Der Sinn des Lebens

Es gibt 460 Antworten in diesem Thema, welches 124.018 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (21. Januar 2020 um 15:16) ist von RenLi.

  • Verdammt ich wurde ertappt. ;) Ich kann mir doch nicht den Sinn des Lebens entgehen lassen. Etwas Philosophie, Gnosis, die Einheit der Gegensätze, klingt schon alles sehr interessant. Bin zwar noch relativ weit am Anfang aber da werde ich definitiv weiterlesen.

    Die Welt ist schön detaliert beschrieben, und kommt auch sehr anschaulich rüber. Es lebt richtig.

    Eine Frage ist beim lesen aufgetaucht. Woher kommt der Proviant, für ihre Reise durch den Sumpf? Es kann ihn ja nur der kleine Edwin mitgenommen haben, da für Richard der Aufbruch ja völlig überraschend war. Könnte man vielleicht beiläufig einfließen lassen und zeigt ja dann auch, was du ja an anderer Stelle schon erwähnt hast, dass Edwin überraschend stark geworden ist.


    Für mehr blümchenpflückende Orks, blutrünstige Elfen und vegetarische Drachen!

  • Hallo Alexander
    Der Sinn des Lebens, für einen Erleuchteten (momentaner Status) wie dich sicher ein Kinderspiel ^^
    Cool, dass es dir gefällt!
    Den Proviant hat tatsächlich Edwin mitgenommen, bin gar nicht sicher, ob ich das mal irgendwo erwähnt hatte, ich schaus nach.
    Also dann, viel Spass beim Lesen!

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Hi Königin RenLi ;)
    eine Anspielung auf Prinzessin Mononoke mit den Helferchen finde ich prima. War ja wirklich ein toller Film. Ich habe etwas weitergelesen. Die Geschichte macht weiterhin viel Spass und ist auch sehr vielschichtig, was mir gut gefällt. Vor allem die Beschreibung der Gefühle und Motive sind sehr gelungen.

    Ich bin nur über zwei kleine Sachen gestolpert.

    Beitrag 16


    Richard, Geschichten (564 n. Rh.)
    Richard schaute über die Landschaft
    hinweg, die sich unter ihm ausbreitete. Viele Felder reihten sich
    aneinander, durchzogen von kleinen Baumgruppen, Sträuchern und einem
    Fluss, der sich von Westen nach Osten seinen Weg über die Ebene suchte.
    Zwischen den Feldern standen kleine Hütten zerstreut in der Landschaft,
    hie hier (kein direkter Fehler, aber "hie" klingt für mich so altmodisch, dass es schon fast falsch klingt, ist aber Geschmacksfrage) und da sah er eine Ziegenherde, von weitem nur als kleine Punkte
    erkennbar.


    Beitrag 23 (Richards Geschichte Teil 2)

    Am selben Abend erfuhr sie von ihrer liebsten Zofe erfuhr, dass die Spielleute in die Stadt unterwegs waren. Sie erzählte, dass es bald ein Fest geben würde.


    Für mehr blümchenpflückende Orks, blutrünstige Elfen und vegetarische Drachen!

    Einmal editiert, zuletzt von Alexander2213 (15. Januar 2018 um 20:25)

  • Hallo zusammen

    Heute schreibe ich euch von der Abgeschiedenheit der Berge aus. Gut, dass es auch hier oben Internet gibt, auch wenn ich nicht allzu viel Zeit am PC verbringen möchte. @Alexander2213 Cool, dass du noch nicht aufgegeben hast, auch wenn es weder Orks, Elfen noch Drachen in der Geschichte gibt. Danke für deine Rückmeldung!

    So und nun zum nächsten Teil über Edwin, der ja noch immer im Waisenhaus in Caput ist...


    Edwin, Sturmwind (566 n. Rh.)
    Lotar begleitete Edwin bis vor die Tür zu Elviras Empfangsraum. Dort verabschiedete er sich von ihm. Ob Richard wohl hinter dieser Tür wartet?, fragte Edwin sich. Er glaubte nicht wirklich daran, aber bereits die Vorstellung bewirkte, dass sein Herz schneller schlug. Er schob die Tür vorsichtig auf und trat ein, in das kleine, gemütlich eingerichtete Vorzimmer, das dahinter lag. Er schaute sich in dem spärlich erhellten Raum um. Es war niemand da, doch hörte Edwin Stimmen aus einem Raum nebenan. Ein Streifen Licht fiel durch den Türspalt ins Vorzimmer und erhellte eine gerade Straße auf dem rotbraun gemusterten Teppich zu Edwins Füßen. „Denkt darüber nach, Fräulein Kornell. Der Gnosis liegt das Wohl der Kinder genauso am Herzen wie Euch. Wenn Ihr einwilligt, wird das Heiligtum in Kürze erbaut sein. Ich bin mir sicher, dass dies eine großartige Bereicherung für das Waisenhaus sein wird“, sagte die tiefe Stimme im Nebenraum.
    Edwin trat näher und öffnete die Tür. Sein Blick fiel auf einen dickbauchigen, älteren Herrn in weißer Robe, der mitten im Raum stand. Ihm gegenüber, hinter einem Schreibtisch aus dunklem Holz, saß Elvira. „Ich fühle mich geehrt, dass Ihr dem Waisenhaus ein solches Angebot unterbreitet und es freut mich zu hören, dass ihr um das Wohlergehen der Kinder noch immer besorgt seid, aber ich bitte Euch, lasst mir noch ein paar Tage Bedenkzeit, Vater Nikodemus.“ Von ihrem Sitz aus schaute sie zu dem Mann auf. Edwin schaute zu, wie seine dicken Wurstfinger mit einem Ring hinter seinem Rücken spielten. „Eine Angelegenheit dieses Ausmaßes sollte ich erst mit dem Erben der Einrichtung besprechen“, fuhr Elvira fort.
    „Ah, wie ich gehört habe, ist Euer Bruder zurückgekehrt. Er scheint noch immer ein“, er machte eine kurze Pause, als suche er nach dem richtigen Wort, „ein interessantes Leben zu führen“, schloss er und steckte sich den Ring an seinen kleinen Finger.
    „Er ist wie immer nicht aufzuhalten“, antwortete Elvira mit einem ungewohnt kühlen Lächeln. Ihr Blick streifte Edwin, der noch immer im Türrahmen stand.
    „Wie dem auch sei. Ich bin mir sicher, Euer Vater wäre erfreut, eine Gebetsstätte auf seinem Grundstück zu wissen“, fuhr der Priester Nikodemus fort. Das Licht spiegelte sich auf seiner Glatze und Edwin fragte sich, ob er sich wohl darin sehen könnte.
    Elvira nickte bedächtig. „Mein Vater stand immer in guter Verbindung zur Gnosis und ich würde mich freuen, wenn diese erhalten bliebe. Ihr könnt mit einer baldigen Antwort von mir rechnen, Vater. – Edwin, warte bitte draußen“, sagte sie mit einem weiteren Blick auf den Jungen.
    „Ah, wir haben Besuch.“ Der Priester wandte sich nun ebenfalls um. Edwin wollte sich bereits zurückziehen, doch der Glatzköpfige winkte ihn zu sich. „Du wohnst wohl hier?“, fragte der Mann und trat Edwin entgegen. Er war älter als Edwin erst angenommen hatte. Die faltige Haut hing seltsam schlaff von seinem Gesicht herunter und bewegte sich hin und her, wenn er redete. „Gefällt es dir im Waisenhaus?“
    Edwin blickte in die kleinen Äuglein, die ihn wachsam zwischen den Falten hinaus ansahen. Etwas in ihnen sagte ihm, dass er sich besser nicht näher an den Priester heranwagen sollte. Womöglich würde er ebenso reagieren wie Lotar, vermutete Edwin. „Ich mag Elvira“, sagte er. „Und Gilbert.“
    Einen kurzen Moment lang meinte Edwin Erstaunen auf dem Gesicht des Priesters zu sehen, dann verschwand es jedoch hinter einem breiten Lächeln. „Das freut mich zu hören. Und lernst du auch fleißig? Ich habe gehört, der Unterricht hier sei ausgezeichnet.“
    Edwin legte den Kopf schief. Das teigige Gesicht des Priesters war schwer zu lesen, das verunsicherte ihn. Um Halt suchend, streckte Edwin seinen Geist nach Elvira hin aus. „Ich habe noch nichts gelernt. Ich bin gerade erst gestern angekommen“, erklärte Edwin. Er wollte bereits mit seiner Erzählung fortfahren, als er Elviras Unbehagen spürte. Er hielt inne und schaute zu ihr herüber. Wollte sie nicht, dass er mit dem Priester sprach? „Ihr seid ein Priester der Gnosis, nicht wahr?“, fragte er, durch die weiße Robe neugierig geworden. Der Mann vor ihm glich dem auf dem Podest von gerade eben überhaupt nicht. Konnten sie trotzdem beide Priester sein?
    „Das stimmt. Du musst wohl von weit herkommen, wenn du eine solche Frage stellst. Wo bist du aufgewachsen, mein Junge?“
    Edwin spürte, dass Elvira gar keine Freude am Verlauf des Gesprächs hatte. Was ihr daran jedoch missfiel, konnte er nicht sagen. Wollte sie nicht, dass er von seiner Heimat erzählte? Soll ich etwa lügen?, fragte er sich und warf Elvira einen erneuten Blick zu. Sie hatte sich erhoben, stützte sich auf die Platte ihres Schreibtisches auf, als wolle sie etwas sagen, blieb jedoch stumm. „Ich habe im Wald gelebt“, antwortete Edwin ausweichend. Wenigstens entsprach dies der Wahrheit, wenn es auch nicht wirklich die Frage beantwortete.
    Der Pater hob eine Braue. „Im Wald? Mit deiner Familie?“
    Edwin öffnete den Mund, um mit Gilbert zu antworten, als Elvira ihm ins Wort fiel. „Gilbert hat ihn auf seinen Reisen gefunden. Er ist einer Gruppe von Menschenhändlern in die Arme gelaufen und Gilbert hat ihn gestern hergebracht. – Vater, noch eine Frage.“
    Der Priester wandte sich wieder ihr zu. Ob ihm aufgefallen war, dass sie absichtlich das Thema gewechselt hatte? „Immer raus damit, ich gebe Euch gerne Antwort.“
    „Ich war heute auf dem Ausrufplatz, Vater.“
    „Ah, ich sehe schon. Ihr habt die Neuigkeiten also bereits vernommen.“
    Elvira nickte. „Ist es wirklich wahr, Vater? Habt Ihr den Auserwählten gefunden?“
    „So ist es. Das Wort des Eingeweihten lässt keinen Zweifel zu“, antwortete der Priester mit gewichtigem Tonfall.
    „Das muss ein besonderer Mensch sein. Könnt Ihr mir sagen, wer es ist?“
    „Habt Geduld, Fräulein Kornell. Er befindet sich sicher in unserer Obhut und wenn die Zeit reif ist, wird er der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Wir können alle Großes von ihm erhoffen.“
    „Verzeiht meine Neugier, aber weiß man denn schon, ob es sich um die Wiederverkörperung des Heiligen Rhamnus handelt?“
    Der Priester hob beschwichtigend die Hände. „Alles mit der Zeit“, war seine Antwort. „Aber umso wichtiger ist es nun, sich auf das wirklich Bedeutsame im Leben zu fokussieren, nicht wahr? Wir sollten alle erneut in uns gehen und unsere Motive auf das eine große Ziel ausrichten“, sagte er mit einem Lächeln.
    Elvira nickte. „Vielen Dank, Vater. Ich werde mir Eure Worte zu Herzen nehmen. – Kann ich sonst noch etwas für Euch tun?“
    „Ich glaube, alles wurde gesagt. Ich werde mich nun verabschieden.“
    „Kann ich Euch zur Pforte begleiten?“
    „Das ist nicht nötig, ich finde den Weg“, meinte der Ältere. „Also dann, Fräulein Kornell, ich erwarte Ihre Antwort.“ Er verabschiedete sich mit einem Nicken, Elvira verbeugte sich.
    Eine Bewegung am Rande von Edwins Blickfeld ließ ihn den Kopf drehen. An der Wand, von ihm bisher unbemerkt, erhoben sich zwei in blau gewandete Gestalten. Beide hatten den Kopf geschoren, wie der rundliche Priester. Im Gegensatz zu ihm waren sie jedoch schlank und um viele Jahre jünger. Sie würdigten Edwin keines Blickes, als sie an ihm vorbei, dem Priester hinaus in den Vorraum folgten.
    Als die Tür hinter ihnen zufiel, sank Elvira sichtlich erleichtert in ihren Stuhl zurück. Sie rieb sich übers Gesicht, als müsse sie etwas Belastendes wegwischen. „Weshalb wolltest du nicht, dass ich mit ihm spreche?“, fragte Edwin und trat zu ihr.
    „Das hast du wohl gemerkt“, seufzte sie. „Um ehrlich zu sein, es wäre mir lieber, wenn du unsichtbar für die Gnosis wärst“, gestand sie.
    „Weshalb?“
    Elvira musterte ihn. „Du weißt es vielleicht selber nicht, aber zu bist kein normaler Junge. Ich fürchte mich vor dem Tag, an dem sie dies erkennen.“
    „Weshalb bin ich nicht normal?“, fragte Edwin, der nicht recht wusste, was das bedeuten sollte.
    „Ich will damit nicht sagen, dass etwas falsch ist mit dir“, fügte sie sofort an und richtete sich in ihrem Stuhl auf, sah ihm fest in die Augen. „Du bist ein wundervoller Junge und ich liebe dich von ganzem Herzen, das weißt du. Ich will nur sagen, dass du Begabungen hast, die den meisten Menschen nicht vergönnt sind. Du spürst und weißt Dinge, die andere nicht kennen.“
    Die Worte Elviras verursachten Unbehagen in ihm. Wieder musste er an Lotars Reaktion auf seinen Versuch, ihm nahe zu sein, denken. „Bin ich so sehr anders? Ich möchte nicht anders sein“, sagte Edwin und Traurigkeit stahl sich in sein Herz.
    Elvira legte ihm eine Hand an die Wange. „Du bist einfach etwas Besonderes. Darüber darfst du dich freuen, Edwin. Es heißt, dass du als Anastasia viel in deinem Leben erreicht hast. Die Begabungen, die du heute hast, sind in deinem früheren Leben gewachsen. Sie sind ein Geschenk an dich. Schau nicht so traurig.“
    Er ergriff ihre Hand. „Dann ist es in Ordnung, wenn ich hierbleibe?“
    „Natürlich! Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen“, beteuerte sie.
    Er musste lachen. „Dann bin ich froh, dann bleibe ich!“, grinste Edwin. Da fiel ihm wieder ein, weshalb er eigentlich hergekommen war und die Erinnerung ließ sein Lachen ersterben. „Hast du etwas von Richard gehört?“
    Auch Elviras Miene wurde ernst. „Sie behaupten weiterhin, er sei tot und seine Leiche bereits verbrannt.“
    Edwin kniff die Lippen zusammen. „Weshalb sagen sie das?“
    „Ich weiß es nicht. Aber mir wird übel, wenn ich daran denke.“
    „Weshalb?“, fragte Edwin alarmiert. Ihm stockte der Atem, als er Tränen in Elviras Augen glitzern sah.
    „Falls er wirklich noch am Leben ist, dann bedeutete das bestimmt nichts Gutes“, antwortete sie mit belegter Stimme.
    „Er lebt!“
    „Ich weiß, ich weiß. Aber am Leben zu sein ist nicht alles, Edwin.“
    „Was, tun sie mit ihm?“, fragte Edwin weiter, nicht sicher, ob er die Antwort hören wollte. „Machen sie ihn etwa noch immer krank?“
    Sie zögerte, wollte wahrscheinlich nicht antworten. „Das ist die einzige Erklärung, die mir einfällt“, sagte sie mit brüchiger Stimme.
    „Dann müssen wir ihn rausholen!“, rief Edwin und krallte sich an ihrer Hand fest. „Wir müssen ihn rausholen!“
    „Ich versteh dich ja“, versicherte sie ihm.
    „Dann gehen wir jetzt!“, sagte er und zog an ihrem Arm.
    Sie erhob sich und versuchte, ihn an sich zu ziehen, doch er wehrte sich. Er wollte nun nicht von ihr getröstet werden. Er wollte Richard wiedersehen. Er wollte seinen Bruder retten. Alles andere zählte nicht. Keine Sekunde länger konnte er es ertragen, von ihm getrennt zu sein und zu wissen, dass er litt. „Wir können nicht einfach da reinspazieren und Richard befreien. Wir wissen nicht einmal, wo genau er ist.“
    „Ich werde ihn finden. Wenn ich nahe genug bei ihm bin, dann werde ich ihn spüren, da bin ich mir sicher.“
    „Dann werden wir alle ins Gefängnis kommen, Edwin. So zu handeln ist gegen das Gesetz.“
    „Gegen das Gesetz?!“, schrie er voller Wut. „Aber es ist nicht gegen das Gesetz meinen Bruder beinahe zu ermorden?! Es ist nicht gegen das Gesetz ihm unvorstellbare Schmerzen zuzufügen und zu behaupten, er wäre tot?!“
    „Du hast Recht, das ist nicht gerecht.“
    „Es ist überhaupt nicht gerecht!“
    "Es tut mir leid, Edwin. Wir finden einen anderen Weg.“
    „Welchen denn?“ Es gibt doch keinen!
    „Ich weiß es noch nicht. Aber uns fällt etwas ein. Gilbert ist bestimmt bald zurück, vielleicht hat er eine Idee.“
    „Das glaube ich nicht!“ Sein ganzer Schmerz, entstanden durch seine Hilflosigkeit, durch die Verwirrung der letzten Tage und den Verlust seiner Familie brach mit diesen Worten aus ihm heraus. Brodelnd war die Wut in ihm angewachsen, nun trat sie über, fegte wie ein Sturmwind durch das Zimmer. Eine Vase zersprang, Papier fegte vom Schreibtisch, der Boden erzitterte. Elviras Arm entglitt Edwins tauben Fingern und ihr feingliedriger Körper wurde grob zurück in den Stuhl geworfen. Edwin erstarrte vor Schreck, als er ihr schmerzverzerrtes Gesicht sah. Auf einmal herrschte Stille. Nur ein paar Blätter segelten noch durch die Luft, landeten kaum hörbar auf den Dielen. Elviras entsetzter Blick traf den von Edwin. Sekundenlang schauten sie sich wortlos an. „Das wollte ich nicht“, stammelte er schließlich, er begann zu zittern. „Ich habe nicht“, er brach ab, Tränen liefen ihm über die Wangen, er fühlte sich auf einmal unglaublich schwach. Er wagte gar nicht, sich umzusehen und das Chaos im Zimmer zu betrachten. Sie sagte noch immer nichts, saß in dem Stuhl wie gelähmt. Edwin machte einen wankenden Schritt auf sie zu. „Das bin ich nicht, so bin ich nicht!“, stieß er flehend aus. „Mutter!“
    Endlich erwachte sie aus ihrer Starre und als die Beine unter ihm nachgaben, war sie bereits neben ihm und schlang ihre Arme schützend um seinen Körper. „Schhhh, alles ist gut“, flüsterte sie in sein Ohr. „Alles ist gut.“
    Er weinte, schluchzte. Bis keine Tränen mehr übrig waren. Dann schlief er erschöpft ein.

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Hey RenLi,

    der Teil hat mir wieder sehr gut gefallen. Das Aufeinandertreffen mit diesem Vater Nikodemus hast du wie immer schön beschrieben, ebenso, wie das unterschwellige Gefühl, dass mit ihm irgendwas nicht stimmt. Edwins Verzweiflung und die unkontrollierte Entladung seiner Wut (ich nenne das jetzt mal so) war sehr eindringlich. Wirklich sehr cool :)

    Meine Anmerkungen kommen hier:

    Spoiler anzeigen


    Von ihrem Sitz aus schaute sie zu dem Mann auf. Edwin schaute zu,

    Wiederholung

    Er scheint noch immer ein ... “, er machte eine kurze Pause, als suche er nach dem richtigen Wort, „ein interessantes Leben zu führen“, schloss er und steckte sich den Ring an seinen kleinen Finger.

    ich würde hier mit Pünktchen andeuten, dass der Satz noch nicht beendet ist

    Die faltige Haut hing seltsam schlaff von seinem Gesicht herunter und bewegte sich hin und her, wenn er redete.

    Nicht gerade eine Augenweide der Gute :rofl:


    Du weißt es vielleicht selber nicht, aber zu bist kein normaler Junge.

    du


    Brodelnd war die Wut in ihm angewachsen, nun trat sie über, fegte wie ein Sturmwind durch das Zimmer. Eine Vase zersprang, Papier fegte vom Schreibtisch, der Boden erzitterte .....

    Sehr schön beschrieben der Teil :thumbsup: Leider lässt er sich jetzt von mir nicht ganz kopieren

    LG,
    Rainbow

  • Halli Hallo

    Wenn man eine Geschichte über 500 Jahre weitergibt, dann geschieht es doch immer, dass sie sich verändert, aufgehübscht wird und so weiter. Da wäre es doch spannend, mal das Original zu hören, nur muss man dabei aufpassen, wessen Perspektive des Geschehenen man sich aussucht.
    Wer war der sagenumwobene Heilige Rhamnus wirklich? Nun, hier kommt die Version von Anastasia. Ein erster Blick auf den weisen Wanderer von vor 500 Jahren.


    Edwin, der weise Wanderer (566 n. Rh.)
    Anastasia saß neben ihrem Gatten an der langen Tafel, die unter dem Gewicht der vielen Speisen ächzte. Es gelang ihr nur mit Mühe, ihre Wut über dieses Übermaß an Gerichten im Zaum zu halten. Wenn sie daran dachte, wie viele Menschen in ihrem Land an Hunger litten, dann drehte sich ihr der Magen um. Langsam hob sie die Gabel und schob sich ein weiteres Stück Gemüse in den Mund. Sie kaute langsam, wollte ihren Magen nicht überfordern. Der Kontrast zu ihrem Gatten hätte nicht größer sein können. Dieser leerte gerade einen weiteren Becher Wein und biss herzhaft in den Schenkel eines Rebhuhns. „Esst, guter Wanderer. Ihr seht noch immer halb verhungert aus!“, rief er über den Tisch hinweg dem Weisen zu.
    Anastasia stieg die Schamesröte ins Gesicht. Was für eine Schande, dass dieser Mann der König des Landes war und auch noch ihr Gemahl. Sie wagte einen scheuen Blick in Richtung ihres Retters. Mit gerader Haltung saß er da, die Hände im Schoss gefaltet. Mit wachem Blick musterte er den Herrscher. „Ich sagte Euch bereits, dass ich nicht zu essen brauche“, sagte er gelassen. Noch immer trug er seine einfache Kleidung, schmutzig vom Staub der Straßen und löchrig von den vielen Tagen auf Wanderschaft. Das Angebot des Königs, ihn fürstlich zu kleiden, hatte er ausgeschlagen. Doch trotz seines heruntergekommenen Anblicks strahlte er eine hoheitsvolle Würde aus. Schnell ließ Anastasia den Blick wieder sinken. Neben ihr ließ Cedrus ein Grunzen hören, schluckte einen weiteren Bissen hinunter. „Na wenigstens ist Euer Knappe anständig genug, den Aufforderungen des Königs nachzukommen. Auch wenn er isst wie ein Vögelchen.“ Er prostete Diligo zu, der wie üblich neben dem Weisen Platz genommen hatte und Anastasia somit gegenübersaß. Soweit Anastasia wusste, war er der einzige, der Rhamnus auf seinen Reisen begleiten durfte. Als sein Schüler war er stets an der Seite seines Lehrers anzutreffen. Er war ein stiller, junger Mann und Anastasia war sich nicht sicher, wie sie ihn einschätzen sollte. Er wirkte eher wie ein Schatten des Wanderers als wie ein eigenständiger Mensch, was ihn für sie nicht greifbar machte. Er scheint nur an den Versen seines Lehrers zu kleben und keinen eigenen Charakter zu besitzen, schoss es ihr durch den Kopf. Sogleich schämte sie sich für diesen Gedanken, auch wenn er ihr nicht unbegründet schien.
    „Mit euch macht das Essen keinen Spaß“, beklagte sich Cedrus. „Nicht einmal meine Frau scheint Appetit zu haben.“ Er bedachte Anastasia mit einem herablassenden Blick, bevor er sich eine weitere Fleischkeule auf den Teller klatschte. „Vielleicht sollten wir morgen Abend ein Fest feiern. Das wäre eine gute Abwechslung“, überlegte er laut.
    „Ihr solltet Euren Unterricht nicht vernachlässigen, König Cedrus“, merkte Rhamnus an und nippte an einem Glas Wasser, welches er nur des Anstandes wegen trank.
    „Ich werde mich unterrichten lassen, wann immer ich es wünsche“, entgegnete der König.
    Anastasia schaute ihren Gatten erschrocken an. Wie konnte er dem weisen Mann gegenüber so offenheraus unhöflich sein? War es denn nicht offensichtlich, dass eine höhere Macht mit ihm war, die man nicht herausfordern sollte?
    „Es scheint, als hättet Ihr noch nicht verstanden, in welcher Lage Ihr Euch befindet, König. Dämonen verwüsten Euer Land und haben selbst vor Eurem Haus nicht Halt gemacht. Wenn Ihr Euch und Euer Reich retten wollt, dann solltet Ihr Euch der reinigenden Kraft der Götter unterwerfen und mit Eurer Schulung beginnen. Ich kann Euch nicht zwingen ein besserer Mensch zu werden, doch rate ich Euch dringendst damit zu beginnen.“
    Anastasia blieb das Stück Karotte vor Schreck im Hals stecken. Hustend hob sie den Ärmel ihres Kleides vor den Mund. Sie spürte förmlich wie die Luft zu knistern anfing, während die Wut in ihrem Gemahl zu kochen begann. „Die Götter mögen mit Euch verbunden sein, auch wenn ich nicht sehe, was sie an einem arroganten, heruntergekommenen Landstreicher finden können, aber der König bin hier immer noch ich. Ein Wort von mir genügt, um euch einen Kopf kürzer schlagen zu lassen, Wanderer!“
    „Ihr könnt es gerne versuchen“, war die Antwort von Rhamnus, so gelassen wie zuvor.
    „Werft ihn in den Kerker!“, rief der König und winkte einer Wache.
    „Warte, Cedrus! Er hat mich gerettet, wie hätte er das ohne die Hilfe der Götter vermocht? Wenn du ihren Günstling in Ketten legst, wird ihr Zorn über uns kommen!“, Anastasia hielt ihren Gatten am Arm fest, doch der König schüttelte sie ab.
    „Halt den Mund, Weib. Das beweist nichts. Es könnte auch Zufall sein. Wenn er wirklich ein Günstling der Götter ist, wie du sagst, dann wird er uns das nun bestimmt beweisen können.“ Ein herausforderndes Grinsen breitete sich auf Cedrus‘ Gesicht aus. Darauf also wollte er hinaus. Hatte er den Wanderer etwa absichtlich zu reizen versucht? Wollte er ihn auf die Probe stellen?
    „Euer Dämon hat seine Fänge weit tiefer in Euch gegraben als der Eurer Gemahlin. Nun gut, wenn ihr die Macht der Götter sehen wollt…“ Rhamnus erhob sich. Diligo hielt seinen Blick gesenkt, während sich der König erwartungsvoll vorbeugte.
    Erst schien nichts zu geschehen. Während des Wartens breitete sich eine Mischung aus Furcht und Neugier in Anastasia aus. Was war es für eine Macht, mit der sie es hier zu tun hatten? Dann bemerkte sie, dass es allmählich dunkler wurde im Zimmer. Sie sprang auf, sah an Rhamnus vorbei nach draußen. Dicke Wolken zogen am Himmel auf und verdunkelten die Sonne.
    „Zufall“, brummte Cedrus. „Wer sagt mir, dass das nicht-“ Er brach ab, keuchte.
    Anastasia entfuhr ein spitzer Schrei, als sie ihre Aufmerksamkeit auf den König richtete. Er stand schwankend da, mit weit aufgerissenen, hervorquellenden Augen starrte er den Wanderer an. Er würgte, fasste sich mit den Händen an die Gurgel. „Was tut Ihr?!“, rief Anastasia entsetzt. Regen klatschte gegen die Fensterscheiben, während ihr Mann in die Knie sank.
    Rhamnus seufzte. „Eure nächste Lektion: Zu atmen heißt zu leben. Jeder Atemzug bringt neue Lebensenergie in den Körper und verbindet das Irdische mit dem Überirdischen. Bricht diese Verbindung ab, tritt der physische Tod ein. Auch ein König ist abhängig vom Lebensatem, das solltet Ihr nicht vergessen. Jeder Atemzug ist kostbar.“ Als er sich abwandte, sank der König in sich zusammen und schnappte gierig nach Luft. Er schien etwas erwidern zu wollen, brachte jedoch keinen Laut heraus.
    „Ich werde Euer Haus für heute verlassen. Morgen nach dem Abendessen erwarte ich Euch zur nächsten Lektion.“ Mit diesen Worten verließ er den Raum, sein Schüler folgte ihm.
    „Das ist nicht die Macht der Götter“, japste Cedrus. Er schaute zu den Wachen hinüber, die an den Türen postiert waren. Sie lagen ohnmächtig am Boden, die Körper schlaff wie von Stoffpuppen. „Das ist dämonisches Werk!“

    Edwin schreckte aus dem Traum hoch. „Cedrus!“, rief er aus, dann sank er erschöpft auf die Schlafmatte zurück. „Ein Traum“, murmelte er. „Jeela?“ Die Hündin lag friedlich schlafend neben ihm. Er lauschte auf Gilberts ruhigen Atem, wurde jedoch enttäuscht. Gilbert war noch immer nicht zurück. Stattdessen hörte er wie Elvira sich im Schlaf drehte. Erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass er sich bei ihr im Zimmer befand. Nach dem, was bei ihr im Büro passiert war, hatte sie ihn nicht alleine schlafen lassen wollen. Ihn schauderte, als er daran dachte. Elvira hat sich vor mir gefürchtet. So wie Anastasia vor Rhamnus. Ich möchte nicht zum Fürchten sein. Was möchte ich dann sein?, fragte er sich. Ein Sonnenschein, war die Antwort aus seinem Innern. Ich möchte die Menschen um mich herum aufheitern.
    Entschlossen nickte er. „Ich werde nicht noch einmal so wütend werden. Nie wieder!“, schwor er leise, aber bestimmt. „Ich will ein Sonnenschein sein und die Menschen erfreuen! – Aber manchmal ist es schwierig.“ Er seufzte. „Manchmal weiß ich nicht mehr weiter“, gestand er sich ein.
    Er schaute in sein Inneres, suchte nach seinem Vater. Papa, wo bist du? Weshalb bist du nicht mehr hier? Er fand die Präsenz seines Vaters und schmiegte sich an sie. Du weißt immer was zu tun ist, nicht wahr? Du wirst kommen und uns finden. Richard und mich.
    Als er sich beruhigt hatte, drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Seine Gedanken wanderten zurück zu seinem Traum. Dieser Rhamnus ist ganz anders, als ich mir ihn vorgestellt hatte, dachte Edwin. Was ist später passiert? Da ist etwas Wichtiges. Doch ich weiß es nicht mehr. Die Kraft, die der Heilige Rhamnus in sich getragen hatte, musste enorm gewesen sein, wenn er selbst die Wolken hatte befehligen können. Edwin spürte noch immer seine Angst von damals. Anastasias Angst. Vielleicht sollte ich doch lesen lernen. Dann könnte ich jetzt nachlesen, was danach geschehen ist, dachte er müde. Aber ich sollte mich doch erinnern können. Warum nur ist der Zugang zu früher so eigensinnig? Wenn ich weiterschlafe, vielleicht träume ich dann da weiter, wo es aufgehört hat?, überlegte er. Vielleicht weiß Anastasia, wie man mit dieser Kraft umgeht. Habe denn wirklich ich das Beben im Zimmer verursacht? Vielleicht, weil ich in dem Moment so wütend war. Er rümpfte die Nase. Der weise Wanderer hatte überhaupt nicht wütend auf ihn gewirkt, als er Cedrus in die Knie gezwungen hatte. War es nicht vielleicht möglich, dass er diese Kraft zu kontrollieren lernte? Er wollte niemals mehr jemandem wehtun damit, niemals.

    Anastasia prüfte, ob sie das leise Schnarchen des Bibliothekars aus seiner Kammer neben der Bibliothek kommen hörte. Sie lächelte, als sie das inzwischen so vertraute Geräusch vernahm. Seit annähernd einem Jahr hatten sie und der alte Mann bereits das stille Abkommen getroffen, dass er um diese Uhrzeit ein Nickerchen hielt und ihr damit den Zugang zur gesamten Auswahl der königlichen Büchersammlung verschaffte. Im Gegenzug ließ sie ihm diese zusätzliche Stunde Schlaf durchgehen, die er sich ihrer Meinung nach sowieso wohl verdient hatte. Schließlich war er seit Jahrzehnten im königlichen Dienst eingestellt und das Alter machte ihm doch zusehends zu schaffen.
    Voller Vorfreude schlich sich Anastasia in den weitläufigen Raum und zog die Türe leise hinter sich zu. Bereits als Kind hatte sie hier Stunde um Stunde verbracht, versunken in alte Erzählungen, Staatskunde, dichterischen Werken und allen anderen Büchern, die sie in die Finger bekam. Ihre Eltern hatten sie immer machen lassen, obwohl es nicht üblich für Frauen war, überhaupt lesen zu können. Doch seit Cedrus das Amt ihres Erziehers übernommen hatte, waren ihr die Freiheiten vom eigenständigem Denken entzogen worden. Er duldete es nicht, dass seine Gemahlin eine eigene Meinung vertrat, die auch noch zu allem Übel nur zu oft nicht mit der seinen übereinstimmte. Und ein Teil dieser Einschränkungen bezogen sich auf das Lesen von Büchern.
    Glücklich sog sie den vertrauten Geruch ein. Wie gut es doch tat, sich wenigstens ein bisschen den eisernen Ketten der Ehe zu widersetzen. Genussvoll strich sie mit dem Finger über die alten Buchrücken, während sie die Reihen entlangging. Nur nicht übermütig werden, ermahnte sie sich. Doch sie konnte ein Grinsen nicht verbergen. Sie fühlte sich wie ein kleines Kind, das den Eltern einen Streich spielt. Welches soll ich mir heute ansehen? Am besten wäre wohl in dem Buch über Staatsführung weiterzufahren, schließlich galt es nun, das Reich wieder unter Kontrolle zu bringen, endlich Ordnung zu schaffen in dem ganzen Chaos, das ihr Gemahl angerichtet hatte. Hätte er sich ein bisschen mehr mit dieser Lektüre als mit seinen Jagden und seinem Kampfesruhm beschäftigt, wäre es wohl gar nie so weit gekommen.
    Sie fand das gesuchte Buch und zog den dicken Wälzer vorsichtig zwischen seinen Brüdern hervor.
    Gerade als sie es aufschlagen wollte, hörte sie ein Geräusch auf der anderen Seite des Regals. Erschrocken hielt sie in der Bewegung inne, lauschte. Tatsächlich hörte sie das Umblättern einer Buchseite. Ihr Atem ging schneller und ihre Hände verkrampften sich um das Buch, während sie fieberhaft überlegte, was nun zu tun sei. Es kam ganz darauf an, wer sich da auf der anderen Seite des Regales befand. Es kam selten vor, dass jemand überhaupt herkam. Vielleicht hatte derjenige sie auch gar nicht bemerkt. Womöglich machte sie sich zu viele Sorgen? Anastasia überlegte, ob sie es wagen sollte, um das Regal herumzuschleichen, um ausfindig zu machen, wer da ihre geheime Lesestunde zunichtemachen wollte. Da hörte sie das Rascheln von Stoff, Schritte, die der Reihe entlanggingen.
    Soll ich mich verstecken? Nein, er muss mich bereits gehört haben. Schnell schob sie das Buch ins Regal zurück, beschwor sich, ruhig zu bleiben und zuckte doch zusammen, als sie ein leises Räuspern hinter sich hörte. „Entschuldigt, ich wollte Euch nicht erschrecken.“ Sie erkannte Diligo, den Schüler des weisen Wanderers. Ob er weiß, dass ich nicht hier sein sollte? Er ließ sich auf jeden Fall nichts anmerken, wirkte höflich und blieb in respektvollem Abstand zu ihr stehen. Seine dunklen Augen musterten sie unergründlich, aber nicht abweisend.
    „Mögt Ihr Bücher?“, fragte sie in der Hoffnung, dass er nichts von dem Verbot wusste.
    Diligo nickte. „Bisher waren wir selten für längere Zeit an demselben Ort. Ich genieße es, einmal die Zeit zum Lesen zu haben. Wie sieht es mit Euch aus? Lest Ihr gerne?“
    Sie atmete innerlich auf. Anscheinend hatte er keine Ahnung. „Ich liebe es“, antwortete sie wahrheitsgetreu und war selbst überrascht, dass sie dabei leicht errötete. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, zu lügen, aber dies hatte ihr nie gelegen.
    „Wie schön“, sagte er lächelnd. Das war das erste Mal, dass sie ihn lächeln sah. Es machte ihn menschlicher, greifbarer, eine Gefühlsregung an ihm zu sehen. „Welches Buch könnt Ihr mir empfehlen?“, fragte er.
    Die Frage schien aufrichtig gemeint zu sein und Anastasia war überrascht, dass ihre Meinung ihn tatsächlich interessierte. Womöglich war es in seinem Herkunftsland nichts Ungewöhnliches, wenn Frauen Bücher lasen. „Was lest Ihr denn gerne?“
    „Vielleicht etwas über die alten Mythen Eures Landes? Es würde mich interessieren, welcher Glaube hier denn verbreitet ist.“
    Wieder eine Überraschung. Sie hätte nicht gedacht, dass er sich für ihre Götter interessieren könnte. Schließlich gehörte es zu seiner Aufgabe, ihnen einen neuen Glauben zu bringen, der sie vor der Macht der Dämonen retten sollte. „Der König hat die alten Werke ausräumen lassen. Aber ich könnte Euch eine der alten Geschichten erzählen, wenn Ihr wollt. – Aber vielleicht besser ein anderes Mal“, sagte sie und schlug schuldbewusst die Augen nieder.
    „Ihr habt ein ehrliches Gemüt, Königin. Ihr müsst viel unter Eurem Gatten gelitten haben.“ Die Worte Diligos waren so leise, dass sie nicht sicher war, ob sie sich verhört hatte.
    „Ich sollte nun gehen“, sagte sie knapp und ohne darauf einzugehen. Wäre er nicht die rechte Hand des weisen Wanderers, hätte sie solche Worte nicht geduldet. Wenigstens konnte sie so tun, als hätte sie sie nicht gehört. „Und ich bitte Euch, erzählt niemandem davon, dass Ihr mich hier angetroffen habt“, fügte sie leise hinzu, als sie an ihm vorbeiging.
    Mit klopfendem Herzen verließ sie die Bibliothek. Wie dumm von mir! Ich habe mich ihm komplett ausgeliefert! Diesen letzten Satz hätte ich mir auch sparen können, schalt sie sich. Doch sie hatte für einen Moment die Hoffnung nicht unterdrücken können. Die Hoffnung, dass er sie verstehen könnte, dass er ihr Geheimnis für sich behalten würde. Wie dumm von mir!

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Hey RenLi,

    dieser Teil zeigt mal wieder, dass du es einfach kannst :) Mit einer wahnsinnigen Leichtigkeit erzählst du, transportierst Gefühle und Stimmungen. Es macht immer wieder Spaß, deiner Geschichte zu folgen.
    Ein bisschen Kleinkram packe ich dir dennoch in den Spoiler ;)

    Spoiler anzeigen

    Ich habe mich gefragt, ob man den kompletten Teil mit Anastatsia nicht in kursiv setzen sollte, weil es ja offentlich ein Traum ist. (nur so eine Idee)

    Als er sich beruhigt hatte, drehte ... sich auf den Rücken und verschränkte die Arme hinter

    er

    Er duldete es nicht, dass seine Gemahlin eine eigene Meinung vertrat, die auch noch zu allem Übel nur zu oft nicht mit der seinen übereinstimmte.

    irgendwie kommt mir das etwas umständlich vor...vielleicht:"...die zu allem Übel oft nicht mit der seinen übereinstimmte" (?)


    Und ein Teil dieser Einschränkungen bezogen sich auf das Lesen von Büchern.

    müsste es nicht "bezog" heißen, weil sich das Verb in dem Fall auf "ein Teil" bezieht und nicht auf die "Einschränkungen" (?)

    LG,
    Rainbow

  • Hi there
    Ups, das ist ein riesiger Teil, ich hoff mal, das klappt und dass ihr nicht gleich erschlagen werdet.
    Mal sehen, wer alles aus den Latschen kippt :D :evil::whistling::saint:8|:rolleyes:

    Edwin, Aus dem Gefängnis frei (566 n. Rh.)
    Edwin saß neben Lotar in der Halle, in der sie ihr Abendessen einnehmen sollten. Um sie herrschte Chaos. Kinder rannten zwischen den Bänken hindurch, an einem Tisch gleich nebenan trommelten sie mit Gabeln und Messern auf die Tischplatte. Lotar musste mehrmals aufstehen, um einzugreifen und zwei Kinder zu trennen, die sich in die Haare geraten waren. „Ist es oft wild?“, fragte Edwin. In den wenigen Tagen, die er bereits hier verbracht hatte, war es nicht ganz so schlimm gewesen.
    „Heute sind sie besonders unruhig, scheint mir“, antwortete Lotar. „Lebst du dich langsam ein?“
    Edwin ließ den Blick über die Kinderhorde schweifen und zuckte mit den Achseln. Sie waren ihm noch immer so fremd wie zu Beginn.
    „Lass dir Zeit. Du bist ja gerade erst angekommen“, meinte Lotar. „Übrigens, Elvira sagt, du sollst nächste Woche an ein paar Unterrichtsstunden teilnehmen. Was hälst du von Malen? Sie meint, das könnte dir gefallen.“
    Edwin merkte, dass es ihn etwas kränkte, dass Elvira nicht selbst mit ihm darüber gesprochen hatte. „Wann ist das und wo?“, fragte er nach und ignorierte seine belastenden Gefühle.
    „Ich werde es dir zeigen. Maria ist übrigens auch dort.“
    Edwin schaute zu dem Mädchen hinüber, das auf der anderen Seite von Lotar saß. Auch gerade jetzt hielt sie einen Stift in der Hand und malte. Maria war Lotars ständige Begleiterin. Wo auch immer er hinging, folgte sie ihm. Sie sprach nicht viel und Edwin war aufgefallen, dass sie den meisten Menschen nicht direkt in die Augen sah, auch ihm nicht. Auch sonst schien sie die anderen Kinder eher zu meiden, nur Lotar mochte sie ganz offensichtlich. Edwin versuchte zu erkennen, was sie gerade malte. Einen Wirbel? Sie malte oft. Manchmal kreiste ihr Stift wild und voller Energie oder gar energisch über das Blatt, manchmal ganz friedlich und sanft. Jetzt gerade vollzog sie einen eleganten Kringel in blauer Farbe. Sie hielt ihr Kunstwerk Lotar hin, worauf er sie lobte und ihr liebevoll übers Haar strich. Sie schien sich zu freuen und wandte sie sich wieder voller Hingabe ihrem Bild zu.
    „Sie malt ihre Träume, oder Dinge, die nur sie sehen kann“, erklärte Lotar.
    „Was sieht sie denn?“, wollte Edwin wissen.
    „Oft sind es farbige Wirbel, so wie dieser hier. Manchmal malt sie auch Menschen. Diese sind aber meist schwarz oder grau, aber von vielen Farben umgeben.“
    Edwin betrachtete die Kinder. Er sah nur Kinder. Keine Farben. „Nur, weil ich etwas nicht sehen kann, heißt das ja nicht, dass es nicht existier“, stellte er fest.
    „So ist es wohl. Du siehst doch auch Dinge, die andere nicht sehen können, oder?“
    „Zum Beispiel die Waldgeister. Anfangs wusste ich gar nicht, dass nur ich sie sehen kann. Ich war froh, als Gilbert erzählt hat, dass auch er sie als Kind sehen konnte.“
    „Und, möchtest du nun in die Malstunde gehen? Mina unterrichtet sie.“
    „Wer ist Mina?“, fragte Edwin. Er glaubte, einen Unterton von Schmerz in Lotars Stimme wahrgenommen zu haben. Inzwischen hielt er sich jedoch damit zurück, die wahren Gefühle seiner Mitmenschen zu überprüfen, da Elvira es ihm nach einem Gespräch mit Lotar verboten hatte.
    „Sie ist die Frau meines Bruders und kümmert sich mit ihm um das Geschäft, welches er eröffnet hat. Wir sind zusammen hier im Waisenhaus aufgewachsen und sie kommt noch immer mehrmals in der Woche vorbei, um zu unterrichten.“
    „Wolltest du nie weg?“
    Das kratzende Geräusch des Malstiftes verstummte. Edwin sah, dass Marias Augen von einer Seite des Blattes auf die andere und wieder zurück hüpften. Hörte sie zu? Hatte sie Angst, Lotar könnte sie verlassen?
    „Ich habe darüber nachgedacht. Aber es gefällt mir hier. Die Arbeit mit den Kindern, das Unterrichten. Nach und nach kann ich mehr Verantwortung übernehmen und es ist mein Zuhause. Ich könnte auch gar nicht weg, schließlich ist Maria doch hier, nicht wahr?“, sagte er und drückte dem Kind einen Kuss auf den Kopf. Sie gluckste und ihr Stift begann wieder fröhlich zu kreisen.
    Edwin mochte es, ihr beim Malen zuzusehen. Obwohl Lotar sagte, dass sie Ding aus ihrer Umgebung malte, so schien es ihm eher, als bringe sie ihr Inneres an die Oberfläche. Als würde sie ihr Herz mit Buntstiften sichtbar machen, dachte er erstaunt. „Das ist wirklich sehr schön“, kommentierte Edwin das Bild.
    Sie hob halb den Kopf und zum ersten Mal sah sie ihm für einen kurzen Moment in die Augen. Er glaubte ein Funkeln darin zu entdecken, dann hatte sie den Blick bereits wieder auf ihr Werk gesenkt.
    „Ich glaube, sie mag dich“, meinte Lotar erfreut.
    „Wie alt ist Maria denn eigentlich?“
    „Sie ist vor Kurzem neun Jahre alt geworden. Das glauben wir zumindest. Wann genau sie geboren wurde, wissen wir nicht.“
    Der Gong ertönte und die Kinder verstummten. Unter der Anleitung der Köchin brachten ein paar Kinder mehrere Töpfe in den Raum. Suppe, vermutete Edwin. Am Abend gab es meistens einfach noch Suppe zu essen. Der würzige Geruch füllte bereits den Raum. Erstaunlich geordnet stellten sich die Kinder hintereinander vor den Töpfen auf. Auch Edwin, Lotar und Maria nahmen ihre Holzschalen und reihten sich ein.
    „Na, Lotar, hast du alle deine Schützlinge beisammen?“ Eine Frau war zu ihnen getreten, ebenfalls eine Schale in den Händen.
    „Mina! Ich habe gar nicht gewusst, dass du bereits zurück bist“, begrüßte Lotar sie.
    Das ist also die Mallehrerin? Edwin musterte sie. Für eine Frau hatte sie ungewöhnlich kurze Haare, die ihr in braunen Locken um den Kopf standen wie ein Kranz. Sie trug lange, weite Kleidung, die wie bei Elvira um die Hüfte mit einem Ledergürtel zusammengehalten wurde. Edwin fiel neben der besonders spitzen Nase vor allem der kecke Ausdruck auf ihrem Gesicht auf.
    „Wir sind gestern schon zurückgekommen. Schließlich kann ich euch nicht zu lange alleine lassen, da weiß man ja nie, was ihr ausheckt. Heute herrscht ja wieder mal ein rechter Tumult hier“, sagte sie grinsend.
    „Stimmt, sie sind unruhig.“
    „Ach, Lotar, hast du gehört, dass sich ein paar Ziegel vom Dach gelöst haben? Vielleicht könntest du dich heute noch darum kümmern. Soweit ich weiß hat es im Estrich noch welche.“
    „Weißt du auch, wo sie sich gelöst haben?“
    „Ich denke wieder im Westflügel, da sind sie dem Wind am meisten ausgesetzt“, mutmaßte Mina.
    Lotar nickte. „Gut möglich, ich werde mich darum kümmern. Ist Gilbert noch nicht zurück?“
    Edwin spitzte die Ohren. „Soweit ich weiß nicht“, antwortete Mina. „Unglaublich, kaum ist er mal da, verschwindet er gleich wieder.“
    „Er fühlt sich nicht wohl hier“, verteidigte Edwin seinen Freund. Obwohl er ihn vermisste und froh gewesen wäre, ihn wieder um sich zu haben, wollte er nicht, dass jemand schlecht über ihn sprach.
    „Du musst Edwin sein“, stellte sie fest. „Mein Name ist Mina.“
    „Malst du gerne?“, fragte Edwin.
    „Sehr gerne. Deshalb zeichne ich auch mit den Kindern. Wenn du willst, kannst du gerne in meiner Stunde reinschauen. Und ich hoffe doch, dass du auch wieder kommst, Maria.“ Sie lächelte Maria aufmunternd zu, woraufhin sich das Mädchen näher an Lotar drängte. „Was machst du nur mit ihr, dass sie dich so mag?“, fragte Mina und stemmte die Hände in die Hüften. „Da werde ich ja gleich eifersüchtig“, grinste sie und bliess sich eine ihrer Locken aus dem Gesicht. „Und Edwin hast du auch schon um deinen Finger gewickelt.“
    „Wie, um den Finger gewickelt?“, wollte Edwin wissen und schaute auf Lotars Hände.
    „Das sagt man so“, lachte sie, während Lotar verlegen wurde.
    Sie schöpften ihr Essen, tatsächlich Suppe, und setzten sich an ihren Tisch zurück. Während des Abendessens unterhielten Lotar und Mina sich, was Edwin die Gelegenheit gab, wieder etwas zur Ruhe zu kommen. Er genoss es, sich nur auf das Essen zu konzentrieren und sich mit nichts anderem beschäftigen zu müssen. Als er fertig war, erkundigte er sich nach Jeela. Er spürte sie draußen im Garten auf, wie immer war sie guter Dinge und er freute sich an ihrem ausgelassenen Geist.
    Nachdem Mina sich verabschiedet hatte, brachten er, Lotar und Maria ihre Schalen in die Küche, um sie zu spülen. Den Rest des Abends hatten die Kinder frei. Solange es hell war, konnten sie nach raus in den Garten gehen, um zu spielen, sonst mussten sie im Haus bleiben. Schon stürmten die ersten nach draußen. Edwin verabschiedete sich von den anderen, er wollte hoch in den Turm, um die Zeit zu nutzen, nach Richard zu suchen. Seit er die Möglichkeit entdeckt hatte, mit Fait den Körper zu teilen, hatte er keinen Tag verstreichen lassen, ohne mindestens eine Rund über die Stadt zu fliegen.
    Endlich oben angekommen, setzte er sich auf die Matte und schloss die Augen. Es fiel ihm immer leichter, mit Fait in Verbindung zu treten. Schon hieß ihn der Habicht willkommen und sie schossen über die farbenfrohen Dächer Caputs hinweg.
    Vielleicht finden wir ihn heute, meinte Edwin.
    Wie immer war die Marktgasse voller Leute, wie auch der Ausrufplatz. Edwin flog weiter, über das Schenkenviertel hinweg. Könnte doch sein, dass er in einem Gasthof wohnt, überlegte sich Edwin. Vielleicht ist er aus dem Gefängnis ausgebrochen und wohnt jetzt in einem Gästezimmer.
    Obwohl Edwin merkte, wie absurd dieser Gedanke klang, konnte er doch nicht umhin, tiefer zu fliegen und auf einem der Dächer zu landen. Schließlich machte es auch keinen Sinn, immer nur oberhalb des Gefängnisses zu hocken und gar nichts zu tun.
    Also schaute er nun nach unten und betrachtete die Menschen, die sich auf den Straßen und Gassen tummelten. Meist handelte es sich um Männer. Nur eine kleine Schaar Kinder war zu sehen. Diese fiel dafür aber sogleich ins Auge, weil sie nicht an diesen Ort zu gehören schienen. Edwin beobachtete sie eine Weile. Er konnte nicht genau sagen, ob es sich um Bettelkinder handelte oder nicht. Sie schienen nicht ganz so ausgehungert wie die meisten Straßenkinder zu sein, doch wirklich ordentlich sahen sie auch nicht aus. Als sie in eine verlassene Gasse abbogen, folgte Edwin ihnen.
    Vorsichtig spähte er vom Dach hinunter, als ihm einfiel, dass er ja in Gestalt eines Vogels unterwegs war und sich gar nicht solche Mühen machen musste. Also flatterte er hinunter und landete auf einem tiefer gelegenen Sims. So war er nahe genug, um ihre Gespräche verstehen zu können.
    Die Gruppe war stehengeblieben. Erst konnte Edwin nicht ausmachen, weshalb, dann sah er, wie sich ein Mann aus den Schatten erhob. „Habt ihr das Geld?“, fragte er und lehnte sich lässig an die Hauswand.
    Eines der älteren Mädchen schob sich nach vorne und reckte trotzig das Kinn vor. „Bevor wir es dir geben, wollen wir die Tauschware sehen“, verlangte sie. „Wir lassen uns nicht über den Tisch ziehen.“
    „Natürlich, ihr seid schlaue Kerlchen“, meinte der Mann und griff in seine Jacke. „Da ist es.“ Er hielt ein Schriftstück hoch. „Sie wird morgen aus dem Gefängnis entlassen.“
    „Lass mich sehen“, verlangte das Mädchen.
    „Kannst du denn lesen, Kleine?“, fragte der Mann skeptisch.
    „Natürlich“, antwortete sie schnippisch.
    Der Mann schnaubte. „Ich sollte euch anzeigen, das sollte ich. Eine Gruppe rebellischer Kinder, die nichts besseres zutun hat, als Gefangene freizukaufen. Warum sollte ich euch so einfach laufen lassen?“
    „Wir haben nichts getan, was du uns anklagen könntest.“
    „Noch nicht“, raunte der Mann. „Noch nicht.“ Er drehte das Schriftstück in der Hand. „Ist sie eure Anführerin? Und woher habt ihr überhaupt so viel Geld, dass ihr sie freikaufen könnt?“
    „Das geht dich nichts an. Die Abmachung war, dass du sie freikaufst, und wir dir das Geld geben. Das ist alles. Und nun rück die Bestätigung raus“, mischte sich ein Junge ins Gespräch ein.
    „Na gut, aber ich will es erst zählen. Eurer Bande traue ich nicht über den Weg.“
    Edwin verfolgte, wie die Kinder ihm eine Stück Stoff überreichten. Der Mann schlug die Stofflappen auseinander und begann die Münzen zu zählen, die zum Vorschein kamen. „Hmm“, brummte er. „Alles da. Wie habt ihr das nur aufgetrieben, ihr kleinen Halunken?“
    „Gib uns das Papier!“
    Der Mann verstaute das Geld in seinem Mantel, dann warf er das Schriftstück einem der Kinder zu. „Viel Spaß damit“, sagte er und wollte sich aus dem Staub machen, doch die Kinder stellten sich ihm in den Weg.
    „Erst, wenn wir das gelesen haben.“
    „Ihr wollt doch nicht ernsthaft behaupten, dass ihr das lesen könnt.“
    „Können wir sehr wohl. Lies vor, Raphael“, wie das Mädchen an.
    Der Junge entfaltete das Papier und hielt es sich dicht vor die Nase. Langsam und stockend begann er zu lesen: „Strafbefund von Emilie Zarmonias. Verurteilt zu zwei Jahren Gefängnisstrafe wegen Diebstahls und Schmuggels. Nach drei monatiger Inhaftierung freigesprochen nach Auszahlung der Strafgebühr. Freigelassen am Morgen des dritten Frühjahrsmondes.“
    „Das ist morgen!“
    „Seht ihr, wie ehrlich ich doch bin“, grinste der Mann. „Eure kleine Freundin wird schon morgen wieder zu euch stoßen. Macht euch also keine Sorgen und lasst einen armen Wanderer wie mich mal weiterziehen. Eine menge Kneipen, Schenken, Tresen, Mädels und Krüge erwarten mich.“
    Die Kinder murrten, machten ihm jedoch Platz, woraufhin er in eine anliegende Gasse abbog und aus Edwins Blickfeld verschwand.
    „Phu, wir haben es geschafft!“, sagte der Junge erleichtert und übergab dem Mädchen den Zettel.
    „Was hast du denn geglaubt?“ Sie steckte die Freilassungsbestätigung ein und grinste. „Siehst du, so macht man das.“
    „Ich hoffe nur, dass morgen alles gut geht“, meinte ein anderes Kind.
    „Klar, warum auch nicht. Die Schuld ist abbezahlt, wo sollte das Problem sein?“
    „Ich weiß nicht…“
    Gerne wäre Edwin jetzt zu ihnen getreten. Zum ersten Mal wünschte er sich seinen menschlichen Körper herbei. Wenn sie tatsächlich ein Mädchen aus dem Gefängnis freigekauft hatten, konnte dieses ihm womöglich Auskunft darüber geben, wie es Richard ging. Vielleicht hatte sie ihn gesehen. Aufgeregt folgte er der Kinderschaar. Diese verließ das Schenkenviertel und machte sich auf den Weg in ärmere Gegenden der Stadt. Er fragte sich, wo sie wohl hin wollten. Endlich steuerten sie ein heruntergekommenes Haus an. Sie gingen darum herum und stiegen eine Treppe hinunter. Dort klopften sie an eine von Wind und Wetter ausgeblichene Tür. „Wir sind zurück, und wir haben es!“, rief das Mädchen triumphierend, sobald die Tür aufgestoßen wurde.
    Nacheinander verschwanden sie durch die Öffnung und somit aus Edwins Reichweite. Wenn ich doch nur mit ihnen reden könnte!, dachte er verzweifelt. Ich muss zurück, ich muss meinen Körper holen.
    Sofort flog er auf und trat den Rückweg an. Wie immer legte er den größten Teil des Wegs mit Fait gemeinsam zurück, da er nicht wusste, wie weit sein Geist den Weg alleine zurückfinden würde. Schon einmal war es ihm passiert, dass er sich beinahe in der Weite verloren hätte. Also musste er sich gedulden und der Geschwindigkeit des Vogels anpassen. Weshalb können wir nicht einfach den Ort wechseln?, fragte er sich. Weshalb kann ich mit meinen Gedanken in einem Moment hier und im nächsten schon im Turmzimmer sein, aber der Körper braucht immer viel länger?
    In seinem Körper angekommen, wollte er augenblicklich aufspringen, doch da er sich nicht genug Zeit zum Ankommen genommen hatte, fiel er vornüber. Schmerz jagte ihm durch das Gesicht, als er auf den harten Holzdielen aufkam. Er schmeckte Blut auf der Zunge. Ich bin zu ungeduldig, realisierte er, ohne dass seine Ungeduld abnahm.
    Er atmete tief durch, dann setzte er sich auf. Vorsichtig prüfte er den Schaden, den er angerichtet hatte. Die Zähne schmerzten zwar, schienen aber noch ganz, keine wackelte. Aus einer Wunde in der Oberlippe lief ein bisschen Blut, auch die Nase war in Mitleidenschaft gezogen worden, alles in allem schien aber kein ernsthafter Schaden entstanden zu sein. Er atmete erleichtert auf und wischte sich das Blut mit dem Hemdsärmel weg. Das brannte zwar, war aber nicht sehr schlimm. Von seiner Zeit im Wald war er sich anderes gewohnt. Aber dumm ist es schon, dachte er. Nur, weil ich so ungeduldig bin.
    Edwin stemmte die Luke auf und kletterte nach unten. Als er hinaus in den Garten trat, war es bereits am eindunkeln. Die Sonne hatte sich hinter den Horizont zurückgezogen und ein einzelner Stern funkelte bereits über der Stadt. Edwin rief Jeela zu sich. Sie war nicht weit entfernt und noch bevor er das Tor erreicht hatte, war sie zu ihm gestoßen. „Machen wir einen Ausflug!“, rief er ihr entgegen. Nun, da er auf die Mauer zuschritt fiel ihm auf, dass dies das erste Mal war, dass er das Gelände wieder verließ, seit sie hier angekommen waren. Das Tor rückte näher und auf einmal war er sich seinem Vorhaben nicht mehr ganz sicher. Würde er den Ort wirklich wiederfinden? Von oben war ihm das Bild der Stadt zwar bereits ein wenig vertraut geworden, aber von unten sah alles doch nochmals ganz anders aus. Die Tür des Wärterhäuschens öffnete sich mit lautem Quietschen und zwei Kinder traten heraus. „Wo willst du denn hin?“, fragte das Mädchen und stellte sich ihm in den Weg.
    „Raus“, antwortete Edwin überrascht. „Auf der anderen Seite der Stadt ist ein Haus, da muss ich hin“, fügte er hinzu, weil er nicht genau wusste, was für eine Antwort sie von ihm erwarteten.
    „Was soll das heißen, da musst du hin?“, fragte der Junge. „Wir dürfen nicht einfach raus, nicht ohne einen Erwachsenen.“
    „Warum nicht?“, wollte Edwin verdutzt wissen. „Ist es gefährlich?“
    Der Junge zuckte mit den Schultern. „Wenn du dich auskennst, dann wohl nicht so“, meinte er. „Seraphina und ich haben auch lange draußen gelebt. Und wir hatten keine Probleme.“
    „Spiel dich nicht so auf, Will“, sagte sie und boxte ihm in die Seite. „Wir haben nur überlebt, weil Mar und Jakob uns hergebracht haben. Sonst wären wir entweder verhungert, oder die Wachen hätten uns erwischt.“
    „Welche Wachen?“, fragte Edwin.
    „Die Stadtwachen. Die nehmen dich fest und werfen dich ins Gefängnis.“
    „Aber ich hab doch nichts getan.“
    „Vielleicht jetzt noch nicht, aber wenn du da alleine zurechtkommen willst, dann musst du schon gerissen vorgehen, wenn du nicht erwischt werden willst. So wie Jakob, der war der beste Dieb von allen“, erklärte Will stolz.
    „Wer ist Jakob?“
    „Er ist unser Anführer. Und irgendwann kommt er zurück, um uns zu holen. Das weiß ich.“ Will grinste breit. Seraphina hingegen sah nicht überzeugt aus.
    „Also, wenn ich vorsichtig bin, dann kann ich raus?“, fragte Edwin und schaute zum Tor hinüber.
    „Nein“, beharrte Seraphina. „Nur in Begleitung einer erwachsenen Person.“
    „Weshalb?“ Edwin verstand noch immer nicht. „Ich bin doch freiwillig hergekommen, weshalb sollte ich nicht gehen dürfen. Außerdem komme ich ja wieder zurück.“
    „Das sind die Regeln“, sagte sie in einem Tonfall, der alles zu erklären schien.
    Jeela wurde langsam unruhig, sie lief zum Tor und wieder zurück zu Edwin, dann wieder hin zum Tor. „Sie will auch raus“, stellte Edwin fest.
    „Geht nicht. Regeln sind nun mal Regeln.“
    Edwin musste einsehen, dass es keinen Zweck hatte. Auch wenn er nicht wirklich verstand, was es mit diesen Regeln auf sich hatten, so schienen sie doch von großer Wichtigkeit für die zwei zu sein. Er warf einen letzten Blick in Richtung Ausgang. Dann muss ich halt Lotar fragen, dachte er.
    „Ist das wirklich so wichtig?“, fragte Will in dem Moment. „Ich glaub, Jakob hätte ihn gehen lassen, meinst du nicht?“
    Das Mädchen schien hin und hergerissen. Sie schaute ihren Freund zweifelnd an. „Wir dürfen ihn nicht einfach gehen lassen.“
    „Ich muss es ja niemandem sagen“, schlug Edwin vor. Er konnte sich auch gar nicht vorstellen, dass Elvira etwa dagegen hätte. Wer immer diese Regeln aufgestellt hatte, war wohl schon lange nicht mehr hier gewesen. „Den Sinn dieser Regeln will mit nicht einleuchten.“
    „Genau das hätte Jakob gesagt!“, rief Will aufgeregt. „Am liebsten würde ich gleich mitkommen!“
    „Meinst du?“
    „Ach komm schon, Seraphina. Wir sind in erster Linie Jakobs Bande und keine Waisenhauskinder“, erinnerte Will sie.
    „Na gut, dann lassen wir ihn eben gehen“, stimmte sie widerwillig ein. „Aber zu niemandem ein Wort!“, beschwor sie die beiden Jungen.
    „Klar“, versprach Will, Edwin nickte.
    „Den Hund nimmst du mit?“, fragte Will.
    „Jeela begleitet mich immer. Und sie freut sich auch, mal aus dem Garten rauszukommen. Sonst sind wir immer in der Wildnis unterwegs und sie mag es nicht, eingesperrt zu sein.“
    Will machte große Augen. „Kann ich nicht mitgehen?“
    „Von mir aus“, meinte Edwin, doch Seraphina hielt vehement dagegen: „Bist du verrück!?“
    Die Enttäuschung stand Will nur zu deutlich ins Gesicht geschrieben. „Nächstes Mal komm ich mit“, brummte er, dann machte er sich am Tor zu schaffen.
    Endlich schwang einer der Flügel auf und gab den Weg auf die Straße hinaus frei. „Danke!“, rief Edwin und trat mit Jeela nach draußen. Gut, und wie weiter?
    Er schaute nach links und rechts die Straße entlang. Links, entschied er und marschierte los. Zu Fuß würde er bestimmt ewig brauchen. Straße reihte sich an Straße, neben ihm zogen die Häuser dahin. Und auch noch um diese späte Zeit gab es noch erstaunlich viele Menschen, die sich draußen aufhielten. Was sie wohl alle tun mochten? Wo sie alle wohnten, arbeiteten und lebten? Edwin betrachtete die Gesichter, die an ihm vorüberzogen. So viele Menschen! Und alle haben eine eigene Geschichte, dachte Edwin überwältigt. Alle haben sie Träume, Hoffnungen, Ängste. Menschen, die ihnen wichtig sind. Und Schmerz, Leiden. Ob das wohl die Menschen aus meinen Träumen sind? Edwin blieb stehen. Ein Paar ging an ihm vorüber. Die Frau hielt sich am Arm ihres Gatten fest, gemeinsam schlenderten sie die Straße hinauf. Welchen Kummer sie wohl hat? Er schaute ihr nach, unterdrückte den Drang, die Hand nach ihr auszustrecken. Sie am Arm zu fassen und anzuhalten. Die Menschen sind wie undurchdringliche Kästen. Man sieht nicht in sie hinein. Sie sind dunkel, ihr Licht dringt nicht nach außen. Wofür dieser Körper? Er trennt uns von der Welt.
    Das Paar war stehen geblieben. Sie deutete nach oben, dem Himmel entgegen. Auch Edwin schaute hoch. Was sie wohl besprachen? Inzwischen war es dunkler geworden und immer mehr Sterne tauchten am Himmel auf. Der Mann zog die Frau an sich, legte zärtlich die Arme um sie und Edwin sah, wie sie sich küssten. Sein Herz schlug höher als ihre Lippen sich berührten. Was war das für ein Gefühl, das in ihm erwachte, während er sie beobachtete? Was ist ein Kuss?, fragte Edwin sich. Was ist so besonders daran? Etwas kribbelte in seinem Bauch und das Bild eines Mannes tauchte vor seinem inneren Auge auf. Die dunklen, langen Haare hatte er zu einem Pferdeschwanz im Nacken zusammengebunden, eine Strähne fiel ihm in sein schmales Gesicht Gesicht, welches feinsäuberlich rasiert war. Seine dunklen Augen funkelten, schienen zu leuchten und ihn anzustrahlen. Edwins Herz klopfte schmerzhaft gegen seinen Brustkorb. Wer? Wer?!, dachte er verzweifelt und versuchte das Bild des Mannes greifbar zu machen. Ich liebe dich, erklang die vertraute Stimme aus fernen Zeiten.
    Ein bisher unbekanntes Verlangen, eine unbekannte Sehnsucht stieg in Edwin hoch, schnürte ihm die Brust ab und trieb Tränen in seine Augen. „Diligo“, hauchte er. Das Bild verblasste, während Tränen über seine Wangen liefen. So stand er da, am Rande des Weges und weinte lautlos. Nur allmählich wurde ihm bewusst, was dieses Erlebnis zu bedeuten hatte. Anastasia hat ihn geliebt. Eine erneute Welle von Schmerz schwappte über ihn. Ich liebe ihn immer noch! Diesmal weinte er bitterlich, sank nieder und verbarg das Gesicht in den Armen. Wir haben uns geschworen, dass wir einander wiederfinden. Da bin ich mir sicher. Ich weiß nicht mehr wann und wo, aber er hat mir versprochen, mich zu finden, zu beschützen, für alle folgenden Leben. Diligo, wo bist du?!, rief Edwin in die Weite der Welt hinaus. Er horchte auf eine Antwort und auf einmal fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: ‚Ich passe auf dich auf, Edwin. Und wenn Vater nicht da ist, dann werde ich dich vor deinen Träumen beschützen, dann werde ich dich vor den Schmerzen dieser Welt beschützen!‘
    „Richard“, schluchzte er. „Weshalb habe ich dich nicht früher erkannt?“ Jahre hatten sie zusammen verbracht, doch es war ihm nicht aufgefallen, dass sie sich bereits gefunden hatten. Und nun, da er seinen Bruder verloren hatte, hatte er die Erinnerung an ihn wiedergefunden. Wäre es mir früher aufgefallen, hätten wir uns nicht verloren, dachte Edwin bitter. Ich hätte ihn nicht aus den Augen gelassen.
    Er spürte etwas Nasses am Handrücken. Als er aufsah, blickte er in die treuen Augen seiner Freundin. „Jeela“, flüsterte er mit brüchiger Stimme. Sie stieg mit den Vorderpfoten auf seine Knie und leckte ihm übers Gesicht als wolle sie seine Tränen wegwischen. „Danke, Jeela.“ Er umarmte die Hündin und stich ihr über das zottige Fell. „Was soll ich nur tun?“ Wir haben uns über die Zeit hinweg wiedergefunden, wie wir es einander versprochen haben. Über den Tod hinaus hat unsere Verbindung Bestand gehabt. Edwin richtete sich auf. Da ist diese Trennung doch nichts im Vergleich. Er atmete tief durch. Ich finde ihn.
    Entschlossen sah er die Straße entlang. Niemals, niemand, nichts kann uns noch halten!
    „Über alle Schranken sind wir verbunden
    In dem einen Raum.
    Nicht einmal der Tod kann uns noch trennen
    Keine Illusionen, keine Türen, keine Wände
    Über alle Schranken, vereint im Geheimen“, sang er leise, während er durch die Stadt ging. Wir sind verbunden, bis über den Tod hinaus. Grimmige Entschlossenheit, vermischt mit dem Schmerz des Verlustes trieb ihn vorwärts. Erst finde ich die Kinder und dann finde ich Richard. Doch bald musste er sich eingestehen, dass er die Orientierung verloren hatte. Aus der Vogelperspektive sah die Stadt doch ganz anders aus. Unschlüssig stand er vor einer Kreuzung uns wusste nicht, welchen Weg er einschlagen sollte. Womöglich war er sogar bereits zu weit und an dem Haus, das er suchte, vorbeigegangen. Er blickte zurück. Jeela sah ihn erwartungsvoll an. „Weißt du, wo es durchgeht?“
    Die Hündin richtete ihren Blick nach oben und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. „Rauf?“, fragte Edwin überrascht und schaute zum Himmel auf. Erst sah er nur die Sterne, doch dann erblickte er einen kleinen, schwarzen Punkt, der vor ihnen kreiste. „Fait!“, rief Edwin.
    Obwohl der Habicht eigentlich nur am Tag unterwegs war und nachts zu schlafen pflegte, war er gekommen, um Edwin zu helfen. Fait! Edwins Geist eilte dem Vogel entgegen. Durch die Verbindung mit ihm gelang es Edwin, sich wieder zu orientieren. Sie waren noch nicht zu weit gegangen, doch etwas zu weit westlich vom Weg abgekommen. Also schlug er den Weg nach rechts ein. So lief er nun zielstrebig voran und überprüfte seine Position ab und zu mit Hilfe von Fait.
    Wir sind bald da!, teilte er Jeela mit, woraufhin sie freudig bellte. Inzwischen lag die Stadt wie ausgestorben da, jedenfalls der Teil, durch den Edwin lief. Und endlich sah er das Haus, in dem die Kinder verschwunden waren.

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Hallo @RenLi,
    ich hab mit deiner Geschichte angefangen und bin jetzt bis zu Post 7 gekommen.
    Da sie schon zu den älteren zählen dürfte, nehme ich nicht an, dass du noch Änderungen vornehmen wirst, deshalb spar ich mir mal Anmerkungen dazu.
    Ich bewundere deine sichere Rechtschreibung und Kommasetzung. Absolut toll, das erleichtert das Lesen ungemein!!
    Ein wenig Schwierigkeiten hat mir allerdings der sparsame Umgang mit Absätzen gemacht. Manchmal musste ich ein Stück zurückgehen und einen Teil noch einmal lesen. Gerade wenn der Hauptakteur der Handlung (oder der Erinnerung) wechselt, hilft ein Absatz dem Leser, dies zu erkennen. Am deutlichsten wurde das in dem Teil, in dem Richard seinen Gedanken nachhing (mit dem vielen Kursivtext). Da konnte ich manchmal kaum unterscheiden, wem der Text zugeordnet werden musste: Jakob, Vater, Onkel Johan oder Richard selbst.

    Auch was Shaylee in einem Kommi gemeint hat, habe ich ähnlich erlebt. Du hast mich in deinem stellenweise wirklich atemberaubenden Tempo ganz schön durch den Text gehetzt ^^ . Bei vielen Stellen, gerade als Richard seinen Bruder suchte, ging das voll in Ordnung. Da konnte ich seine Panik spüren. Aber dann hab ich irgendwie dazwischen eine Phase der Ruhe vermisst...
    Ich weiß nicht, ob ich mich klar ausdrücke. Hoffe, du verstehst mich halbwegs. :huh:
    Ganz ganz toll fand ich diesen Abschnitt:

    Für einen Moment schloss Richard die Augen und betrachtete das Chaos, das in seinem Innern herrschte. Ein Gewirr aus Gefühlen und Stimmen, dumpfe und scharfe, leise, laute. Er atmete sie aus. Atmete die Stille des Sumpfes ein. Atmete die Angst aus. Atmete das sanfte Rauschen des Windes ein. Atmete die Schmerzen aus und atmete die Weite des Himmels ein. Sein Herzschlag beruhigte sich. Er öffnete die Augen, hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Er setzte einen Fuß vor den anderen. Der Boden war fest.

    DAS war ein solcher Moment der Ruhe. Wunderbar geschrieben. Ich wäre hier vielleicht sogar noch weiter gegangen: jeder Atemzug hätte einen neuen Absatz bekommen.

    Mir gefällt die Geschichte wirklich sehr sehr gut. Auf jeden Fall werde ich weiterlesen. Und ich werde NICHT auf der letzten Seite nachschauen, ob du sie beendet hast oder noch fortführst, oder ob sie unbeendet stehenbleibt. Hab nämlich gemerkt, dass dies zu wissen mein Lesevergnügen merklich beeinträchtigt. Von daher - ich lass mich überrraschen.
    VG Tariq

    (Solltest du trotzdem noch wissen wollen, was ich angemerkt hätte, dann gib mir einfach Bescheid.)

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • Hallo @Tariq

    Willkommen in der magischen Welt der verlorenen Kinder. Schön, dass du mitliest!
    Der Anfang ist tatsächlich schon etwas älter, obwohl ich die Abschnitte mal durch eine korrigierte, erweiterte Version ersetzt habe. Die Kommentare der Forumsmitglieder passen deshalb auch nicht mehr immer dazu. Das mit dem Durchhetzen versteh ich. Ich hab da schon einiges ausgebaut, aber der Text befindet sich im ständigen Wandel und ich werde da bestimmt noch einiges ändern (in meiner Version sieht es auch schon wieder anders aus).
    Cool, dass dir die Geschichte bisher gefällt! Bin gespannt, was du dazu zu sagen hast. Inhaltliche Kommentare sind immer toll, auch wenn die Abschnitte schon älter sind. Immer her damit :D Rechtschreibsachen und so musst du nicht beachten (ausser bei den neuen Texten), da mein Manuskript bereits wieder anders aussieht.
    Also dann, viel Spass beim Lesen!!

    Lg, RenLi

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Next part: Edwin in den Händen der Kindermeute :)


    Edwin, Wiederbegegnung (566 n. Rh.)
    Er lief zur Treppe. Hier ist es! Aufgeregt stieg er die Stufen hinunter und klopfte an die Tür. Erst danach fiel ihm auf, dass die Kinder wahrscheinlich bereits am Schlafen waren. Ich bin zu spät gekommen. Er beobachtete, wie Enttäuschung dem Gedanken folgte.
    „He, du! Was willst du?”, raunte eine Stimme hinter ihm.
    Edwin fuhr herum und erblickte drei dunkle Gestalten, die vom oberen Treppenabsatz auf ihn hinuntersahen. „Ich suche jemanden“, erklärte er.
    „Wer bist du?“, fragte eine Stimme, deren barscher Ton die Jugendlichkeit jedoch nicht verbergen konnte. Konnte es sein, dass er Glück hatte und das die Kinder waren, die er suchte?
    „Edwin.“
    „Einen Edwin kenne ich nicht, wen suchst du?“
    Edwin überlegte, ob in dem Gespräch zwischen den Kindern ein Name gefallen war, doch er konnte sich nicht mehr erinnern. „Die Kinder, die hier leben“, antwortete er notgedrungen. „Ich weiß nicht, wie sie heißen.“
    „Du bist hier falsch, geh weg“, hörte er eine Mädchenstimme, die er sofort wiedererkannte.
    „Nein, warte, dich suche ich“, rief Edwin aufgeregt. „Du hast die anderen angeführt, ich habe gesehen, dass du mit ihnen durch diese Türe gegangen bist. Bitte, glaubt mir.“
    Einen Moment lang war es still. „Was tun wir mit ihm?“, hörte er einen der Jungen flüstern.
    „Na was wohl, wir nehmen ihn rein“, antwortete das Mädchen. „Dann finden wir heraus, was er weiß. Scheint, als sei er alleine hier. Nur einen Köter hat er bei sich.“
    Jeela knurrte bedrohlich, woraufhin Edwin ihr beruhigend über den Kopf fuhr, obwohl im selbst mulmig zumute war. Die Kinder schienen nicht gerade erfreut über sein Kommen zu sein.
    „Vielleicht hat der Typ ihn geschickt, um zu spionieren. Der war viel zu neugierig.“
    „Mit dem habe ich nichts zu tun, ich kenne ihn nicht“, protestierte Edwin.
    „Aha! Du weißt also von wem ich spreche!“, rief einer triumphierend und Edwin rutschte das Herz tiefer.
    Hätte ich doch den Mund gehalten, dachte er. Inzwischen hatte er begriffen, dass es nicht normal war, dass Menschen mit Tieren den Körper teilen konnten, es würde also nicht einfach sein, die Kinder von der Wahrheit zu überzeugen. „Ich kenne ihn nicht“, wiederholte er schwach.
    „Das werden wir gleich erfahren“, versprach das Mädchen und kam den anderen voraus die Treppe hinunter. Jeela stellte sich schützend vor Edwin und zog die Lefzen hoch. Ein tiefes Knurren rollte ihre Kehle hoch und die Kinder erstarrten augenblicklich.
    „Der ist gefährlich!“, rief einer der Jungen.
    „Jeela ist nicht gefährlich, schhh, sie tun dir nichts“, versuchte Edwin die Hündin zu beruhigen. „Es ist nicht nötig, dass wir uns streiten. Ich bin nur hier, um meinen Bruder zu finden.“
    „Und wer soll das sein?“, fragte die Anführerin argwöhnisch.
    „Richard. Er ist im Gefängnis, oder wenigstens war er das. Nun behaupten die Wächter, er sei tot. Aber das ist er nicht! Ich muss ihn finden!“ Edwin legte alle Überzeugungskraft in seine Stimme, die er aufbringen konnte.
    „Weshalb glaubst du, dass wir dir helfen können?“, fragte das Mädchen, woraufhin die Jungen sie schockiert ansahen.
    „Du glaubst ihm doch nicht etwa?!“
    „Er kennt den Dreckskerl von vorhin. Wir können ihm nicht trauen.“
    Schnell fuhr Edwin dazwischen: „Ich sage doch, ich kenne ihn nicht. Ich hab nur mitangehört, was ihr vor wenigen Stunden mit ihm beredet habt. Er hat ein Mädchen für euch aus dem Gefängnis freigekauft, richtig? Ich möchte mit ihr sprechen. Vielleicht hat sie Richard gesehen.“
    „Du hast uns belauscht?“
    „Vielleicht sagt er das, um uns reinzulegen.“
    „Vielleicht sagt er aber auch die Wahrheit“, meinte das Mädchen und Edwin atmete auf. „Nur damit das klar ist, ich traue dir nicht. Falls du ein Spion dieses Mannes bist, werden wir dich nicht mehr so schnell gehen lassen. Bis du uns von deiner Geschichte überzeugt hast, bist du unser Gefangener“, ordnete sie an.
    Edwin nickte. „Gut, damit bin ich einverstanden. Leg dich hin, Jeela. Warte hier auf mich.“ Widerwillig legte sich die Hündin neben seine Füße. Ihr war anzusehen, dass diese Position ihr gar nicht behagte, denn ihr Körper blieb weiterhin angespannt und ihre bernsteinfarbenen Augen beobachteten die Kinder wachsam.
    „Stell dich an die Wand neben der Tür!“, befahl das Mädchen und Edwin gehorchte. „Mit dem Bauch zu Wand.“ Er drehte sich um. „Abtasten“, wies sie einen der Jungen an. „Vielleicht hat er etwas Gefährliches dabei.“
    „Der Hund sieht mich böse an“, murrte der eine, stieg jedoch die Treppe hinunter und begann Edwins Kleidung zu untersuchen.
    „Denkts du, die Bestätigung ist gefälscht?“
    „Nein, Sara hat sie sich angesehen.“
    „Schhh, bist du blöd?! Keine Namen!“ Das Mädchen verpasst dem Jungen einen Klaps, woraufhin er eine Entschuldigung stammelte.
    „Nichts dabei. Er ist ohne Waffen oder sonst was gekommen“, stellte der andere Junge fest.
    „Gut.“ Edwin hörte wie ein Schlüssel im Schloss gedreht wurde, dann stieß das Mädchen die Tür auf.
    Die Jungen packten ihn an den Armen. „Ihr braucht mich nicht festzuhalten. Ich komme auch so mit“, erklärte Edwin, doch sie gingen nicht darauf ein und bugsierten ihn durch die Tür ins Haus.
    „Wir sind‘s“, kündigte das Mädchen ihr Kommen an und Edwin war überrascht, im Zimmer noch Licht vorzufinden. „Wir haben einen ungebetenen Gast aufgelesen“, kommentierte sie weiter und deutete auf Edwin.
    Der Kellerraum war mit Teppichen, Decken und Holzkisten behelfsmäßig eingerichtet. Ein löchriger Vorhang trennte den hinteren Teil ab und verbarg ihn vor den Blicken der Eintretenden. Davor saßen drei weitere Kinder im Schneidersitz um eine Kerze herum und schauten ihn nun argwöhnisch an. „Wir haben uns schon gefragt, was da draußen los ist“, sagte ein Junge und verengte die Augen.
    „Ich will nichts Böses“, versicherte Edwin. Ein Teil von ihm wäre am liebsten wieder hinausgegangen, denn der Keller erinnerte ihn an seine Gefangenschaft im Gasthaus. Der allzu vertraute Modergeruch stieg ihm in die Nase, auch wenn er hier nur fein war und zu einem Großteil von anderen Gerüchen überlagert wurde.
    „Bindet ihn an das Rohr da drüben“, befahl das Mädchen und die Jungen führten Edwin an eine der Wände.
    „Wartet, ich kenne ihn“, hörte Edwin eine leise Stimme. Er schaute über die Schulter und sah, dass sich nun alle Köpfe zu einem kleinen, hageren Mädchen umgewandt hatten. Er musterte ihr Gesicht, das ihm überhaupt nicht bekannt vorkam.
    „Woher?“
    Schüchtern trat sie vor. „Er hat mir geholfen. Als ich halb verhungert war, hat er mir Brot gegeben“, wisperte sie. Sie sah aus, als hätte sie sich unter den argwöhnischen Blicken ihrer Freunde am liebsten in Luft aufgelöst.
    Edwin zermarterte sich das Hirn, aber er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, das Mädchen jemals gesehen zu haben. Nicht einmal ihre Stimme kam ihm bekannt vor. Vielleicht fällt es mir ein, wenn ich mich mit ihr verbinde, überlegte er. Aber Elvira hat es mir verboten. Entgegen ihrer Anweisung öffnete er seinen Geist und breitete sich sanft aus. Augenblicklich erwachte der Raum zum Leben. Die Kerze begann strahlender zu scheinen, die Luft begann zu singen und die Wände zu atmen. Weshalb sollte ich mich nicht mit den Menschen verbinden?, fragte er sich. Er näherte sich dem Mädchen vorsichtig, umfing sie mit einer zarten Berührung. Zaghafte Dankbarkeit, aber auch Unsicherheit und Nervosität strömten ihm entgegen. „Stimmt, wir sind uns in dem Stall begegnet“, sagte er lächelnd. „Du hast dich versteckt.“
    Ihre Augen leuchteten auf und rote Flecken erschienen auf ihren Wangen. Sie nickte und Edwin hörte ihr Herz schneller schlagen.
    „Na und? Dann hat er ihr halt geholfen. Das beweist noch nicht, dass er nicht hier ist, um uns zu verraten“, mischte sich einer der Jungen ein.
    „Das glaube ich nicht“, sagte das Mädchen, doch die Unsicherheit stand ihr ins Gesicht geschrieben.
    Der Vorhang begann sich zu bewegen. Edwin nahm die Präsenz von mindestens fünf weiteren Kindern dahinter wahr. Wahrscheinlich hatten sie bis eben noch geschlafen, denn nun erschienen mehrere schlaftrunkene Gesichter in einem Spalt zwischen zwei Tüchern. Die Anführerin übernahm wieder das Ruder. Sie klärte ihre Freunde über die Lage auf, dann beschloss sie, bis zum nächsten Tag abzuwarten. „Wir binden ihn fest und dann fragen wir Emilie, ob etwas an der Geschichte dran ist. Wenn sie einen Richard kennt, dann hat er nicht gelogen.“
    „Und wenn sie ihm im Gefängnis nicht begegnet ist?“, warf Edwin ein.
    „Dann sehen wir weiter“, entschied sie.
    „Und wir können Sara fragen. Sie wird entscheiden, was passiert.“
    Einstimmiges Nicken. Wer auch immer diese Sara war, sie musste eine wichtige Rolle in der Gruppe einnehmen, überlegte sich Edwin. Er wurde nicht schlau aus dem Ganzen. So wie sie auf ihn reagierten, mussten sie irgendetwas ausgefressen haben. Und dass sie eine aus ihren Reihen aus dem Gefängnis freikauften, bestätigte dies. Zu fragen wagte er jedoch nicht, da er ihr Misstrauen nicht noch weiter schüren wollte. Die Menschen sind schon seltsam, dachte er wieder einmal mehr. Wie hat es soweit kommen können? Weshalb gibt es so viel gegenseitiges Misstrauen unter uns Menschen? Irgendwann muss es doch eine Zeit gegeben haben, in der wir uns alle verstanden haben. Wie können wir andere fürchten, die wir noch nicht einmal kennen?
    Edwin ließ zu, dass sie ihn an das Rohr banden. Wenigstens gaben sie ihm eine Matte, auf die er sich legen konnte. „Am besten rührst du dich nicht, bis Emilie zurückkommt“, wiesen sie ihn an.
    „Du übernimmst die erste Wache“, ordnete die Anführerin an.
    „Weshalb ich?“
    „Jemand muss beginnen.“
    Die neugierigen Kinder verschwanden wieder hinter dem Vorhang, der offensichtlich das Schlaflager vom Rest des Raumes abtrennte, und ließen Edwin und den Jungen, der Wache schieben musste, alleine zurück. Edwin legte sich auf seine Matte und schloss die Augen. Draußen vor der Tür spürte er Jeela. Gut, dass es nicht regnet, dachte er. Fait konnte er nicht mehr wahrnehmen, wahrscheinlich war er bereits zu seinem Schlafplatz im Turm zurückgekehrt.
    Lange lag er wach und lauschte den Gedanken, die durch seinen Kopf kreisten. Immer wieder tauchte Diligos Gesicht daraus hervor, vermischte sich mit dem von Richard. Vergeblich versuchte er, seine Gefühle zu ordnen. Es war viel zu verwirrend. Vielleicht träume ich von ihm, wenn ich einschlafe.
    Doch es dauerte lange, bis er endlich Schlaf fand, denn die Erinnerungen wollten ihn nicht in Ruhe lassen. Ich finde dich.

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Hallo @RenLi

    ich bin jetzt bis Post 17 gekommen. Nach wie vor total schön, leicht zu lesen und voller wundervoller Bilder. Ich bleib auf jeden Fall dran. Vielleicht lebt der kleine Edwin ja doch noch. Richard tut mir so leid...

    Spoiler anzeigen

    Es war Richard, als würde ein Licht aus dem Säugling herausscheinen, direkt in ihn hinein. Er spürte, wie seine Augen feucht wurden. Er hätte nicht gedacht, dass da noch Tränen übrig waren. Er war doch trocken, wie ein vertrockneter alter Zweig. Da war nichts mehr. Doch die Tränen schoben sich nach vorne, drohten überzulaufen. Das kleine Baby, es weiß noch nichts von dieser Welt. Fühlt sich sicher an der Brust seiner Mutter. Nun flossen die Tränen doch, unaufhaltsam liefen sie ihm übers Gesicht. Arme legten sich um ihn, wiegten ihn sanft. Angenehme Wärme hüllte Richard ein. Der Panzer um sein Herz lockerte sich ein bisschen, ließ die Tränen fließen. Er versank in diesen Armen, spürte das Herz dieser Frau schlagen, spürte den ruhigen Atem des Kindes an seiner Wange. Und er spürte sein eigenes Herz wieder. Auch dieses Herz schlug noch. Doch wozu?

    Das gerade ist ein ganz supertoll geschriebene Stelle!!


    VG Tariq

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Hallihallo
    Wer wohl alles noch auf dem aktuellsten Stand ist? Würde mich wunder nehmen, wie ihr auf die Enthüllung von Richards früherer Identität reagiert. Doch nicht Rhamnus, sondern sein Schüler und zu allem auch noch "Edwins" Geliebter :)


    Edwin, Rachepläne (566 n. Rh.)
    „Ich war mit ihm in derselben Zelle“, bestätigte Emilie kühl.
    Zusammen mit Raphael, Pia, Sara, Elisabet und Emilie saß Edwin im Kreis, in demselben Raum, in dem sie ihn gefangen gehalten hatten. „Er hat also nicht gelogen“, atmete Elisabeth auf, das Mädchen, das ihn verteidigt hatte.
    „Vorsicht geht vor“, meinte Pia, die Anführerin. Obwohl, eigentlich war sie gar nicht die Anführerin, das hatte Edwin inzwischen herausgefunden. Sie war mehr die Stellvertreterin. Wer eigentlich in der Gruppe das Sagen hatte, war Sara. Sie war mit ihren siebzehn Jahren mit Abstand die Älteste von allen, mit Ausnahme von Emilie, die noch ein Jahr älter war. Soweit Edwin sehen konnte, waren die anderen in seinem Alter oder jünger.
    „Wann war das? Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?“, wollte Edwin sofort wissen.
    „Ist schon eine Weile her, so genau kann ich es nicht sagen. Im Gefängnis ist es schwierig, einen Überblick über die Zeit zu behalten, aber ein paar Wochen werden es schon gewesen sein. Weshalb interessierst du dich für ihn?“, fragte sie mit zusammengekniffenen Augen.
    „Er ist mein Bruder.“
    Sie lachte trocken. „Tatsächlich? Ich dachte, er hätte keine Familie mehr.“ Sie musterte ihn zweifelnd. „Viel hat er zwar nicht gesagt, er hat die meiste Zeit geschwiegen. Nur Geschichten hat er erzählt.“
    „Vielleicht weiß er gar nicht, dass ich noch lebe“, überlegte Edwin. Diese Möglichkeit hatte er bisher nie in Betracht gezogen. Vielleicht antwortete er deshalb nicht auf seine Rufe. Weil er gar nicht wusste, dass er noch am Leben war und somit auch nicht nach ihm Ausschau hielt. „Was hat er gesagt, hat er nie von mir gesprochen? Was ist mit ihm geschehen?“, fragte er, um Ruhe bemüht.
    Emilie schürzte die Lippen. „Um ehrlich zu sein, ich mochte ihn nicht besonders. Er war abweisend, arrogant und selbstgefällig. Hat sich aufgeführt, als wären wir anderen seiner nicht würdig“, sagte sie schnippisch.
    Edwin starrte sie verständnislos an. „Das klingt so gar nicht nach ihm. Richard ist liebevoll, passt immer auf mich auf, erzählt Geschichten wie kein anderer und lacht gerne. Vielleicht war das gar nicht Richard. Es könnte doch sein, dass auch Elvira sich geirrt hat und es sich um einen anderen Richard handelt“, überlegte er laut. „Das macht Sinn. Aber wie hat er denn ausgesehen?“
    Emilie zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht mehr so genau. Dünn, braune Haare, etwas kleiner als ich, denke ich wenigstens.“
    „Hatte er ein paar wenige Sommersprossen über der Nase?“
    „So genau hab ich ihn nun auch wieder nicht angesehen“, entgegnete sie abweisend. „Wie ich schon sagte. Ich konnte ihn nicht leiden. Ihn nicht und die Geschichten nicht, die er erzählt hat.“
    „Bitte, erzähle mir eine seiner Geschichten. Vielleicht kenne ich sie“, bat Edwin.
    „Ich erinnere mich nicht“, wehrte sie ab. „Ich habe nicht zugehört.“
    „Bitte, wenigstens eine“, bat Edwin inständig.
    „Erinnerst du dich wirklich nicht, Emilie?“, fragte Elisabet. „Es ist ihm doch so wichtig.“ Dankbar lächelte Edwin der Kleinen zu, woraufhin sie rot wurde und den Kopf senkte.
    Emilie seufzte, setzte sich gerade hin. „Na gut, vielleicht erinnere ich mich doch“, gab sie zu. „Ich erzähl dir eine, aber nur eine, klar?“
    „Danke, Emilie!“
    „Sie ist zwar nicht besonders gut“, warnte ihn Emilie vor. „Es ist die Geschichte, die ich am wenigsten gemocht habe.“ Dass sie damit preisgab, dass sie doch öfter zugehört hatte, als sie zugeben wollte, schien sie nicht zu bemerken und Edwin war nicht daran gelegen, sie darauf aufmerksam zu machen. „Sie drehte sich um eine Königstochter. Die Mädchen in der Zelle waren ganz hingerissen davon“, sagte sie und verdrehte die Augen. „Als ob diese Art von Leben erstrebenswert wäre“, schnaubte sie. „Er musste sie andauernd erzählen und ständig hat er den Schluss verändert. Was für eine einfältige Prinzessin das war“, fuhr sie sichtlich genervt fort. „Sie hat geglaubt, dass die Liebe sie retten wird, dass ihr Prinz kommen und sie aus ihrem langweiligen, sinnlosen Leben holen würde und dann für immer alles gut sein würde. Aber so etwas geschieht nur in Geschichten. Das echte Leben ist anders. Man kann nicht herumsitzen und warten, bis jemand kommt, um einen zu retten. Das muss man schon selber tun.“
    „Woran erinnerst du dich sonst noch?“, fragte Edwin weiter. Richard hatte tatsächlich eine Geschichte mit einer Königstochter gekannt, aber ob es dieselbe war? Er brauchte mehr Informationen.
    „Sie hat sich in einen Feuertänzer verliebt, der gleichzeitig der Prinz des Nachbarlandes war. Sie haben geheiratet und waren glücklich bis an ihr Lebensende.“
    Edwin nickte. Wenn er sich nicht täuschte, dann sprach sie tatsächlich von einer Geschichte, die Richard ihm einmal erzählt hatte. Doch in der Version, die ihm bekannt war, hatte es mit der Liebe schlussendlich doch nicht geklappt. „Sie ist ständig abgehauen und hat sich an die Feste der Spielleute geschlichen“, erzählte sie weiter.
    Das muss dieselbe Geschichte sein. Dann ist es also doch Richard, stellte er fest. Sollte ich nun traurig oder erleichtert sein? Eigentlich bin ich trotzdem keinen Schritt weitergekommen.
    „Die Prinzessin nannte er Anastasia, soweit ich mich erinnern kann. Sonst weiß ich nichts mehr“, schloss Emilie.
    Edwin starrte sie erschrocken an, während sein Herz sich krampfhaft zusammenzog. Diesen Namen in Zusammenhang mit seinem Bruder zu hören, hatte er nicht erwartet. „Bist du sicher? Anastasia?“
    „Sag ich doch“, entgegnete Emilie.
    „Vielleicht erinnert er sich doch“, flüsterte Edwin. Er rieb sich über die Augen, in denen sich schon wieder Tränen sammelten. Vielleicht ist die Erinnerung auch in ihm erwacht! Ob er schon herausgefunden hat, dass ich Anastasia bin? Edwin atmete tief durch. Später würde noch genug Zeit sein, über diese Dinge nachzudenken. Jetzt musste er sich erst einmal zusammenreißen. Er versuchte, sich auf die nächstnötigen Schritte zu konzentrieren. „Was ist mit ihm passiert? Weißt du, wo sie ihn hingebracht haben?“, fragte er also weiter.
    Sie zuckte mit den Schultern. „Wo sie alle Kinder hinbringen, die nicht zurückkommen. Zum Arzt.“
    „Dann stimmt es, dass sie Experimente mit den Gefangenen machen?“
    „Was könnte man anderes von diesen Dreckskerlen erwarten?“, konterte Emilie.
    Raphael schlug mit der Faust auf den Boden. „Diese Schweinehunde!“, rief er wütend. „Diese elenden Bastarde!“
    „Sie haben wirklich vergessen, wo die Grenzen sind“, fluchte Pia. „Tut mir leid für deinen Bruder“, fügte sie an Edwin gewandt hinzu. „Sara, was tun wir? Wir können das doch nicht weiter hinnehmen.“
    Sara nickte und wechselte einen Blick mit Emilie. „Trotzdem sollten wir nichts überstürzen. Wir brauchen einen Plan. Es gibt so einiges, was sich ändern sollte. Aus diesem Grund habe ich euch versammelt. Ihr alle habt am eigenen Leib erfahren, welche unverschämte Ungerechtigkeiten sich die Gnosis erlaubt.“ Sie sah in die Runde, während Edwin stutzte. Die Gnosis? Machte sie die Priester für die Übergriffe im Gefängnis verantwortlich? Sie sprach weiter: „Während die Erwachsenen wegsehen, leiden so viele Menschen unter ihren falschen Regeln und Gesetzen. Ich kann ihr heuchlerisches Getue nicht mehr ertragen. Doch das wird sich bald ändern.“ Sie blickte Edwin an. „Die Misshandlung von Gefangenen ist nur einer von vielen Blutflecken auf den weißen Roben der Priester. Willst du dich uns anschließen? Wir können jeden gebrauchen, der mit uns kämpft.“
    Edwin fühlte sich erdrückt von den Blicken, die nun auf ihn gerichtet wurden. So viel Wut, Hass und Schmerz hatte sich im Raum angestaut, dass ihm das Atmen zunehmend schwerer fiel. Das sind Kinder, ging es ihm durch den Kopf. Aber sie haben schon so viel Schlimmes erlebt, dass sie zu solchen Gefühlen fähig sind! „Ich möchte helfen, aber ich weiß noch nicht wie ich das machen soll“, sagte er schließlich.
    „Allein kann niemand etwas erreichen. Aber zusammen können wir es schaffen“, sagte Emilie. „Die Alten sollen nicht glauben, dass sie mit uns tun können, was sie wollen. Ich auf jeden Fall werde kämpfen.“
    „Nicht alle Erwachsenen sind schlecht“, wandte Edwin ein. „Gilbert und Elvira versuchen auch, etwas zu ändern. Sie wissen, was im Gefängnis geschieht und wollen helfen.“
    „Du sprichst wie dein Bruder“, entgegnete sie abfällig. „Und falls du die Kornells meinst, die wissen das schon lange, aber getan haben sie bisher nie etwas“, sagte sie herablassend.
    „Ich war da, glaub mir Edwin. Ich habe zuerst auch geglaubt, sie würden uns helfen“, sagte Sara. „Doch dann habe ich gemerkt, dass sie doch nur um den heißen Brei herumreden und sich nie etwas ändern wird, wenn ich die Sache nicht selbst in die Hand nehme. Deshalb bin ich gegangen.“
    Edwin wollte etwas erwidern, doch es fiel ihm nichts ein. Er dachte daran, dass Elvira ihn zurückgehalten hatte, als er Richard hatte zu Hilfe eilen wollen. Auch sie wissen nicht, was sie tun sollen, dachte er entkräftet. „Vielleicht habt ihr recht. Ich weiß es nicht“, gestand er. „Aber was wollt ihr tun?“
    Sara grinste. „Wir schlagen der Schlange den Kopf ab.“
    „Wie meinst du das?“
    „Wir werden den Eingeweihten töten. Das ist die beste Möglichkeit, das ganze System ins Wanken zu bringen. Wenn er erst einmal tot ist, dann wird alles einfacher werden“, erklärte sie.
    „Was?! Ihr wollt jemanden umbringen?“ Fassungslos starrte Edwin die anderen an. Einstimmiges Nicken folgte, nur Elisabet rieb sich betreten die Hände. „Das kann ich nicht.“
    „Musst du auch nicht“, sagte Emilie lässig. „Das ist meine Aufgabe. Ich werde ihn mit einem Pfeil durchbohren. Wenn er sich das nächste Mal in die Öffentlichkeit wagt, dann wird es das letzte Mal für ihn sein.“
    Edwin konnte nicht glauben, was er da hörte. Wie konnten sie einen solchen Plan verfolgen? „Nichts wird mit Gewalt gelöst werden, da bin ich mir sicher“, warf er ein. „Gewalt führt nur zu noch mehr Gewalt.“
    „Was weißt du schon von Gewalt?!“, fuhr Emilie ihn an. „Du bist ein kleines Kind. Du hast noch gar nicht lange genug gelebt, um zu wissen, was Menschen einander antun können!“ Die Heftigkeit, mit der sie ihn anfuhr, fühlte sich an wie ein starker Windstoß, der ihn nach hinten drückte. Er versuchte, sich nicht einschüchtern zu lassen und antwortete so gelassen wie möglich: „Vielleicht stimmt das. Aber ich möchte mich nicht selbst an noch mehr Gewalt beteiligen.“ Er hatte bereits einmal die Kontrolle verloren, das wollte er nicht wiederholen.
    „Dann glaube ich, ist es besser, wenn du gehst“, meinte Sara kühl. „Wenn du dich uns nicht anschließen willst, dann lass uns wenigstens in Frieden.“ Sie erhob sich. „Und versuch erst gar nicht, wieder mit uns in Kontakt zu treten. Wir räumen den Platz und suchen uns ein anderes Versteck.“
    Allgemeines Murren folgte auf diese Ankündigung. „Wohin sollen wir dann?“, rief Raphael. „Es hat so lange gedauert, diesen Ort zu finden.“
    „Ihr müsst nicht meinetwegen umziehen. Ich erzähle niemandem, dass ihr hier seid“, versuchte Edwin sie zu beschwichtigen.
    „Wir können dir nicht trauen. Und noch etwas: Es wäre besser für dich, uns und unsere Pläne nicht zu erwähnen. Es würde dir leidtun.“ Saras scharfer Tonfall unterstrich die Drohung in ihren Worten.
    Auch Edwin stand auf. „Falls ihr es euch anders überlegt, wird Elvira euch bestimmt noch einen Platz im Waisenhaus finden können.“ Es schmerzte ihn, in diese harten Gesichter zu sehen. Wie sehr sie sich doch selber verletzten mit diesem Plan, den sie in ihrer Verzweiflung ersonnen hatten. Nun begann er zu verstehen, weshalb Elvira so viel Wert auf eine unbeschwerte Kindheit legte. Sie sollten nicht so leiden müssen. Keiner sollte leiden müssen.
    „Dann gehe ich nun“, sagte er traurig. „Ich werde niemandem etwas erzählen, das verspreche ich.“ Er wandte sich um und ging zur Tür. Vielleicht sollte ich bleiben, um auf sie aufzupassen, überlegte er, doch er verwarf den Gedanken wieder. Das würden sie nicht wollen. Er spürte ihre Ablehnung ihm gegenüber nur zu deutlich.
    Draußen wartete Jeela noch immer auf ihn. Sie sprang auf, als sie ihn durch die Tür kommen sah. „Bin wieder zurück“, sagte er müde und kraulte sie hinter den Ohren. Danke, dass du gewartet hast.
    Er stieg die Treppe hinauf und sah in den verhangenen Himmel hinauf. Manchmal fühle ich mich alt, dachte er und seufzte schwer, dann machte er sich auf den Heimweg.

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Hallo @RenLi,

    ich bin jetzt mit dem Teil 1 fertig. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit zum Lesen, denn deine Geschichte versteht es zu fesseln. Gerade die Abschnitte, in denen es um Edwin geht, sind wie eine schöne Melodie, so leicht lesen sich sich. Dein Stil ist - ich glaub, ich hab das schon mal geschrieben - ganz wunderbar. Du gehst auf so viele Details ein. Und deine Beschreibungen enthalten tolle Bilder. Außerdem findest du wundervolle Worte, um die Gefühle und Stimmungen der Menschen zu beschreiben.
    Ich bin auf jeden Fall dran und bleib es auch. Ich würde mir wirklich ganz sehr wünschen, dass deine Geschichte fertig wird. Ich habe hier im Forum schon so viele Geschichten gelesen, die kein Ende haben, das würde ich hier wirk sehr bedauern. Also, nicht aufhören!! :stick:
    Du hörst wieder von mir! ^^
    LG Tariq

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Hi @Tariq

    Danke!! Du kommst ja echt vorwärts :) Cool, dass dir Edwin gefällt, er ist süss.
    Im Moment hab ich viel um die Ohren und kaum Zeit zum Schreiben, aber im Kopf wächst die Geschichte weiter. Bei deinem Lesetempo sollte ich mich mal beeilen und weiterschreiben :D Vielleicht komm ich diese Woche noch dazu und sonst sicher die nächste...

    LG, RenLi

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Ich glaub, da kannst das ganz entspannt angehen @RenLi. ^^ Ich bin erst auf Seite 4 von 14, hab also noch etliches vor mir.
    Von daher - kein Stress ;)

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Hallo @RenLi,

    ich bin wieder ein Stück vorangekommen bei dir (Post 97).
    Der arme Richard. Er muss ja wirklich allerhand durchmachen bei dir. Aber Edwin hat ja auch viel erlebt bis jetzt, und da waren nicht nur schöne Dinge dabei.
    Ich bin weiterhin völlig begeistert von deinem Schreibstil. Du nimmst deinen Leser einfach mit in diese Geschichte, ohne dass er sich dessen bewusst wird. Ob es nun im Sumpf ist oder in Onkel Theodors Gasthaus, bei den Kinder im leerstehenden Haus oder im Gefängnis, Im Wald oder - wie zuletzt von mit gelesen - in den Räumen des Ducatus.
    Da kann ich wohl erstmal aufatmen für Richard. (Der Post, in dem du seine Schmerzen beschreibst, ging mir echt an die Nieren. Mann, das war heftig ...) Er wird nun also bei Samuel bleiben.Der scheint ein wirklich netter Mann zu sein, genau wie Aurel. Die Sorge um die Kinder im Gefängnis macht sie sehr sympathisch.

    Momentan finde ich es gut, dass du ein wenig bei Richard "verweilst". Nicht, dass mich die anderen nicht interessieren würden. Aber bei deinem intensiven Schreibstil hatte ich immer etwas Mühe, von einem Ort der Handlung mich blitzartig (weil Szenenwechsel) in den nächsten zu begeben, weil ich mich irgendwie gerade dort "befinde", wo die Handlung gerade spielt.

    Du machst das einfach toll. Ich kann deine Geschichte nicht einfach mal nebenbei lesen. Erscheint mir ein bisschen wie Verschwendung, dann alle paar Minuten wegen profaner Alltagsdinge "auftauchen" zu müssen, will ich mir ersparen. Ich wünschte, ich könnte sie als Buch haben ...
    LG Tariq

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • Hi @Tariq
    Wow, ich fühle mich geehrt! Du bist ja wirklich schon weit gekommen. Hoffe, deinem Lob auch weiterhin gerecht zu werden :sack:
    Ich freu mich schon drauf, wenn du dann beim aktuellen Post bist, auch wenn du dann länger auf den nächsten warten musst.

    LG
    RenLi

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi

  • Sola. Ein neuer Abschnitt ist bereit, ins Forum gepostet zu werden.


    Edwin, Die Schatten von Lux (566 n. Rh.)
    Gilbert ist zurück! Edwin sprang auf die Füße und rannte zum Fenster. Er drückte die Nase flach an die Scheibe, doch vom Turm oben konnte er die Straße nicht sehen. Ist er es wirklich?! Er fühlte sich, als würde ihm eine unsichtbare Last von den Schultern genommen, denn ohne Zweifel gehörte die Präsenz, die er spürte, zu Gilbert. Der anfänglichen Erleichterung folgte ein Hochgefühl, das ihn in Windeseile vom Turmzimmer hinunter bis in die Eingangshalle trug. In diesem Moment war es völlig gleichgültig, dass sein Freund tagelang fortgewesen war, ohne ihm zu sagen, wohin er ging. Ohne ihm zu sagen, dass er so lange weg sein würde. Er ist wieder da!
    Gerade, als sich die Haustür öffnete, sprang Edwin über die letzten Stufen hinweg. Dreckig und mit seinen altbekannten, abgerissenen Kleidern stand Gilbert im Eingang. Einen Moment lang konnte Edwin kaum glauben, dass er Gilbert wirklich sah. Stürmisch rannte er auf ihn zu, um ihn zu umarmen.
    „Immer mit der Ruhe“, brummte Gilbert und tätschelte Edwins Kopf.
    „Du bist endlich zurück!“, jauchzte Edwin, noch immer überwältigt von der plötzlichen Rückkehr seines Freundes.
    „Tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe“, sagte Gilbert.
    „Zu lange“, entgegnete Edwin und sog den vertrauten Geruch von Gilberts abgetragenen Kleidern ein. Eine Mischung aus Schlamm, Rauch und Moosgeruch. „Aber mach dir keine Gedanken darüber, ich komme schon zurecht“, versicherte Edwin und spürte gleichzeitig, wie ein Schluchzen seine Kehle hochsteigen wollte. Er holte tief Luft und zwang es in seine Brust zurück. Nun war wirklich nicht der rechte Zeitpunkt zum Heulen, fand er verwirrt. Er ließ Gilbert los und betrachtete dessen vertrautes Gesicht. Waren da neue Falten, oder waren die alten tiefer geworden? Er sieht abgekämpft aus, dachte Edwin und ein Hauch von Beunruhigung mischte sich in seine Freude.
    „Dann ist ja gut. Ist Talmud schon zurück?“, fragte Gilbert.
    Es verstimmte Edwin etwas, dass Gilbert sogleich nach Talmud fragte und sich gar nicht um ihn kümmerte. Als ihm dies klarwurde, schämte er sich. Ich bin so selbstsüchtig geworden, schalt er sich. „Er ist gestern zurückgekommen“, sagte er möglichst unverkrampft.
    „Sehr gut“, brummte Gilbert zufrieden.
    Zusammen machten sie sich auf den Weg zu Elviras Empfangszimmer. Edwin ging schweigend neben Gilbert her. Wie immer musste er sich bemühen, mit den langen Beinen seines Freundes mithalten zu können. Warum nur fühle ich diesen Schmerz in meiner Brust?, fragte er sich. Neben seiner Freude war da dieses Ziehen in ihm, dieses zerreißende Gefühl, das in seiner Brust hockte und ihn nicht losließ. Es ist einfach zu viel passiert in den letzten Tagen, versuchte er seine Gefühle zu erklären. Doch er musste zugeben, dass es noch etwas anderes war. Er hob den Kopf und wagte es, Gilbert anzusehen. Schnell schaute er weg, damit Gilbert die Tränen nicht sehen konnte, die sich in seinen Augen sammelten. Und mit ihnen stieg ein Gedanke aus dem Schmerz in sein Bewusstsein auf: Ich dachte, du kommst nicht wieder.
    Eilig wischte er die Tränen von seinem Gesicht, versuchte ruhig zu atmen. Erst jetzt erkannte er, dass ihn diese Angst seit Gilberts Abreise geplagt hatte, doch er hatte es sich nicht eingestehen wollen. Wie Vater, wie Richard. Ich dachte, ich hätte dich verloren, dachte er, doch die Worte blieben Gedanken, wollten nicht zu Lauten werden. Weshalb nicht? Will ich ihn nicht damit belasten? Wo er doch jetzt schon so viel Schmerz in sich trägt?
    „Was ist denn mit dir los?“, fragte Gilbert. Er war stehen geblieben und hatte sich zu Edwin, der ein paar Schritte hinter ihm zurückgeblieben war, umgedreht.
    „Nichts“, würgte Edwin hervor, während er mit den Tränen kämpfte.
    „Ist etwas passiert, während ich weg war?“ Gilberts Stimme klang verstimmt, gar verärgert.
    „Nein, es ist nichts“, erwiderte Edwin, doch nun konnte er die Schluchzer nicht mehr zurückhalten. Die Tränen, die Trauer, die Erleichterung und die Angst brachen aus ihm heraus, unaufhaltsam. Er weinte jämmerlich, seine Nase lief, alles lief über, während sein ganzer Körper bebte. Er wankte auf Gilbert zu, der ihn ungelenk in seine Arme schloss. „Was ist denn los? Was kann einen starken Jäger wie dich so erschüttern? So schlimm kann es hier doch gar nicht sein“, murmelte Gilbert etwas hilflos.
    Haltsuchend klammerte sich Edwin an Gilbert fest und überließ sich der Flut von Gefühlen, die ihn durchströmte. Dabei wollte ich ihn nicht damit belasten, dachte er, doch es tat einfach zu gut, sein Herz ausschütten zu können. Also ließ er zu, dass all die angestauten Emotionen aus ihm herausgespült wurden und versank in der sicheren Umarmung seines Beschützers.
    Allmählich verebbten die letzten Schluchzer und ein sanftes Lächeln breitete sich auf Edwins Gesicht aus. Er fühlte sich erschöpft, aber gleichzeitig auch so frisch und munter wie seit Langem nicht mehr. „Du hast mir gefehlt“, nuschelte er in Gilberts Gewand.
    Kurz herrschte Stille, dann spürte er eine weiche Berührung im Haar. „Ich war wohl auch etwas einsam ohne dich“, meinte der Jäger.
    „Du hast mir so richtig gefehlt!“, sagte Edwin und wedelte mit den Armen, wie ein Vogel, der mit den Flügeln schlug. Dabei breitete sich ein zaghaftes Grinsen auf seinem noch immer nassen Gesicht aus. „Das Waisenhaus ist doch ein seltsamer Ort“, begann er zu erzählen. „Kannst du dir vorstellen, dass man hier nicht alleine rausgehen darf? Es gibt Regeln, weißt du? Und alle halten sich daran, obwohl sie keinen Sinn ergeben. Und die Kinder gehen in den Unterricht, aber das ist nichts für mich. Ich wollte ja hingehen, aber ich bin lieber im Wald, mit dir. Auch wenn ich gerne mit Maria in die Malstunde gehe. Maria mag ich, aber sonst sind die Menschen doch recht seltsam hier. Und dabei halten sie mich für verrückt.“ Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. All die Gedanken, die ihm in den letzten Tagen durch den Kopf getrieben waren, die ihm zuweilen so lächerlich und auf gewisse Weise unerklärlich erschienen, bahnten sich nun ihren Weg nach draußen.
    „Da ist ja einiges passiert“, schnaufte Gilbert und sah Edwin verdutzt an. „Wer hält dich denn für verrückt?“, fragte er.
    „Keine Ahnung, alle? Lotar zum Beispiel. Und die Kinder auch. Wenn ich mit ihnen rede, dann sehen sie mich schief an. Sie scheinen mich auch nicht besonders zu mögen. Sie verstehen nicht, was ich meine. Manchmal denke ich, ich bin nicht normal, Gilbert.“ Er sah seinen Freund zweifelnd an. „Ich glaube, es ist nicht normal, dass ich die Naturgeister sehe, die Gefühle von anderen Menschen spüre und mit Fait fliegen kann. Aber du hast sie doch auch gesehen, oder? Und Vater hat nie gesagt, dass das seltsam wäre. Er hat mich manchmal über sie ausgefragt, was sie tun und wie sie aussehen. Er hat mich nie so angesehen wie die Menschen hier.“
    „Ach du lieber Himmel“, brummte Gilbert. „Ich hatte gehofft, dass wenigstens hier ein Platz ist, an dem man in Ruhe gelassen wird. Lotar, dieser engstirnige Holzkopf. Ich knöpf ihn mir vor, wenn ich ihn sehe. Wenn er Markus gekannt hätte, dann wüsste er, was mit Magie alles möglich ist. Aber dazu ist er zu jung. Lass dich von diesen einfältigen Wichten nicht unterkriegen, Edwin. Nur weil die meisten Menschen von Magie so weit entfernt sind wie der Ozean vom obersten Gipfel der Kachelberge, heißt das noch lange nicht, dass du verrückt bist. Sie verstehen es nicht, das ist alles.“
    „Weshalb sind sie denn entfernt davon?“
    Gilbert zuckte mit den Schultern. „Nicht jeder Mensch hat dieselben Begabungen. Alle kommen aus anderen Leben mit unterschiedlichen Erfahrungen auf diese Erde. Zudem sind viele in ihre alltäglichen Sorgen und Probleme verstrickt. Sie haben keine Zeit für Magie oder trauen sich nicht zu, welche zu besitzen. Das überlassen sie lieber den Priestern und verwirken ihr Leben, ohne je ihr wahres Potential ausgeschöpft oder gar entdeckt zu haben.“
    „Kann denn jeder Mensch Magie wirken?“
    Gilbert nickte. „Nicht alle im selben Ausmaß, aber in jedem Menschen steckt die Veranlagung, auch wenn die Gnosis den Menschen weismacht, dass nur wenige, auserwählte Menschen dazu in der Lage sind.“
    „Weshalb tun sie das?“
    „Ein einfacher Trick, um an der Macht zu bleiben. Das ist ihre größte Sorge, dass jemand ihnen ihre Stellung streitig machen könnte. Ich habe dir doch von Markus erzählt.“
    Edwin nickte. „Sie haben ihn als Bedrohung gesehen, nicht wahr?“
    „So ist es. Deshalb haben sie uns verfolgt. Hier im Waisenhaus versuchen wir die Kinder auf eine Weise zu erziehen, die sie auf ihre wahre Bestimmung aufmerksam macht. Aber wir können die Worte von Markus nicht offen verkünden, das wäre viel zu gefährlich. Nur ein paar langjährige Schüler wie Lotar oder Mina wissen von damals.“ Er kratzte sich am Kopf. „Mach dir nicht so viele Gedanken. Du bist einer der wundervollsten Menschen, den ich kenne. Wenn hier jemand dem Irrsinn verfallen ist, dann sind es die Leute der Gnosis und die ganzen Kerle, die jemanden wie dich verrückt nennen können.“ Er drückte Edwin noch einmal kurz an sich und verstrubelte dann sein Haar, wie er es oft tat.
    „Danke, Gilbert!“, grinste Edwin. Es war unglaublich. Nachdem er so lange in seinen Gedanken gefangen gewesen war, konnten ihn ein paar Worte von Gilbert wieder völlig beruhigen. „Die Welt ist verrückt.“
    „Alle sind verrückt“, bestätigte Gilbert. „Nur wissen sie es nicht, also lass dich nicht unterkriegen, klar?“
    „Klar!“
    „So will ich es hören, so siehst du doch gleich wieder aus wie der Edwin, den ich kenne“, sagte Gilbert zufrieden. „Vielleicht hätte ich dich doch mitnehmen sollen. Was meinst du, willst du mich beim nächsten Ausflug begleiten?“
    „Ja!“, rief Edwin sogleich. „Ich vermisse die Freiheit in der Natur.“
    „Dann ist es abgemacht. Beim nächsten Mal nehme ich dich wieder mit“, versprach Gilbert. „Du gehörst eben doch nicht hier her.“ Gilbert klopfte ihm auf den Rücken, dann setzten sie ihren Weg fort. „Und, was hast du denn so getrieben, während ich weg war?“, wollte Gilbert nun wissen.
    Sofort dachte Edwin an das Zusammentreffen mit Emilie und den anderen Kindern. Er hatte niemandem davon erzählt und außer Will und Seraphina war sein Verschwinden auch niemandem aufgefallen. Lotar hatte ihn lediglich darauf aufmerksam gemacht, dass er nicht so viele Mahlzeiten auslassen solle. „Es ist viel passiert“, begann Edwin unsicher. Er konnte nicht direkt erzählen, was er erlebt hatte, aber wenigstens konnte er sich über ein paar Dinge Klarheit verschaffen. „Was hältst du von dem Eingeweihten, Gilbert? Was ist er für ein Mensch?“
    „Wie kommst du denn auf so etwas?“
    „Nur so, ich möchte mehr über die Gnosis lernen“, behauptete er.
    Gilbert hob eine Braue. „Dann hat dich das Lernfieber also doch gepackt?“, fragte er skeptisch.
    „Ich weiß nicht. Es ist nur so, dass ich etwas verändern möchte. Und das scheint mir nur möglich zu sein, wenn ich mehr über Lux weiß. Anastasia hat sich viel mit der Führung ihres Landes beschäftigt und auch viel darüber gelesen. Vielleicht sollte ich das auch tun. Wenn ich nicht verstehe, was passiert, dann kann ich auch nichts ändern, oder?“
    „Vielleicht bist du hier doch besser aufgehoben als ich dachte?“, brummte Gilbert und musterte ihn von der Seite her. „Na auf jeden Fall ist es gut, ein gewisses Verständnis zu haben“, seufzte er und strich sich über den Bart. Dabei stieß er auf eine Klette, die er gedankenverloren aus den struppigen Haaren zupfte und wegwarf. „Der Eingeweihte also. Ich muss sagen, dass ich kein sonderlich gutes Verhältnis zu all diesen Priestern habe. Aber gut, wo soll ich beginnen?
    Canis Adustus ist bereits seit vielen Jahren der Eingeweihte von Lux. Als er noch Priester war, hat er viel für das gemeine Volk getan, das wird immer wieder hervorgehoben. Andererseits war er aber auch an den Hinrichtungen von Markus‘ Anhängern beteiligt. Er scheint ein ängstlicher Mann zu sein, nicht genug Rückgrat, wenn du mich fragst. Seine Weise das Land zu regieren, ist viel zu lasch. Er versucht krampfhaft den Frieden mit den Nachbarländern aufrecht zu erhalten, doch seine Methoden sind oftmals kraftlos und nachlässig. Wenn ich daran denke, dass dieses Reich einmal stark, geeint und blühend war… Aber das ist lange her, noch vor meiner Zeit.
    Canis ist bei weitem zu alt, um noch das Amt des Eingeweihten inne zu haben. Alt und krank, und wer weiß, vielleicht auch nicht mehr ganz richtig im Kopf. Im letzten Jahr hat er den Ducatus kaum noch verlassen. Das schürt natürlich die Unruhen in der Bevölkerung. Sie wollen einen starken Führer in Zeiten wie diesen. Keinen altersschwachen Greis. Wenn du mich fragst, dann wird Justus der nächste Eingeweihte werden. Er ist ein intelligenter Mann, der auch vor harten Maßnahmen nicht zurückschreckt. Wenn er an die Macht kommt, dann wird es sein erster Schachzug sein, die staatliche Verteidigung aufzustocken. Davon bin ich überzeugt. Die militärische Gewalt von Lux ist unter Canis‘ Anweisung zusammengeschrumpft. Das mag in Zeiten des Friedens gut sein, aber nicht in unruhigen Zeiten wie wir sie jetzt erleben.“
    „Glaubst du, es wird Krieg geben?“, fragte Edwin überrascht.
    „Es sieht danach aus. Die meisten, vor allem hier in Caput, verschließen noch die Augen davor. Aber es dauert nicht mehr lange.“
    „Wann kommt er denn wieder aus dem Ducatus raus?“, fragte Edwin und dachte an die düsteren Pläne, die den Kindern vorschwebten. Was würde geschehen, wenn es ihnen tatsächlich gelang, den Eingeweihten zu töten? Würde es etwas verändern? Würde nicht einfach der nächste die Macht an sich reißen?
    „Keine Ahnung. Manchmal erscheint er an Festtagen, aber aufgrund seiner Krankheit sieht man ihn nur noch selten. Vielleicht fragst du das besser Elvira, ich war schließlich eine Weile nicht mehr hier.“
    Die Ausführungen von Gilbert hatten für Edwin bereits etliche neue Fragen aufgeworfen, aber inzwischen waren sie vor Elviras Arbeitszimmer angelangt. „Wenn du möchtest, kannst du mit reinkommen. Ich bin hergekommen, um diese Angelegenheit mit meiner Schwester zu besprechen.“
    „Gut, ich möchte mehr darüber wissen“, entschied Edwin und straffte die Schultern. Eine bessere Gelegenheit würde sich wohl kaum bieten.
    Sie durchquerten den Vorraum und betraten das dahinterliegende Arbeitszimmer. „Da kommt er!“, rief Talmud, als sie in den hell erleuchteten Raum traten. „Wo hast du bloß gesteckt?“ Er, Rachel und Elvira hatten sich um den Schreibtisch versammelt. Schuldbewusst blieb Edwins Blick an der neuen Vase hängen, die auf der dunklen Holzplatte stand.
    „Wenn man vom Teufel spricht“, grinste Rachel.
    „Du bist unglaublich, weißt du das?“, erhob Elvira die Stimme. Sie sah überhaupt nicht erfreut über das Erscheinen ihres Bruders aus. „Wie lange warst du fort, ohne uns Bescheid zu geben? Du hättest wenigstens einen Vogel mitnehmen können“, sagte sie deutlich verärgert, doch Gilbert ignorierte sie.
    „Ich bin ja gespannt, was du zu berichten hast, Gil“, sagte Talmud und trat auf Gilbert zu, um ihn zu umarmen. Edwin folgte ihm mit etwas Abstand. Er war nicht sicher, wie Elvira auf seine Anwesenheit reagieren würde. Sie mochte es nicht, wenn er sich in Erwachsenenangelegenheiten einmischte.
    „Freu dich nur nicht zu sehr darauf“, brummte Gilbert und hängte seinen Mantel über einen Stuhl.
    „Und weshalb hast du Edwin mitgebracht?“, wollte Elvira prompt wissen. Edwin zog den Kopf ein, doch ihr forscher Blick galt nicht ihm, sondern Gilbert.
    „Er möchte mithören“, erklärte dieser mit einem herausfordernden Funkeln in den Augen.
    „Du weißt, dass ich das nicht gutheiße“, sagte sie streng.
    „Müssen wir uns schon wieder darüber streiten?“, fragte Gilbert genervt, während die anderen beiden sich aus der Unterhaltung heraushielten. „Er ist zwölf.“
    „Kannst du ihn nicht einmal ein Kind bleiben lassen?“, fuhr Elvira ihren Bruder an. „Er schultert schon genug.“ Edwin dachte an die Kinder, die sich in dem Keller versteckt hielten, bereit, die Reinheit ihrer Seelen auf’s Spiel zu setzen. Sie sind längst keine Kinder mehr, ebenso wie ich.
    „Jeder bekommt sein Bündel ab, so ist das nun mal. Er kann das schon tragen“, meinte Gilbert und legte Edwin eine Hand auf die Schulter. Edwin dachte daran, dass er soeben noch weinend in seinen Armen zusammengebrochen war. Dass Gilbert nun solches Vertrauen in ihn setzte, erfüllte ihn mit einem Gefühl von Stolz.
    „Du warst nicht hier die letzten Tage“, entfuhr es ihr, während ihr Blick zu Edwin hinüberblitzte und seinen Mut etwas schwinden ließ.
    „Was soll in dieser kurzen Zeit schon passiert sein?“, fragte Gilbert.
    Edwin sah betreten zu Boden. „Ich habe die Kontrolle verloren. Und habe das Arbeitszimmer demoliert“, gestand er beschämt. „Aber ich möchte es kontrollieren lernen“ fügte er schnell hinzu, blickte hoffnungsvoll zu Gilbert auf. „Kannst du mir zeigen, wie ich das mache? Bei Rhamnus hat es so einfach ausgesehen. Er hat die Wolken befehligt und Cedrus beinahe umgebracht. Ohne mit der Wimper zu zucken und ohne wütend zu werden. Wenn ich übe, dann kann ich es bestimmt kontrollieren.“
    „So etwas hat Rhamnus gemacht? Vielleicht sollten wir die Geschichtsbücher nach deinen Erinnerungen umschreiben“, meinte Rachel erheitert.
    „Du träumst also immer noch von ihr“, stellte Gilbert fest. Es war offensichtlich, dass ihm dies nicht gefiel.
    „Aber ich weiß nun, wer ich bin“, antwortete Edwin schnell. „Ich habe mich nicht mehr in ihr verloren wie beim letzten Mal. Ich glaube, dass ich von ihren Erinnerungen viel lernen kann. – Und ich habe herausgefunden, wer Richard war.“ Er hörte, wie Schmerz in seiner eigenen Stimme mitschwang. In den letzten Tagen hatte er viel über die Vergangenheit nachgedacht, doch er war zu keinem weiteren Schluss gekommen. Er musste Richard sehen, alles andere war unwichtig.
    „Und, wer war er?“, fragte Gilbert angespannt.
    „Sein Name war Diligo, der Schüler von Rhamnus.“ Und Anastasias Geliebter.
    „Diligo? Der Name wird nur selten in den Schriften erwähnt“, überlegte Elvira. Anscheinend war sie vom Themawechsel soweit abgelenkt, dass sie nicht mehr daran dachte, ihn aus dem Zimmer zu verweisen. „Soweit ich weiß, ist er mit Rhamnus in Caput aufgetaucht. Über seine, wie auch über die Vergangenheit von Rhamnus gibt es, soweit ich weiß, keine Aufzeichnungen.“
    „Moment, ich glaube seinen Namen irgendwo sonst einmal gelesen zu haben.“ Rachel wandte sich zu einem Bücherregal um. Nach kurzem Suchen zog sie eines der Bücher heraus. „Da ist es. Das Leben des Heiligen Rhamnus. Verfasst von Diligo, seinem getreuen Schüler. Er muss ihm nahegestanden haben, wenn er seine Biografie verfasst hat.“
    Edwin nickte. „Er war immer bei ihm, egal wo er hinging.“
    „Ist das normal?“, fragte Talmud in die Runde. „Dass so viele Seelen aus dieser Zeit gerade heute wiedergeboren werden?“
    Gilbert kratzte sich am Kinn. „Das ist tatsächlich seltsam. Da würde es mich nicht wundern, wenn Rahmnus selbst noch irgendwo herumirrt.“
    „Die Gnosis hat das Erscheinen des Erlösers bekanntgegeben“, warf Elvira dazwischen. „Wer es ist, wollen sie jedoch noch nicht herausrücken.“
    „Verdammte Geheimniskrämerei“, schimpfte Gilbert. „Würden sie mal die Karten offen auf den Tisch legen, hätten wir bei weitem nicht so viele Probleme.“
    „Erinnert ihr euch an eure letzten Leben?“, fragte Edwin neugierig und blickte Talmud, Gilbert und Rachel an. Die drei schüttelten die Köpfe. „Ich glaube, ich habe dich schon gekannt“, sagte er an Gilbert gewandt. „Aber ich weiß noch nicht, wer du warst.“
    Gilbert betrachtete ihn mit hochgezogener Augenbraue. „Werd bloß nicht übermütig. Wenn es wichtig ist, dann werde ich mich daran erinnern. Und sonst kann mir die Vergangenheit auch gestohlen bleiben. Sag mir ja nicht, ich sei der Heilige Rhamnus gewesen, dann wandere ich nämlich aus“, warnte er ihn.
    „Ich glaube nicht, dass du Rhamnus warst“, meinte Edwin. Rhamnus hatte sich ganz anders angefühlt, außerdem hatte er ihn nicht gemocht. Gilbert kann nicht Rhamnus sein.
    „Dann ist ja gut“, brummte der Landstreicher. „Alles, nur keinen Heiligenkram.“
    „Edwin, um zu deiner Bitte zurückzukommen. Ich würde gerne deine Unterrichtung übernehmen, wenn du das wirklich willst“, bot Rachel ihm an.
    „Das wollte ich eigentlich tun“, meinte Elvira und Edwin war überrascht, die Unsicherheit in ihrer Stimme zu hören. „Du hast doch sonst viel um die Ohren“, fügte sie hinzu.
    Rachel sah sie prüfend an. „Du weißt, was ich davon halte. Eine Mutter sollte nicht zur Lehrerin werden.“
    Enttäuschung zeigte sich auf Elviras Gesicht. Sie schien widersprechen zu wollen, ließ es dann aber bleiben. „Vielleicht hast du recht“, sagte sie erschöpft und stützte sich auf ihrem Schreibtisch ab. „Wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich etwas überfordert bin.“
    Edwin war erstaunt, sie dies sagen zu hören. In der Zeit, in der er sie nun kannte, hatte sie stets eine natürliche Selbstsicherheit ausgestrahlt. Nun sah sie müde und unsicher aus.
    „Ich glaube, wir hatten schon lange nicht mehr Zeit für einen gemeinsamen Abend“, meinte Rachel und trat zu Elvira. „Wie wäre es, wenn wir uns heute mal zusammensetzen?“
    Elvira nickte. „Das könnte mir guttun“, meinte sie mit einem matten Lächeln. „Manchmal ist mir einfach alles zu viel und unsere Arbeit erscheint mir so sinnlos“, seufzte sie. „Aber wie willst du das nun machen mit dem Unterricht?“
    „Ich glaube, Edwin und ich werden ein gutes Gespann abgeben“, sagte Rachel und grinste ihn an. „Ich würde gerne mehr über dich erfahren und wenn es um magische Angelegenheiten geht, bin ich die Richtige“, sagte sie voller Selbstvertrauen.
    „Du kannst mir helfen?“, fragte Edwin hoffnungsvoll. Er kannte die kraushaarige Frau nicht sonderlich gut, aber bislang hatte er einen guten Eindruck von ihr. Sie schien ehrlich, geradeheraus und freundlich zu sein.
    „Ich werde mein Bestes tun. Natürlich liegt es schlussendlich an dir.“
    Er nickte. „Das ist mir klar. Gilbert hat recht. Ich bin kein Kind mehr und ich will die Verantwortung für mich übernehmen.“
    „Da siehst du’s“, meinte Gilbert mit unüberhörbarem Stolz in der Stimme. Edwin sah in sein grinsendes Gesicht und musste lachen. „Ben wäre stolz, das zu hören. Wenn er wüsste, wie gut ich dich aufgezogen habe…“
    „Dann würde er sich die Haare raufen“, entgegnete Elvira, doch sie schien nicht genug Energie zu haben, um ihrer Stimme die gewohnte Schärfe zu verleihen, die sie sonst so oft im Gespräch mit ihrem Bruder zeigte.
    „Lasst mal euer Gezanke“, unterbrach Rachel die zwei. „Ich wollte schon lange mit dir über meine Rolle im Waisenhaus sprechen, Elvira. Ich werde mit dem Unterrichten an der Schule aufhören“, gestand sie.
    Elvira schaute ihre Freundin überrascht an. „Weshalb?“, fragte sie, als sie sich wieder gefangen hatte.
    „Es ist einfach an der Zeit, dass ich einen Schritt weitergehe. Die Kinder liegen mir wirklich am Herzen, das weißt du, aber Lotar und Mina sind weit genug und brauchen nun Platz, sich entfalten zu können. Da stehe ich im Weg.“
    „Bist du sicher?“
    „Es ist das Richtige für mich. Ich habe bereits begonnen, ihnen mehr Verantwortung zu übertragen. Sie freuen sich darüber. Du solltest sehen, wie Mina in letzter Zeit aufblüht“, berichtete Rachel mit einem Schmunzeln. „Mach nicht so ein Gesicht. Ich bleibe ja hier wohnen. So habe ich mehr Zeit für meine Aufgaben im Rat und kann mich mehr auf mich selbst konzentrieren. Meine Schwester würde ich auch gerne einmal wieder besuchen.“
    „Und dann wirfst du dich gleich in die nächste Aufgabe?“, fragte Talmud skeptisch.
    „Einen Einzelschüler zu haben ist doch etwas ganz anderes. Und das Unterrichtsthema wird bei weitem interessanter sein als Gartenbau oder Heilkräuter, auch wenn mir dies schon auch gefällt“, erwiderte Rachel. „Was meinst du, Edwin? Wenn du lernen willst, mit deinen Gefühlen, deinen magischen Fähigkeiten und alledem umzugehen, werde ich dir alles zeigen, was ich weiß.“
    Edwin hatte das Gespräch gespannt verfolgt. Nun nickte er entschlossen. „Bitte unterrichte mich!“
    „Sehr schön“, grinste sie. „Das wird eine spannende Zeit werden.“
    „Bring ihm ja keinen Unfug bei“, murrte Gilbert, woraufhin Rachel auflachte.
    „Mach dir keine Sorgen, ich nehme dir deinen Schützling schon nicht weg.“
    Edwin konnte es kaum erwarten, endlich mit dem Unterricht anzufangen. Er war gespannt darauf, denn er konnte sich noch gar nicht vorstellen, was sie ihm denn beibringen würde. Als nächstes jedoch wandte sich das Gespräch anderen Dingen zu. Gilbert erzählte, was er während der vergangenen Tage erfahren hatte. „Ich habe mit meinem Informanten aus Aluid gesprochen. Aufgrund der Kämpfe an der Grenze vor ein paar Jahren habe ich Verbindungen zu dem Land geknüpft.“
    „Ein paar Jahre? Das ist bereits zwanzig Jahre her, mein guter Freund“, warf Talmud ein.
    „Wirklich schon so lange? Verrückt“, meinte Gilbert. „Dass wir uns schon so lange kennen…“ Er grinste und warf Talmud einen anerkennenden Blick zu. „Wir sind doch nicht mehr die Jüngsten, was? Das waren raue Zeiten.“ Seine Miene wurde wieder ernst. „Und es sieht so aus, als würden sie vielleicht zurückkehren.“
    „Was hast du herausgefunden?“, fragte Talmud und trat näher. Sorge zeigte sich auf seinem sonst so entspannten Gesicht.
    „In Aluid wird aufgerüstet. Sie haben Waffenschmiede aus dem Norden angeheuert, um ihre Schmiedekunst du verbessern, außerdem treiben sie Handel mit verschiedenen Nomadenstämmen. Sie kaufen Reittiere“, berichtete Gilbert ernst.
    „Das klingt nicht gut“, bestätigte Talmud. „Aber ist ihr Ziel denn wirklich Lux?“
    „Das steht für mich fest“, meinte Gilbert. „Welches andere Land ist militärisch so schwach und so zerrissen? Im Süden verwüsten Banditen ganze Siedlungen, in den anderen Grenzregionen greifen Armut und Hunger um sich. Menschenhändler ziehen ungestraft durch das Land, machen ihre Geschäfte und der Eingeweihte liegt im Sterben. Wir sind ein leichtes Ziel.“
    „Und die Dämonen kehren zurück“, sagte Talmud mit unheilverkündender Stimme. „Es scheint, als habe der Schutz des Heiligen Rhamnus seine Wirkung verloren.“
    Edwin spürte wie diese Nachricht das Unbehagen der anderen verstärkte. Rachel und Elvira tauschten einen raschen Blick, Gilbert zupfte nervös eine weitere Klette aus seinem Haar.
    „Wie kommt das?“, fragte Elvira schließlich.
    „Nun, fünfhundert Jahre sind eine lange Zeit“, meinte Gilbert schulterzuckend. Er schien von allen am wenigsten überrascht über diese Neuigkeit zu sein, oder gab er sich einfach gelassen?
    „Wie ihr wisst, war ich die letzten Wochen mit Vater Nehemia unterwegs. Er wurde damit beauftragt, herauszufinden, ob an den Gerüchten wirklich etwas dran ist. Natürlich versuchen sie nun zu vertuschen, dass die Dämonen ins Reich zurückgekehrt sind, aber ob ihnen das gelingen wird, ist fraglich.“
    „Hat es nicht schon früher Angriffe von Dämonen gegeben?“
    „Wer weiß. Bisher kursieren nur Gerüchte.“
    Elvira seufzte schwer und ließ sich auf ihren Sessel sinken. „Wenn wir nur besser zusammenarbeiten würden…“
    Edwin wusste nicht, was Dämonen waren, deshalb konnte er nicht verstehen, weshalb die anderen so beunruhigt waren. Nun zu fragen, schien ihm jedoch fehl am Platz zu sein, deshalb hielt er sich zurück. Sobald sie das Arbeitszimmer verlassen hatten, würde er bestimmt Zeit haben, mit Gilbert darüber zu sprechen.
    „Sag das mal den Priestern“, sagte der Landstreicher.
    „Das geht gerade dich etwas an, Gil. Du bist nicht sehr offen für eine Zusammenarbeit mit der Gnosis“, gab Elvira zurück.
    „Warum sollte ich? Sie legen uns ständig Steine in den Weg.“
    Sie rieb sich den Nasenrücken und schaute auf die Tischplatte. „Da fällt mir ein, dass Vater Nikodemus vor Kurzem hier war.“
    „Was wollte der denn hier?“, knurrte Gilbert.
    „Er will eine Gebetsstätte für den Heiligen Rhamnus auf unserem Gelände errichten lassen, damit die Kinder ihm huldigen können. Für ihr Karma, selbstverständlich.“
    „Was? Das kann er vergessen. Nur über meine Leiche!“
    „Beruhig dich, Gil“, sagte Talmud. „Ich glaube nicht, dass du da eine Wahl hast.“
    „Die wollen uns nur ausspionieren. Denen sind wir doch ein Dorn im Auge und das ist nun ihre Chance, ihre Leute hier einzuschleusen. Von wegen Karma. Kontrolle, das ist es, was sie wollen.“
    „Ich sehe das auch so“, gestand Elvira. „Aber eine Wahl haben wir tatsächlich nicht. Es wäre ein Fehler, uns offen gegen die Wünsche der Gnosis zu stellen. Wenn wir weiterhin unsere Arbeit tun wollen, dann müssen wir dem Bau zustimmen.“
    „Wie willst du deine Arbeit tun, wenn dir diese weißen Kriecher auf die Finger schauen?“, fragte Gilbert mürrisch.
    „Irgendwie geht es immer.“
    Gilbert ließ ein Schnauben hören. „Du machst ja sowieso was du für richtig hältst“, brummte er schließlich. „Dann bauen sie eben dieses verfluchte Ding in unserem Garten. Als ob es nichts Wichtigeres zu tun gäbe. Sehe nur ich das so, oder wäre es vielleicht sinnvoller, sich um mögliche Kriege oder Hungersnöte zu kümmern, als sich mit kleinen Würmern wie uns rumzuschlagen?“, fragte er genervt.
    Darauf schien niemand eine Antwort zu haben. Schließlich brach Rachel das Schweigen. „Gut, was sind also unsere nächsten Schritte?“, fragte sie in die Runde.
    Erneute Stille breitete sich aus. Edwin musterte die Versammelten. Elvira starrte auf die Vase vor sich, Talmud stand mit verschränkten Armen da und schien nichts zu sagen zu haben, Gilbert knackte mit den Knöcheln. Vielleicht hatten die Kinder recht gehabt. Auch die Erwachsenen waren überfordert mit den Aufgaben, die zu bewältigen waren. „Können wir nicht mit den Priestern reden?“, fragte er in die Stille hinein. „Sie wollen doch bestimmt nicht, dass es Krieg gibt.“
    „Das Ganze ist nicht so einfach, wie du dir das vorstellst. Die Priester sind ein geheimniskrämerischer Haufen. Sie lassen Außenstehende nicht an sich heran“, erklärte Rachel. „Selbst der Hohe Rat ist nicht in alle Angelegenheiten eingeweiht, auch wenn die Priester stets offene Verhandlungen vorgeben.“
    Elvira nickte. „Bezüglich der Verhältnisse im Gefängnis werde ich mit Vater Aurel sprechen. Er scheint mir am ehesten ein offenes Ohr für Angelegenheiten dieser Art zu haben.“
    „Nun gut, wenn du dich in dieses schwarze Loch traust, dann werde ich mich mit Vater Justus in Verbindung setzen“, meinte Gilbert.
    „Vater Justus? Glaubst du, er wird dich anhören?“
    „Versuchen kann ich es ja. An Krieg ist mir nicht gelegen und er scheint wenigstens den Mumm zu haben, die notwendigen Maßnahmen zu treffen.“
    „Und wie erklärst du ihm, dass du Informationen bezüglich der Aufrüstung in Aluid hast?“
    „Vergiss nicht, dass ich ein ehemaliger Hauptmann der gnostischen Armee bin, Schwesterherz. Wenn es um Kriegsführung und ähnliche Aufgaben geht, bin ich der richtige Mann.“
    „Na gut – und danke, dass du dich darum kümmerst.“
    „Und wir halten weiterhin unsere Augen und Ohren offen“, meinte Rachel, Talmud nickte.
    „Die Dämonensache ist streng geheim, vergesst das bitte nicht. Sonst gerate ich in Schwierigkeiten“, ermahnte Talmud die Anwesenden. „Das gilt auch für dich, Edwin. Was du hier gehört hast, solltest du mit keinem anderen besprechen. Weder mit den Kindern, noch mit sonst jemandem.“
    „Ich verspreche es“, sagte Edwin. Nun hatte er sich schon zweifach zum Schweigen verpflichtet, dachte er mit einem unguten Gefühl im Bauch. Dabei wäre es besser, wenn wir zusammenarbeiten würden, dachte er, sagte jedoch nichts.
    „Wenn du willst, können wir nächste Woche mit dem Unterricht beginnen“, schlug Rachel vor, als sie das Arbeitszimmer verließen.
    Edwin war ein bisschen enttäuscht. Er hätte gerne früher angefangen. „Gut, wann und wo?“, fragte er.
    „Ich komme morgens zu dir ins Turmzimmer, ist das in Ordnung?“
    „Klar“, erwiderte er erleichtert. Manchmal fürchte ich mich vor mir selber. Aber das wird sich bald ändern.

    Man sagt, die Liebe öffnet eine Tür
    von einem Herzen zum andern;
    Doch wo es keine Mauer gibt,
    wo soll dann eine Türe sein?
    Rumi