1. Aus der Asche …
Die Augen der großen Schlange waren schon geraume Zeit in der Ferne verschwunden. Unter den Abgesandten der Nim breitete sich nichts als die endlose Nessaja Wüste aus. Kein einziges Sandkorn peitschte hoch in den Himmel. Es war, als ruhten alle Elemente der Erde und bereiteten sich auf die Wiedergeburt des Phönix vor. Langsam verdunkelte sich das Firmament über ihren Köpfen, die Sonnenfinsternis stand kurz vor ihrem letzten Schritt.
»Wir müssen uns beeilen«, mahnte einer der fünf.
Deutlich hörbar nahm der Flügelschlag jedes Einzelnen zu. Sie mussten den Feuervogel noch vor seinem Aufstieg erreichen.
»Ian!«, rief Finn, ihr Prinzipal, hinter sich und nahm den Genannten ins Auge, »Träumen kannst du, wenn wir wieder in Fabalgur sind, sonst können wir es gleich lassen. Du weißt, welchem Wesen wir unsere Botschaft überbringen müssen?«
»Ja, dem Hüter der Namenlosen Stadt oder Phönix, wie ihn die unwissenden Menschen nennen würden«, erwiderte Ian, der auf Augenhöhe zu ihm herabgeflogen war. Ihre Blicke berührten sich flüchtig. Finn, der Erstgeborene der Nim, Meister und Lehrer seines Volkes, war voller Sorge, in welche Zukunft sie steuerten. Was würde aus ihnen, den Wächtern allen Lebens werden, wenn der Phönix seine goldenen Strahlen nicht mehr über die Erde warf?
Vor der Höhle des wohl mächtigsten Wesens dieser Welt traten ihre Füße geräuschlos in den weichen sandigen Boden. Eine der zwei karg gekleideten Phönixwachen erwartete sie unweit des Felsdurchstiegs. Mit einer Handbewegung, die Eile gebot, deutete sie den Nims, rasch einzutreten.
Was für ein Wesen, durchfuhr es Ian bei dem Anblick des mit feurig glühenden Malen übersäten Wächters. Allein seine Statur sollte doch jeden ungebetenen Gast davon abhalten, einzutreten.
Biors Kräfte mussten unvorstellbar zerstörerisch sein, dass es ihm einst beinah gelungen war, das Crypt zu erreichen. Hätte er die Asche im Moment der Geburt des Feuervogels berührt, wäre der Phönix als schwarze Kreatur in die Lüfte aufgestiegen, um seine Stadt und alles Leben auf der Erde zu vernichten.
Ian strich sich die vom Wind zerzausten weißen Strähnen aus dem Gesicht und vermied es, als Erster an der Wache vorbeizugehen. Ob es Angst oder Respekt war, mochte er sich nicht eingestehen.
Mattes Licht begleitete sie über rissigen Boden, an dessen Ende sich zernarbte Wände in einer unüberschaubaren Höhle verloren.
Die zweite Phönixwache hier im Inneren war der vorherigen wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie stand inmitten des Raums und verbarg zum Teil etwas Steinernes hinter ihrem Rücken.
Die Abgesandten des ältesten Volks der Welt war keine Sekunde zu spät erschienen. Schrilles Kreischen kündete von der Wiedergeburt des Mächtigen. Ringsherum wirbelte Staub auf, obwohl man diesen zuvor nirgends in der Höhle liegen sehen hatte. Langsam erkannte Ian seinen Irrtum. Es war keineswegs gewöhnlicher Staub.
Der Wächter trat in jenem Moment zur Seite, in dem der Raum anfing, sich mit Licht zu füllen.
Das ist typisch für diese Welt, dachte Ian. Hinter der Phönixwache stand zu seiner Enttäuschung ein völlig normaler steinerner Brunnen. Dabei hatte er sich unter dem Crypt etwas Spezielleres vorgestellt. Selbst hier am Rande der Inneren Welt sahen alle Gebilde oder Orte, von denen bedeutsame Kräfte ausgingen, so gewöhnlich aus, dass Unwissende achtlos daran vorbeilaufen würden.
Das schrille Kreischen schwoll ab und zaghaftes Piepsen erfüllte die Geburtsstätte. Wie auf Kommando nahmen beide Wächter eine kämpferische Haltung ein, als müssten sie den Phönix vor den Abgesandten schützen. So hatte sich Ian seine erste Begegnung mit dem Feuervogel nicht vorgestellt.
»Zum Zeitpunkt seiner Geburt ist der Phönix besonders verletzbar«, erklärte Finn, »Kein Wesen, das mir bekannt wäre, könnte sich dem Crypt in diesem Moment nähern, ohne dafür mit dem Leben zu büßen. Die beiden Wächter erhalten unvorstellbare Kräfte, die zwar nur für wenige Sekunden andauern, jedoch ausreichen, um ein Heer unserer Art auszulöschen.«
Der piepsende kleine Feuervogel wuchs mit rasender Geschwindigkeit zu dem mächtigen Phönix heran. Das Ausbreiten seiner Schwingen wirbelte in der gesamten Höhle die Asche auf.
Finn erkannte, dass es an diesem Ort keine Chance gab, sein Begehren vorzutragen. Ebenso schnell wie der Feurige spreizte er seine weißen Flügel und war mit einem einzigen gigantischen Sprung zurück am Ausgang der Höhle.
Da Ian Finns Reaktion nicht verstehen konnte und ihm erstaunt hinterherblickte, entging ihm, was sich hinter seinem Rücken abspielte. Das Geräusch eines gewaltigen Flügelschlags, der glühende Funken in seinen Nacken trieb, ließ ihn im letzten Moment aus der Flugbahn des Phönix springen. Sonst wäre der Feuersturm des Vorbeirasenden das Letzte gewesen, was er in seinem Leben gesehen hätte.
Obwohl Finn einer von Wenigen besonderen Ursprungs war, ließen sich seine Kräfte nicht ansatzweise mit denen des Phönix messen. Er hatte den Höhlenausgang kaum verlassen, da schlug ihm das Feuer des Herrn der Welten in den Rücken.
»Du bist mutig«, zischte der Feuervogel den Prinzipal zynisch an, »Was in deinen Augen ist dermaßen unabdingbar, dich auf diese Weise in meinen Weg zu stürzen?«
Finn, der nach wenigen hundert Metern mit seinen Kräften kämpfen musste, antwortete atemlos: »Ich bitte dich, mir nur für einen Moment dein Gehör zu schenken.«
Der Phönix wirbelte mehrere Male um seine eigene Achse, als könne er Finn dadurch abschütteln. Dieser hatte aber mit keiner anderen Reaktion gerechnet. Er kannte die eitlen Mächte jener Welt. Geschickt entkam er dem Strudel, nur seinem alles verbrennenden Feuerschweif nicht. Wäre er nicht selbst eines dieser tausende Jahre alten Wesen, hätte es ihm wahrscheinlich mehr als nur die Flügel angesengt.
»Lass den Unsinn und hör mir zu!«, brüllte er zornerfüllt.
Aufkommendes Versagen schickte seine ersten Vorboten. Wenn ich jetzt scheitere, werden wir keine zweite Chance bekommen, wusste der weise Prinzipal und sammelte seine letzten Kräfte.
»Ist dir das Ende allen Lebens wahrhaftig so gleichgültig?«, rief er, seinen Flug beschleunigend, dem Übermächtigen hinterher, »Ja, selbst dein eigenes?«
Er hätte dem Phönix am liebsten einen Flügel ausgerissen, um ihn zum Zuhören zu bewegen. Doch endlich war er zu dem Feuervogel durchgedrungen, sodass er seinen Flügelschlag verlangsamen konnte.
»Warum sagst du nicht einfach, was du willst und verschwindest wieder?«, ließ sich der Beschützer der namenlosen Stadt dazu herab, ihm zu antworten, wobei ihm Flammen aus seinem Schnabel züngelten.
Welch Dankbarkeit, dachte Finn ernüchtert, holte aber schnell den Grund seiner Verfolgungsjagd ans Tageslicht, bevor es sich der Feuervogel anders überlegte.
»Hätten wir eine Kreatur namens Bior einst nicht daran gehindert, dein Crypt zu berühren, gäbe es weder deine Stadt noch dich heute mehr. Du wärst zu einem Lakaien des dunklen Herrschers geworden. Wir wissen beide sehr gut, was du dort oben in deiner Stadt beschützt. Du kennst die Prophezeiung und doch hast du bis zum heutigen Tag keinen aus den Reihen der Menschen ausgewählt.«
Seine Worte waren kaum verhallt, da setzte schon schallendes Gelächter seitens des Phönix ein. Dem Feuervogel traten fast die Augen aus dem Kopf, so weit riss er sie auf. »Was ist denn in den letzten tausend Jahren mit deinem Verstand geschehen? Was kümmert mich eine lächerliche Prophezeiung eurer Welt«, verhöhnte er ihn.
Finn sprach unbeirrt weiter: „Dann sind dir also die Veränderungen der Erde entgangen? Das Fehlen des Mondes? Der bevorstehende Untergang der gesamten Menschheit? Freilich, so etwas übersieht man schon mal in seinem tausendjährigen, gedanklichen Vor-sich-hin-Dösen.«
Als Antwort auf seine bissigen Worte erfasste ihn einer der Phönixflügel und schleuderte ihn hoch durch die Luft. Taumelnd rief Finn ihm hinterher: »Wir werden uns wiedersehen, dann wirst du eine schwarze Kreatur sein und zu deinen Füßen wird deine eigene, zerstörte Stadt liegen.«
Alles, was der Prinzipal darauf zu hören bekam, war: »Das werden wir sehen!« Dann explodierte die Luft und der Feuervogel war verschwunden.
Als Hüter des mächtigsten Relikts, das er in der namenlosen Stadt verbarg, hielt den Phönix nichts und niemand am Tag seiner Wiedergeburt davon ab, seinen Platz zwischen den Gestirnen wieder einzunehmen.
»Was würde nun werden?«, murmelte Finn resigniert vor sich her, »Seine verdammte Eitelkeit, über allem und jedem zu stehen!«
Mit erwartungsvollen Blicken empfingen ihn die zurückgelassenen vier am Eingang der Höhle. In den Augen jedes Einzelnen stand die Frage, ob Finn mit guten Neuigkeiten zurückgekehrt war. Doch dieser wich ihnen aus und suchte in den Weiten des Wüstensandes nach Antworten. Er, der große Anführer der Nims, war zum ersten Mal ratlos. Nie zuvor hatte so viel für sie alle auf dem Spiel gestanden.
Wenn sich die Prophezeiung bewahrheitete, und dies war in seinen Augen nur eine Frage der Zeit, würde der schwarze Phönix nicht nur seine Stadt, sondern mit ihr alles Leben im Universum vernichten.
»Nun sprich doch! Was hat der Feuervogel gesagt?«, brach Ian das Schweigen, »Wird er jemanden aus den Reihen der Menschen wählen?
»Ich weiß es nicht.« Finns Blick wanderte über die Hügelkette mit ihren vom feinen Wüstensand abgeschliffenen Kanten. An diesem unwirtlichen Ort verbarg sich nicht nur die Höhle des Crypts, sondern ihrer aller Zukunft.
Unbeabsichtigtes Kopfschütteln verriet seine Ratlosigkeit.
»Warum wusste ich diese Antwort bereits?«, hörte Finn Ian ernüchtert sagen und ging einen Schritt auf ihn zu.
»So darfst du aber nicht denken. Für jedes Problem gibt es eine Lösung, wenn man nur lang genug danach sucht.«
Ihre drei Begleiter waren einige Schritte zurückgetreten. Sie kannten die beiden zu gut und wussten, wie explosiv ihre Wortgefechte enden konnten.
»Vielleicht muss ich für den Moment das Schicksal der namenlosen Stadt wirklich aus meinen Händen geben«, überlegte Finn laut, »aber für das unserer Erde werde ich kämpfen! Den Phönix um Hilfe zu bitten, war nur eine Lösung von vielen.«
»Von vielen?«, wiederholte ihn Ian.
»Ja, von vielen! Was würdest du sagen, wenn mir auf Anhieb eine andere einfallen würde?«
»Ich ahne, was jetzt kommt. Du redest wieder von diesem knorrigen alten Stab. Tychon, richtig?« Es war unmöglich zu überhören, dass Ian nicht an dessen überirdische Kräfte glaubte. Es reizte den Prinzipal unbändig, wenn es den Jüngeren seines Volkes an Vertrauen fehlte. Ihre Welt war alles andere als nur schwarz oder weiß.
»Ja, genau«, erwiderte Finn betont und langsam, »Der knorrige Stab, wie du ihn bezeichnest, ist ebenso alt wie der Phönix. Sie wurden einst in dem gleichen Feuer erschaffen. Wenn die Zeit gekommen ist, wird er in den Händen des Einen die Welt der Menschen, nein sogar die unsere für immer verändern.«
Ian erkannte den Grat nicht, auf dem er wandelte, und forderte seinen Prinzipal ein weiteres Mal heraus: »Kann es sein, dass du dabei eine Kleinigkeit übersiehst? Ich erinnere dich nur ungern daran, dass der Stab bis zum heutigen Tag niemanden als würdig erachtete. Ich sage dir, du glaubst an ein Wunder, das sich niemals erfüllen wird.«
Finns Adern begannen in seinen Armen auf und ab zu tanzen. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Es fehlte nur noch genau ein einziges abwertendes Wort Ians. Doch jemand anderes hielt die Zeit für gekommen, dem Ungläubigen die Augen zu öffnen.
»Was ist das? Was geschieht mit mir?«, fuhr er Finn an, da er meinte, dieser wäre für das Gefrieren seines Blutes verantwortlich. Gerade pulsierte es noch durch seine Adern und in der nächsten Sekunde stieg steinerne Kälte von seinen Füßen auf. Er versuchte, sich dagegen zu erwehren, jedoch erfolglos. Etwas Mächtiges verwandelte ihn in eine Eissäule.
Finn blieb seine Lage keineswegs verborgen, doch Ian erntete von ihm nur schallendes Gelächter.
»Siehst du!«, sagte er mit schnippischem Klang in der Stimme, »Schon fesseln dich die Kräfte, die du gerade noch als Aberglauben verspottet hast.«
»Finn! Ich kann darüber nicht lachen!«, kam unter großer Anstrengung aus Ians fast vereistem Mund.
»Mich trifft keinerlei Schuld an deiner misslichen Lage«, verteidigte er sich, »dies verdankst du deinen eigenen Worten und jener zauberhaft jungen Frau in deinem Rücken. Wäre ich jetzt an deiner Stelle, würde ich erst zweimal nachdenken, bevor ich noch einmal den Mund öffne. Wer weiß, was sie sonst noch alles mit dir anstellt. Celestra«
Finns Lippen formten leise ihren Namen. Seine Augen waren gefüllt mit dem Glanz der Freude. Er stob mit wenigen Flügelschlägen zu dem, wie aus dem Nichts aufgetauchten, engelsgleichen Geschöpf. Mit ihrer grazilen Statur und elfenbeinfarbenen Haut sah sie aus, wie aus der Hand eines Bildhauers erschaffen, der in ihrem Gesicht zwei Polarkristalle verewigte, deren Blick die Seele des Betrachteten in die Hände nahm. »Deine Künste entzücken mich immer wieder«, flüsterte er. Ihre Blicke berührten sich auf vertraute Art.
»Ich konnte doch nicht mit ansehen, wie du ihm den Kopf abreißt«, scherzte sie. Dabei wusste sie doch, dass den schlafenden Drachen in Finn so schnell nichts weckte.
Als sie sich zu ihm herüberbeugte, berührte ihr fallendes, vom Licht der Sonne gesponnenes Haar streichelnd sein Gesicht und ihre Lippen seine Wange: »Auch wenn der Anlass nicht der wünschenswerteste ist, freue ich mich, dich wiederzusehen.« Ihre Finger fuhren suchend zu dem Muttermal unter seinem linken Ohr. Noch immer erkannte sie darin nur das spiegelverkehrte F.
Finns Hände glitten zu den ihren. Er zeichnete den Verlauf ihrer türkisblauen Handflächenornamente nach und flüsterte: »Nun sei so lieb und befreie den Armen aus seinem eisigen Gefängnis.«
Der Blick ihrer eisblauen Augen fiel über seine Schulter zu dem beinah Vergessenen.
Sie setzten sich in Bewegung, und nachdem sie um ihn herumgegangen waren, sagte sie freundlich aber bestimmt: »Sei mir gegrüßt, Ian! Ich bin ein wenig traurig, dass gerade ein Wächter aus dem Volk der Nims den Geschichten einer anderen Zeit keinen Glauben schenkt. Muss ich jetzt annehmen, dass du denen, welche man sich über die Zeitwächterin erzählt, ebenso wenig beimisst?« Sie vermied dabei nicht, ihn mit ihren funkelnden Augen zu verführen.
Ian, der noch immer in seiner Eisesstarre gefangen war, brachte kaum ein klares Wort der Antwort über seine Lippen. Deshalb sprach sie weiter: »Ihr Name ist Celestra, falls du es vergessen hast oder vielleicht noch gar nicht wusstest. Und wenn du möchtest, darfst du mich ruhig bei diesem, meinem, Namen ansprechen.«
Sie fuhr mit ihren Fingern sanft über seine Wange, was seinen Käfig aus Eis zum Schmelzen brachte. Doch Ian traute dem Frieden nicht. Er verharrte weiter, als sei er noch immer in seinem Körper gefangen. Einzig seine Augen folgten jedem ihrer Schritte, als sie sich von ihm abwandte, um den restlichen Nims zur Begrüßung die Hand zu reichen, und er dachte: Was für eine Venus, behielt es aber für sich.
»Aus welchem Grund sollte ich dir für ein Kompliment den Kopf abreißen?« Ihr Kopf fuhr herum. Ihre Augen trafen direkt in die seinen.
Verflucht, dachte er, nicht nur dass sie mich wie eine Marionette benutzt, sie liest auch noch meine Gedanken.
Ian hatte vollkommen recht mit seinem Verdacht. Als Wächterin der Zeit behielt sie nicht nur die Vergangenheit und die Zukunft fest im Auge, sie erkannte zudem, was in dem Kopf ihres Gegenübers vor sich ging.
Verschmitzt leuchteten ihre Augen auf.
Tief durchatmen, sagte er sich, das nimmt kein gutes Ende. Schließlich ließen sich seine Gedanken bei ihrem Anblick kaum noch im Zaum halten. Achte nur auf ihr Geschmeide, befahl er sich vergebens. Ihre Halsketten fielen zu tief ins Dekolleté. Der Einzige, der sich darüber die ganze Zeit köstlich amüsierte, war Finn. Er kannte den magischen Zauber der Zeitwächterin, aus dem es für niemanden ein Entrinnen gab. Dem ein Ende zu bereiten, trat er zwischen die beiden und sagte: »Du hast ihn nun lange genug betört.«
Er legte seinen Arm um ihre Schulter und zog sie mit sich. »Jetzt komm. Sei so lieb und verrate mir den Anlass deines Besuches. Der kleine Disput zwischen Ian und mir kann unmöglich der Grund gewesen sein.«
Besorgt gewahrte er ihren sich unheilvoll trübenden Gesichtsausdruck. Unvermittelt nahm sie seinen Arm von ihrer Schulter, als ob er eine Last wäre, frei zu sprechen. Sie sah in der kleinen Runde von einem zum nächsten, dann wieder zu Finn und verlor dabei vollends den Zauber in ihrem Blick.
»Ich habe IHN gefunden!«
Ihre Worte trafen ihn wie ein Schlag. Er sah sie zwar an, doch sein Blick fuhr durch sie hindurch, als stünde er vor einem Geist.
»Wie meinst du, du hast ihn gefunden? Wo hast du ihn gefunden? Nein, ich will es gar nicht wissen. Wie alt mag er sein? Fünfzehn, vielleicht sechzehn Jahre? Es ist viel zu früh für ihn! Er könnte es nicht mit einem von Biors Schattenkriegern aufnehmen, geschweige seinem ganzen Heer! Die halbe Welt wird ihn jagen, sobald er den Fuß vor seine Tür setzt.« Sein verzweifelter Wortschwall brach ab. Seine Begleiter starrten erst ihn, dann sie fragend an. Sie verstanden nicht eines ihrer Worte und ahnten nicht die schwerwiegende Bedeutung darin.
»Ja, er ist sechzehn«, antwortete sie auf sein Fragen, »und wenn uns nicht bald einfällt, wie wir ihn vor Bior beschützen wollen, wird es für uns alle kein Morgen mehr geben.«
Mit ihren Worten hatte sie keineswegs übertrieben. Sie brauchten sich ihre Erde nur anzuschauen, um zu wissen, dass es keinen weiteren Versuch geben würde. Alles war unumstößlich an das Schicksal des Auserwählten gebunden. Träfe er auch nur eine einzige unüberlegte Entscheidung, fiele die Erde unwiederbringlich in die Hände des dunklen Herrschers.
Jetzt, wo sie den Einen gefunden hatte, begann das Rennen um die Prophezeiung, die wie das Schwert des Damokles über allem Leben des Planeten schwebte.
Wenn sie ihm wenigstens sagen dürften, was er falsch oder richtig anging. Aber nein, seinen Weg, seine Geschichte, musste er frei von fremden Entscheidungen finden. Niemand, nicht einmal sie, die ihn beschützen wollten, durften sich ihm zu erkennen geben und schon gar nicht in den Weg stellen.
Erst der Phönix, jetzt der Auserwählte. Was kommt als Nächstes?, hämmerte es auf Finn ein. Ihm fehlte der Raum zum Durchatmen, um nachdenken zu können.
Sich Ian zudrehend befahl er daher: »Ihr werdet ohne mich zurückkehren. Was ich Celestra zu sagen habe, muss unter vier Augen bleiben, wie jedes soeben gefallene Wort diese Runde niemals verlässt.« Seine Blicke wanderten zu jedem Einzelnen und bedeuteten unmissverständlich, sich an seine Weisung zu halten.
Wieder war es Ian, der vorpreschte. Er wollte sich nicht mit einer Handbewegung des Abschiebens abfinden.
»Findest du nicht, dass auch wir mehr über IHN erfahren sollten?«, fragte er zu ihrer aller Verwunderung.
Nach einer Sekunde des wahren Abwägens bekam er seine Antwort: »Nein, Ian, selbst wenn ich es wollte, könnte es für uns alle das Ende bedeuten. Nicht hier, nicht solang ich selber keine Antworten auf die Fragen in meinem Kopf gefunden habe. Bitte akzeptiert diese Entscheidung und kehrt zurück.«
Ian sah von Finns Augen herab zum Boden, dann noch einmal hinüber zum Eingang der Phönixhöhle und schwang sich mit seinen drei Begleitern in die Lüfte.
Erst als sie unter vier Augen waren, fiel Celestras Blick wieder auf den großen Anführer der Nims und nahm seine, ihnen nacheilenden Gedanken, zum Thema ihrer Unterhaltung. »Es freut mich zu sehen, dass du nach so vielen Jahrtausenden deine Wahl getroffen hast.« Sie ergriff seine Hand. »Also mir gefällt dieser Ian sehr. Er hat Charakter. Er wirft nicht einfach das Handtuch, nur weil es irgendjemand von ihm verlangt. Ich fand in seinen Worten auch nichts Rebellierendes. Er sucht nur aufrichtige Wege, sich einzubringen.«
Ihn bei seinem Suchen nach einer Antwort musternd, fragte sie nach wenigen Augenblicken: »Du hast sie doch schon getroffen, oder?«
»Ich wünschte, ich wüsste es«, sprach er gedankenversunken. Sie umschlang ihn erneut, strich ihm zärtlich über die Wange und maß dabei sein helles Haar, das fast ebenso lang wie das ihre war.
»Ach, nun komm! Was hilft es dir, ihn immer an der langen Leine wie ein Pferd zu führen? Reich ihm schon deine Hand! Ich hab sofort gesehen, wie dein Umgang mit ihm ist.« Celestra schmiegte ihren Kopf sanft an seine Schulter. »Vergiss nicht, deine Gedanken sind vielleicht vor ihm sicher, aber nicht vor mir. Lass ihn sich beweisen! Was ist, wenn einem von uns beiden etwas zustößt? Du weißt, dass wir bisher verdammtes Glück hatten, dass Biors Schattenkrieger den Auserwählten nicht in dem verriegelten Teil Andralons vermuteten. Und gerade dort könnte ich jetzt jemanden wie diesen Ian gut gebrauchen.«
In Medina also, verbarg sich all die Jahre der Auserwählte, sann Finn nach. »Wie stellst du dir das vor? In den vom Senat streng kontrollierten Teil der Stadt spaziert man nicht einfach hinein, ohne Aufmerksamkeit zu erwecken! Außerdem bringt jeder Eingriff unsererseits die Erde ein weiteres Stück dem Rand des Abgrundes näher.«
»Ich weiß, ich weiß«, beschwichtigte sie, »Deswegen müsste ich Ian bis hin zum Beginn der Stromausfälle Andralons schicken.«
»Nein, Celestra!« Finn schüttelte energisch den Kopf. »Du vergisst, dass Bior ganz sicher seine Finger im Spiel hatte, als die Stadtteile in der Finsternis versanken. Niemand weiß, ob sich seine Handlanger noch immer dort aufhalten. Sie würden einen Vertreter meines Volkes womöglich aufspüren.«
»Ich sagte nicht, dass er allein gehen wird. Ich werde ihn begleiten. So kann er sich unter meinem Schutz in die Reihen des Senats eingliedern, als sich dieser gründete.«
Einen Moment lang herrschte Stille zwischen den beiden. Finn musterte sie und fragte sich, was sie ihm verschwieg. Seine Hände berührten die ihren. Er suchte in der aufkommenden Unruhe ihre eisblauen Augen. Viel zu spät erkannte sie, dass er bereits nach ihrem Geheimnis forschte. Ihren Blick von ihm losreißend, versuchte sie auszuweichen, doch er packte ihren Arm.
»Was versuchst du, vor mir zu verbergen?« Besorgnis schwang in seiner Stimme.
Wortlos fing ihr ganzer Körper an, zu beben. Mit einem Ruck riss sie sich von ihm los. Leise, mit einer Verzweiflung, die ihm durch Mark und Bein fuhr, schluchzte sie: »Was hilft mir all der Zauber, wenn ich nicht beschützen darf, was mir das Liebste auf der Welt sein wird?«
»Wovon sprichst du?« Sacht strich er eine Strähne aus ihrem abgewandten Gesicht. »Ich kann dir nicht folgen!«
Ohne ihm zu antworten, stürzte sie sich schluchzend in seine Arme. »Ach, Finn, manchmal wünsche ich mir, nur ein gewöhnlicher Mensch zu sein.«
Das willst du doch gar nicht mein Kind, dachte er.
»Warum erzählst du mir nicht, was dich bedrückt? Ich bin mir sicher, wir finden gemeinsam eine Lösung.«
Die Geborgenheit in seinen Armen ließ sie wieder zu sich finden.
»Finn!«, fing sie an und sah ihm verzweifelt in die Augen, »Ich werde mich in einen Menschen verlieben!«
Er hatte ja mit allem gerechnet, nur nicht damit. Für Sekunden kehrte Stille zwischen beiden ein. Um sie herum war alles ausgeblendet. Tief einatmend durchbrach Celestra das gespenstig anmutende Schweigen: »Weder du noch ich werden ihn retten können. Ich habe gesehen, wie sich seine Augen für immer in meinen Armen schließen werden.«
Er verstand sie immer weniger. »Warum verhinderst du es dann nicht? Du bist die Zeitwächterin! Wer könnte dir verbieten, deine Kräfte für deine Liebe einzusetzen?«
Aufgewühlt an ihrem silberfarbenen Gewand herumspielend, sah sie zu Boden.
»Glaube mir, ich würde es tun. Doch ich müsste dafür IHN töten!«
»IHN«, wiederholte Finn Celestra Worte mit verstörter Miene. Langsam begriff er, was sie die ganze Zeit zu sagen suchte. Sie musste zwischen ihrer Liebe und dem Ende der Welt wählen. Er löste sich aus ihrer Umarmung und hob seine Stimme eindringlich: »Dann darfst du es nicht zulassen! Geh diesem Menschen aus dem Weg! Meide ihn!«
»Wenn das so einfach wäre«, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme, »Ich glaube aber kaum, dass gerade ich dir das erzählen muss!«
Es war keine Absicht, doch ihre Worte rissen alte Wunden in ihm auf.
Gefühlsklangverloren antwortete Finn mit zugeschnürter Kehle: »Ja, ich weiß. So trage die Zeit auf Händen, die euch gegeben ist. Verschenke keine Sekunde. Zeige ihm jeden Tag, dass dein Herz bis zum letzten Schlag nur ihm gehört.«
Eiskalt fuhren seine Worte unter ihre Haut und spiegelten seine Vergangenheit wider.
Zum ersten Mal ließ er sie ein Stück weit in sich hinein blicken und trug seinen Herzensschmerz offen im Gesicht. Sie rückte nah an ihn heran und schlang ihre Arme um seine Brust.
Seine Gedanken flogen hin zu jener, die ihm mehr als sein eigenes Leben bedeutet hatte. Unser Kind kommt ganz nach dir, meine liebe Hanna. Sie trägt dein gütiges Herz in ihrer Brust. Er strich sanft über Celestras Hand und dachte an jenen Tag, als ihm Hanna ihren kleinen Engel in die Arme legte, Celestras kleine Fingerchen nach seinem Daumen griffen und ihr Lächeln sein Herz eroberte.
Tränen der Erinnerung trübten seinen Blick.
Erst da erkannte Celestra, welchen Schmerz sie in ihrem Vater geweckt hatte. »Warum hast du nie was gesagt? Ich hätte dir doch zugehört, wäre für dich da gewesen!«
»Was hätte ich dir erzählen sollen, mein Kind?« Er sah sie, die Tränen nicht verbergend, an. »Dir für alles die Schuld geben? Nein, Celestra, selbst unseren Kräften werden Grenzen aufgezeigt, die wir zu akzeptieren haben. Deine Mutter und ich hatten eine traumhafte Zeit, und sie wusste, dass es auf dieser Welt nur eine Zeitwächterin geben konnte. Doch ihr Wunsch, ein eigenes Kind in den Armen zu halten, wog schwerer, als ihre Liebe zu mir. Denk jetzt bitte nicht falsch über meine Worte. Du warst und bist immer unser größtes Glück auf Erden.«
Finn umarmte seine Tochter und in Gedanken seine Hanna. Er wünschte sich, diese Zeit noch einmal erleben zu dürfen. Ein sanfter Kuss, eine flüchtige Berührung, dann verschwand Celestra, wie sie gekommen war.