Reim dich oder ich fress dich... [Kurzgeschichten]

Es gibt 24 Antworten in diesem Thema, welches 6.932 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (21. April 2019 um 10:43) ist von Dirk.

  • Da ich gelegentlich zu viele Ideen in meinem Kopf habe, muss ich manche in Form von kurzen Gedichten oder Geschichten hinauswerfen, um wieder Platz zu schaffen. Ich mag das Doppeldeutige, Wortspiele, den Leser auf eine falsche Fährte führen, die Gedankengänge zu entblößen.
    Ich werde diesen Thread also im Laufe der Zeit mit kurzen geistigen Ergüssen befüllen.

    Und ich fange gleich mal damit an:

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    Ich liebe dich nicht


    Ich liebe dich nicht.
    Und du weißt es nicht, merkst es nicht. Bist gefangen in deiner eigenen Welt.
    „Hör auf“, sagen meine Kollegen.
    Sie sagt nichts.
    „Es hat keinen Sinn“, sagen sie.
    Ich liebe dich nicht.
    Die Fotos auf dem Tisch, all diese Erinnerungen.
    Frische Blumen. Von mir, heute. Du siehst sie nicht.
    Ich sehe dich, weine innerlich, zerreiße.
    Ich liebe dich nicht, kann es nicht.
    Ich zerreiße.
    Ich liebe dich nicht!
    Denn du bist mein Komapatient.

  • Lebendig begraben


    Ich hasse Würmer. Ich finde sie eklig.
    Immerhin ist es dunkel, wenngleich auch muffig.
    Etwas treibt mich an. Ich muss hier raus.
    Ich brauche etwas… ich habe Hunger.
    Erde. Noch mehr Erde, über mir, jetzt unter mir.
    Mehr Erde. Ich – uäh, noch ein Wurm!
    Ich sehe Licht. Ein Sonnenstrahl, wie es brennt!
    …jetzt. Jetzt bin ich draußen, streife die Erde ab, richte mich auf… höher…
    …da! Es sind noch andere. Neben mir, hinter mir. Ich spüre sie unter mir.
    Sie drängen gen Himmel, so viele!
    Ich muss – ich muss…

    „Aaaah!“, schrie sie und wachte auf. Hektisch blickte sie sich um.
    „…puh! … ich hasse es, von meiner Kindheit zu träumen…“, seufzte die Tomatenpflanze genervt.

  • Berufsrisiko


    Wer langsam ist, der bleibe steh'n.
    Wer schnell ist, sollte sich beeilen.
    Schon kann ich die Lichter sehen!
    Es fehlt die Zeit, hier zu verweilen.
    Da kommt er, rast und stinkt und schreit
    gerade dort, wo keiner steht.
    Der Zug ist fort, fern, ferner, weit –
    Die Klasse sammelt sich und geht.

  • Königin

    Sie ist größer als der Raum, in welchem sie steht.
    Mir scheint, sie überragt gar den Turm.
    Königlich betrachtet sie den Wortverkünder, wird als schmückendes Beiwerk schlicht wahrgenommen.
    Dabei vermag nur sie die vollkommene Ehrerbietung, vorurteilslos, künstlerisch vollendet, ein Meisterwerk menschlicher Wahrnehmung und Gabe.
    Musik ist sie.

    Spoiler anzeigen

    Die Orgel.

  • Wer bin ich?


    Ich bin doch kein Lügner! Ich schätze die Wahrheit.
    Ich bin kein Chaot, denn ich brauche viel Klarheit.
    Kein Gentleman bin ich, sitz‘ meistens als Erster.
    Ich pflanz‘ keine Bäume, bin somit kein Förster.

    Ich bin auch kein Dichter, mir fehlen die Worte.
    Konsumpessimist? Nein, ich sammle und horte.
    War nie ein Entdecker, ich mag das Gewohnte.
    War nie Altruist, weil es sich niemals lohnte.

    Ich bin kein Normalo, bin außergewöhnlich.
    Ein Streithammel? Nein, ich bin eher versöhnlich.
    Ich bin auch kein Neider, bin eher genügsam,
    auch kein Revoluzzer, stattdessen oft fügsam.

    Wer ich bin, das fragt ihr? Ich kann es nicht sagen
    Doch solltet ihr selbst euch dies auch einmal fragen.

    Spoiler anzeigen

    Wen es interessiert: Das Gedicht ist ein vierhebiger Amphibrachys. (Betonungen auf 2, 5, 8 und 11)

  • Spoiler anzeigen

    Seit ich das Referendariat erlebt habe, ist mir Stück für Stück die Freude am Klavierspielen verloren gegangen. Das Klavier wurde Teil des Arbeitsplatzes. Es gab Zeiten, als ich problemlos zwei Stunden mit verschiedensten, auswendig vorgetragenen Werken füllen konnte. An diese Zeit zurückdenkend schrieb ich diese Zeilen.


    Auswendig

    Wenn ich auswendig spiele, sehe ich keine Tasten. Ich denke nicht an Noten.
    Was meine Finger über die Klaviatur lenkt, ist eine Vorahnung.
    Kommende Akkorde und Griffe sehe ich im Geiste – und greife sie.
    Mir erscheinen die folgenden Läufe – und ich beschreite sie.
    „Wie kannst du dir das alles merken?“, werde ich gefragt.
    Ich kann es nicht lehren, ich tue es.
    Doch auch das Unterbewusste will gebraucht sein
    und so bemerke ich, wie mich die Werke dieses Jahr verlassen haben.
    Einige sind geblieben. Jene, deren Wahrheit meinem Wesen entsprach.
    Doch ich trauere nicht um all die anderen, denn sie werden zu mir zurückfinden,
    sobald ich bereit dazu bin.
    Sobald mich die Tasten nicht mehr anstarren.

  • Das Schreiben

    Ich sehe die Wand vor mir und zähle die kleinen Erhebungen auf dem unebenen Putz. Worte kreisen über mir, fallen auf die Tastatur und wollen mehr sein, allein die Konzentration kann ich nicht aufbringen. Etwas Tiefgreifendes müsste es sein. Neue Gedanken drängen ans Licht, werden jedoch vom Schwelgen in alten Geschichten gedämpft und schließlich ersetzt. Das war doch mal eine Idee gewesen, damals… Der Schrank neben dem Tisch ist ganz staubig. Aber gut, ich wollte ja… hm, etwas Aufregendes müsste ich doch hinbekommen, ja. Aber wie fange ich an? Einen Helden sollte ich mir wohl überlegen, aber eigentlich fängt quasi jede Geschichte mit einem Helden an… irgendwie auch langweilig... hm, etwas Aufregendes… Ein markanter Bösewicht ist auch schwierig. Wie hieß mein letzter gleich noch? Ach… diese eine Stelle mit den vielen kleinen Erhebungen da an der Wand… vielleicht sollte ich doch erstmal den Staublappen holen… Nein, ich muss… ich sollte etwas Ungewöhnliches schreiben, ja. Womit niemand rechnet. Das könnte es sein… Hm, womit rechnet denn niemand…? Vielleicht eine leere Geschichte? Wahrscheinlich zu avantgardistisch… das nimmt keiner ernst… Jetzt wackelt der Tisch wieder. Da war doch ein Stück Pappe drunter, oder? Ich sollte… hm… etwas Unerwartetes? Ich brauche nur einen Anfang, eine Idee, dann kommt der Rest bestimmt von allein. Also etwas Unerwartetes. Ein Todesfall…? Sowas gibt es ständig in der Literatur, fast so oft wie die Liebe. Hm, vielleicht über einen gealterten Barden, ja… aber da muss ich mir wirklich viel einfallen lassen. So ein Barde hat viel zu erzählen… der Putz in der Ecke bröckelt ja schon, da müsste ich mal… hm.
    Oh, schon fast elf… na, morgen ist auch noch ein Tag.

  • @bigbadwolf Ah ja, die ewige Suche nach der Grundidee bzw. den Grundideen. Dafür brauche ich auch oft länger, als für die Kurzgeschichte oder das Gedicht, das dann draus wird. ^^ Das Ende klingt etwas, als würde da jemand aufgeben, es vor sich herschieben. Aber lässt sich dieser nun wirklich rein kreative Akt des Findens einer Idee erzwingen? Sicher, wenn man die mal hat, ist es auch eine Frage von Fleiß... Du siehst, du hast mich da nachdenklich gestimmt. Und immer diese Blicke an die Wand, Bernds berühmte Liebe zur Rauphasertapete... :D Also ich fühle da mit dem Prota wirklich mit. Gerade die Ablenkungen, die er sucht. Will plötzlich putzen und verputzen und so - das bin so ich! ^^

  • Der Geizhals

    Hinter eines Baumes Rinde
    steigen auf die Fäulniswinde.
    Innen hohl war diese Eiche,
    nur bewohnt von einer Leiche.

    Eingehüllt in Purpurseide,
    wehrhaft durch Stilett samt Scheide,
    magisch und besetzt mit kleinen,
    ziemlich teuren Edelsteinen.

    Hier wird ihn wohl keiner finden,
    Hab und Gut ihm zu entwinden.
    Selig sind, die einsam sterben.
    Ohne Tränen.
    Und ohne Erben.

  • Gefahren

    Alltagsmüde vom Berufe und mit Kaffee in der Hand,
    Telefon im Schoße liegend, wiegend von Musik beschallt,
    bieg ich um die nächste Kurve eher ruckend als galant.
    Selbe Straße, gleiche Menschen, nichts ist neu, doch alles alt.

    Dort am Rand im Lindenschatten überquert den Weg ein Mann.
    Ignorier das Weiß zu lange, seh es nicht, obwohl ich's will.
    Krachend schlägt er durch die Scheibe, starrt mich blutend staunend an.
    In den Augen leere Klarheit bricht sein Blick und es wird still.

  • @bigbadwolf

    Also ... 8|

    Okay, ich seh ein: DER Thread braucht definitv meinen Abo-Haken ... wow.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • Kriegsmüde

    Taub von dunklen Schwaden reißen unbeseelt die Himmel auf,
    pulverstarr gerinnt die Luft, die Lungen nehmen es in Kauf.
    Dicht gedrängt wie kranke Ratten in der Kanalisation,
    halb verhungert, nur Patronen gelten hier noch als Ration.

    Über allem Tosen breitet Stille ihre Schwingen aus,
    lädt die Seelen ein zur Ruhe über diese Welt hinaus.
    Er betrachtet, was erschaffen und bedeckt sein Angesicht,
    weil den Willen er gegeben und ihn brechen kann er nicht.

  • @bigbadwolf

    Super Bilder, die du hier bringst, trotzdem, bedrückend ... :huh:
    Wer ist "er"? :hmm:

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • @Tariq Naja, wer hat denn den Menschen den eigenen Willen gegeben? Der Gegensatz vom Himmel über der Hölle auf Erden fiel mir erst beim Schreiben ein, aber ich denke, es passt ganz gut zusammen.

    Das Gedicht hab ich vorhin geschrieben, während ich mit Freunden eine eindrucksvolle Historienserie über den deutsch-dänischen Krieg von 1864 gesehen habe.

  • @bigbadwolf

    Das wollte ich hören. :D

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • @bigbadwolf: Wow, bin gerade über deine Gedichte hier gestolpert und muss sagen: Hut ab!

    Der Geizhals: Hammer, irgendwie ironisch und bitter, aber auch stark.
    Gefahren: Ich hoffe einfach mal, dass es mehr einer Möglichkeit als einem realen Ereignis deinerseits geschuldet ist. Ansonsten auch richtig gut.
    Kriegsmüde: Gefällt mir fast am Besten, nur verstehe ich die erste Zeile nicht so richtig. :hmm: Ach doch, jetzt. Aber das hat gedauert. Ok, keine Einwände, super Gedicht, sehr stimmungsvoll und intensiv. Gefällt mir!

    „Alice, man darf sein Leben nicht nach anderen richten. Du allein musst die Entscheidung fällen.“ [Alice im Wunderland]

  • oHuG

    Zusammengepfercht, getötet und schlimmer
    liegen wir hier nun begraben für immer.
    Die gelbliche Flüssigkeit wird langsam schmierig,
    Geruch und Beengtheit gestalten sich schwierig.
    Ich schwamm früher flink durch die größten Gewässer,
    doch war ich zu langsam, das weiß ich heut besser.
    Ein Rütteln und Knacken bricht ab die Gedanken,
    das dunkle Gefängnis gerät gar ins Wanken…
    da plötzlich ein Lichtstrahl! Ein Riese, der schaut,
    sieht gierig uns liegen: ohne Gräten.
    Und ohne Haut.