Werte Leser,
wieder einmal habe ich eine Kurzgeschichte geschrieben, ohne dass mir ein passender Titel dazu einfällt.
Möchtet ihr mir wieder mit euren Vorschlägen helfen?
Ich bin gespannt und sage schon mal
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Es roch nach Abfall und Urin, die Steine waren glitschig, der Dreck unter seinen blanken Füßen fühlte sich feucht und krank an. In einiger Entfernung sah der Junge einen einsamen jungen Mann an der Seite der kurzen Gasse sitzen, eingehüllt in zerfallendes Tuch, das Kopf starr zum Himmel erhoben, die Finger fast unmerklich zuckend. Eine leise Melodie schmiegte sich an sein Gehör, als er weiter zum Markt ging. Einer Laune folgend bemaß er seine Schritte im Takt der wohlklingenden Töne. Abrupt fokussierte ihn der junge Mann mit seinen leeren Augenhöhlen und nickte ihm mit einem aufmunternden Lächeln zu, während sich seine Finger weiterhin in kleinen unvorhersehbaren Mustern bewegten.
Der Junge wurde langsamer, sah sich unnötigerweise um und akzeptierte schließlich, dass der blinde Mann ihn meinte. Er trat vorsichtig an den mutmaßlichen Bettler heran und lauschte dabei weiter der faszinierenden Musik. Plötzlich stoppte die Melodie, der Junge sah sich suchend um, bis sein Blick auf die ruhenden Hände fiel. Ein erneutes Zucken durchlief die Rechte des Augenlosen und sofort erklang eine kurze Tonfolge.
Zögernd, aber neugierig setzte sich der Junge neben den Mann, die Augen fest an die nun wieder ruhelosen Hände geheftet. Mit wachsender Begeisterung gelang es ihm, einem Ton eine bestimmte Handbewegung zuzuordnen, während die wundersamen Zuckungen des Blinden bald den Klang einer Fanfare, einer Flöte oder das edle Zupfen einer Kithara ertönen ließen. Mit einem hohen, lauten Fanfarenton endete die Musik und einige Vorbeieilende suchten verwundert nach dem Ursprung des strahlenden Tones, widmeten sich aber fast augenblicklich wieder ihrer persönlichen Hektik.
„Wie macht Ihr das?“, fragte der Junge geradeheraus und versuchte eifrig, die Handbewegungen des Blinden zu imitieren.
„Möchtest du es lernen?“, entgegnete der junge Mann.
„Ich bitte Euch darum, doch ich fürchte, ich kann Euch nichts zum Tausch bieten.“
Ein staubiges Lachen entrang sich der Kehle des Blinden.
„Reiche mir deine Hand, Junge!“, sagte er.
„Etwa so?“, fragte der Junge und legte zögerlich seine Rechte auf die Linke des Blinden. Forschend betastete der junge Mann seine Hand und umfasste sie schließlich am Handgelenk.
„Jetzt lass die Hand locker und spreize den Kleinen ab“, dirigierte er leise. Der Junge tat es und als der Mann plötzlich begann, seine Hand scheinbar zufällig zu führen, drang erneut ein Ton an sein Ohr. Diesmal war er seltsam verzerrt, unstet und schwankte in seiner Intensität, doch er war unverkennbar vorhanden.
„Nun beuge dazu den Daumen“, erklang seine Stimme erneut und der Junge eilte sich, seiner Forderung nachzukommen. Ein neuer Klang entstand, ähnlich dem Fanfarenton, aber leiser. Die Begeisterung des Jungen formte eine drängende Frage in seinem Kopf.
„Warum seid Ihr noch hier, wenn Ihr solch Wunderwerk beherrscht?“, fragte er über den unsteten Ton hinweg.
Der junge Mann ließ seine Hand los, hob seinen Kopf erneut zum Himmel und schwieg. Er schwieg lange und der Junge fing an, seine Neugier zu bedauern. Gerade als sich der Junge traurig erheben wollte, sprach der Blinde:
„Die Menschen sehen es, doch sie öffnen sich nicht. Sie bewundern es, doch sie verstehen es nicht, achten seine Besonderheit nicht, seine Ungreifbarkeit. Sie haben Angst vor meiner Musik…“ Er schluckte und senkte den Kopf. „Nun bin ich blind. Blind und allein… Ich lebe vom Wohlwollen derer, die mich hierzu machten.“
Er verstummte.
Erschüttert saß der Junge da und überlegte, was er tun sollte. Er fragte sich, ob die besondere Fähigkeit des Mannes noch mehr bewirken konnte, als die Luft in Musik zu verwandeln.
„Möchtest du mehr lernen?“, fragte der Geblendete plötzlich und erneut breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.[/size]
Der Junge lernte und als Dank versorgte er den Geblendeten mit dem Nötigsten. Jahre und Jahre widmete er der Übung, seinen eigenen Versuchen und schließlich der Perfektion. Die Schwingungsbeeinflussung lernte er an den menschlichen Körper anzupassen, um physische Veränderungen zu bewirken. Gleichsam genoss er jedoch die ursprüngliche Fähigkeit der Musikformung und lehrte sie auch seine Eltern.
Schließlich traf ihn die Erkenntnis seines Schicksals, als er gerade gemeinsam mit seiner Mutter musizierte. Er erhob sich.
„Sohn, was hast du vor?“, fragte Maria.
„Ich gebe dem Geblendeten sein Augenlicht zurück.“