Der Gilgamensch-Epos ist wohl die älteste Fantasygeschichte der Welt. Und ich finde sie absolut faszinierend. Darum habe ich mich daran gemacht, es in eine für moderne Mitteleuropäer leicht lesbare Form zu bringen. Der Epos wurde auf zwölf Tafeln geschrieben, an dieser Gliederung orientiere ich mich auch. Ich erzähle die Geschichte aber aus der Sicht verschiedener Figuren und die Veränderung der Perspektive nehme ich als weitere Untergliederung. So wird es, denke ich, etwas spannender.
So, kommen wir zur ersten Tafel!
Aruru
Aruru hörte die Klagen und die Gebete, die an sie gerichtet wurden. Die Menschen der StadtUruk riefen sie an.
„Du hast Gilgamesch erschaffen, zu zwei Dritteln Gott und einem Drittel Mensch. Er ist unser Hirte, klug, weise, mächtig und stattlich. Aber es ist voller Willkür. Er schändet unsere Frauen und nimmt unsere Söhne mit in den Krieg, wo sie sterben! Hilf uns!“
All das drang an ihr Ohr. Und sie fühlte Reue und Mitleid mit den Sterblichen. Wie jung und unerfahren war sie gewesen, als sie Gilgamesch erschaffen hatte! Wie ein wilder Stier war er geworden, voller Potenz und Kraft, aber auch gefährlich und kaum zu besiegen.
Sie würde jemanden erschaffen müssen, der ihm ebenbürtig war, sodass Uruk wieder Frieden von seinem König fand.
Gründlich wusch sie sich die Hände. Ihr Werk sollte rein sein. Sie griff in den Lehm in der Steppe am Fluss. Er war frei von Verunreinigungen und perfekt für ihre Schöpfung.
Bald hatte sie einen perfekten Körper erschaffen. Ganz von Haaren war er bedeckt, ein Zeichen seiner Manneskraft. Groß und muskulös. Sie war zu Frieden. Aber um es mit Gilgamesch aufnehmen zu können, würde es noch mehr benötigen.
So rief sie: „Ninurta, komm und gib diesem Menschen Kraft, damit er seine Mission erfüllen kann!“
Und ihre Schwester erschien neben ihr.
„Das ist dein Meisterstück!“, rief sie anerkennend aus, „Wie willst du ihn nennen?“
„Ich werde ihn Enkidu nennen.“
Und so erhielt Arurus Schöpfung auch Ninurtas Kraft.
Wie schön er war! Sein Haar reichte bis zur Hüfte, war schwarz und glänzend, sein Gesicht ebenmäßig. Sein Pelz würde ihn vor der Kälte der Nacht und der Sonne schützen, bis er sein Schicksal finden würde.
Doch zunächst mussten sie die reine, vollkommene Schöpfung allein lassen. Sie liesen Enkidu am Fluss zurück.
Der Jäger
Er spannte das Netz. Es war ein guter Platz und viele Vögel würden sich hier verfangen und auf dem Markt in Uruk einen guten Preis bringen. Bis zum Abend würde er noch zusehen, eine Gazelle zu erlegen, deren Fleisch und Fell ebenfalls recht teuer zu verkaufen wären.
Es war ein heißer Tag, die Tiere würden träge sein und zum Trinken an den Fluss kommen.
Der Jäger machte sich auf, den entspannten Bogen trug er im Köcher auf dem Rücken.
Da hörte er ein Rascheln und drehte sich um. Er sah einen Mann. Er war nackt, aber sehr behaart, groß und stark. Und er riss das Netz des Jägers von den Bäumen, an das er es gebunden hatte!
„Was tust du, Kerl?“, brülle er wütend und eilte zurück. Dem würde er eine Abreibung geben!
„Schlecht für Vögel!“, meinte der Fremde, „Fliegen rein!“
Na toll, ein Schwachsinniger!
„Ja, und so soll es auch sein!“, erklärte der Jäger langsam.
Nun erreichte er den Fremden und entriss ihm das Netz, um es wieder aufzuhängen.
Der Fremde schubste ihn, sodass er zu Boden fiel. Rasch stand er auf.
„Na warte! Dir gebe ich´s!“, brüllte er nun zornig und ging auf den Nackten los.
Er wusste nicht, was geschah, aber plötzlich lag er auf dem Boden. Seine Nase war gebrochen, er spürte, wie das Blut ihm über das Kinn lief. Der Fremde war stark und schnell. Unglaublich stark und schnell.
Er rappelte sich auf und zog sich unter der genauen Beobachtung des Fremden zurück. Der lies sein Netz einfach liegen. Gut, er würde es einfach am Abend einsammeln.
Es wehte kaum Wind und er war auf etwas mehr als zehn Schritte an die Herde herangekommen, ohne dass diese ihn bemerkte. Ein schneller, sauberer Schuss und für die nächsten Tage wäre seine Familie ernährt. Langsam zog er den Pfeil ans Ohr, atmete halb aus und… Ein Pfiff! Die Antilopen sprangen davon. Er lies den Pfeil los, der aber wegen der schnellen Bewegung ins Leere ging.
In Mitten der Herde sah er ihn, den nackten Fremden. Ganz selbstverständlich lief er mit ihr.
Frustriert machte sich der Jäger auf zu seiner Falle. Es war eine simple Grube, abgedeckt mit Stöcken und Gras. So lies sich oft leicht etwas fangen. Vielleicht hätte er heute wenigstens da Erfolg? Er kam an und knirschte mit den Zähnen. Jemand hatte seine Fallgrube mit Geröll und Erde aufgefüllt! Dieser Fremde wurde langsam wirklich zum Ärgernis!
Er musste etwas unternehmen!
Am Abend hatte er die Herde wieder aufgespürt und erblickte den Nackten, wie er friedlich Gras kaute, ganz wie die Tiere. Der Jäger legte einen Pfeil auf die Sehne. Er pirschte sich durch das hohe Gras an. Da blickte der Fremde in seine Richtung oder genauer noch – genau in seine Augen. Es fraß wie eine Antilope, aber er hatte zornige Augen wie ein Löwe! Einen Moment nur zögerte der Jäger. Dann lief er davon. Dieser Fremde war mehr, als er verstehen konnte! Aber sein Vater wüsste sicher Rat.
Geduldig hörte der Vater des Jägers zu. Der erzählte, wie der Fremde seine Fallen zerstört und seine Jagd ruiniert hatte.
„Was sollen wir jetzt tun? Ich wage nicht, mich ihm zu nähern oder zu jagen, so lange er da ist. Er wird mich töten, um die Tiere zu schützen!“, schloss er.
Der Vater überlegte.
„Du tust jetzt folgendes. Gehe nach Uruk und sprich bei König Gilgamesch vor. Es ist seine königliche Pflicht uns als Volk vor solchem Unheil zu schützen. Gilgamesch ist unbesiegbar und wird damit fertig werden.“, erneut überlegte er, " Lass dir von ihm eine Tempeldirne mitgeben. Ich kenne alte Legenden über solche Gewaltmänner. Wenn sie ihn verführt, werden sich die Tiere von ihm abkehren. Der Akt wird ihn vom Tier zum Menschen machen."
Am nächsten Morgen brach der Jäger nach Uruk auf.
Es war eine lange Reihe von Bittstellern, in die er sich einreihen musste. Seit frühestem Morgen hatte er gewartet. Endlich betrat er mit demütig gesenktem Kopf den Thronsaal. Da saß der König. In edelste Kleider gehüllt, mit schwerem Goldschmuck und einem langen, schwarzen Bart. Er war groß wie der Fremde. Der Jäger kniete nieder und senkte seinen Oberkörper, bis seine Nase den Boden berührte. Er hatte Angst. Gilgamesch war für seine Willkür bekannt, was, wenn ihn sein Wunsch erzürnte?
„Was willst du?“, fragte ein Beamter, der neben dem Thron stand.
„Herr, in der Steppe ist ein Tiermensch, das uns alle bedroht! Er ruiniert meine Jagd! Bitte Herr, gebt mir eine Tempeldirne, damit ich ihn unschädlich machen kann! Oder habt Ihr einen anderen Rat? Mein Vater schlug das vor“
Da spracht Gilgamesch mit tiefer, lauter Stimme: „Ich habe von solchen Wesen gelesen. Dein Vater hat recht. Schicken wir ihm eine Tempeldirne, dann wird das Wild ihm untreu! Ich als Hirte von Uruk muss doch meine Schäfchen vor dem bösen Wolf beschützen!“ Dann lachte er. „Geh, ich veranlasse, dass du bekommst, was du brauchst!“
„Ich bin Schamkat“, sagte die Tempeldirne, „Ich werde mit dir den Gewaltmann zähmen! Die Kraft der Göttin wird ihn bezwingen!“
Sie war schön, so schön, dass es dem Jäger den Atem verschlug. Ihre Haut war weiß wie Milch, das Haar schwarz, lang und glänzend. Ihr langes Priesterinnengewand betonte ihre perfekte Figur. Eine Zeit lang konnte er sie nur anstarren. Dann schluckte er und nickte. Den Umgang mit Frauen war er nicht gewöhnt. Bisher hatte er nicht genug angesammelt, als dass ein Vater ihm seine Tochter zur Braut geben würde.
Er trug auch ihre Decke, ihren Wasserschlauch und ihren Proviant. Es würde einige Tage dauern, bis sie ihr Ziel erreichten. Wie würde die Städterin wohl auf die Strapazen reagieren?
Bald stellte er fest, dass sie nicht jammerte, weder über den Marsch in der Hitze des Tages, noch über das Schlafen in der Kalten Nacht mit nichts über sich als dem Sternenzelt. Sicher könnte sie gut anpacken! Aber leider war sie nicht für ihn bestimmt, sondern für den Fremden. Jetzt hasste er ihn noch mehr!
Am dritten Tag erreichten sie den Fluss und der Jäger begann, einen Unterstand aus einigen Ästen und Gras zu machen.
„Die Herde wird wieder hierher kommen, um zu trinken, und der wilde Mann sicher auch“, erklärte er.
Schamakat nickte.
Im Unterstand war es recht eng und der Jäger genoss ihre Nähe. Hier waren sie bestens versteckt und die Tiere würden kommen. Aber das konnte noch ein paar Tage dauern, Tage, in denen er träumen konnte, dass es mehr als zufällige Berührungen mit der Schönen geben würde!
Es war der dritte Tag des Wartens, als er an der Schulter wachgeschüttelt wurde.
„Ist er das?“, fragte Schamakat und zeigte aus dem kleinen Fenster des provisorischen Unterstandes.
Er sah hinaus. Die Herde war zurück! Und mit ihr der Fremde. Er trank aus dem Fluss und fraß Gras, ganz wie die Gazellen!
„Ja, das ist er!“, flüsterte er, „Los jetzt! Schlaf mit ihm! Ich kann es mir nicht leisten, noch länger ohne Beute zu bleiben!“
„Erzähle mir nicht, wie ich meine Aufgabe zu machen habe!“, zischte sie zurück.
Sie war so stark, so leidenschaftlich! Wie gern würde er sie zu einer guten Frau zähmen! Aber es half nichts. Das Schicksal hatte anderes bestimmt.
Sie trat aus dem Unterstand und lies ihr Kleid von den Schultern gleiten. Nackt lief sie auf ihm zu. Er sähe nun ihre vollen Brüste, ihre Scham… Eifersüchtig knirschte der Jäger mit den Zähnen. Der Fremde kam auf sie zu, sicher lächelte sie ihn an. Ein kurzes Gespräch entstand, dass der Jäger auf die Entfernung nicht hören konnte. Sie berührte ihn an der Brust, lies die Hand immer tiefer gleiten. Dann lagen die beiden im hohen Gras. Die Geräusche und die Bewegungen der Pflanzen ließen erahnen, wie leidenschaftlich es zugehen musste. Als die Sonne ihren Zenit überschritten hatte, war es noch immer nicht vorbei und der Jäger machte sich auf den Weg nach Hause. Er war des Wartens leid geworden.
Morgen würde seine Jagd sicher wieder erfolgreich sein.
Enkidu
Sieben Tage und sechs Nächte hatte er mit der Schönen verbracht. Nun aber wollte Enkidu zu seiner Familie zurückkehren. Er folgte den Spuren der Herde.
Schamakat hatte gemeint, sie würde auf ihn warten, wenn er doch zu ihr wollte. Aber er gehörte in diese Welt der Steppe, nicht der blutrünstigen Jäger, die seine Freunde, die Tiere, töten wollten!
Endlich fand er sie. Friedlich grasten seine Schwestern und Brüder. Er würde sich jetzt auch gern ein paar Büschel gönnen! Er hatte die letzten Tage kaum gegessen. Und dennoch waren sie schön gewesen. Diese Lust hatte er nicht gekannt. Er näherte sich wie immer, doch die Antilopen, als sie ihn entdeckten, sprangen auf und davon, als hätten sie ihn nie gekannt.
„Wohin wollt ihr? Ich bin es! Enkidu!“, rief er, doch sie hörten nicht. Vielleicht hatte ein Löwe sie aufgeschreckt? Sehen konnte er keinen.
Er folgte ihnen, doch wann immer er sich näherte, flohen sie vor ihm. Er fiel auf die Knie und weinte. Er hatte seine Familie offenbar verloren. Sie trauten ihm nicht mehr, nun, da er sich mit einem der Mörder abgegeben hatte.
Er war so einsam. Nie wieder würde er mit seiner Familie über die Steppe springen, Gras fressen und das Wasser des Flusses trinken. Nun gab es wohl nur noch einen Weg zu gehen. Er kehrte um, um Schamakat zu finden.
Sie wartete an dem Ort, an dem er sie verlassen hatte und lächelte ihm entgegen.
„Komm, Enkidu, Liebster! Warum bist du so traurig?“
„Sie haben mich verstoßen. Sie wollen unsere Liebe wohl nicht.“
„Hörst du nicht, wie du nun redest, Enkidu? Wie du nun denkst? Unsere Liebe hat dich gereinigt. Du bist nun ein Mensch, ja wie ein Gott und kein Tier mehr! Du bist jetzt weise und verständig“, flüsterte sie und umarmte ihn.
Er dachte nach. Sie hatte recht. Seine Gedanken waren komplexer geworden, er kannte Worte, die er nie gehört hatte. Es schien, als hätten ihm die letzten Tage nicht nur etwas genommen, sondern auch etwas geschenkt.
„Komm mit mir nach Uruk, nimm mich zur Frau!“, sagte sie leise und zärtlich, „Es wird die gefallen! Dort gibt es gewaltige Tempel für Anu und Ischta. Und der mächtige Gilgamesch lebt dort, der einzige, der dir je ebenbürtig sein kann, der die Geschichte ändert“
Enkidu löste sich von ihr.
„Ja, führe mich nach Uruk!“, bat er, nun von Neugier und Hoffnung erfüllt. Sein altes Leben war zwar vorbei, doch vielleicht würde ein neues beginnen. „Ich werde dort einziehen und mich als der Stärkste erweisen!“
So kamen die beiden nach Uruk. Die neuen Eindrücke waren für Enkidu überwältigend. Es gab ein rauschendes Fest zu ehren der Götter, tausende waren auf den Straßen, aßen, tranken und tanzten. Erst spät am Morgen fiel er auf die Decken des Nachtlagers in Schamakats Haus.
Gilgamesch wandelte in seinem Garten. Die Palmen waren gut gepflegt und trugen schwer an ihrer Last aus Datteln. Die Sonne brannte heiß, aber das störte ihn nicht.
Da trat seine Mutter zu ihm.
„Ich hatte einen Traum“, sagte sie, „Es wurde vielleicht jemand in der Steppe geboren, der ist wie du. Mehr Gott als Mensch.“
„Ist er eine Bedrohung für mich?“, fragte er.
„Nicht unbedingt. Er könnte dir ein Freund und mächtiger Verbündeter sein. Du musst ihn zu mir führen, wenn du ihn findest. Er wird dir dann vielleicht wie eine Ehefrau sein, treu und liebend.“
Die Prophezeiung beschäftigte ihn den ganzen restlichen Tag über. Er ließ alle Bittsteller und Berater fortschicken, da er seine Ruhe haben wollte.
Erst in der Nacht fand er Ruhe.
Er stand auf dem Marktplatz von Uruk und sah eine große Menschentraube. Sie betrachtete etwas. Er drängte sich hindurch und sah eine Axt am Boden liegen. Es war ein schweres Werkzeug aus angelaufener Bronze, scharf und mit verzerrten Bildern verziert. Erst wich er erschrocken zurück, dann aber hob er sie auf. Sie lag perfekt in seiner Hand, es war die beste Axt, die er je gesehen hatte.
Er erwachte. Es musste ein Traum gewesen sein! Ob er etwas bedeutete? Er sprang auf und eilte zu seiner Mutter, ehe der Traum verblassen konnte. Sie war so weise und würde ihn deuten können.
Er berichtete ihr und sie hörte zu.
„Ja, mein Sohn, die Axt ist ein Mann, den du liebgewinnen wirst! Und ich werde ihn als meinen Sohn annehmen.“
Gilgamesch antwortete: „So soll es sein! Ich will ihn als Freund und Berater gewinnen und du wirst seine Träume deuten wie die meinen.“