Ich hab mal eine neue Kurzgeschichte für euch. Bin gespannt, was ihr davon haltet.
Das Blau des Wassers
Das war das richtige Blau.
Er hatte es endlich gefunden.
Die Freude ließ sein Herz höherschlagen. Ein Blau, das die Farbe des Wassers einfing, war schwer zu mischen, denn es veränderte sich mit jeder Minute. Das ständig wechselnde Licht der Sonne, die sich zeitweise hinter Wolken verbarg, machte es nicht einfacher.
Man musste geduldig sein, wenn man einen bestimmten Farbton suchte, und meistens mangelte es ihm an der nötigen Sorgfalt oder auch Ausdauer. Aber diesmal war er geduldig genug gewesen. Die winzige Dosis an tiefdunklem Kobaltblau wurde gemischt mit der richtigen Menge an Titanium-Weiß, einer Spur Smaragdgrün und einem Hauch Jadegrün.
Fasziniert betrachtete er das Ergebnis.
Ganz langsam, fast vorsichtig zog er den Pinsel durch den Farbklecks. Grüne Schlieren mischten sich in das makellose Weiß, das er nun durch eine geschickte Drehung des Pinselstieles mit den Borsten aufnahm.
Aufgeregt wandte er sich der kleinen Leinwand zu, die in seinem Schoß lag, und betrachtete den noch unberührten weißen Fleck genau in der Mitte.
Schließlich atmete er tief ein und begann. Die ersten Striche setzte er noch sehr behutsam, doch bald wurde er kühner. Die Freude über den gefundenen Farbton beflügelte ihn förmlich. Er mischte mehr blau hinzu, ersetzte an den Stellen, die im Schatten lagen, das Weiß fast komplett durch tiefdunkles Grün und war schließlich sogar so mutig, einen Tupfer Schwarz ins Spiel zu bringen. Seine Zunge lugte ab und zu zwischen den sonst fest zusammengepressten Lippen hervor, so sehr konzentrierte er sich. Er vergaß, dass er hier war, hier am Teich. Alles um ihn herum rückte weit weg. Nur das Blau des Wassers war jetzt wichtig.
Er war oft hier. Mitten im Wald lag dieses kleine Paradies: ein winziger See, dessen Ufer sumpfig und von Schilf bewachsen waren. Bis auf eine einzige Stelle. Und die war hier unter der großen Trauerweide, wo er eben saß. Der Boden war trocken unter dem riesigen Baum. Direkt am Wasser wuchs dichtes, saftiges Gras. Bis dorthin reichte der mächtige Schatten nicht. Im Schilf lärmte ein einzelner Teichrohrsänger, und ein einsames Entenpaar hatte es sich ein paar Meter von ihm entfernt gemütlich gemacht.
Er kannte jedes Detail. Schon oft hatte er einfach nur dagesessen und das Bild auf sich wirken lassen. Man konnte auch wunderbar träumen hier, wenn man mit geschlossenen Augen lauschte, wie der sanfte Wind im Schilf raschelte, die Enten leise quakten und die herabhängenden Zweige der Trauerweide um ihn herum flüsterten.
Einmal hatte ein Mädchen hier gesessen, als er herkam. Wie erstarrt war er stehengeblieben und hatte sie angeschaut. Sie war nur von hinten zu sehen gewesen, doch das hatte ihm gereicht, um sie nie mehr vergessen zu können. An sich war nichts Außergewöhnlich an ihr. Ein einfaches Mädchen, das die Knie angezogen und die verschränkten Arme darauf abgelegt hatte, um auf das Wasser schauen zu können. Sie trug ein schlichtes weißes Kleid und im Haar einen kleinen grünen Kranz, in den winzige weiße Blüten eingeflochten waren.
Aber etwas war doch außergewöhnlich.
Das Mädchen schien zu leuchten.
Er konnte sich nicht erklären, was er da sah. Irgendwie schien sie zu hell zu sein für diesen Platz im Schatten, an dem sie saß. Sein geübtes Malerauge erkannte es sofort. Und es war ihr Haar, das leuchtete. In lockeren Wellen fiel es über die schmalen Schultern und reichte bis hinab ins Gras, wie ein zarter goldener Wasserfall. Noch nie hatte er ein so reines Gold als Haarfarbe gesehen. Wenn Sonnenstrahlen, die ihren Weg durch die Zweige der Weide gefunden hatten, darauf trafen, gleißte es förmlich auf wie eine Reflexion auf dem Wasser.
Ihm war sofort klar, dass er diese Farbe, dieses Gold niemals würde anmischen können.
Und mit diesem Gedanken war der Beschluss gefasst, dass er sie malen würde. Noch ein paar Augenblicke blieb er stehen. Sie hatte begonnen leise zu summen. Es war eine ihm unbekannte Melodie, doch sie sollte in seinem Kopf bleiben. Noch Tage später summte er sie selbst.
Er hatte damals kehrtgemacht und war den ganzen Weg nach Hause gerannt, um seine Malutensilien zu holen. In kürzester Zeit hatte er alles zusammengerafft und war zurück in den Wald gehastet. Noch nie war ihm der Weg so lang vorgekommen. Unterwegs schalt er sich einen Trottel. Was, wenn sie verschwunden war, wenn er zurückkam? Er hätte sie fragen sollen, ob er sie malen durfte. Er hätte sie bitten müssen zu bleiben. Nun konnte er nur hoffen, dass sie noch sitzen würde.
Die letzten Meter rannte er wieder. Der hohe Wipfel der Trauerweide war schon zu sehen. Er verließ den Waldweg und stolperte die wenigen Schritte bis zum Ufer. Dort blieb er völlig außer Atem stehen.