Jetzt wo ich mich intensiv mit ihr beschäftige, merke ich, dass dieses Epos eine wirklich wunderschöne Geschichte ist. Ich hoffe, ich werde ihrer gerecht. Der nächste Teil hat mich sehr gerührt. Ich hoffe, ich bringe es gut rüber und mache dem Genius, das dies ursprünglich verfasst hat, keine Schande!
4. Tafel
Enkidu
Die beiden Freunde wanderten rasch über die Steppe. Kein gewöhnlicher Mensch hätte mit ihnen mithalten können. Nur in der größten Mittagshitze rasteten sie, um einen Bissen zu essen. Und erst am späten Abend ruhten sie, nachdem sie Schamasch frisches Wasser geopfert hatten, das sie auf Steinen in der Sonne verdunsten ließen.
Bald schon erreichten sie den Libanon.
Eines Nachts rüttelte Gilgamesch Enkidu aus dem Schlaf.
„Ich hatte einen Traum“, sagte er, „Willst du mich beraten?“
„Na sicher, ich bin doch dein Freund und Berater“, antwortete Enkidu verschlafen, aber aufmerksam.
„Es war ein wirrer und beunruhigender Traum. Ich war in der Steppe und jagte wilde Stiere. Da kam ein gewaltiger Stier auf mich zu. Der Boden donnerte unter seinen Hufen. Ich starb fast vor Angst! Ich packte ihn bei den Hörnern, meine Ader an der Stirn pochte vor Anstrengung. Da legte er mir über das Gesicht und sein Speichel war kühl und sauber. Und er klebte überhaupt nicht.“
Enkidu dachte nach. Dann überkam es ihn.
„Der Gott, zu dem wir auf dem Weg sind, ist kein Wildstier. Was du gesehen hast, ist Schamasch. Er wird uns beistehen in der Not.
Bald waren sie wieder eingeschlafen, doch erneut weckte Gilgamesch Enkidu. Schlaf werde ich heute wohl nicht viel bekommen, aber was tut man nicht alles für einen guten Freund?
Der König erzählte: „Diesmal träumte ich, dass wir in einer Schlucht vor einem Berg standen und der stürzte ein! Und wir waren winzig wie Fruchtfliegen vor ihm!“
Enkidu musste lächeln.
„Das ist ein schöner Traum mein Freund, eine kostbare Zusage! Der Berg, den du beschreibst, ist Chumbaba! Wir werden ihn besiegen und töten und seinen Leichnam in die Steppe werfen.“
Am Morgen zogen sie weiter, aßen nur einen Bissen in der Mittagshitze, etwas Fladenbrot und Datteln, erst am Abend suchten sie eine Stelle für die Nacht an einem Hügel.
„Enkidu, bereite du doch das Lager vor“, bat Gilgamesch, „Ich will auf den Berg steigen und etwas von unserem Brot Lugalbanda opfern, meinem Vater, um uns für die Träume zu bedanken.“
Der Freund nickte. Das war eine weise Idee! Man musste die Götter gewogen halten, gerade auf so einer gefährlichen Mission.
Und so ging es die nächsten Tage weiter, wurde geradezu zur Routine. Den ganzen Tag Marsch und oft hatte Gilgamesch Träume, die Enkidu ihm deutete. Und Gilgamesch brachte oft auf Hügeln und Bergen Opfer dar als Dank und als Bitte für neue Träume. Und auch das Opfer von frischem Wasser für Schamasch vergaßen sie nicht.
Eines Abends kam ein furchtbarer Regensturm auf. Doch das war nichts, was Enkidu in Bedrängnis bringen würde, der in der Wildnis aufgewachsen war. Er erkannte das Unwetter früh und baute einen Unterstand für sich und seinen Freund.
Gilgamesch lag zusammengerollt da wie ein Kind, das Kinn am Knie und schlief. Enkidu stopfte gerade ein Loch im Dach.
Plötzlich schreckte der König hoch.
„Was ist? Hast du gerufen?“, fragte er, „Hast du mich angestoßen? Ich bin ganz durcheinander…“
„Du hast sicher wieder geträumt, Gilgamesch“, meinte Enkidu und wartete geduldig, bis sein Freund sich wieder gesammelt hatte.
„Es war furchtbar! Die Himmel öffneten sich und die Erde erbebte! Am heiligsten Tage wurde es finster. Es blitzte und donnerte und überall brachen Feuer aus. Vom Himmel regneten tödliche Geschosse. Die Feuer, vorher weißglühend, wurden rot und verloschen schließlich. Aber alles war schon zu Asche verbrannt!“
Auf diesen Traum wusste Enkidu nichts zu sagen. Doch er klang nicht verheißungsvoll…
Die Regenzeit hatte eingesetzt und zur täglichen Routine des Wanderns, Rastens und Opferns kam für Enkidu nun, Unterstände zu bauen, damit ihr Schlafplatz trocken blieb. Er war die Wildnis aus seiner Jugend ja gewohnt, aber er merkte, dass Gilgamesch den Luxus seines Palastes doch sehr vermisste. Dafür schlug er sich aber nicht schlecht.
Seine Träume aber waren unheilvoll.
Enkidu wollte umkehren. Mit solch schlechtem Omen sollte man nicht in den Kampf ziehen.
„Erinnerst du dich, was du in Uruk gesagt hast?“, fragte Gilgamesch und sein Freund nickte, „Schau du hast schon dort gezweifelt. Lass uns zu Schamasch beten!“
Enkidu war nicht ganz überzeugt. Aber ein Gebet konnte nicht schaden, zumal sie ja täglich dem Sonnengott opferten.
Da brach die Sonne durch die Wolkendecke und eine donnernde Stimme rief:
„Beeilt euch, damit der Wächter nicht in den Wald gehen und sich verstecken kann! Er trägt momentan nur einen seiner Sieben Panzer!“
Als die himmlische Stimme verstummt war, erklang in der Ferne ein gewaltiges Brüllen, das wie die Sintflut über das Land raste.
Bei dem Klang zogen sich Enkidus Eingeweide zusammen. Es war Chumbaba, der nach der Rede des Gottes Schamasch wie zur Herausforderung gebrüllt hatte. Ein Gott war mit ihnen, einer gegen sie. Wäre er doch nur nie mitgekommen!
Gilgamesch schien seine Furcht zu sehen und zu verstehen. Er legte einen Arm um Enkidus schultern, das muskulöse Gliedmaß lag schwer und beruhigend auf ihm.
„Schau Enkidu – ein rutschiger Weg bringt zwei, die sich helfen, nicht aus dem Gleichgewicht und den stärksten Löwen können zwei Jungen umstoßen, wenn sie zusammenarbeiten. Ein dreisträngiges Seil hält die schwersten Gewichte aus, die dünnere reißen lassen würden! Wenn wir zusammenhalten, können wir alles schaffen!“
Da fasste Enkidu neunen Mut. „Wir steigen hinab und holen uns dieses Holz!“, sagte er entschlossen.
„Warum haben wir uns bisher so ängstlich verhalten?“, fragte Gilgamesch lächelnd, „Wir haben doch gemeinsam alle Gebirge überwunden und kennen uns mittlerweile so gut! Du bist ein so großer Kämpfer, du fürchtest den Tod doch nicht! Deine Stimme ist laut wie eine Kesselpauke, da schreckt dich das Brüllen des Drachen doch nicht! Weg mit dem Schmerz in den Armen, weg mit der Entzündung in den Knien! Bald sind wir am Ziel! Nimm meine Hand! Ziehen wir vereint weiter! Vergiss Tod und Müdigkeit! Ich habe mein Leben lang nur mich selbst beschützt, doch nun beschütze ich auch dich.“
Es dauerte nicht mehr lange, da erreichten sie den immergrünen Wald.
Sie blieben stehen und schwiegen.