Nun denn, schauen wir mal...
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Darauf hatte Terek keine Antwort. Sein letzter Besuch bei ihm lag lange zurück. Seit er sein Augenlicht verloren hatte, war aus ihm ein verbitterter alter Mann geworden, dem nur noch Verachtung für die ihm unsichtbare Welt da draußen blieb. Er wusste, wie Zet über die Mutter dachte und bat darum, dass auch sie wusste, dass ihn nur die unerbittlichen Umstände von seinem rechten Pfad abgebracht hatten. Doch noch immer war Zet, wenn er es denn wollte, ein guter Ratgeber. Es war wahrlich eine Torheit gewesen einen Gesandten nach Xemen zu schicken, das wusste Terek jetzt. Eine völlig überstürzte Handlung, die auch seine rechte Hand, Quensy Haz’Makalum, nicht verhinderte. Selbst in dieser Sache sollte Zet Recht behalten. Auch wenn er es wieder einmal sehr drastisch formulierte. Quensy war ein loyaler, intelligenter und überaus gebildeter junger Mann, doch fehlte es ihm an Lebenserfahrung und somit stimmte er auch, ohne lange zu Überlegen, Tereks Idee mit dem Friedensangebot zu. Doch der Friede schien wahrhaftig keine Lösung zu sein. Zets Ansatz für den bevorstehenden Krieg hingegen schmeckte Terek noch weniger. Hatte er gewusst oder zumindest geahnt, was der blinde, alte Mann ihm vorschlagen würde? War es nicht tief im Innern genau das, was auch ihm als der einzige Ausweg erschien?
Die Mittagshitze war bereits am abflauen, als Terek den Rückweg antrat. Die riesige Sonnenpyramide, der Stammsitz des Hohepriesters und seines Gefolges, warf ihren gigantischen Schatten mittlerweile über den Marktplatz auf dem bereits wieder ein reges Treiben herrschte. Der letzte namunsche König Necat hatte die Pyramide zu Ehren des alten Sonnengottes erbauen lassen, zu dem ihre Vorfahren, vor Tasmanuks Offenbarung, beteten. Das zum Großteil aus rötlich schimmerndem Sandstein bestehende Bauwerk maß an jeder seiner vier Seiten rund achthundert Fuß an Länge und schraubte sich bis zu der majestätischen Spitze weitere vierhundert Fuß in die Lüfte. Die Pyramide war das Zentrum Emorhors und ein einzigartiges, architektonisches Wunder, wie sämtliche bekannten Baumeister nicht müde wurden zu betonen.
Terek hasste seit jeher die Dekadenz mit der der Hauptsitz des Glaubens über den Dächern und Menschen der Stadt thronte. Als „Gift für den Glauben“ hatte er ihn einst betitelt und dabei nur empörte Reaktionen seines Rates geerntet. Die Sonnenpyramide wäre, historisch gesehen, ja dem falschen Sonnengott, nicht der Mutter, zuzuschreiben und alles Weitere wurde schließlich mit dem fadenscheinigen Begriff „Tradition“ relativiert. Tatsächlich schienen die einfachen Bürger nichts für solche tiefsinnigen Überlegungen übrig zu haben, aber irgendwann würde es irgendwer zu ihrem Nachteil auslegen. Der Glaube war schwach in diesen Zeiten und offensichtliche Schwachstellen sollten nicht wie offene Wunden zur Schau getragen werden.
Vor dem großen Krieg, so wusste Terek aus den Erzählungen, standen einst, alleine in der Hauptstadt, eintausend Männer und Frauen in Diensten der Hohepriester, beziehungsweise der Mutter. Heute war ihre Zahl auf etwa knapp über zweihundert geschrumpft. Einzig Terek und seine rechte Hand Quensy, sowie deren Kämmerer, residierten von ihnen noch in der Sonnenpyramide. Die Wachen wechselten halbtäglich, doch waren es stets Acht, die den Zugang, in untypisch schwere eiserne Rüstung gekleidet und mit doppelspitzigen Speeren bewaffnet, bewachten. Sechzehn weitere Männer waren im Inneren postiert, was Terek für überflüssig hielt, worauf aber seine rechte Hand bestand. Sie gehörten zu den Männern der Stadtwache, die in Ermangelung an Soldaten auf etwas weniger als zweihundert Mann geschrumpft waren. Sie waren dem Oberbefehlshaber Hernak Kreum’Barbero unterstellt, einem Mitglied des Rats der Fünf, mit dem Terek in Kürze zu tagen gedachte.
Terek passierte die diszipliniert stramm stehenden Wachen vor dem schlichten Eingang, der etwa zwei Meter hoch und fünf Meter breit, sowie in dem gleichen öden Farbton gehalten war, wie der Rest des Gebäudes.
Wäre der Sitz des Hohepriesters keine riesige Pyramide gewesen, hätte man sie aufgrund ihres kargen Äußeren auch für eine, wenn auch recht imposante, Version eines Armenhauses halten können. Doch wo besagtes Armenhaus immerhin reich an Leben, so war die Sonnenpyramide ein beinahe ausgestorben wirkender, fast schon surrealer Ort, wenn man sich in seinem Inneren bewegte. Die Fackeln, die den, über mehrere Stockwerke verlaufenden, Hauptflur beleuchteten waren stets entzündet, doch in den unzähligen Nebenfluren blickte man zumeist in tiefe, schwarze Dunkelheit.
Dort lagen größtenteils die Zimmer der einst unzähligen Bediensteten und hohen Berater des Hohepriesters, die jene zusammen mit ihren Familien bewohnten. Heute standen die Zimmer leer. Auch andere Räumlichkeiten, wie etwa der große Sitzungssaal, in dem die Ratsitzungen abgehalten wurden, der Speisesaal und die Halle der Mutter, wo das allmorgendliche Gebet stattfand, wurden nicht mehr genutzt. Heute aß und betete jeder für sich auf seinem Schlafgemach und die Sitzungen des mittlerweile auf fünf Beteiligte geschrumpften Rates wurden im goldenen Raum abgehalten.
Der goldene Raum war eine kleinere Halle, die zu Ehren des Sonnengottes erbaut wurde. Diese lag direkt unter der Spitze der Sonnenpyramide. Es war der einzige Raum in dem keine Fackelhalter angebracht waren, da schlichtweg kein Feuer entzündet werden mussten. Die goldfarben getönten Scheiben, die die Baumeister in die Decke eingearbeitet hatten, tauchten den Raum bei Sonneneinstrahlung in ein glühendes Gold, der Farbe des Sonnengottes. Nachts wiederrum schien das Licht der Sterne durch die Decke und ließ den Raum in ihrem diffusen Licht erhellen. Die falschen Götzen, deren in Stein gehauene Gesichter an allen vier Wänden, jeden Besucher der eintrat erst einmal aufmerksam musterten, hatte Tasmanuk einst zertrümmern lassen. Noch heute konnte man bei genauerem Hinsehen erkennen, wo die, in die Wände gehauenen, Löcher einst ausgebessert wurden, auch wenn sich die Baumeister große Mühe gegeben hatten dies zu übertünchen. Zu welchem Zwecke Tasmanuk die Halle einst benutzte, war nicht bekannt, doch genau hier hatte er einst die Worte seiner Offenbarung niedergeschrieben. Ein Dokument, welches nur die wenigsten Menschen zu Gesicht bekommen hatten. Zu diesem auserlesenen Kreis zählten alle Hohepriester und deren rechte Hände, die die engsten Vertrauten und das gute Gewissen der Stellvertreter der Mutter waren. Die rechten Hände hüteten ihre Geheimnisse und sprachen, wenn es nötig war, im Namen des jeweiligen Hohepriesters. Für den Fall das einer ihrer Herren vor seinem Ableben keinen Nachfolger bestimmt hatte, war dies die ehrenvolle Aufgabe der rechten Hand.
So geschehen bei Nobossop Sek’Modun, der eigentlich seinen kleinen Bruder Hernak, zeitgleich Oberbefehlshaber seiner Armee, als seinen Nachfolger auserkoren hatte. Doch nach dem verlorenen Krieg, in dem Hernak von dem Anführer des Westkontinents, Red, erschlagen wurde und dessen großer Bruder Nobossop sich anschließend das Leben nahm, war es letztlich die rechte Hand Gosset Kar’Semdul der sich selbst zum Hohepriester ausrief, die vollständige Kapitulation unterzeichnete und Red schwor niemals wieder gegen das neugegründete Venua in den Krieg zu ziehen.
Gosset erhielt dafür aus der Bevölkerung den Spottnamen „Der Rückgratlose“ und wurde später von einem Mob auf offener Straße zu Tode geprügelt, während seine Bewacher nicht einschritten. Um die aufgeheizte Stimmung nicht noch mehr zu befeuern, verzichtete der neue Hohepriester Sande Hoers’Mosmumtu, der von Gossets rechter Hand Zet gewählt wurde, auf die Hinrichtung der Angreifer und verbannte stattdessen die Leibwächter Gossets in die tote Steppe im Norden, was im Grunde der Todesstrafe gleich kam, nur das sich der Tod durch Verdursten wesentlich länger hinzog. Doch hatten sie für ihre Sünden Buße getan und am Ende die Vergebung der Mutter erfahren.
Die in Summe achthundertachtundsiebzig Stufen, die hinauf in den goldenen Raum führten, waren für Terek bei Weitem nicht mehr so einfach zu bewältigen, wie noch vor einigen Jahren. Schwer schnaufend und, trotz einiger Pausen, und mit schmerzenden Gelenken erreichte er schließlich die, wieder einmal in goldenes Licht getauchte, Halle, in der bereits Quensy auf ihn wartete.
Dieser eilte ihm entgegen um ihn zu seinem Platz zu führen, was Terek direkt ablehnte. Wirkte er auf seine Mitmenschen wirklich so geschafft in dieser alten Hülle die sein Körper war?
Der junge Bursche Quensy, der den dreißigsten Tag seiner Geburt noch nicht begangen hatte, war mit einer schwarzen, lockigen Mähne gesegnet, für die ihn sämtliche Mädchen Emorhors vergötterten. Sein Mund mit den vollen Lippen war von dünnem, dunklem Flaum umringt. Sein Gesicht wies sehr androgyne Züge auf und seine Augen leuchteten unnatürlich blau. Eine in Namun sehr seltene und daher exotische Augenfarbe. Er behandelte Terek oftmals wie einen alten Mann. Obwohl er es stets gut meinte, hasste Terek dies, wies ihn allerdings jedes Mal freundlich darauf hin, dass er keine Hilfe benötigte, wenn er nicht darum bat. Dann lächelte Quensy ihn verlegen an. Selbst seine Zähne waren perfekt. Gerade und strahlend weiß. Auch wegen seiner Art zu Lächeln war er in der Damenwelt begehrt.
In seiner Jugend, die gefühlt erst gestern, aber in Wahrheit schon vor einer halben Ewigkeit zu Ende gegangen war, war es Terek gewesen, der die Herzen der Frauen höher schlagen ließ. Damals, kurz nach dem großen Krieg, waren gutaussehende und gut gebaute, große Männer wie er ein überaus rares Gut und dadurch umso begehrter, auch wenn sein Herz stets bei M’Kelya gewesen war. Noch bevor er zum einzig wahren Glauben zur Mutter fand, war er ein wilder Heißsporn gewesen. Einem Kerl wie Quensy hätte er damals mit seinen bloßen Fäusten das hübsche Gesicht zerbeult, doch damals war er ja auch nur ein dummer Junge gewesen. Ein sorgenloser Junge, der in seiner Liebe zu M’Kelya und deren Augen zu ertrinken drohte. Heute hingegen lag die ganze Last Namuns auf seinen Schultern. Just in diesem Moment wünschte er sich wieder in die Zeit seiner Jugend zurück. Zurück in die Arme M’Kelyas.
Als Terek an dem kleinen hölzernen Tisch Platz nahm, ließ sich Quensy an seiner rechten Seite nieder. Er trug, wie auch Terek, eine dünne rote Robe, die ihm bis zu den Knöcheln reichte. Vor zwei Jahren hatte er den jungen Burschen zu seiner rechten Hand ernannt, nachdem dessen Vorgänger, der leicht ergraute Benysma Gemu’Sakao, an einem Fieber erkrankte und anschließend im Schoß der Mutter Platz nehmen durfte. Manchmal erwischte sich Terek dabei, wie er bedauerte, dass sich Zet nach Sandes Tod zur Ruhe gesetzt hatte. Aber wäre der alte Mann wirklich die bessere Wahl gewesen?
Nacheinander trafen, jeweils von zwei Wachen begleitet, der Stadtverwalter Yilbert Zur‘Konyett, der große Malto sowie Hernak Kreum’Barbero, der Oberbefehlshaber der Stadtwache Emorhors ein.
Yilbert setzte sich an das linke Tischende neben den Hohepriester. Er war ein entsetzlich hässlicher, hagerer und kränklicher Mann Mitte Vierzig. Man sah ihm die Anstrengung an, die ihm der Aufstieg in den goldenen Raum auch dieses Mal bereitet hatte. Mit einem dünnen Stofftuch tupfte er sich die dicken Schweißperlen von der Stirn. Wenn Yilbert mit einem sprach, starrte einen sein linkes Auge an, während das rechte den Blick gegen seine eigene Nase wandern ließ. Sein Haaransatz hatte sich bis zur Mitte seines Schädels zurückgezogen, während die wenigen dünnen Haare ein Gemisch aus Schwarz und Silber darstellten. Er trug ein feines, oranges Gewand, mit grünen geschwungenen Linien verziert, und verströmte den fast schon penetranten Geruch exotischer Düfte, mit denen er sich stets auf dem wöchentlichen Markt eindeckte und anschließend einparfümierte.
Hernak war das genaue optische Gegenteil von Yilbert und setzte sich, wenn auch wohl unbewusst, dementsprechend an das andere Tischende. Er war muskulös und breit gebaut. Sein dunkles Haar war voll, schulterlang und sein dichter schwarzer Bart verbarg seinen Mund. Man konnte nie wirklich sagen, ob Hernak nun lächelte oder nicht. Wobei letzteres wohl wesentlich häufiger vorkam. Er war kein Mann großer Worte oder Emotionen. Sprach er etwas, so hielt er sich stets so kurz und knapp wie nur möglich. Dennoch war er der beste Ratgeber, dem Terek hier in der Hauptstadt zur Verfügung stand, wenn es denn zu einem bewaffneten Konflikt mit dem krysarischen König kommen sollte.
Der große Malto, der sich an der Tischseite gegenüber Terek und Quensy niedergelassen hatte, war hingegen ein rattengesichtiger Mann, den man auf den ersten Blick wesentlich älter einschätze, als er in Wirklichkeit war. Unter seinem schlichten, grauen Gewand, ragten zwei schmutzige Füße hervor, die in abgewetzten Sandalen steckten und an denen links einer, sowie rechts zwei Zehen fehlten. Dem Gemurmel zufolge hatte er seine Zehen einst als Wettschulden eingelöst, weil er, ohnehin ein Mann aus ärmlichen Verhältnissen, nicht genug Münzen besaß um seine Schuld zu begleichen.
Sein Haupthaar war ungleichmäßig und grob vom Kopf geschoren und unter einer unförmigen, ebenfalls grauen Kopfbedeckung aus Filz verborgen. Seine kleinen Augen funkelten beinahe gelb und unter seiner spitzen kleinen Nase ruhten zwei dünne Lippen, wie Striche in sein Gesicht gezeichnet, was ihm das besagte rattenartige Antlitz bescherte. Lächelte er, zeigten sich kleine, goldgelbe Zähne, die er durch sein ständiges Knirschen regelrecht abgewetzt hatte. Malto war ein Mann von niederer Geburt, was man, wenn man ihn nicht ansah, dann wenigstens an seinem fehlenden Zweitnamen bemerkte, was auch darauf hindeutete, dass er ein vaterloser Bastard war. Doch war Malto für Terek derzeit so wichtig wie kein Anderer.
Der, zumindest ihm gegenüber, sehr unterwürfig daherkommende kleine Mann, der alleine aufgrund seiner Körpergröße seinen Beinamen „der Große“ verpasst bekommen hatte, unterhielt Beziehungen in alle Städte des Kontinents und war dadurch bestens über sämtliche wichtigen Dinge informiert: Stimmungen in der Bevölkerung, Gerüchte, sowie natürlich vermeintliche Informationen über den mysteriösen, krysarischen König.
Er war es auch dem Terek die Information weitergab, dass immer weniger Namuner zur Mutter beteten und sich im Geheimen anderen Göttern zuwandten. Dass das Volk in diesen Zeiten größtenteils wieder mit seinem alten Sonnengott oder dem, einst im Götterkonflikt gepriesenen, einen Gott aus dem Westen liebäugelte, konnte Terek verstehen. Viele seiner Vorgänger hatten es unter Strafe gestellt anderen Göttern zu dienen, doch er war überzeugt davon, dass man mit Überzeugungskraft und gutem Willen mehr erreichen konnte, als mit Blut und Gewalt. Die Mutter überzeugt mit ihrer Barmherzigkeit und wird ihre Kinder wieder auf den rechten Weg führen, dachte sich der Hohepriester. Sie würde ihm zeigen, wie er dies für Sie forcieren konnte.
Wenn er diese Zuversicht doch auch in Bezug auf seine Brüder und Schwestern aus dem Norden hegen könnte.