Prologos
Die Hexe schwieg. Als die Bürger der Stadt Holz und Öl brachten. Als sie es zu einem Haufen um den Pfahl aufschichteten. Als die Meute schrie „Verbrennt die Hexe!“, die Männer, Frauen und Kinder, die Adligen und die Bauern, der Klerus und die Laien. Ihr Schweigen sollte die Schreie übertönen, die Schreie nach einem Opfer. Voller Wut waren sie, voller Hass, voller Enttäuschung.
Schon als es zum Prozess gekommen war, als falsche Anschuldigungen vorgebracht worden waren, als falsche Zeugen ausgesagt hatten, hatte sie geschwiegen. Was hätte es genützt? Hätte eine Aussage das Urteil widerrufen? Hätten irgendwelche Worte die Richter umstimmen können, ihr Vorurteil zu verwerfen? Hätte sie die Meute umstimmen können, welche ihre Wut über Missernten, Krankheiten und Bürgerkrieg in ihre Anschuldigungen legte, ihren Hass auf den Adel in ihre Lügen hineinfließen lies, ihre Enttäuschung über den Klerus, welcher all die Nöte nicht verhindern konnte durch Gottes Gnaden, die vergifteten Worte formte. Doch irgendwie übertönte ihr Schweigen nicht die Meute, war nicht so dröhnend, wie sie erhofft hatte.
Eine Möglichkeit gab es immer. Sie war eine Hexe. Sie hatte Kräfte, Fähigkeiten. Sie könnte diese einsetzen. Könnte die Meute ängstigen. Könnte das Feuer löschen. Könnte den Platz in ein Flammenmeer verwandeln, welches alle anderen verzehrte, aber nicht sie. Könnte…
Aber sie schwieg. Was konnte sie anderes tun. Natürlich durfte niemand erfahren, dass sie eine Hexe war. Zu viel stand auf dem Spiel. Zu viel würde zerstört werden dabei. Niemand durfte Verdacht schöpfen. Wie immer. Sie musste die Verbrennung zulassen. So sehr es sie auch schmerzte.
So schwieg sie, während das Feuer das mit Öl getränkte Holz hochleckte, es die Kleider in Brand steckte, die Haare in Flammen aufgingen. Und auch als die Todesschreie über den Platz fegten, schwieg sie.
Die Hexe stand noch lange auf dem Platz, als die Meute sich zerstreut hatte. Nachdem von dem Scheiterhaufen und der Frau nicht mehr übriggeblieben war als ein Häufchen Asche. Nachdem Stille eingekehrt war. Totenstille. Erst nachdem der Wind und der Regen, die Asche davongetragen und schließlich die Reste weggewaschen hatte, streckte sie ihr Gesicht in den Regen. Es waren Regentropfen, die ihr die Wange runterliefen. Es mussten Regentropfen sein. Sie weinte nicht! Sie hatte seit vielen Jahren nicht mehr geweint. Aber sie schnaubte verächtlich: „Du dumme Frau!“ Dann schwieg sie wieder. Und wandte die Augen ab.