Jede Kultur musste auf ihre Weise mit dem Kataklysmus umgehen. Etwas ganz besonderes aber ist die folgende...
Die Koexistenz
Der Kataklysmus war der schlimmste Krieg in der Geschichte der Menschheit. Die gewaltige Flotte der Aliens fegte wie eine Sturmflut durch die menschlichen Teile der Galaxie. Niemand konnte sagen warum – wollten sie sich Rohstoffe und Raum für zukünftige Generationen sichern? Fürchteten sie die Menschen mit deren Aggression und Gier? War es schlicht ihr Lebensstil? Nahe bei einem frisch terrageformten Planeten, noch praktisch unbewohnt, kam es zu einer großen Schlacht, in deren Folge Raumschiffe beider Parteien notlandeten. Die Aliens besiedelten als Wasserwesen die Meere, die Menschen das Land. Die Menschen drohten bald zu verhungern. Sie wussten nicht, wie sie mit den vorhandenen Mitteln ausreichend Nahrung gewinnen könnten. Bald fanden sie regelmäßig Fisch und essbare Algen am Strand. Es dauerte lange, bis sie begriffen, dass es Aliens waren, die ihnen zu essen gaben. Eigentlich Feinde, gekommen um sie zu vernichten. Erst als es den Menschen gelang, eine Art Mais anzubauen und Tiere zu domestizieren, wurden die Gaben weniger. Dann begannen sie, Teile ihrer Nahrung dem Meer zu übergeben, an den Stellen, an denen sie zuvor welche gefunden hatten. Man fand daraufhin merkwürdige Gegenstände. Der Zweck unerklärlich, aber die künstliche Herkunft unbestreitbar. Die Gegengeschenke waren angekommen. Es sollte Generationen dauern, bis Aliens und Menschen sich direkt trafen. Bis man die Wesen sah, mit denen man in einem verheerenden Krieg lag und von denen man dennoch nur die Raumschiffe zu Gesicht bekam. Die knochenlosen Wesen mit ihren zahlreichen, an Tentakeln erinnernden Fortsätze. Beide Gruppe blieben friedlich.
Die Koexistenz beherbergt etwa 3 Millionen menschliche Individuen, davon etwa 20% Bologos, 50 Genetikos und 30 Automatos. Durch Reparatur und Ausbesserung der Raumschiffe hat man längst wieder die Möglichkeit, den Planeten zu verlassen. Auch sonst ist man technologisch auf einem recht hohen Stand. Dennoch ist das Leben auf Pax recht einfach. Gezielt verzichtet man auf allzu große Städte.
Schon früh werden die Kinder zu bestimmten Zeiten an den Strand geführt und begegnen dort Aliens, die ebenfalls ihre Larven zu bringen scheinen. Man bemüht sich, dass im flachen Gewässer beide Spezies möglichst viel Zeit miteinander verbringen. Lernen, keine Furcht oder Hass aufeinander zu empfinden. Vielleicht sogar einen Weg finden, zu kommunizieren, was bisher kaum gelungen ist. Zu fremdartig sind die anderen. Gezielt wird versucht, den Kindern und Jugendlichen die positiven Seiten der menschlichen Errungenschaften zu vermitteln, die negativen aber abzulegen. Das Streben nach Reichtum, Macht und Ruhm ist verpönt, ebenso aggressive Gewalt und gilt als Kriegsgrund. Dennoch erhalten sie Wehrunterricht. Es wird die Zeit kommen, da werden Menschen oder Aliens erscheinen, die nicht gelernt haben, miteinander zu leben. Dann muss man sich und die anderen Bewohner von Pax verteidigen – gegen jeden Angreifer. Und sind es Menschen, die kommen, kann man beweisen, dass man die Aliens als Freunde betrachtet. Mit dem Erwachsenwerden kommt zunehmend die Arbeit auf den Maisfeldern und andernorts, die erst im Greisenalter wieder abnimmt. Die Lebenserwartung liegt bei 70.
Loyalität, Treue und Zuverlässigkeit sind die höchsten Tugenden. Man hat feste Ehen eingeführt, Mann und Frau als zwei Seiten einer Münze wie Aliens und Menschen. Der Bund ist bis zum Tode nicht mehr aufzulösen und wird von jedem erwartet. Im Kleinen soll so auf das Zusammenleben insgesamt vorbereitet werden. Zudem benötigt man Kinder, um einmal eine relevante Macht und somit einflussreiche Vermittler werden zu können.
Eine klare Trennung zwischen Arbeits- und Freizeit gibt es nicht. Im Kollektiv weiß jeder, was es wann zu tun gilt. Die Erziehung ist streng auf das Zusammenleben ausgelegt, das Individuum zählt wenig.
Das zeichnet sich auch im Spiel aus – man schätzt Mannschaftsport. Gerade ein Spiel, bei dem es gilt, mit Hüfte, Ellenbogen und Knie einen Ball über ein Feld und durch einen senkrecht in einigen Metern Höhe befestigten Ring zu befördern. Solche Spiele werden bevorzugt am Strand ausgetragen, gerne auch gegen benachbarte Dörfer. Auch musiziert wird immer gemeinsam. Niemand kommt in dem Mittelpunkt, indem andere nur lauschen.
Kleidung wird vor allem aus Tierpelzen, Wolle und Baumwolle gewonnen. Die Winter können kalt werden in den meisten Regionen von Pax. Als Schmuck trägt man vor allem die mysteriösen Gegenstände der Aliens an Ringen oder Schnüren oder indem man sie an Kleidung näht. Eine ständige Erinnerung an die Koexistenz. Selbst gemachten Schmuck aus Federn und Metall legt man dagegen ins Meer.
An Festtagen lässt man alle ohnehin seltenen Konflikte ruhen, isst Braten und tanzt. Vor allem lädt man auch Leute aus den Nachbardörfern ein und gibt den Aliens im Meer Teile des Festmahls. Feste haben den Zweck, die Gemeinschaft zu stärken. Dessen ist man sich sehr bewusst.
Seine Dörfer errichtet man meist nahe am Meer, wenn auch in gebührendem Abstand, um vor Springfluten sicher zu sein und das Wasser nicht zu verunreinigen. Bescheidene Hütten aus Holz und Lehm mit Grasdächern prägen das Bild. Seltener brennt man auch Ziegel. Jedes Dorf hat eine große Gemeinschaftshalle. In den scheinbar primitiven Behausungen findet man aber ausgeklügelte Heizanlagen mit Leitungen mit Warmwasser. Auch elektrisches Licht findet man, gespeist aus Wind- und Solarkraftanlagen oder Holzblockkraftwerken.
Mais ist die Nahrungsgrundlage, gerade in Form zu einem Brei verkochtem Mehl. Auch Kürbisse, Chiasamen und Eier sowie Fleisch domestizierter Tiere stehen auf dem Speiseplan. Aus dem Mais weiß man auch ein Bier zu brauen, das gerade auf Festen in Strömen fließt. Bohnen runden das Bild ab.
Nie wieder! So ertönt der Ruf, wenn Bilder und Aufnahmen des Kataklysmus gezeigt werden, wobei sowohl Aliens als auch Menschen als Opfer präsentiert werden. Einmal wöchentlich trifft man sich zu diesem Ritual, eine Stunde lang betrachtet man das Material, und ruft bei jedem aufs neue: Nie wieder! Auch Missionare des galaktischen Friedens brachten Einflüsse (vor denen man allerdings die Aliens verschwieg. Es ist noch zu früh, der Galaxie das Geheimnis zu offenbaren). Jeder Mensch ist ein Teil des großen Ganzen, die Aliens sind die andere Seite der gleichen Münze. Und es gibt genug für beide Gruppen – die einen leben unter Wasser, die anderen an Land. Solange keiner den Lebensraum und die Ressourcen des anderen gefährdet, solange kann Frieden herrschen. Und der muss herrschen. Keine Giftstoffe dürfen ins Meer gelangen. Abfälle werden vergraben. Fischerei ist verboten. Der Strand ist der heilige Ort der Begegnung. Zwischen Wasser und Land. Zwischen Menschen. Zwischen Mensch und Alien. Hier finden darum Rituale, Feste und Sport statt. Einige Weise verbringen ihr Leben damit, eine Kommunikationsmöglichkeit mit den Aliens zu finden. Nur weiß bisher niemand, wie genau sie es tun. Gesten ihrer Tentakel? Chemische Signale? Für Menschen unhörbare akustische Signale? Über Abtasten? Vibrationen, die sie über eine Art Seitenlinienorgan wahrnehmen? Nichts konnte bisher ganz bestätigt oder widerlegt werden. Gerade letzteres aber hat bei Versuchen schon einige Erfolge gebracht. Zumindest scheinen die Aliens den Kommunikationsversuch als solchen erkannt zu haben und versuchen zu antworten. Es ist noch ein sehr langer Weg, bis man eine gemeinsame Sprache entwickelt hat.
Die Toten werden begraben. Eine Jenseitsvorstellung gibt es nicht. Der Tod des einzelnen ist auch nicht von großer Bedeutung, es kommt auf das Kollektiv an. Was Aggression provozieren könnte, gilt als Charakterschwäche, die beseitigt werden muss. Dennoch ist man nicht radikal pazifistisch – die eigene und verbundene Gruppen zu verteidigen ist sogar Pflicht. Recht oft findet man Aspekte des Ordens des galaktischen Friedens, die in die eigene Ideologie integriert werden. Vegetarismus wäre ein Beispiel.
Man hält die Gruppen, in denen man lebt, bewusst klein und dezentral. Entscheidungen werden von einem Ältestenrat getroffen, dem alle ab 40 angehören, wenn man den jugendlichen Übereifer und Radikalismus überwunden hat. Ansonsten gibt es lockere Kasten, in die die Jugendlichen für den Rest ihres Lebens eingeteilt werden. Die Bauern und Handwerker sind die größte, dann folgt die der Soldaten und Raumschiffbesatzungen, dann die der Weisen.
Auf feste Gesetze verzichtet man, Strafe muss fürchten, wer sich gesellschaftsschädlich verhält oder gar die Beziehung zu anderen Gruppen gefährdet. Schon Lästern kann ein ernstes Vergehen sein. Die übliche Strafe ist es, einen Teil des Schutzes des Kollektivs zu verlieren. Wer beispielsweise jemanden verletzt, kann seinen Schutz vor Gewalt verlieren und wird so selbst Opfer von Schlägen, wer sich übermäßig bereichert, den wird die Gemeinschaft viel nehmen. Dieser Entzug bleibt bestehen, bis der Rat beschließt, dass die Lektion gelernt wurde. Mord und Totschlag führen zur lebenslangen Verbannung und Vogelfreiheit. Von Klein auf als Teil des Kollektivs erzogen, wirken diese Strafen auf Mitglieder dieses Volkes weit schlimmer als auf andere.
Rückrat der Wirtschaft ist der Anbau von Mais, Gemüse und Baumwolle. Dabei kommen auch Maschinen zum Einsatz, die man mit Strom oder Dampf antreibt. Öl ist verpönt, da es zu leicht das Meer vergiften könnte, ebenso Atomenergie. Die Ziegen, Truthähne, Hunde und andere – einst auf Pax ausgesetzt, um ein stabiles Ökosystem aufzubauen, werden mehr nebenbei gehalten, streunen halbwild herum und suchen ihr Futter zu großen Teilens selbst. Obwohl man am Meer lebt, sind Fischerei und Fischzucht streng verboten. Nur weit weg vom Meer entreißt man Gebirgen wertvolle Bodenschätze. Auch die Arbeiter dort kehren oft ins Dorf zurück, über Straßen und Wege, teils Gleise, werden die Rohstoffe dorthin transportiert. Auf übermäßige Arbeitsteilung und Automatisierung verzichtet man. Man will nicht die Arbeit dem Menschen entfremden. Das wäre ein Zeichen übermäßiger Gier. Freude und Stolz am Produzieren und am Produkt sind oberstes Gebot.
Ärzte sind letztlich die einzigen Dienstleister, die man kennt.
Privateigentum ist unbekannt. Man teilt alles im Dorf. Jeder soll einerseits alles haben, was er braucht, andererseits aber nicht nach mehr als dem streben. Auch auf eine Währung verzichtet man bewusst.
Die Alphabetisierungsrate ist hoch. Man will, dass die Kinder gerade Schriften aus der Zeit des Kataklysmus studieren. Der Wert des Friedens muss im Gedächtnis werden. Altes Wissen wird bewahrt und weitergegeben, neuere Forschung beschränkt sich fast völlig auf die Kommunikation und das Zusammenleben mit den Aliens.
Sorgfältig gepflegte und reparierte, kurze Schrotgewehre stellen die Hauptbewaffnung der Armee dar. Wichtiger aber sind die Geschütze der Raumschiffe. Die dezentrale und großflächige Verteilung der Bevölkerung soll im Verteidigungsfall einen Vorteil bieten. Fast jedes Dorf hat irgendwo einen oder mehrere Bunker, teils in natürlichen Höhlen. Auf eine feste Kommandohierarchie verzichtet man. Die Ältesten der Soldaten arbeiten eine Taktik aus, jeder tut seinen Teil, dass sie zum Ziel kommt. Einige Manöver sind auch ohnehin schon eingeübt. Da so keine Kommunikation benötigt wird, kann man schnell reagieren, Störsignale interessieren wenig und ein Abhören ist unmöglich. Dafür fällt es schwerer, als Einheit auf überraschende Wendungen zu reagieren. In der Vergangenheit haben auch schon in einigen Fällen Schiffe der Aliens an Übungen teilgenommen. Ein deutliches Zeichen dafür, dass auch sie ihre jetzige Lebensweise wahren wollen.
Nur wenige haben die Schlacht überlebt, die alle Bewohner auf den Planeten brachte, so haben alle Menschen dort nur eine Sprache mit leichten regionalen Dialekten. Sie ist noch sehr nah mit einer Sprache des Urvolkes verwandt. Die Namen sind sprechend und enthalten nicht selten eine Silbe, die etwa Frieden bedeutet.
Gemeinsame Musik und harmonische Tänze sind die schönen Künste der Wahl. Künste, bei denen sich nur einzelne hervortun und im Mittelpunkt stehen werden dagegen abgelehnt. Selbst Bilder werden großflächig von vielen verschiedenen gemalt, sodass sich die Stile und das Können mischen. Der Anblick wirkt auf andere Völker befremdlich. Auch die Kunst soll keinen Platz für das Streben nach persönlichem Ruhm bieten.
Fremden gegenüber ist man vorsichtig. Nur die Koexistenz hat die nötige Erkenntnis erlangt, um nach dem Kataklysmus mit den Aliens zusammenleben zu können. Andere würden es als Kollaboration, ja Verrat sehen. Den Orden des galaktischen Friedens hat man gerne zu Gast, auch mit der Handelsgesellschaft tauscht man gern. Beim Bündnis und gerade natürlich beim letzten Reich versucht man, möglichst gar nicht in Erscheinung zu treten. Für einen finalen Konflikt ist man noch lange nicht bereit. Einst aber will man Vermittler zwischen Menschheit und Aliens sein und ein galaxieweites Bündnis nach dem Vorbild des Planeten Pax schmieden.
„Der“ Koexistente ist pflichtbewusst und ordnet sich dem Kollektiv bis zur Opferbereitschaft unter. Er ist aber auch selbstbewusst, weiß, dass er aus der besten aller Kulturen kommt. Er ist stolz darauf, dass er zu denen gehört, die das Unmögliche geschafft haben und mit den Aliens friedlich koexistieren. Wenn jemand seine Gruppe angreift, wird er zum fanatischen Krieger, was bei seiner sonst eher harmoniesüchtigen Art erschreckend wirken kann.