Hand hin. Der Candidatus verzog das Gesicht, ergriff die Hand jedoch ohne Widerworte. „Es gefällt mir hier nicht. Es ist so drückend, es fällt mir schwer zu atmen“, sagte er und reichte Roland die Hand.
    Der Krieger und Sessilia schlossen den Kreis. Flüsternd setzten sie zum Gebet an. Richard spürte, wie der Schutzstein, den er unter seinem Hemd an einer Schnur trug, wärmer wurde.
    Die lastende Schwere, die über ihnen lag, lichtete sich ein wenig, während sie so vereint standen. „Ich möchte ihre Gräber sehen!“, schrie jemand von draußen.
    „Es gibt keine, wir haben die Leichen verbrannt.“
    Schnell ließen sie die Hände los, nur Richard hielt Sessilias Hand noch fest. Die Tür flog auf und Tridan stürmte herein. Sein Gesicht war aufgequollen und rot. Er musste geweint haben. „Mädchen, du solltest von hier verschwinden“, sagte der Bauer und fuchtelte mit den Armen durch die Luft.
    Emud, Kail und Finn folgten Tridan. „Wir haben getan, was wir konnten. Glaubst du nicht, uns geht das auch nahe? Du bist nicht der einzige, der seine Frau und Kinder verloren hat!“, rief Emud und packte den Bauern an der Schulter.
    „Fass mich nicht an, du Hurensohn!“, schrie Tridan und schlug die Hand weg. „Weshalb habt ihr nicht Hilfe geholt? Ihr habt sie verrotten lassen!“
    „Sie war selber Schuld, dass sie sich zu den Kindern gewagt hat! Wir alle wussten, wie ansteckend die Krankheit ist. Aber sie hat die Kinder nicht hergeben wollen.“
    „Wo ist dieser Schweinehund von Ehemann?! Ich brech ihm alle Glieder!“, schrie Tridan außer sich vor Wut. „Ich habe ihm meine Tochter anvertraut! Diesem nichtsnutzigen Bastard!“
    „Der hat sein Ende bereits gewählt. Er hat sich zu der Leiche seiner Frau in die Flammen gestürzt und ist bei lebendigem Leib verbrannt.“
    „Was?!“, brüllte Tridan. „Den bring ich um!“
    „Krieg dich mal wieder ein! Die sind alle schon längst tot!“, brüllte Emud zurück.
    Tridan holte aus und versetzte Emud einen Fausthieb, der direkt ins Gesicht traf. Der Mann taumelte rückwärts, Tridan fiel in sich zusammen. Er schluchzte. „Klara“, wimmerte er und verbarg sein Gesicht in den Händen.
    Emud wurde inzwischen von den beiden anderen Männern zurückgehalten, damit er nicht auf den gebrochenen Bauern zu seinen Füßen losging. „Dieser Schweinehund hat mir die Nase gebrochen!“, schrie er wütend.
    Roland trat vor den Bauern. „Kühl deinen Kopf. Der Mann hat gerade die Nachricht vom Tod seiner Familie erhalten“, sagte er mit seiner tiefen Stimme an Emud gewandt.
    Doch Emud ließ sich nicht einschüchtern. „Da ist er nicht der einzige“, knurrte Emud. „Alle Frauen und Kinder wurden dahingerafft. Die Krankheit hat sie alle umgebracht!“
    „Alle Frauen und Kinder?“, fragte Sessilia entsetzt.
    „Weshalb nur Frauen und Kinder?“, fragte Roland. „Was soll das für eine Krankheit sein?“
    „Lasst mich los, ihr Trottel. Ich hab mich im Griff“, murrte Emud, worauf ihn die anderen tatsächlich losließen.
    „Setzen wir uns“, schlug Kail vor. „Es ist schon ungemütlich genug.“
    Sie schoben ein paar Tische zusammen und suchten sich Stühle, auf denen man noch sitzen konnte. Bart gesellte sich zu ihnen. „Das Mehl könnte besser sein. Aber es ist besser als nichts“, brummte er.
    „Normalerweise sprechen wir mit Fremden nicht über unsere Angelegenheiten. Geht niemanden etwas an. Aber Tridan hat wohl das Recht, zu hören, was mit seiner Familie geschehen ist“, meinte Kail.
    Der Bauer saß zusammengesunken mit ausdrucksloser Mine auf seinem Stuhl und regte sich nicht bei der Erwähnung seines Namens.
    „Es begann damit, dass eines der Kinder krank wurde. Ein Junge. Er ist schon immer recht auffällig gewesen, hat Unruhe gestiftet und die Älteren genervt“, begann Kail zu erzählen. „Mit der Zeit sind seine Streiche immer gefährlicher geworden. Er hat erst Tiere, dann auch die Menschen mit Steinen beworfen. Seine Eltern erzählten, er sei Zuhause oft ungehobelt, spucke auf seine Mutter und schlage seine Geschwister. Sie sperrten ihn in seinem Zimmer ein, doch in der Nacht brach er aus. Bart hier, hat ihn in seinem Stall gefunden.“ Kail warf Bart einen Blick zu, doch der Alte sagte nichts. Also erzählte Kail weiter: „Er muss einem der Tiere die Kehle durchgeschnitten haben. Der Stall war von Blut getränkt und der Junge lag schlafend daneben. Wir haben ihn in eine Zelle in der Festung eingesperrt, bis er wieder zu Sinnen kommen würde. Doch zur selben Zeit hat eine seiner Schwestern den Verstand verloren. Sie hat ihren Eltern tote Mäuse ins Bett gelegt. Danach hat sie sich nackt ausgezogen und ist wie eine Irre durch das Dorf gerannt. Als wir sie einfangen konnten, ist sie plötzlich in sich zusammengesunken. Wie tot. Sie ist nicht wieder aufgewacht, obwohl sie noch weitergeatmet hat. Daraufhin haben wir die ganze Familie unter Arrest gestellt.“
    „Gibt es denn keinen Pater in diesem Ort?“, fragte Sinister dazwischen. „Für solche Hirnkrankheiten sollten doch die von der Gnosis zuständig sein.“
    „Nein, hier gibt es keinen Pater. Die Gnosis hat kein Interesse an einem kleinen Dorf wie diesem. Wir sind bedeutungslos. Wer würde sich schon um einen Fleck wie diesen kümmern wollen?“, knurrte Emud.
    Richard wollte schon etwas erwidern, doch Roland legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Erzählt weiter.“
    „Die Familie wurde also unter Arrest gestellt, das heißt, wir haben sie alle in die Kerker der Festung eingeschlossen. Wir hatten gehofft, dass wir die Krankheit so unter Kontrolle halten könnten. Noch in derselben Nacht hat der Mann seine Frau erwürgt. Daneben lag die Leiche eines der Kinder. Der Manns schwor, seine Frau hätte das Kind umgebracht und hätte mit ihm dasselbe gemacht, wenn er sich nicht gewehrt hätte. So ging es weiter. Es war, als würde der Wahnsinn um sich greifen. Manche fielen einfach um wie tot und ließen sich durch nichts wieder aufwecken, andere rannten wie die Verrückten durch das Dorf, haben Kälberblut getrunken und andere Menschen niedergestochen. Mit der Zeit konnten wir ein klares Muster erkennen. Die jungen Mädchen waren es, die umfielen wie tote Fliegen. Die Jungen, alle unter zehn Jahren, drehten völlig durch, so auch die Mütter. Nur die Männer blieben bei Verstand.“ Kail linste zu Sessilia hinüber. „Alle hier sind außer Gefahr, nur das Mädchen nicht. Wie alt bist du?“
    „Sechzehn“, antwortete Sessilia, die ganz bleich geworden war.
    „Dann gehörst du wahrscheinlich schon zur zweiten Sorte. Umso schlimmer. Wie sieht es in deinem Kopf aus? Schon irgendwelche wirren Gedanken? Lust auf Blut?“, fragte Kail und beugte sich näher zu ihr.
    Sie schüttelte panisch den Kopf. „Das wird nicht geschehen!“, sagte Richard und drückte ihre Hand fester. „Ich beschütze dich. Und falls nötig verschwinden wir von hier.“
    Emud lachte trocken. „Beschützen? Sie wird dich im Schlaf erdrosseln.“
    „Wie ist meine Tochter…?“, fragte Tridan mit schwacher Stimme. „Ist sie auch…?“
    „Verrückt geworden?“, fragte Emud. „Klar, wie alle Frauen. Sie und ihr Mann haben versucht, mit den Kindern zu fliehen, bevor sie den Verstand verloren hat. Aber es hat sie erwischt. Wie auch meine Frau, Kails Frau, Barts Frau und die der anderen. Wie es auch dich erwischen wird, Mädchen. Es gibt nichts, was du dagegen tun könntest.“
    „Da wär ich mir nicht so sicher. Vielleicht ist die Krankheit nun ausgerottet. Außerdem haben wir die Mauer nicht umsonst mit all dem Blut beschmiert“, warf Kail ein.
    „Glaubst du wirklich, das könnte den Teufel davon abhalten, in das Dorf zu kommen? Einen aufgespießten Hasen und etwas Blut?“, fragte Emud höhnisch.
    „Wir sollten die Rituale heute Nacht wiederholen. Die Ankunft dieser Fremden könnte ein Zeichen dafür sein, dass die Götter unsere Bitten erhört haben“, meinte Bart. „Wenigstens haben wir durch sie wieder etwas Mehl erhalten.“
    „Und sie haben eine Frau in unser Dorf gleich mitgeschickt. Wenn das ein Zeichen ist, dann das eines Dämons“, sagte Emud.
    „Wenn sie aber nicht krank wird, dann werden wir wissen, dass die Götter uns vergeben haben“, wandte Bart ein. Er fixierte Sessilia mit seinen dunklen Augen, die tief in ihren Höhlen lagen. „Wir können sie nicht unbeaufsichtigt lassen. Falls sie die Nacht über bleiben, sollten wir uns in der Wache abwechseln.“
    „Sessilia.“ Richard erhob sich. „Ich muss dich für einen Moment allein sprechen.“
    „Wohin geht ihr?“, fragte Emud misstrauisch.
    „Nur für einen Moment in die Küche“, sagte Richard.
    „Zu viele Messer“, brummte Bart.
    Richard ignorierte die Bemerkung und zog Sessilia mit sich durch die Tür, die in die Küche führte. „Wir sollten von hier weggehen, Richard“, flüsterte Sessilia. Angst sprach aus ihren Augen.
    „Ich weiß, sobald Samuel wieder zurück ist, reden wir mit ihm. Bis dahin leg dir den hier um.“ Richard zog den Schutzstein unter seinem Hemd hervor. Er leuchtete leicht im Halbdunkel der Küche.
    „Den hat Samuel dir gegeben, du solltest ihn behalten“, sagte sie, doch er hatte ihn bereits abgenommen.
    „Der Dämon, oder was auch immer die Leute hier krankmacht, sollte mir nichts anhaben können, richtig?“ Er legte ihr die Schnur um den Hals.
    „Danke, Richard“, murmelte sie. „Ich hoffe, Vater Samuel kommt bald zurück.“
    „Bestimmt. Versteck den Stein. Ich glaube nicht, dass die den sehen sollten.“
    Er wollte sich schon wieder zurück in die Wirtsstube gehen, als sie ihn zurückhielt. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir in so einem Dorf enden, als ich mich auf die Suche nach dir gemacht habe“, flüsterte sie. „Ich hoffe, wir kehren bald in den Ducatus zurück.“ Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. Schweigend verharrten sie einen Moment in Stille. „Ich bringe dich sicher wieder nach Hause“, versprach er.
    Sie nickte. „Lass uns zurückgehen.“

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Puh! Jetzt wir es wirklich düster. Ein richtiges Horrorszenario. Schon das merkwürdige Verhalten der Leute am Anfang. Und die Frauen, die Amok laufen... Gruslig! Kennt man so bisher gar nicht von deiner Geschichte. Aber du machst das echt gut. Da müssen dringend mal Dämonen gejagt werden.

  • Zu Post 164: Richard, die drei Reiter

    Hi RenLi,

    da ist ja mächtig was passiert...eine interessante Wendung, dass Sessilia Richards Reise nun begleitet und die Anwesenheit von Sinister macht das Ganze zusätzlich spannend, weil man sich fragt, ob er nun wirklich vertrauenswürdig ist. Nach der Aktion im Diamantgarten könnte ich Richard und Sessilia verstehen, wenn sie ihn zum Teufel scheren würden, doch dürfen sie sich ja keine Rachegefühle erlauben, weil das die Macht des Dämons stärken würde. Das ist von dir wirklich geschickt eingefädelt :)
    Die Untersuchungssituation war übrigens ziemlich cool beschrieben, wie ich fand. Die zwei sind echt süß...bin mal gespannt, ob sie noch zueinander finden.

    Hier sind nur noch zwei Sachen, die ich gefunden habe:

    Als der Candidatus ihm mit etwas steifen Schritten folgte, entspannte sich Richard etwas.

    Wiederholung

    Außerdem hatte die Frau ihre einen Zopf geflochten..

    ihr

    Viele Grüße,
    Rainbow

  • Richard, Opfer des Wahnsinns (566 n. Rh.)
    Sie saßen beisammen in einem der Zimmer im oberen Stockwerk. Samuel hatte sich angehört, was sie von den Dorfbewohnern vernommen hatten. „Es ist bei weitem schlimmer, als ich es vermutet hatte. Auf jeden Fall ist Sessilia in Gefahr. Außerdem konnten wir nicht herausfinden, was mit Agmen passiert ist. Die Dorfbewohner verheimlichen uns noch immer vieles“, überlegte der Priester. „Das ganze Dorf ist angefüllt mit negativer Energie. Und nun planen sie ein weiteres Ritual. Wir müssen verhindern, dass sie es durchführen. Mit all ihren Blutopfern haben sie die Lage nur noch verschlimmert. Ich befürchte, dass dieses den Zustand massiv verschlechtern könnte.“
    „Weshalb geben wir uns nicht als Gesandte der Gnosis zu erkennen?“, fragte Sinister. „Auf diese Weise könnten wir sie ganz einfach von dem Opfer abhalten.“
    „Nein, auf keinen Fall. Was sie als Krankheit bezeichnen ist ganz offensichtlich das Werk von Dämonen. Und es müssen mächtige sein, wenn sie die Menschen in so kurzer Zeit zu solch abscheulichen Taten haben bringen können. Die Männer wollen es zwar nicht wahrhaben, aber sie sind ebenso von den Dämonen besessen wie es ihre Frauen und Kinder waren. Wer weiß, was sie tun würden, wenn sie wüssten, wer wir sind“, warnte Samuel. „Wir müssen das Ritual verhindern und wir müssen Sessilia aus dem Dorf bringen.“
    „Aber wie?“, fragte Sinister finster. „Wir können sie ja nicht alle bewusstlos schlagen.“
    „Ich könnte Sessilia zurück ins Tal bringen“, schlug Richard vor.
    „Damit ihr unterwegs von wilden Tieren zerfleischt werdet?“, fuhr Sinister ihn an. „Außerdem ist dort noch immer der Eberdämon, nicht wahr?“
    Richard war überrascht über Sinisters heftige Reaktion. Er hätte nicht geglaubt, dass ihn sein Tod im Geringsten stören würde. „Roland könnte uns begleiten.“
    „Und Vater Samuel und ich können hier allein den Rest aufräumen?“, fuhr ihn Sinister an.
    „Keine Ahnung, ich mach wenigstens einen Vorschlag“, verteidigte sich Richard. „Was hast du für eine Idee? Sollen wir Sessilia etwa alleine gehen lassen?!“
    „Das wäre mir am liebsten“, blaffte Sinister zurück.
    Richard zog eine Grimasse, Sinister hatte sich also doch nicht geändert.
    „Schluss jetzt.“ Samuel erhob sich. „Wenn wir streiten, dann haben die Dämonen bereits gewonnen. Habe ich euch nicht gesagt, dass Einigkeit in dieser Zeit das Wichtigste ist? Vertraut ihr überhaupt nicht?“ Samuel fixierte jeden einzelnen von ihnen. „Lasst uns einen Moment lang still sein. Das wird unseren Geist klären.“
    Doch Richards Gedanken wollten nicht schweigen. Wie schon so oft versuchte er sich zu beruhigen, doch es gelang ihm nicht. Es wiederholt sich alles. Nun ist Sessilia in Gefahr. Aber wir haben gewusst, dass es gefährlich wird. Nein, ich hatte keine Ahnung, welche Ausmaße das ganze annehmen kann. Samuel hätte uns gar nie hierherführen dürfen. Richard spürte, wie Abneigung diesem Gedanken folgte. Ist es der Dämon, der mir diese Gedanken einflößt? Samuel ist mein Lehrer. Ich kann ihm vertrauen. Er weiß, was er tut. Aber vielleicht kümmert es ihn nicht, was aus Sessilia wird. Er hat ihr keinen Schutzstein gegeben. Richard beobachtete das Gesicht seines Lehrers. Früher hätte er den Ausdruck für tiefe Ruhe gehalten, nun sah er die Anspannung, die sich in seinen Zügen verbarg. Ob auch Samuel unruhig ist?
    Samuels Augen öffneten sich und der Blick seines Lehrers bohrte sich in den von Richard. Kann er meine Gedanken erraten?, fragte sich Richard, dem unbehaglich zumute war. Manchmal weiß er einfach zu viel. Ich bin wie ein offenes Buch für ihn.
    „Wir machen es so, wie Richard vorgeschlagen hat“, sagte Samuel. „Unsere Sicherheit hat vor allem anderen Vorrang. Bringt so schnell ihr könnt einen großen Abstand zwischen euch und Pulvis. Geht hinunter und macht einen Bogen um Aper. Ich möchte nicht, dass ihr mit dem Dämon dort in Kontakt kommt. Sinister und ich bleiben hier, unter dem Vorwand, einen passenden Ziegenbock zu suchen. Falls wir einen Weg finden, das Ritual zu verhindern, werden wir das tun. Ansonsten folgen wir euch nach. Aber wartet nicht auf uns. Unter keinen Umständen. Geht weiter nach Caput. Und berichtet Vater Canis, was ihr hier und in Aper gesehen habt.“
    Roland erhob sich. „Ich passe auf die beiden auf und bringe sie sicher zurück in die Hauptstadt.“
    „Richard. Leg den Stein auf keinen Fall ab. Und sieh zu, dass er deine Haut berührt. Dann kann er dich am besten schützen“, mahnte Samuel. Richard wagte nicht zu antworten, denn seine Stimme hätte ihn sofort verraten. Deshalb nickte er nur. „Tridan, du kannst sie begleiten oder hier bleiben. Was dir lieber ist.“
    Der Bauer schaute ihn aus müden, ausdruckslosen Augen an. „Ich bleibe“, sagte er mit kraftloser Stimme.
    Samuel nickte und wandte sich wieder an Richard, Roland und Sessilia. „Dann geht sogleich los. Wir sollten keine Zeit verlieren. Je näher die Nacht heranrückt, desto mehr erstarken die Dämonen.“ Auch Samuel erhob sich. „Wir treffen uns in Caput wieder.“
    Sie gingen zur Tür. „Samuel“, setzte Richard an. Doch er wusste nicht, was er sagen wollte. Er wollte seinen Lehrer nicht verlassen. Auch wenn er selbst diesen Weg vorgeschlagen hatte und er keine bessere Möglichkeit sah. Er mochte die Vorstellung nicht, von Samuel getrennt zu sein. Ohne ihn schien sein Leben bedeutungslos. Ohne ihn fühlte er sich leer und schutzlos. Denn Samuel hatte seinem Leben einen Sinn gegeben.
    „Wir sehen uns in Caput wieder“, wiederholte Samuel. Er legte Richard die Hand auf den Kopf. „Lass dich von den Götterwesen leiten.“
    Sie verließen das Gasthaus. Auf dem Weg zum Tor begegneten sie niemandem. Das Dorf lag so verlassen und ausgestorben da, wie zum Zeitpunkt ihrer Ankunft. Nur war es nun noch dunkler geworden, denn der Schatten des Berges, der bedrohlich über ihnen aufragte, war nun auf das Dorf gefallen. „Wird Zeit, dass wir von hier verschwinden“, sagte Ronald.
    Sie traten auf das Tor zu. Nervös blickte Richard sich um. Er fühlte sich beobachtet. Ob die Dämonen ihre Ankunft mitverfolgt hatten? Oder bildete er sich nur ein, dass jemand sie verfolgte? Vielleicht einer der Männer. Aber die wären froh zu erfahren, dass sie mit Sessilia das Dorf verließen.
    „Was wollt ihr?“, fragte einer der Knaben, die das Tor bewachten. „Gefällt’s euch hier nicht? Wollt ihr schon wieder gehen?“, fragten sie gespielt verwundert. „Wir machen heute eine Opfergabe an die Götter. Ihr solltet dabei sein. Es wird ein riesiges Feuer geben.“
    „Öffne das Tor, Junge“, befahl Roland.
    Henri kletterte von der Mauer zu ihnen hinunter. „Ihr geht“, stellte er fest. „Eine vernünftige Entscheidung“, sagte er mit einem Seitenblick zu Sessilia. „Wenn es nicht schon zu spät ist“, brummte er und öffnete das Tor.
    Wieder blickte Richard sich um. Er fühlte sich, als hätte ihn jemand gerufen. Obwohl er nichts gehört hatte. Vielleicht Samuel? Konnte es sein, dass er seine Meinung geändert hatte? Samuel?, fragte er in die Weite des Inneren Raues hinaus. Doch er erhielt keine Antwort. „Komm, Richard“, flüsterte Sessilia und zog in sanft am Arm mit sich. Sie schritten durch das Tor nach draußen. Sobald das schweren Torflügel hinter ihnen verschlossen waren, fühlte Richard sich etwas besser. Er blickte zur Mauer hoch, doch er konnte niemanden oben erkennen. Keiner der Jungen zeigte sich. „Es ist später, als ich dachte. Oder ist es hier einfach früher dunkel?“, murmelte Roland.
    Sie gingen den Weg entlang zurück und traten unter die Bäume. Bald erreichten sie den Torbogen. Der Hase war verschwunden. Sie traten hindurch. Richard merkte, wie seine Schritte leichter wurden. „Wir sind draußen“, stieß er erleichtert aus.
    „Ja, ich hatte schon das Gefühl, da nie mehr wegzukommen“, stimmte Sessilia ihm zu.
    „Seid euch da nicht so sicher. Jemand folgt uns“, raunte Roland.
    Richard warf einen Blick über die Schulter. „Woher weißt du das? Ich kann niemanden sehen“, flüsterte er.
    „Instinkt“, flüsterte Roland zurück. „Hat mir schon mehrfach das Leben gerettet. Bleibt wachsam. Vielleicht wollen sie nur sichergehen, dass wir auch wirklich gehen, aber wir sollten vorsichtig bleiben.“
    Wie selbstverständlich fand Richards Hand die von Sessilia. Es war beruhigend, sie an seiner Seite zu wissen. Die Worte Emuds kamen ihm wieder in den Sinn. ‚Sie wird dich im Schlaf erdrosseln.‘
    Schwachsinn! Sessilia würde mir nichts tun. Außerdem wäre es der Dämon, der das tun würde. Nicht sie. Ihn schauderte. Sie hat den Stein, aber ich muss trotzdem wachsam bleiben. Notfalls muss ich sie vor sich selbst beschützen. Das kann ich nur, wenn ich sie im Auge behalte.
    Sie beschleunigten ihre Schritte. Da der Weg nun bergab führte, kamen sie schnell voran. Doch es wurde schneller dunkel, als ihnen lieb war. Der Druck auf Richards Brust nahm zu. Roland entzündete eine Fackel. „Nicht mehr lange, dann sollten wir aus dem Wald heraus sein. Aber lass uns noch weiterlaufen. Am liebsten die ganze Nacht durch. Wir sollten so viel Weg zwischen das Dorf und uns bringen, wie nur möglich.“
    Sessilia und Richard nickten zustimmend. Ein kalter Windhauch streifte Richard und seine Nackenhaare stellten sich auf. Er musste Husten. Etwas schnürte ihm die Brust zu. „Es kommt“, krächzte er. „Wir sind zu langsam!“
    Sie begannen zu rennen, doch Richard bekam kaum Luft. Sessilias Griff um seine Hand wurde stärker, sie zog ihn mit sich. Sie wären schneller ohne mich. Es wäre besser, ich würde hier bleiben und mich dem Dämon stellen. Ich kann nicht zulassen, dass Sessilia etwas geschieht. Samuels Worte hallten in seinem Kopf nach. ‚Das nächste Mal, wenn du in die Situation kommst, für einen anderen Menschen einzustehen, wirst du nicht zögern.‘ Diesmal nicht! Nicht schon wieder.
    Eine schwarze Gestalt sprang vor ihnen auf den Weg. Sie blieben abrupt stehen. Im Schein der Fackel erkannten sie einen zottigen Wolf. In seinen schwarzen Augen tanzten die Flammen. Er zog sie Lefzen hoch und knurrte. Roland zog sein Schwert und schwenkte die Fackel durch die Luft. „Bleib zurück, Biest! Sonst schlag ich dir den Kopf ab!“, brüllte der Krieger.
    „Das ist kein normaler Wolf, das ist ein Dämon!“, rief Richard. Wenn Samuel nur hier wäre. Er hätte den Wolf vertrieben, wie auch den Eber. Der Wolf sprang an Roland hoch und schnappte nach dessen Kehle, doch der Krieger ließ sein Schwert auf das Tier niederfahren. Es versenkte seine Zähne im Arm des Kriegers und Roland brannte dem Wolf mit der Fackel ein Loch ins Fell. Die Gestalt des Wolfes schrumpfte zusammen und löste sich auf. „Verdammt! Wo ist er hin?!“, rief Roland.
    Richard blickte gehetzt nach rechts und konnte Sessilia gerade noch zur Seite ziehen, als einer der Bäume krachend auf den Weg fiel, wo sie gerade noch gestanden hatten. Der Wolf sprang aus dem Dunkeln, setzte über den Baumstamm hinweg und auf Sessilia zu. Mit einem Satz stand Roland wieder zwischen ihnen und hieb mit dem Schwert nach dem Dämon.
    „Verschwinde aus meinen Kopf, du Mistvieh!“, rief Roland und fuhr mit der Fackel durch die Luft. „Nur über meine Leiche!“
    Es ist eigentlich meine Aufgabe mit einem Dämon fertig zu werden. Roland ist ein Krieger, kein Priester. Aber ich bin zu schwach. Samuel ist nicht da. Was kann ich schon tun?
    „Mit diesen faulen Tricks kriegst du mich nicht rum, Scheusal. Ich hab schon üblere Kerle als dich gesehen“, knurrte der Krieger.
    Roland hat recht. Ich kann meinen Gedanken nicht trauen. Wer weiß, wie viel davon meine eigenen und welche die des Dämons sind. Ich muss ohne Samuel damit fertig werden! „Oh Heiliger Rhamnus, Gesandter des Himmels“, setzte Richard an und Sessilia fiel mit ein. „Segne uns und schicke uns die Engel des Lichtes. Mögen sie uns beschützen in diesen dunklen Zeiten.“ Richard stellte sich vor, wie eine Schaar von Engeln aus dem Himmel zu ihnen herunter kam. Wunderschöne Lichtwesen mit leuchtenden Schwingen. „Möge ihr Licht unsere Herzen erfüllen, das Dunkel vertreiben und ihm keinen Einlass mehr gewähren.“ Er stellte sich vor, wie sie reines, heiliges Licht auf sie niedersandten, es ihre Körper durchdrang und von innen her erleuchtete. „Mögen die Feuer des Himmels auch den letzten Rest von Dunkelheit in unseren Seelen verzehren, damit unser Licht hell erstrahle. Oh Heiliger Rhamnus, Bote der göttlichen Wesen. Segne uns und erleuchte unseren Geist, auf dass auch wir die Geister unserer Mitmenschen erleuchten mögen.“ Das Licht füllte Richards Körper. Wieder schnappte der Wolf nach Rolands Kehle, der Hüne wich aus und der Wolf sprang auf Sessilia zu. Das Licht durchdrang Richard und strahlte aus ihm hinaus. Der Wolf blieb wie angewurzelt stehen. Nur wenige Schritt weit von ihnen. „Oh heiliger Rhamnus, Gesandter des Himmels“, wiederholte Richard. „Bitte hilf uns, diesen Schatten zu vertreiben.“ Richard öffnete sich weit für das Licht aus dem Himmel. Der Wolf zog den Schwanz ein und legte seine Ohren zurück. Richard trat einen Schritt näher. Wenn er den Arm ausgestreckt hätte, hätte er ihn berühren können. „Segne uns und schicke uns die Engel des Lichtes. Mögen sie uns beschützen in diesen dunklen Zeiten.“ Es war, als trügen die Worte das Licht mit sich hinaus in den Wald. Der Wolf jaulte kläglich auf und wich zurück. Rolands Schwert fuhr nieder und trennte den Kopf des Tieres mit einem Hieb ab. Ein klagender Schrei zerriss die Luft. Ein schwarzer Schemen fuhr aus dem Körper des Tieres. Dies ist das Böse, dachte Richard. Dies ist das reine Böse. Das gestaltlose Dunkel fuhr auf ihn zu. Richard wurde vom Boden gerissen, Sessilias Hand entglitt seinem Griff und er wurde nach hinten geschleudert. Eine Hand packte ihn und zog ihn hoch. „Junge, Junge“, schnarrte eine Stimme dicht an seinem Ohr und Panik ließ sein Herz flattern. „Glaubst, du könntest uns entkommen. Das wird ein Fest.“
    „Lass ihn los!“, rief Sessilia und Roland hechtete auf Emud zu, der Richard gepackt hatte. Der stieß Richard zur Seite. Er landete hart auf der Erde. Lichtflecken tanzten vor seinen Augen. Er stützte sich auf und sah durch einen schwarzen Schleier, wie Emud die Hand hob und Roland mitten in der Bewegung erstarrte. „Du bist im Weg!“, schrie Emud und auf den Wink seiner Hand flog der Riese durch die Luft wie eine Puppe an einem Seil und krachte gegen einen Baumstamm. „So ist’s recht. Und nun zu dir, Kleine. Dich brauchen wir. Du wirst die Hauptattraktion heute Nacht. Nur noch dieses Opfer, dann sind wir endlich frei. Nur noch dein Blut. Dann sind wir erlöst. Dann war es nicht umsonst, dass wir so viele getötet haben.“ Emuds Gesicht war vom Wahnsinn verzerrt, als er auf Sessilia zuschritt.
    Richard rappelte sich auf. Dies ist meine Gelegenheit wegzulaufen, fuhr es ihm durch den Kopf. Solange er mit Sessilia beschäftigt ist. „Nein!“, schrie er laut. „Bleib weg von ihr!“ Richard stürzte sich auf Emud und riss ihn mit sich zu Boden. „Lauf Sessilia!“ Schon spürte er, wie er in die Luft gehoben wurde. „Du hast gerade die Gelegenheit verpasst, dein armseliges Leben zu retten“, höhnte Emud. „Aber wenn du unbedingt sterben willst, dann helfe ich dir gerne dabei! Mädchen, töte ihn!“
    Emud warf Richard zu Sessilias Füssen auf den Boden. Erschrocken sah Richard zu ihr hoch. Sie hat es schon einmal versucht, erinnerte er sich und griff sich an den Hals. Sie hat schon einmal versucht, mich zu töten.
    „Hör nicht auf ihn, Sessilia!“, rief Richard. Sie beugte sich zu ihm hinunter. Ihre Hand ergriff die seine. „Natürlich nicht.“ Sie zog ihn hoch.
    „Verschwindet!“, brüllte Roland und stürzte sich auf Emud, der ihm jedoch geschickt auswich.
    Sessilia zog Richard mit sich. „Aber Roland“, begann Richard. Sessilia antwortete nicht. „Ich muss ihm helfen. Geh du alleine weiter.“
    „Nein, Richard, ohne dich verliere ich den Verstand! Lass mich nicht allein!“ Ihre Hand schloss sich fester um seine und zog ihn weiter.
    „Nein, warte. Er möchte uns nur weiter entzweien. Es war ein Fehler, dass wir uns von Samuel getrennt haben. Das ist was Dämonen tun. Sie trennen uns, weil wir alleine zu schwach sind. Sie hetzen die Menschen gegeneinander auf.“
    Sessilia blieb stehen. „Wie schlau von dir, Richard“, sagte sie mit seltsamer Stimme. Sie ließ seine Hand los und drehte sich zu ihm um. „Doch um Roland ist es bereits zu spät. Wie auch um Samuel und die anderen.“ Richard wich zurück. In ihren Augen leuchtete derselbe Wahnsinn wie aus denen Emuds.
    „Sessilia!“
    „Du bist Schuld daran, dass wir in dieses Dorf gekommen sind! Du bist Schuld daran, dass der Dämon hinter uns her ist!“ Sie ist verrückt geworden. Sie hat den Verstand verloren, wie die Frauen von Pulvis. „Aber der Stein, er sollte dich beschützen“, sagte Richard fassungslos.
    Sie holte den Stein am Band unter ihrem Oberteil hervor. „Wertlos“, schnaubte sie, riss sich den Stein vom Hals und warf ihn auf den Boden. Sein Leuchten erlosch. Sie trat näher. „Wehr dich nicht, Richard. Es ist besser so. Lass uns zusammen sterben, bevor der Dämon uns einholt.“
    Ihre kalten Hände legten sich um seinen Hals. Wie in meinem Traum. Vielleicht war dieser Traum mehr eine Vorhersage. Vielleicht hat es nicht anders kommen können. „Stirb, Richard“, hauchte sie, beinahe zärtlich. „Und dann werde ich dir in den Tod folgen.“ Es ist geschehen. Ich bin wirklich ein Bote des Todes. Alle, die ich liebe, sterben. Doch nun werde auch ich sterben. Die Hände schlossen sich fester um seinen Hals. Er schloss die Augen. Ich erwarte den Tod mit offenen Armen. Was auch immer kommen mag, es ist Zeit für mich zu sterben. Ich hätte schon längst tot sein sollen. Heiliger Rhamnus, ich hoffe, dass ich den Sinn dieses Lebens nach dem Tod besser verstehen werde.
    Er fühlte sich leicht. Der Druck um seine Kehle verschwand. Bin ich schon tot?, fragte er sich. Stille hatte sich um ihn gelegt. Er spürte den Herzschlag der Erde und des Himmels. Du kehrst zurück, wohin du nicht zurückkehren kannst, flüsterten die Geister des Raumes. Weil du nie fort warst.
    Glückseligkeit durchflutete Richard. Er fühlte sich weit und unbegrenzt. Er besaß keinen Körper mehr, der ihn einengte. Er war Himmel und Erde, er war der Raum selbst.
    Doch etwas begann an ihm zu zerren. Wie ein Wasserfall, der in ein zu kleines Becken stürzt, stürzte er in seinen Körper zurück. Zurück in die schmerzende irdische Hülle. Luft füllte seine brennenden Lungen. Er lag auf dem Boden. Sessilia. Benommen stützte er sich auf und versuchte etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Oh heiliger Rhamnus, Gesandter des Himmels, begann er zu rezitieren. Augenblicklich strömte das Licht in ihn ein. Er brauchte sich nicht erst dafür zu öffnen. Er war noch so weit geöffnet, dass es ein Leichtes war, das Licht aufzunehmen. Wieder wurde er von Leichtigkeit erfasst, doch diesmal innerhalb seines Körpers. Richard kam auf die Füße, oder vielmehr fühlte er sich auf die Füße gehoben. Das Licht durchtränkte und durchdrang seinen Körper, es strahlte aus und war so stark, dass es selbst in der physischen Welt sichtbar wurde. Plötzlich war es taghell im Wald. Richard schritt auf Emud zu, welcher über den reglosen Körper Sessilias gebeugt stand. Der Mann drehte sich zu ihm um und schien in dem Licht zu schmelzen. Er sank in sich zusammen wie ein kleines, hilfloses Kind. Das Dunkle in ihm rebellierte, kämpfte gegen das Licht an, doch es wurde unaufhaltsam zurückgedrängt, bis sein Herz wieder atmen konnte. Dann brach er von Schluchzern geschüttelt zusammen. „Was habe ich getan?“, winselte er. „Ich habe sie getötet. Mit meinen eigenen Händen. Sie waren vom Dämon besessen. Oder war ich es, der besessen war?“ Er hob seine Hände vors Gesicht und schrie. „Nein! Nein! Ich habe sie nicht getötet! Der Dämon! Der Teufel! Ich war es. Mit diesen Händen!“ Er raufte sich die Haare. „Ich war besessen. Das ganze Dorf ist besessen!“ Er warf sich auf den Boden. „Ich kann nicht mehr weiterleben. Töte mich!“, flehte er. „Diese Last, sie erdrückt mich. Ich werde verrückt. Ich bin verrückt! Bitte, lass mich sterben! Das ist alles, was ich will. Bitte, bitte! Friss mich auf, zerreiße mich! Aber lass mich nicht am Leben!“
    Richard schaute auf den sich windenden Mann hinunter. „Schlafe“, sagte Richard und das Flehen des Mannes verebbte. Sein Körper erschlaffte und fand Ruhe. Gleichmäßig atmend lag Emud auf der Erde. Richard bückte sich und hob den Stein vom Boden auf. Er begann wieder schwach zu schimmern und wurde warm in seiner Hand. Richard knotete das Band wieder zu wo es gerissen war und hängte sich den Stein um den Hals. Dann kniete er sich neben Sessilia auf den Boden. „Wach auf“, hauchte er in ihr Ohr. Er legte den Stein an ihre Stirn. Der Schatten war aus ihr gewichen. Sie war wieder so rein wie zuvor, bevor sie das Dorf betreten hatten. Doch sie öffnete die Augen nicht.
    „Richard“, hörte er eine röchelnde Stimme etwas entfernt. Richard blickte auf. Etwas bewegte sich am Rande des Lichtkreises, der sich um ihn gebildet hatte. Richard erhob sich und ging auf Roland zu, der dort auf dem Boden lag. Der Krieger sah nicht gut aus. Die Wunde an seinem Arm, wo der Wolf ihn gebissen hatte, war schwarz und eiterte. Außerdem hatte er eine Wunde am Kopf und eines seiner Beine war seltsam verdreht, wahrscheinlich gebrochen. „Du lebst.“ Erleichterung schwang in der Stimme des Kriegers mit. „Was ist mit dem Mädchen?“
    Richard legte ihm eine Hand auf die Stirn und der gequälte Ausdruck verschwand aus dem Gesicht des Verwundeten. Richard spürte Rolands Herzschlag neben seinem. „Sie lebt“, antwortete er.

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Hey,

    zur 169: Ja, es ging wieder etwas ruhiger zu...aber davon lebt deine Geschichte nunmal zum großen Teil. Die Idee mit der "Gedankenvereinigung" hat mir gut gefallen...das hatte irgendwie sowas mystisches :)

    Tja, und dass die Gnosis "Abtrünnige" mit dem Tode bestraft haben...was soll ich sagen? Die Christen waren auch damals nicht besser mit diesen vermaledeiten Kreuzzügen, insofern spiegelt das nur die traurige Wirklichkeit wider.
    Interessant finde ich aber Samuels Geschichte ... und dass David sein Lehrer war. Ich habe mich allerdings gefragt, wieso dieser David nicht hingerichtet wurde, da er sich ja wohl öffentlich dazu bekannt hat, diesem Markus zu folgen und seinen Lehren nicht entsagen wollte. Man hat ihn lediglich verbannt. Warum? Welchen Grund hatten sie, ihn zu verschonen? Vielleicht hast du es irgendwo erklärt oder ich bin zu kleinkariert....aber ich bin halt darüber gestolpert. Wahrscheinlich weil du die Hinrichtung der anderen so ausgiebig geschildert hast.

    Viele Grüße,
    Rainbow

  • Hallo zusammen

    Cool, dass es euch gefällt! Hab sebst total Spass daran, mal etwas mehr Actionszenen zu schreiben, aber manchmal werd ich auch viel zu nervös dabei, ist irgendwie ansteckend :)
    Da ist Richard doch endlich mal wirklich brauchbar :P würde mich interessieren, wie ihr diesen 'Wandel' bei ihm erklärt. "Der Schläfer muss erwachen", das find ich ein wunderbares Zitat, passt auch sehr gut in meine Geschichte rein. Und hat mich gleich an das Lied 'Krieger' von Thomas D erinnert (

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    ) und an Matrix ;)
    Würde mich wunder nehmen, wie sehr mein tatsächliches Gottesbild dieser Welt für euch durchzuscheinen beginnt, wahrscheinlich habt ihr es noch gar nicht wirklich wahrgenommen, aber es wird mit der Zeit immer stärker zu spüren sein, wenn der Gott von Richards Welt langsam durchzuscheinen beginnt :) Es ist in diesem Abschnitt beispielsweise durch die sogenannten 'Geister des Raumes' angedeutet.
    Der Grund, wesahlb hier Richard die Verbindung zum Licht Gottes gefunden hat, ist folgender: er hat sich total ergeben, hat sein Schicksal, das Leben sowie den Tod akzeptiert und war vollkommen geöffnet, ohne Widerstand. Er hat sich sozusagen auf den richtigen 'Sender' eingestellt und war deshalb empfänglich für diese göttliche Energie.
    Dann zu Emud: in dem Moment, als das Licht ihn durchdrungen hat, hat er sich selbst wieder klar gesehen. Er hat erkannt, dass er durch den Dämonen diese schrecklichen Dinge getan hat, dass er selbst besessen war und er sich zuvor viel vorgemacht hat, um sich selbst zu schützen. Ich denke, das tun die meisten Menschen. Wir verdrehen die Wirklichkeit, damit wir sebst besser dastehen. Vor uns selbst, wie vor anderen. Aber meist machen wir das nur unbewusst und nicht so extrem wie in Emuds Situation. Deshalb dreht er durch, als das Licht ihn trifft, denn er hat keine Entschuldigung mehr für seine Taten, er muss sich vor sich selbst verantworten. Doch die Last seines Gewissens ist zu schwer. Deshalb sieht er nur noch den Tod als Ausweg. Er kann mit sich selbst nicht mehr weiterleben - mit den Taten in seiner Vergangenheit.
    Kommt das ungefähr so rüber? Es ist irgendwie ein bisschen versteckt geschrieben, weil man halt nur Richards Sicht der Dinge sieht und Richard nicht so ganz den Durchblick hat, was er eigentlich tut und bewirkt. Ich denke jedoch, dass man als Leser auch gar nicht alles verstehen muss, was im 'Hintergrund' so alles abspielt...

    @Rainbow zum Abschnitt 'Verbunden': David ist verbannt worden, noch bevor die ganze Sache ausgeartet ist. Er war gut befreundet mit Canis und dem damaligen Eingeweihten und hatt grossen Einfluss. Viele Menschen haben ihn verehrt, deshalb wäre es auch nicht schlau gewesen, ihn hinzurichten. Das hätte die Lage zusätzlich destabilisiert. Lange hat man über sein 'Verschwinden' geschwiegen, oder die Menschen diesbezüglich gar angelogen. Er sei auf 'Missionsreise' oder was weiss ich. Er selbst ist kampflos gegangen. Er wollte niemandem schaden.
    David wird später noch vorkommen, aber bis dahin muss ich mich sicherlich noch tiefer mit ihm und seiner Geschichte befassen, damit ich ihn palusibel darstellen kann :)

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