Geschichte aus dem Stoffladen

Es gibt 2 Antworten in diesem Thema, welches 1.220 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (17. August 2018 um 13:34) ist von Maja.

  • Diese Geschichte entstand vor einigen Jahren im Rahmen eines Adventskalenders in einem Quiltforum. Nicht wirklich weihnachtlich, aber ein bissle rosa-schnulz-tränchen. Nur ein bissle!

    Mit dieser Geschichte würd ich mich mal für dieses Jahr hier ausklinken, der Weihnachtsstress jagt mich und ich muss flink sein, um ihm zu entwischen ... :huh:

    Geschichte aus dem Stoffladen


    Vor nicht allzu langer Zeit wohnte in einem Stoffladen ein Ballen mit Stoff. Eng an seine Nachbarn geschmiegt, stand er im Regal und wartete auf seine große Zeit. Oft kamen Leute in den Laden und ihre Augen und Finger glitten über die Reihen der Ballen, zogen da einen heraus und dort... manchmal sogar einen seiner Nachbarn, den hellblauen mit den dunklen Schnörkeln und auch den Nachtdunklen mit den kleinen Sternchen.
    Nur diesen einen Ballen in klarem, schlichten Mittelblau ohne jegliches Muster zog niemand heraus, um ihn genauer zu betrachten...

    Das machte den Stoff traurig, er wollte doch so gerne vernäht werden, zu einem tollen Quilt oder zu einer Tasche... Doch niemand schnitt auch nur ein winziges Fetzelchen von ihm ab. Lange wartete der Stoff und dann, eines Tages sah er seine Hoffnungen endlich erfüllt. Kräftige Hände packten ihn, zogen ihn zwischen seinen Nachbarn heraus und... trugen ihn zu einem anderen Regal, um ihn dort wieder hineinzustellen.
    Kein Abschneiden? Nicht ein winziges Stück? Das war nicht das, was er sich vorgestellt hatte.

    „Weißt du, was hier vorgeht?“ fragte er seinen neuen Nachbarn, einen sonnengelben Stoff mit rosafarbenen Blumen.
    „Nein, leider nicht. Ich hatte schon gehofft, endlich vernäht zu werden!“ antwortete dieser.
    "Das hatte ich auch...!“ sagte der blaue Stoff.

    So standen sie lange nebeneinander, erzählten sich dies und das und warteten auf jemanden, der sie vernähen würde. Doch die Leute, die in den Stoffladen kamen, gingen an ihrem Regal nur vorbei, hinüber, dorthin, wo Blau und Sonnengelb vorher gestanden hatten. Dort streichelten sie Stöffchen und wählten aus. Und der blaue Stoff, sein blümchenübersäter Nachbar und andere warteten weiter...

    Bis zu jenem Nachmittag, als die Ladentür aufging und ein kleines Mädchen hereinkam, 10 Jahre war sie wohl oder 11. Sie ging direkt zur Frau hinter dem Ladentisch: „Können Sie mir helfen? Meine Mama hat ein Baby bekommen und ich möchte eine Krabbeldecke für mein Brüderchen nähen!“
    „Kannst du denn nähen?“ fragte die Frau etwas erstaunt.
    „Natürlich!“ sagte das Mädchen stolz und zog einen Topflappen aus ihrer Beuteltasche: „Da, das hab ich gemacht! Ganz alleine. Nur den Henkel hat Mama drangemacht!“
    Der blaue Stoff konnte sehr gut sehen, dass der Topflappen gut aussah, immerhin waren da blaue Dreiecke mit drin!

    Die Frau hinter dem Ladentisch nickte: „Na dann... wieviel willst du denn ausgeben dafür?“ Das Mädchen zog aus ihrem Beutel ein großes rosa Sparschwein heraus: „Alles, was ich hab!“ Sie stellte das Schwein auf den Ladentisch und öffnete seine Bauchklappe. Ein Schein und viele Münzen purzelten auf den Tisch. Gemeinsam mit der Frau zählte das Mädchen das Geld: „25 Euro und vier Cent!“ verkündete es.

    „Oh oh!“ sagte die Frau. „Das ist knapp. Aber weißt du was? Du nähst das Stück einfach hier, erlaubst mir Fotos davon zu machen, dann schicken wir das an eine Zeitung und das Honorar dafür deckt die Restkosten ab.“
    Das Mädchen nickte eifrig: „Das wäre toll!“
    „Prima!“ sagte die Frau und zeigte auf das Regal mit dem blauen Stoff: „Vielleicht findest du ja da ein schönen Stoff, die sind preiswerter.“

    Das Mädchen nickte, ging zu dem Regal und ließ ihre Augen und ihre Hände über die Ballen gleiten. Sie zog dort einen Stoff heraus und da... und - oh mein Gott - auch den blauen und den sonnengelben... „Die möcht ich! Die sehen so schön spielzeugbunt aus!“ Und die Verkäuferin nickte, nahm die vier Ballen und trug sie ins Nähatelier im Hintergrund und schnitt je ein Stück von ihnen ab.
    „Endlich!“ seufzte der blaue Stoff...


    Die nächsten Nachmittage nach der Schule kam das Mädchen ins Atelier, um zu nähen. Sie zerschnitt die Stoffe zu großen Quadraten und nähte sie zusammen, die Verkäuferin machte immer wieder Fotos und half, wenn es irgendwo hakte.

    Die Reste der Ballen sahen vom Regal im Atelier aus zu, was da gewerkelt wurde. Jeder von ihnen fühlte noch seine Teile, die da unten im Krabbelquilt ein neues zu Hause gefunden hatten, sie spürten das Streicheln der Mädchenhände und das Kitzeln der Nähmaschinennadel.

    Irgendwann war der Quilt fertig, gefüttert (oh, wie kuschelig!), gequiltet (Hihi, das krabbelt!) und mit einem schönen Binding versehen. Dann kam er in eine Kiste. Die Ballen auf dem Regal spürten die Dunkelheit und die Enge in der Kiste, als säßen sie selber mit darin. Doch das war nicht schlimm. Denn kurze Zeit später wurde es wieder hell und eine Frau mit einem Baby auf dem Arm hob den Quilt ans Licht: „Ohhhhhhh ist der schön!“
    Und das Mädchen stand daneben: „Gefällt er dir wirklich? Ich hab ihn selbst gemacht!“

    Die Tage und Wochen danach fühlten die Stoffballen, die solange unbeachtet geblieben waren, sich unendlich wohl. Sie spürten das Baby, das auf dem Quilt lag, hörten das Lachen des Mädchens und es wurde ihnen schwindlig, wenn der Quilt in der Waschmaschine tanzte... Es war ein schönes Stöffchenleben.


    Eigentlich könnte die Geschichte hier zu Ende sein. Könnte. Ist sie aber nicht. Ihr erinnert Euch doch an die Frau im Stoffladen? Ja, genau, die dem Mädchen geholfen hat und den Quilt fotografiert hat. Diese Frau hat das Foto mitsamt der Geschichte tatsächlich an eine Patchworkzeitschrift geschickt, die es auch veröffentlicht hat. Und es kam, was keiner vorher geglaubt hätte: Die Zusammenstellung des Quilts gefiel so vielen Näherinnen, dass sie nachfragten, ob nicht noch von den Stöffchen etwas da wäre...

    Und so leben der schlichte mittelblaue Stoff und sein rosageblümter gelber Nachbar jetzt in 7 weiteren Babyquilts fort und jeder von ihnen spürt den anderen.

    „... und weißt du was?“ flüstert manchmal eines der sonnengelben-rosageblümten Quadrate: „Ich wollte immer an der Wand hängen, edel und fein herunter guggen auf die Welt! - DAS hier ist tausendmal besser, als von der Wand zu schauen...“


    Frohe Weihnachten und einen gelungenen Rutsch ins neue Jahr!

    Der Unterschied zwischen dem, was Du bist und dem, was Du sein möchtest, liegt in dem, was Du tust.
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    Was würdest Du tun, wenn Du keine Angst hättest?

    Einmal editiert, zuletzt von Cory Thain (17. Dezember 2017 um 11:02)

  • Ach, was für eine süße Geschichte :)
    Dass, das die Stoffe sozusagen Gefühle haben und sich miteinander unterhalten, ist so schrecklich knuffig- und man kann es sich echt gut vorstellen. ^^
    So ein bisschen märchenhaft :)

    Chaos sagt, Halvars dunkle Seite sei harmlos gegen mich...

    As I´m an Amazone, I need a :jennagorn:

    ~~~ 100 words a day keep the doctor away. ~~~


  • Hallo Cory

    Deine Geschichte ist zuckersüüüüss! Ich habe sie mit viel Spaß gelesen. Weist du was mein erster Gedanke war? Die Überschrift könnte auch lauten: GeschichteN aus dem Stoffladen. So wie du deine Geschichte geschrieben hast..liebevoll...menschlich...phantasievoll, so könnten aus dem Stoffladen bestimmt noch mehr Geschichten entstehen. Ganz toll geschrieben. Solche Geschichten sind für groß und klein - für das ganz Jahr - und wirklich für die Advent und Weihnachtszeit :)

    Wenn ich mir vorstelle, was die Knöpfen und Reißverschlüsse zu erzählen hätten und die zarten Spitzen und Borden.

    Liebe Grüße in deinen Tag sendet dir

    Maja