»Nur noch wenige Meter«, flüsterte die dunkle Gestalt, die bei Nacht durch Busch und Hecken schlich.
»Warte, wir sollten noch mal darüber reden«
»Da gibts nichts, worüber wir reden müssen!«
Mit festem Griff packte Rendor Salzeran seine Schwester Ann-Selza an der Schulter, und zwang sie anzuhalten. Ihm war gar nicht wohl bei dem, was das Geschwisterpaar vorhatte. Zweifel plagten den jungen Buschen schon lange. Sie traten gerade jetzt an die Oberfläche.
»Wir werden ihn töten. Nicht wahr?«, wollte Rendor wissen, obgleich er die Antwort längst kannte.
»Der Preis wurde bezahlt«, erinnerte Ann-Selza, »Ein Leben wurde ihm versprochen. Du kennst die Regeln unseres Herren. Wir müssen die Schuld begleichen.«
»Ich weiß, ich weiß«
Je näher die Geschwister dem Ziel waren, umso langsamer wurden Rendor’s Schritte. Er schien unsicher, blickte immer wieder auf den weißen Schnee, der das weite Land bedeckte. Die Kälte ließ kaum eine Chance, einen Geruch wahrzunehmen und so mussten sich die Geschwister, die nicht sehr groß gebaut waren, auf ihr Gehör und die Augen verlassen.
»Vielleicht solltest du es tun. Du warst in solchen Sachen schon immer besser als ich«
»Jetzt hab dich nicht so. Wir wissen beide, wie es geht. Wir haben es trainiert, immer und immer wieder. Wir sind geübt. Es gibt keinen Grund, warum es schief gehen sollte?«
»Doch, den gibt es«, warf Rendor ein, »Den gibt es wirklich.«
»Dann erklär es mir!«
»Ich kann es nicht. Das weißt du.«
»Du solltest aufhören, über deine dummen Visionen nachzudenken. Sie Hefen dir nicht weiter, sie verunsichern dich höchstens!«
Vorsichtig legte Ann-Selza ihre Hand auf seine Schulter, nachdem sie sich aus seinem Griff gelöst hat. Die Wärme ihrer Hand sollte zwar keine Wunder bewirken, würden ihn aber durchaus beruhigen. Das tat ihre Hand immer, ganz besonders dann, wenn sie gewisse Partien zwischen seinen Schenkeln berührte. Es war kein guter Zeitpunkt an die Gefühle zu denken, die entstanden, wenn beide eine Zeit lang das Bett teilten, doch wie auf Befehl zwang etwas sie genau in diesen Moment daran zu denken.
»Sonst denkst du nie an so was«, stellte Rendor fest.
»Was?«, fragte Ann-Selza verwirrt.
»Ich kann’s in deinen Augen sehen. Ich konnte gewisse Dinge schon immer in deinen Augen sehen.«
Erschrocken ließ Ann-Selza ihre Hand zurückgleiten. Obgleich sie um seine Talente wusste, schien es ihr in diesen Moment nicht richtig zu sein, an diese Dinge zu denken. Es jagte ihr Angst ein und Angst konnte der größte Feind eines Assassine wie ihr sein. Sie musste die Gedanken verdrängen und sich auf ihre Arbeit fokussieren. Sie wich von ihrem Bruder zurück, als sei er in diesem Moment der Feind, den sie fürchten müsse und sie wusste nicht, ob ihre Ängste begründet waren oder nicht.
»Der Preis wurde bezahlt«, erinnerte eine Stimme, die in diesem Moment in ihre Gedanken eindrang. Die Umgebung verschwand im Nebel. Schatten ersetzten den Schnee und Unschärfe wurde zu einem prägnanten Teil ihrer Erinnerung. Sie konnte sich einfach nicht an Details erinnern. Nur die Stimme ihres Meisters, der seit Dekaden die Heilligen Hallen von Khos’Borus leitete, drang in ihr Bewusstsein ein.
»Du kennst unseren Orden. Der Orden Khos dient dem einen Gott Borus seit Menschengedenken. Ein Leben wurde ihm versprochen und ein Leben wirst du ihm bringen.«
»Wessen leben soll ich ihn bringen?«
»Borus Taks«
Wie in Trance machte sich Ann-Selza auf den Weg, ihre Aufgabe zu erfüllen. Borus Taks musste sterben. Das war die Aufgabe, für die sie trainiert wurde, auf die sie ihr Leben lang vorbereitet wurde. Die Halle, mit den großen Säulen, an denen Tausend Gesichter im Stein gemeißelt ruhten, verschwand und der Schnee um sie herum begann wieder zunehmend Wirklichkeit zu werden.
»Ann-Selza!«, flüsterte jemand ihren Namen.
»Ann-Selza, bist du okay?«
»Ich habe da eine Frage, Meister«, murmelte Ann-Selza, da sie sich noch in der Halle verweilend sah, »Wer ist dieser Borus Taks und warum muss er sterben, Meister?«
»Ann-Selza! Hilf mir! Hilf Mi bitte!«, schrie Rendor plötzlich los. Es folgte ein lautes Brüllen. Der Aufschrei ihres Bruders ließ sie aus der Trance erwachen, doch es war zu spät! Ann-Selza sah ihren Bruder schreiend über den Boden schweben, eine Hand packte ihm am Hals und drückte ihn die Kehle zu. Die Krallen der Bestie waren scharf und durchdrangen mühelos die Halsschlagader. Das Blut spritzte aus dem Hals und verteilten sich im weißen Schnee. Die Bestie hatte wenig Mühe den Burschen zu erlegen. Wie ein Stück Fleisch warf sie den Toten von sich weg, hinein in den Wald und wandte sich ihr zu. Schritt um Schritt, kam die Gestalt näher. Die leuchtenden Augen suchten Ann-Selzas Blick regelrecht, um ihn zu durchbohren. Ihr stockte de Atem, sie wich zurück, Meter um Meter, bis ein Baum im Rücken sie stoppte.
»Ich erkenne dich«, hechelte Ann-Selza, »Ich habe dein Abbild in der großen Halle gesehen. Du bist Borus Bruder. Du bist ein Halbgott ... wenn nicht ... gar ein ... Gott.«
Sie krallte sich mit den Fingernägeln in der Baumrinde fest. Ihr Herz schlug so schnell und laut, wie die Trommeln. Ihr Blut kochte und das Herz konnte jeden Moment wahrlich aus ihren Körper springen, doch die Bestie, eine beharrte kräftige Gestalt, 2,50 groß, kahm immer näher. Als er nach ihr griff, wägte sie sich schon dem Tode nahe. Die Hand legte sich um ihren Hals, die bösen funkelnden Augen sahen sie an. Sekunde um Sekunde verging, doch die Bestie machte keinen Anstand Ann-Selza zu richten.
»Ja, ich bin Borus Tak. Der Herr des vergessenen Landes und Sohn des Borus.«, bestätigte der Angreifer mit bedrohlicher Stimme, »Und du bist Ann-Selza aus dem Haus Salzeran. Die Schuld wurde beglichen.“
Mit diesen Worten ließ die Bestie von Ann-Selza ab, drehte sich und stampfte in den Wald zurück, aus dem er gekommen war. Ann-Selza sank in den Schnee zurück. Eine Träne lief ihr über die Wange. Sie sah ihren toten Bruder regungslos im Wald liegend, während sie die Bestie davonlaufen sah.
»Was ... was soll ich jetzt tun?«
Die Bestie hielt einen Moment inne, drehte den Kopf und betrachtete das junge Mädchen, das verängstigt am Baumstamm saß.
»Diene den Göttern und höre nie wieder auf den Worten eines Meisters, ohne zu wissen, was du tust.«
Ann-Selza sah die Bestie im Dickicht verschwinden. Dann sah sich Ann-Selza Salzeran um. Wo vor einem Moment noch Schnee lag, lag im nächsten Moment nur noch schwarzer Sand. Verbrannte Erde, das Zeichen des Neubeginns. Es würde Jahre dauern, den Verlust zu verschmerzen und einen neuen Weg einzuschlagen, doch hier würde sie stehen. Die Taverne zur Dunklen Hand, Wächter des vergessenen Landes und ein Haus, das zukünftig den Göttern dienen würde, ganz gleich, wie der Name der Gottheit auch sein mochte.