Schreibwettbewerb August/September 2018 - Voting & Siegerehrung

Es gibt 23 Antworten in diesem Thema, welches 7.446 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (3. Oktober 2018 um 12:44) ist von kijkou.

    • Offizieller Beitrag

    Welche Geschichte hat euch am besten gefallen? 18

    1. Eine Ewigkeit an Deck (6) 33%
    2. Die Mission (4) 22%
    3. Rhinjo (2) 11%
    4. Wir sehen uns wieder, kleine Katze (2) 11%
    5. Persistenz (1) 6%
    6. Sonne, Bier und Meer (1) 6%
    7. Pfählers Naschwerk (1) 6%
    8. Unter glühender Sonne (1) 6%

    Hallo, liebe Community!

    Acht schöne Geschichten sind bei mir eingegangen und ich freue mich, sie euch endlich präsentieren zu dürfen. Jede von ihnen ist es auf jeden Fall wert, gelesen zu werden, also vergesst nicht, eure Stimmen abzugeben!


    Um es nochmal allen ins Gedächtnis zu rufen: das Thema wurde von unserem letzten Gewinner Tom Stark vorgegeben und lautete:
    unter glühender Sonne

    Die Geschichten werden gemessen am Datum ihres Einreichens willkürlich gepostet. So steht ihr im Bezug auf deren Autoren völlig im Dunkeln.

    ACHTUNG: Beim Voten ist man nicht anonym. Somit wird Schummeln ausgeschlossen. Zudem dürfen einmal abgegebene Stimmen nicht mehr verändert werden. Bedenkt das bitte bei eurer Stimmenabgabe!


    Das Voting dauert bis 30. September 2018 um 23:59:59 Uhr.

    Viel Spass beim Lesen und Voten!

    Euer Fantasy-Geschichten Forum

    PS: Sollte etwas fehlen, oder auf andere Weise nicht stimmen, bitte mit möglichst schnell per PN Bescheid sagen!

    • Offizieller Beitrag

    Persistenz (von @kijkou)


    Der aufgewirbelte Staub von der letzte Explosion, der wie ein Sandsturm durch die Ruinen gewütet hat, verzieht sich langsam wieder.
    Ich kann kaum glauben, dass ich noch rechtzeitig von dort weggekommen bin. Geschätzte zwei Meilen habe ich zwischen mich und das Dorf, oder dem, was davon noch übrig ist, gebracht. Ohne mir vorher darüber Gedanken gemacht zu haben, wo die nächste Ortschaft oder in welcher Richtung unser Stützpunkt liegt, bin ich einfach losgerannt. Feige habe ich die Flucht ergriffen, als der Afghane mit dem Raketenwerfer aufgetaucht ist. Meine Kameraden müssen enttäuscht von mir sein. Einfach im Stich gelassen habe ich sie. Aber dieses Wesen hat gesagt, ich soll um mein Leben laufen.
    Oben auf einer Sanddüne lege ich mich flach hin und gehe in Deckung. Aufmerksam beobachte ich das Schlachtfeld. Für eine Weile beschleicht mich das Gefühl, dass weder die Afghanen noch unsere Einheit den Einschlag des Geschosses überlebt haben, doch bevor sich mein Verdacht bestätigt, kann ich etwas erkennen.
    Ja, es hat sich eindeutig etwas bewegt!
    „Es gibt Überlebende“, flüstert das kleine Wesen, das auf meiner linken Schulter sitzt. „Bleib hier, hier sehen sie dich nicht!“
    Den Blick weiter nach unten gerichtet taste ich nach meinem Fernglas, das ich glücklicherweise nicht während des Gefechts verloren habe. Zwischen den Trümmern der Häuser halte ich nach einem Lebenszeichen meiner Kameraden Ausschau.
    Da! Dort ist jemand!
    Nach kurzer Zeit muss ich leider feststellen, dass es sich bei den fünf Überlebenden um vier Afghanen und den letzten unserer Männer handelt, dem sie gerade in den Kopf geschossen haben. Verdammte Monster!
    Warum ist ausgerechnet unsere Einheit in diese Hölle geschickt worden?
    Es sieht nicht so aus, als ob die vier Afghanen die Ruinen demnächst verlassen würden. Immerhin gibt es dort einen Brunnen.
    Irgendetwas muss ich mir einfallen lassen. Ohne Wasser werde ich hier draußen zugrunde gehen. Ich habe zwar mein Maschinengewehr, jedoch nicht mehr viel Munition.
    „Du musst zurück! Zurück zum Lager!“, drängt die kleine Gestalt auf meiner Schulter, die sich jedes Mal verflüchtigt, wenn ich ihr meinen Blick zuwende.
    Vehement versuche ich, mir die Karte aus diesem Gebiet zurück ins Gedächtnis zu rufen, wobei mir bewusst wird, dass sich unser Stützpunkt südlich von diesem kleinen Dorf befindet und ich, nach dem Stand der Sonne zu urteilen, in die entgegengesetzte Richtung gelaufen bin.
    Dunkel erinnere ich mich, dass zwar im Norden eine kleine Ortschaft liegt, aber sogar in der Gruppe ist es sehr riskant, als Amerikaner ein afghanisches Dorf oder eine Stadt zu betreten.
    Nicht auszudenken, was sie mit einem US-Marine anstellen würden, der sich alleine herumtreibt.
    Die afghanischen Soldaten haben diese Ortschaft bestimmt zuvor passiert und somit die Bewohner in Alarmbereitschaft versetzt. Nein, das kleine Wesen hat recht. Ich muss unbedingt versuchen, unseren Stützpunkt zu erreichen. Das ist meine einzige Chance.
    Die Sanddünen werden mir Sichtschutz bieten, wenn ich die Ruinen umgehe. Meinen Berechnungen nach, müsste ich unser Lager in weniger als sechs Stunden erreichen können.
    Mit diesem Plan, der mir halbwegs vernünftig erscheint, richte ich mich ein Stück auf, wobei ich einen stechenden, brennenden Schmerz wahrnehme. Mein rechter Oberarm scheint etwas abbekommen zu haben.
    Ich lasse mich die Düne ein wenig weiter hinunterrutschen, um aufstehen zu können, ohne gesehen zu werden. Dann mustere ich meinen Arm. Eine Kugel hat mich erwischt.
    „Ist nur ein Streifschuss“, will mich das Wesen beruhigen.
    Ja, es blutet nicht schlimm, brennt aber sehr unangenehm. Egal, das hat jetzt keine Priorität.
    Ich mache mich gen Westen auf, sodass ich die Sonne im Rücken habe. Nicht eine Wolke ist am Himmel zu sehen.
    Wer sich über die Hitze im Sommer beschwert, der war noch nie in Afghanistan.

    Seit dreißig Minuten bin ich jetzt unterwegs und habe das Gefühl, dass es bereits drei Stunden gewesen sind. Vielleicht ist auch meine Uhr defekt, was bei dem vielen Sand nicht verwunderlich wäre.
    Wie lange kann ein Mensch ohne Wasser überleben? Drei Tage? Ich halte jedenfalls keinen ganzen Tag mehr durch. Wenn ich in den nächsten Stunden keine Flüssigkeit zu mir nehme, kippe ich um.
    Gestern Abend habe ich schon gemerkt, dass ich langsam Blasen bekomme. Mittlerweile sind meine Fußsohlen vermutlich voll davon.
    „Schneller, du musst schneller gehen!“, sagt das kleine Wesen auf meiner Schulter immerzu. Wo kommt dieses Ding eigentlich her? Werde ich schon verrückt? Liegt es an der Dehydration? Nein, ich habe das Wesen schon in den Ruinen gesehen. Zu gerne würde ich es genauer betrachten, was es aber nicht zulässt. Ständig verschwindet es und erscheint mir nur im Augenwinkel.
    „Es ist nicht mehr weit, streng dich an!“, treibt es mich weiter.
    Immer wieder sehe ich zur Sonne hinauf, die gnadenlos auf mich herabbrennt, um festzustellen, ob ich noch nach Süden unterwegs bin. Meinen Kompass habe ich dem Sergeant geliehen, was ich nun bereue.
    Die Blasen an meinen Füßen sind bestimmt aufgeplatzt. Ich spüre die Feuchtigkeit in meinen Stiefeln, was ich unter normalen Umständen für Schweiß halten würde, wäre nicht jeder Schritt von diesem brennenden, drückenden Schmerz begleitet.

    Die Sonne steht nun am höchsten. Mein Schatten befindet sich direkt unter mir. Vermutlich ist es jetzt Mittag, denn auch mein Magen meldet sich allmählich, was jedoch nichts gegen diesen schrecklichen Durst ist.
    Meine Lippen sind aufgesprungen und in meinen völlig ausgetrockneten Mund haben sich schon einige Sandkörner verirrt. Immer wieder bleibt meine Zunge am Gaumen kleben, wenn ich schlucke.
    Wie weit ist dieser Stützpunkt noch entfernt?
    „Bald hast du es geschafft“, macht mir die Stimme auf meiner Schulter Mut.

    Ich frage mich, was meine Familie gerade macht. Werde ich sie je wieder sehen? Wie sinnlos kommt mir nun der letzte Streit vor, den ich mit meinem Jungen wegen der zerbrochenen Fensterscheibe gehabt habe.
    Ich muss kurz anhalten. Stöhnend setze ich mich in den glühend heißen Sand, nehme den Helm ab und wische mir den Schweiß von der Stirn. Deutlich kann ich den Puls auf meinen brennenden Fußsohlen spüren. Wenn ich meine Stiefel jetzt ausziehen würde, bekäme ich sie vermutlich nicht mehr an.
    „Genug ausgeruht! Deine Zeit läuft ab“, warnt mich mein mysteriöser Begleiter.
    Etwas schwindlig erhebe ich mich wieder, setze den Helm auf und stapfe, den Schmerz ignorierend, die Sanddüne vor mir nach oben.
    Dahinter befindet sich eine Straße. Sind wir auf dieser nicht gestern entlanggefahren? Voller Hoffnung folge ich ihrem Verlauf.
    Langsam sollte ich wirklich zusehen, dass ich den Stützpunkt erreiche. Mein Kreislauf macht diese sengende Hitze nicht mehr lange mit und zweimal bin ich schon gestürzt.
    Was ist das?! Ein Auto? Ich drehe mich um und erblicke weiter hinten einen militärischen Jeep, der sich mir nähert. Meine Augen sind viel zu erschöpft und die Sonne blendet zu stark, um erkennen zu können, ob es eines unserer Fahrzeuge oder der Feind ist.
    „Lauf!“, ruft das Wesen ernst.
    Ich schleppe mich über die sandige Erhöhung am Rande der Straße, um aus dem Sichtfeld der Insassen zu verschwinden, wobei ich abrutsche und den Abhang auf der anderen Seite hinunterrolle.
    Als ich auf dem Rücken zum Liegen komme, starre ich direkt in die gleißend helle Sonne. Ich kann hören, wie der Jeep auf der Straße anhält.
    „Sie haben dich gesehen!“, alarmiert mich das kleine Wesen links von mir und klopft gegen meinen Helm.
    Mit all meiner Kraft kämpfe ich mich auf meine Beine und will nach meinem Maschinengewehr greifen, doch sowie ich realisiere, dass ich es vermutlich beim Sturz verloren habe, wird mir schwarz vor Augen und ich sacke zusammen. Ungebremst landet mein Gesicht im heißen Sand. Ich vernehme noch undeutliche Rufe, bevor mich mein Bewusstsein verlässt.

    „Dad?“
    Ich lebe noch … Habe ich es zurückgeschafft?
    Es ist angenehm kühl hier und ich glaube, ich liege in einem Bett.
    „Dad!“
    Ist das Sammy? Ja, das ist Sams Stimme!
    „Dad, bist du wach? Mum hat Pfannkuchen gemacht!“
    Bin ich etwa zu Hause?
    Als ich meine Augen öffne, blicke ich in den dunklen Lauf eines Sturmgewehrs.

    • Offizieller Beitrag

    Sonne, Bier und Meer (von @Sensenbach)

    Im August des Jahres 232 nach der Separation strahlte die Sonne unbarmherzig auf Südstaden herab. Der ganze Sommer war bereits ungewöhnlich trocken und heiß gewesen. Schon seit Wochen lag das Meer glatt und warm in der Sandbucht, sodass die ersten Fische bauchoben im Hafenwasser trieben. Doch selbst die Möwen warfen nur gelangweilte Blicke auf den Fisch und zogen sich träge in den Schatten zurück.
    Seit Tagen lagen die Schiffe fest im Hafen vertäut. Es wehte nicht ein Hauch von Wind. Nur abends, wenn die Sonne am Horizont verschwand trauten sich die Menschen auf die Straße. Dann erwachten die Kaschemmen am Hafen zum Leben.

    Trotz der Abendhitze schlug der junge Mann die Kapuze seines Umhangs weit über das Gesicht. Es galt den Blicken der Passanten zu entgehen und zu vermeiden, dass der Meister von seinem Ausflug in die Stadt erführe. Die eindringliche Warnung nicht allein auf Erkundung in die Stadt zu gehen, hallte noch in seinen Ohren. Zu häufig geschah es, dass junge Männer auf der Suche nach Abwechslung und Abenteuer in eine dunkle Gasse im Hafenviertel gelockt und ausgeraubt wurden. So mancher erwachte schon nach einer ausschweifenden Nacht auf hoher See und fand sich als Decksjunge wieder.
    Aber Ignatus war nicht irgendein Junge vom Dorf. Selbstbewusst klapperten seine Stiefel auf dem Pflaster aus grob gehauenen Steinen. Er bog in die Fischergasse ein und fand sein Ziel. Eine Kaschemme am Ende der Gasse. Knarrend öffnete sich die schwere Tür. Ein dichter, feuchter Geruch von Pfeifenrauch, Schweiß und verdorbenem Bier ließ ihn kurz den Atem stocken. Aber besser als die langweilige Kajüte auf dem Schiff erschien ihm die Kaschemme allemal. Als die Tür geräuschvoll zufiel, verstummten die Gespräche. Ignatus spürte die Blicke der Seemänner und Fischer. Einige Nordmänner sahen von ihrem Kartenspiel auf. Die wilden Krieger musterten ihn abschätzend. Ignatus überlegte kurz, ob er zu seinem Schwert greifen sollte. Dann tastete er in Gedanken durch den Raum und entspannte sich etwas. Es drohte keine unmittelbare Gefahr.
    An dem Tisch neben dem geöffneten Fenster schlief ein rundlicher Mann in der typischen Kluft eines Gildekaufmanns. Sein Kopf lag friedlich auf dem Arm gebettet, mit der Hand hielt er den Bierkrug umklammert. Als Ignatus den Umhang abstreifte und sich an den freien Tisch neben dem Kaufmann setzte, nahmen die Männer ihre Gespräche wieder auf.
    Ein schmächtiger Junge mit sonnengebräunter Haut und dichten, schwarzen Locken huschte aus einer Ecke hervor und wischte hastig die öligen Brocken Brot vom Tisch. Achtlos ließ er die Reste auf den bräunlichen Sand fallen, der als Bodenbelag und Einstreu zu dienen schien. Ignatus ahnte schon Schlimmes, was die Qualität der Getränke und Speisen betraf. Als ihn der nervöse Junge in einem kaum verständlichen Akzent ansprach, bestellte er dennoch etwas zu Essen und deutete auf den Krug des schnarchenden Kaufmannes neben ihm.
    „Piva“, bestätigte der jugendliche Kellner nickend und verschwand. Als er wieder erschien, schob er einen Holzteller auf den Tisch und stellte einen großen Krug Bier daneben.
    „Dengi“, verlangte er und bewegte Daumen und Finger aneinander. Ignatus nahm den kleinen Beutel aus seinem Mantel und kramte zwei Kupfermünzen hervor. Sie wurden misstrauisch geprüft.
    „Harascho“, sagte der Junge schließlich. Der Brei auf dem Teller duftete unerwartet gut, daneben lag ein Stück fettiges, rotes Fleisch. Ignatus nahm den Holzlöffel und wischte ihn an seinem Hemd sauber. Das Mus aus roten Rüben und Kartoffeln schmeckte süßlich und deftig zugleich. Das Fleisch war zart und würzig. Aber jetzt kam die Hauptsache. Ignatus nahm einen tiefen Schluck und grunzte zufrieden. Das Bier hatte nur einen leichten Stich und mundete weitaus besser, als bei seinem letzten unerlaubten Ausflug.
    „Hmm?“ Der Kaufmann am Nachbartisch öffnete die Augen und blinzelte. Seine Wangen waren leicht gerötet. Die grobporige, dicke Nase wirkte wie eine Kartoffel, die sich nur zufällig in das rundliche Gesicht verirrt hatte. Er bemerkte Ignatus und musterte ihn neugierig. Dann griff er nach seinem Krug und setzte ihn an.
    „Hmmm?“ Der Krug war offensichtlich leer.
    Als der kleine Kellner vorbeieilte, deutete Ignatus auf den Kaufmann.
    „Zwei“, verlangte er, denn er verspürte Lust auf eine Unterhaltung.
    Der dicke Mann grinste erfreut. „Dwa. Harascho Piva!“, ermahnte er den Jungen.
    „Dengi“, verlangte dieser.
    „Wie viel habt Ihr ihm gegeben?“, flüsterte der Kaufmann.
    „Zwei Kupfermünzen“, sagte Ignatus.
    „Njet“, rief der gut gelaunte Mann mit einer resoluten Handbewegung.
    Der Kellner zuckte nur gleichgültig mit den Achseln und kam mit zwei Krügen schäumenden Biers zurück. Inzwischen hatte sich der Kaufmann zu Ignatus an den Tisch gesetzt.
    „Es ist mir ein Vergnügen, junger Mann. Ich heiße Hinrich und bin mit der großen Kogge gekommen, die unten im Hafen liegt. Jetzt sitze ich hier fest, schiet Wetter. Eine glühende Sonne und kein Wind“, lachte Hinrich.
    „Das scheint Euch nicht zu stören“, grinste Ignatus. Ihm gefiel der fröhliche Trinker.
    „Nein, das stört mich gar nicht“, sagte Hinrich verschwörerisch. „Ich zeige Dir mal warum.“ Er nahm den Bierkrug. Die beiden stießen an. Kühl und frisch lief das Bier Ignatus Kehle hinab. Das war ein anderes Getränk als sein Erstes.
    „Was ist das?“, rief er voller Erstaunen aus.
    „Das ist das beste Bier nördlich der Zuckerberge“, grinste Hinrich. Der Schaum tropfte von seinem Schnurrbart. „Diese Kaschemme ist eine Drecksbude, aber Bierbrauen können sie.“
    Ignatus trank den Krug in einem Zug aus und winkte den Kellner erneut herbei.
    Hinrich kam aus Mittelstad. Er fuhr regelmäßig mit einer Handelskogge nach Südstaden, um einige Güter und ‚Informationen’ auszutauschen.
    „Was für Informationen denn?“, fragte Ignatus naiv.
    „Sachen einfach, mein Junge. Das Wetter. Wie viele Nordmänner gerade hier sind und wie viele Ballen Stoff verkauft wurden. Die Gilde will alles wissen. Und Du, mein Junge? Was treibt Dich nach Südstaden?“
    „Ich ... Ich bin eher auf der Durchreise“, sagte Ignatus vorsichtig.
    Der Händler nickte verständnisvoll und schien nachzudenken. Er nahm einen weiteren tiefen Schluck aus dem Krug. Aber etwas schien ihn zu beunruhigen.
    Die Nordmänner am Tisch gegenüber hatten ihr Kartenspiel unterbrochen und starrten mit finsterem Gesicht zu ihnen herüber.
    „Hmm“, brummte Hinrich und blinzelte nervös. Er strich den Schaum von seinem Bart. „Wir sollten gehen mein Junge.“
    „Aber wieso denn?“, lachte Ignatus. Die Kaschemme schien etwas zu schwanken. Das Bier war ungewohnt stark.
    „Nein wirklich. Komm, mein junger Wanderer. Hier wird es mir zu ungemütlich.“
    Ignatus riss sich zusammen, als er Hinrichs ernstes Gesicht sah und versuchte sich zu konzentrieren. Dann spürte er es wie ein leichtes Ziehen am Hinterkopf.
    Er befand sich in Gefahr!
    Die Nordmänner standen geräuschvoll auf.
    Gemeinsam mit dem Händler schwankte er rasch aus der Kaschemme. Draußen wehte ein leichtes Lüftchen. „Ha. Es scheint, wir können bald wieder den Anker lichten. Hier entlang mein junger Freund“, drängte Hinrich. Der sanfte Wind tat Ignatus Kopf gut, allerdings meldete sich jetzt sein Magen.
    „Moment“, lallte er und hielt sich an dem dünnen Stamm einer Birke fest. Geräuschvoll entleerte er seinen Mageninhalt auf das Pflaster. Dann hörte er leise Schritte. Sie kamen rasch näher.
    „Das ist kein guter Zeitpunkt“, zischte Hinrich und zerrte an seinem Arm. Ignatus spürte die Besorgnis des Kaufmanns. Benommen wischte er sich den Mund ab und sah auf. Es waren die Nordmänner aus der Schenke.
    „Dieser Mann da ist keine gute Begleitung“, rief der große Mann mit dem langen Zopf und deutete auf den Kaufmann.
    Hinrich antwortete in einer Sprache, die Ignatus nicht verstand. Die Nordmänner antworteten mit zornigem Gebrüll. Einer sprang wütend auf den Kaufmann zu.
    “Neiijn“, schrie Hinrich auf.
    Ignatus reagierte blitzschnell. Sein Schwert fing den Hieb des Gegners ab, sodass die breite, schartige Klinge des Nordmannes vor Hinrichs Hals zum Stehen kam.
    „Das lasst mal“, grunzte Ignatus und sah etwas spät, wie ein zweiter Mann sein Schwert schwang. Die Klinge kam auf ihn zu. Das würde knapp werden.
    Er fühlte das Rauschen der Macht in seinem Blut und hob die Hand. Der Mann stoppte mitten im Lauf, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer geprallt. Ignatus spürte das Gewicht des Mannes. Er lenkte den Fluss der Macht nach belieben, es war ganz einfach. Der Mann schrie auf und flog mehrere Meter weit durch die Luft. Er landete schließlich mit dem Hinterteil voran in einer Hecke. Die Nordmänner wichen unsicher zurück. Hinrich musterte seinen neuen Freund eingehend und grinste dann freudig.
    Ignatus zeigte den Nordmännern seine Klinge. „Geht zu Bett. Für euch gibt es hier nichts.“
    Die Nordmänner schauten unschlüssig. Der große Krieger mit dem Zopf zuckte schließlich mit den Schultern und steckte sein Schwert weg. „Es ist deine Entscheidung junger Magus.“ Kopfschüttelnd zogen sich die Männer zurück und verschwanden fluchend zwischen den Häusern.
    „Sind sie weg? Kommen sie wieder?“, flüsterte Hinrich besorgt.
    „Die kommen nicht wieder“, grunzte Ignatus. Ihm wurde wieder übel.
    Das verdammte gute Bier!
    „Komm schon“, drängte Hinrich. „Sonst kommen sie doch noch mit Verstärkung zurück.“
    „Ist mir doch egal, sollen sie ruhig zurückkommen.“
    „Nicht übermütig werden, junger Wanderer“, mahnte Hinrich und leitete den schwankenden Jungen in eine Seitenstraße.
    „Warte“, sagte Hinrich nachdenklich und griff an seinen Gürtel. „Jemanden wie dich könnten wir brauchen.“
    Ignatus fühlte einen kurzen schmerzhaften Stich an der Seite, als hätte ihn ein Insekt gestochen. Plötzlich erfasste ihn eine große Müdigkeit. Er musste sich unbedingt etwas hinlegen.
    Als er wieder erwachte, schmerzte sein Kopf, als würde ein Gnom von innen auf seine Schädeldecke hämmern. Blinzelnd schlug er die Augen auf. Über ihm kreiste eine Möwe. Das große Rahsegel der Kogge blähte sich im Wind. Hastig zog er sich die Reling hoch. Kein Land in Sicht.
    Nur das offene, unendliche Meer.

    • Offizieller Beitrag

    Pfählers Naschwerk (von @wennnichtjetzt)

    Bisher hatten sie nahe einer Wasserstelle unter dem dichten Blattwerk hoher Bäume gelagert, um der Glut des Tages zu entgehen. Sie, das waren Paul, Temhult (seine Freunde nennen ihn Tem) und Adele, die es auf WEIßWELT verschlagen hatte. Zwar hätten Tem und Adele in ihre Heimatwelt - GRÜNWELT - zurückspringen können. Jedoch war Paul gegenwärtig aus unbekannten Gründen die Rückkehr nach GRAUWELT verschlossen. So waren die Freunde bei ihm geblieben, um den bereits bekannten und den noch ungewissen Gefahren von WEIßWELT gemeinsam die Stirn zu bieten.
    Es war immer noch zu warm, um angenehm zu sein. In dem Furcht einflößenden Wald mit seinen fremden, drohenden Geräuschen wollten sie jedoch auf keinen Fall die Nacht verbringen. Deshalb waren sie aufgebrochen, zumal sie wussten, dass eine sich aus dem Wald erhebende Berglandschaft nahe war.
    Und tatsächlich: Sie waren kaum eine Stunde auf Wildwechseln unterwegs, als die Bäume zurückwichen und den Boden einer steinigen, rasch ansteigenden Savannenlandschaft freigaben. Mit dem Schweiß auf der Stirn stand keinem der Sinn danach, sich an diesen Hängen abzuarbeiten. Also zogen sie zunächst am Fuß der Berge weiter. Und sie hatten Glück. Bald öffnete sich ein schmales Tal mit einem Wasserlauf, der sich gemächlich zwischen den Höhenzügen herab trollte. „Sollen wir?” Eigentlich war es mehr eine Feststellung als eine Frage, denn welche Alternative hätten sie sonst?
    Das Tal zog sich allmählich ansteigend hin und die Hänge der Berge säumten den Pfad in geschlossener Front. So war es ihnen vergönnt, im Schatten zu bleiben. Doch bald fiel die Wand rechterhand ab und gab einen Einschnitt frei, der wie der Zugang zu einem anderen Tal anmutete. „Was meint ihr?“, Paul schaute sich orientierend um. „Hier kommt erst mal nichts anderes. Vielleicht wird es da interessanter.“ „Vielleicht, vielleicht nicht.“ Tem war unschlüssig. „Aber eigentlich ist es egal“, sagte er dann. „Wenn du meinst, machen wir es“, Adele zuckte mit den Achseln.
    Zunächst glich der Einschnitt einem ausgestreckten Schlauch, so dass sie den Verlauf vorweg einsehen konnten. Dann aber verstellte ein kleiner Anstieg den Blick. Dahinter traten die inzwischen hoch aufragenden Bergflanken zurück, wohl, um einem breiteren Tal zu weichen.
    Selbst im abendlichen Licht war der Weg zu einer schweißtreibenden Angelegenheit geraten. So hielten sie, oben angelangt, zunächst inne, um ihren Wasservorrat zu strapazieren. Nachdem sie verschnauft hatten, wandten sie sich der Umgebung zu. Vor ihnen öffnete sich das Gelände zu einer kleinen Hochebene. Zunächst zogen aber die Kammlinien der die Ebene begrenzenden Berge und deren Hänge ihre Blicke wie magisch an.
    Es schien, als wären die Flanken mit geschmolzenen Glas überzogen, das ungleichmäßig herab laufend in der Bewegung erstarrt war. „War das die Sonne?” Unwillkürlich senkte Paul die Stimme. „Na, dann ist es ja gut, dass wir hier erst am Abend ankommen, sonst wäre wir hübsch gegrillt worden.” Ben gab sich flapsig, aber sein Blick schwenkte unruhig hin und her.
    In den Hängen fing sich das rötlich gewordene Abendlicht, überlagert von den vielfarbenen Reflexionen durch die Sphäroben hoch am Himmel. In ihrem hin und her huschenden Flattern ließen sie unruhige farbige Muster über die Bergflanken wandern und in die Ebene hinab gleiten.
    Dadurch wurde der Blick auf den Kessel gelenkt. Der Atem stockte und dunkle Vorahnungen stiegen auf. Unten auf der Ebene, die sich vielleicht zweihundert Meter hinzog, waren zugespitzte Pfähle in den Boden gerammt, teilweise fast so hoch wie Fahnenstangen, aber stärker. Es mochten mehrere Dutzend sein, unregelmäßig in der Ebene verstreut. Viele waren leer, doch auf einigen staken Massen, die gegen das nun schräg einfallende Licht dunkel und unförmig abhoben. „Was ist das?“, entfuhr es Adel spontan. Allen war es in dem Moment, in dem Adele die Frage ausgesprochen hatte, als würden sich die Haare auf dem Rücken aufstellen.
    Zögernd gingen sie in das Tal hinab, bedachtsam, als könnte sich der Boden unter ihren Füßen öffnen. Schritt um Schritt näherten sie sich den Pfählen und allmählich nahmen die gestaltlosen Massen an. Bald konnten sie es nicht mehr leugnen: Es handelte sich um Lebewesen, denen nun nichts Lebendiges mehr anhaftete. Sie wirkten aber anders – schmaler.
    Kaltes Entsetzen kroch ihnen in die Glieder. Gleichzeitig wohnte dem Schrecken aber auch eine Faszination inne, der Sog weiterzugehen. Und nun sahen sie dunkle Flecken unter den Leibern. Sie waren offenbar aufgeschnitten worden, um das Blut abfließen zu lassen und die Kadaver auszuweiden.
    Ein Zebra stak auf einem der Pfähle. Paul fiel ein Karussell aus seiner Kindheit ein. Hölzerne Pferde und andere Reittiere, auf einen Mittelpfahl gesteckt, schwebten in der Luft und nickten während der Fahrt. So war auch dem Zebra der Spieß durch den Leib gestoßen worden und aus dem Rücken wieder herausgetreten. Sie wagten sich weiter vor. Büffelartige Tiere, ein überdimensionierter Tiger und einige unbekannte Wesen bildeten eine Galerie des Schreckens. Selbst einige der schnellen sechsbeinigen Echsen hatten hier ihr Ende gefunden. Und – das Herz wurde ihnen schwer – drei Vogelmenschen waren übereinander einem Schaschlik gleich aufgespießt. <Das könnten auch wir sein>> Obwohl es immer noch sehr warm war, spürte Paul ein Frösteln zwischen den Schultern.
    Die Spieße waren allerdings häufig nicht, wie bei dem Zebra, durch den Leib getrieben. Einige Opfer waren längs vom After her aufgespießt und der Spieß trat ihnen am Hals heraus, andere hingen wiederum mit dem Kopf nach unten, den Spieß durch das offene Maul gestoßen. Es war keine Regelmäßigkeit erkennbar und auch kein Grund, warum die einen waagerecht, die anderen senkrecht aufgespießt worden waren. Nur in ihrem furchtbaren Schicksal waren sie vereint.
    Am stärksten traf es Paul, als sie schließlich vor einem Elefanten standen. Er war rückwärts aufspießt worden, seine Stoßzähne ragten neben der oberen Spießende gegen den Himmel, der Rüssel hing schlaff seitlich herab. Es war ein schrecklich-grotesker Anblick. Paul hatte einmal einen Band mit Bildern von Salvatore Dali gesehen. <<Das könnte von dem sein>> schoss es ihm spontan durch den Kopf. Doch was war das für ein Wesen, das zu solchen Leistungen imstande war? Allen stieg ein Grauen hoch, sie hasteten davon und kamen erst schwer atmend zum Stillstand, als sie die Ebene hinter sich gelassen hatten.
    Dort wandten sie sich noch einmal zurück. Inzwischen tauchte die Sonne hinter die Bergkämme und warf letzte Strahlen, sodass die gespenstische Szene, wenn sich das Licht im Fell der Tiere verfing, noch einmal wie ein Vorhof zur Hölle aufflammte. Die Flanken der geschmolzenen Berge spiegelten in das Tal hinein und formten farbige Schattierungen, auf denen sich die aufgespießten Wesen aus der Ferne wie Pailletten auf einem riesigen Tuch abhoben.
    Paul schüttelte sich, den anderen erging es nicht anders. Erst jetzt wagte es Adele zu sprechen. „Versteht einer, was das ist?“, sie flüsterte fast, um ja keine Aufmerksamkeit zu erregen. „Ich glaube, das ist eine Dörrkammer“, sagte Paul langsam. „Wenn die Sonne hoch steht und die Berge hinein spiegeln, werden da drinnen enorm hohe Temperaturen erreicht und das Ganze durchgegart.“ „Aber wer verzehrt solche Mahlzeiten?“, fragte Ben und schaute sich unwillkürlich um, als wenn dieses gigantische Wesen bereits mit tropfenden Lefzen hinter ihm lauern könnte.
    „Ich habe nicht die geringste Vorstellung, was das sein könnte“, antwortete Paul mit schwerer Stimme. „Aber ich ahne, warum wir zuletzt so wenig Tiere gesehen haben. Irgendetwas kommt hier in der Nacht raus und treibt sich auf Nahrungssuche herum”. In dem Augenblick, als er es ausgesprochen hatte, wurde ihm und den anderen noch einmal bewusst, in welch brandgefährlicher Gegend sie sich befanden. Und wenn sie sich an die Flottanten erinnerten – nicht auszudenken, wenn auch sie zu dritt auf einem Spieß vereint endeten. „Was machen wir?“, stieß Adele gepresst hervor. „Bloß weg von hier!” Bens Worte waren Startsignal für eine überhastete Flucht, wo auch immer sie enden sollte.
    Am Morgen nach einem unruhigen Schlaf in einer Höhle war Paul unsicher, ob jene ungeheuren Füße, die die Senke vor der Felswand auszufüllen schienen, ihm im Traum erschienen waren oder ob er sie wirklich gesehen hatte.

    • Offizieller Beitrag

    Unter glühender Sonne (von @Cory Thain)


    Es war heiß. Karneo hatte gewusst, dass es in der Wüste heißer war als in der Stadt. Doch so schlimm hatte er sich nicht vorgestellt. Selbst sein graues Sonnenschutztuch, dass seinen Körper komplett umhüllte, schien kaum die Hitze abwehren zu können. Karneo wollte nicht darüber nachdenken, ob es wohl außerhalb der Hülle noch heißer sein könnte.

    Die Truppe war schon seit knapp 40 Tagen hier draußen, Männer und Frauen, die dem Elend der Stadt hatten entfliehen wollen. Allesamt waren sich in das gleiche schützende Grau gehüllt, sodass man nur spärlich erkennen konnte, wer wo ging. Nur der kleine stoffverhüllte Mensch neben Karneo war klar von den anderen zu unterscheiden: Robino, Karneos Bruder war eigentlich noch viel zu jung für die Wanderschaft gewesen. Doch seit die Eltern der beiden im Vorjahr auf die Wanderung gegangen waren, hatte Robino nur noch seinen Bruder. Und Karneo hatte sich erweichen lassen, den kleinen Jungen mit auf die Reise zu nehmen. Eine Reise, von der es keine Wiederkehr gab.
    Wenn sie erst die Berge erreichten, wären sie aller Sorgen ledig. In den Bergen gab es Höhlen, die so tief waren, dass selbst im längsten Sommer angenehme Kühle herrschte. Quellen, klar und sprudelnd, an denen man seinen Durst löschen konnte, wann immer es einen danach gelüstete. Schattige Täler, in denen man selbst am Tage ohne Schutz wandeln konnte. Das Traumreich! Noch nie war jemand von dort zurückgekehrt in die Stadt. Warum auch, das Leben in der Stadt war unangenehm und hart...
    Böse Zungen allerdings behaupteten, dass nur deshalb niemand zurückkehrte, weil niemand die Wanderung überlebte. Doch der Traum war nicht zu töten. Jedes Jahr brachen viele Leute auf, um ein besseres Leben zu finden.

    Karneo wusste, dass die Wüste zu durchqueren, ein gefährliches Unterfangen war. Es waren in ihrer Gruppe bereits drei Leute gestorben, weil sie ihr Trinkwasser nicht richtig eingeteilt hatten, oder sie sowieso zu schwach gewesen waren.
    Der erste Tote war die schlimmste Erfahrung. Die graue Gestalt war einfach in sich zusammengesackt. Irgendwer hatte unter seinen Umhang geblickt und festgestellt, dass er tot war. Einfach so, von einem Augenblick zum anderen ... oder wer weiß, wie lange er schon stumm gelitten hatte. Und dann hatte ein anderer dem Toten das graue Tuch vom Leibe gezogen. Der Leichnam war nun der prallen sengenden Sonne ausgesetzt und machte in beängstigender Geschwindigkeit eine grausame Wandlung durch: Seine Haut wurde glasig, irgendetwas graues waberte in den Beulen, die größer wurden, ineinander über gingen. Und dann riss die Haut, das graue Zeug floss heraus auf den Boden und versickerte. Die Haut fiel in großen Fetzen vom Körper des Toten, und das Fleisch darunter war schwarz und rissig, wie alte trockene Kohle. Der Leichnam lag schließlich wie ein verbranntes Häufchen im Wüstensand, sein Gesicht war nur noch eine schwarze Fratze, eigentümlich verzerrt, als hätten ihn noch im Tode die Schmerzen der Veränderung gequält.
    Bei den zwei anderen Toten, einer älteren Frau und einem jungen Mann in Karneos Alter, hatten sie den Leichen das Tuch gelassen. Nicht so sehr aus Respekt oder Ehrfurcht, sondern aus Angst, dieses Schauspiel ein weiteres Mal miterleben zu müssen.

    Als Robino wankte, fasste Karneo sofort zu: „Was ist, Bruder?“
    Robinos Stimme war schwach, durch die Tücher hindurch kaum noch zu hören: „Wasser! Ich hab kein Wasser mehr!“
    Karneo zog Robino an sich und hob ihre beiden Tücher, sorgsam darauf bedacht, keine Sonne abzubekommen. „Nimm von meinem,“ bot Karneo an, wissend, dass er sich vielleicht selber damit zum Tode verurteilte. Doch Robino war schon zu schwach, nach Karneos Flasche zu greifen und als der Größere seinem Bruder das Getränk an den Mund setzte, sackte Robino mit einem kläglichen Seufzer zusammen und zerrte dabei an den grauen Tüchern.
    Für den Bruchteil eines Augenblickes war Karneos linke Hand mit der Wasserflasche den grellen Strahlen der Sonne ausgesetzt. Eilig zog Karneo sein Tuch wieder zurecht und beugte sich über Robino. Der kleine Junge atmete bereits nicht mehr. Karneo strich ihm mit der Hand über den kleinen überhitzten Kopf: „Du hättest noch nicht gehen sollen... WIR hätten noch nicht gehen sollen!“ flüsterte Karneo „ich bin schuld!“

    Sorgsam deckte Karneo seinen Bruder mit dem grauen Tuch zu. Dann erhob er sich und steckte seine Wasserflasche wieder weg. Dabei bemerkte er winzig kleine rote Punkte auf seinem linken Handrücken.
    Es waren nicht viele und sie lagen weit auseinander, und vor allem: Es juckte nicht. Karneo beobachtete einen Moment die Pünktchen, doch da sie sich nicht veränderten, schob Karneo den Gedanken daran weg. Er musste eilen, um die Gruppe wieder einzuholen.

    Irgendwann begann die Hand zu kribbeln, als liefen tausende winzige Tierchen darauf herum. Karneo wollte nicht hinsehen und tat es doch. Die Punkte waren zu kleinen Blasen herangewachsen, in denen graue Flüssigkeit schwappte. Interessanterweise fühlte sich die Hand kühl an, sehr viel kühler als sie es bei einer solchen Hitze sein sollte.

    Karneo konnte nicht aufhören, seine Hand anzustarren, die Blasen wurde größer, langsam nur, sehr viel langsamer als bei dem Toten in der Wüste, aber irgendwann wuchsen sie zusammen und waren eine große grau wabernde Fläche. Mit der Faszination des Ekels tippte Karneo mit der gesunden Hand auf die Blase, die daraufhin platzte und unter dem herunterlaufenden grauen Schleim schwarzes rissiges Fleisch offenbarte.

    Es tat nicht weh. Das war das Eigentümliche. Karneo verspürte keinerlei Schmerz. Und als er mit der gesunden Hand auf den schwarzen Handrücken fasste, fühlte es sich zwar rauh an, aber die rissige verbrannte Hand lebte. Sie fühlte sich an, als sei sie völlig normal und das Rissige sei nur eine Schicht Dreck oder Schorf, der bald abfiele. Versuchsweise rieb Karneo daran, aber es gelang ihm nicht, das Schwarz wegzuwischen.

    Karneo hatte nicht bemerkt, dass er langsamer geworden war und schließlich stehengeblieben. Immer wieder versuchte er, den schwarzen Schorf wegzurubbeln, vor allem, weil nun auch sein linker Arm mit kleinen roten Pünktchen bedeckt war. Unten am Handgelenk waren schon die ersten Blasen ineinander gewachsen und das kühle Gefühl des grauen Schleims begann zu wirken. Es war, bis auf das anfängliche Kribbeln, fast angenehm.
    Als sein Oberkörper die ersten Bläschen zeigte, war der linke Unterarm bereits schwarz und rissig wie die Hand. Karneo hatte aufgegeben, zu reiben. Als sei es nicht er, der da kühl verbrannte, beobachtete er die Szenerie fast schon unbeteiligt.

    Vom Oberkörper breiteten sich die roten Punkte gleichmäßig auf alle Körperteile aus. Die Blasen wuchsen, platzen und hinterließen schwarzes Fleisch.

    Und jetzt tat es auch weh. Nicht besonders schlimm, eher, als zerre das trockene Fleisch an Knochen und Muskeln unter sich, als schöbe und verforme sich der Körper. Allerdings konnte Karneo keine wirklichen Veränderungen erkennen. Zumindest bis zu jenem Punkt, da das graue Tuch seine mit Bläschen übersäten Beine freigab. Eilig versuchte Karneo, sich zu bedecken, doch er musste feststellen, dass das Tuch geschrumpft war. Es reichte nicht mehr, um sich darin einzuwickeln.

    Es machte ihm jedoch keine Angst und einen Augenblick fragte er sich, ob er nicht schon tot war oder zumindest im Delirium, fiebernd wildes Zeug träumend. Auch das ängstigte ihn nicht.

    Er richtete sich auf, ließ das graue Tuch achtlos zu Boden gleiten und wartete auf den Sonnen-Tod. Doch er starb nicht. Die Sonne war nur angenehm warm auf seinem Körper und der Wind der Wüste strich kühlend über seine schwarze Haut.

    Eine eigentümliche Bewegung hinter ihm ließ ihn erschrocken aufspringen und es dauerte einen Augenblick, eher er begriff, dass er nicht wieder landete nach dem Sprung. Im Gegenteil, immer höher stieg er in den klaren blauen Himmel, der Sonne entgegen, mühelos, schwerelos.

    Karneo blickte nach unten zum Boden, der sich langsam entfernte. Ein Schatten auf dem Wüstensand entfachte Panik in ihm: Ein riesiger Drache flog irgendwo über ihm im Blau... Unruhig sah sich Karneo um. Da war nichts. Nirgendwo.


    Nur er selber...

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    Rhinjo (von @bigbadwolf)

    Ich werde Rhinjo genannt. Zumindest die meisten der großen Völker nennen mich heute so, aber früher hatte ich auch andere Namen, zum Beispiel »Hurga«. Davor hatte ich leider keinen Namen, aber das war auch in Ordnung. Ich finde es schön einen Namen zu haben, denn vermutlich können nur wenige meiner Art so ein Gut ihr Eigen nennen. Es ist ein Stück Identität und im Schein der brennenden Kugel ein wichtiger zeitlicher Anker für meine Gedanken.
    Die »Sonne«, so wird dieser Feuerball genannt. Meiner Meinung nach ein viel zu schöner Name für etwas so Unerträgliches. Doch ich weiß nur zu gut, wie wichtig ihre Wärme ist, welche Schönheit sie erblühen lässt.
    Mein Name ist Rhinjo. Manchmal fällt es mir schwer, mich auf die aktuellen Belange zu konzentrieren und dann verhilft mir mein Name ins Hier und Jetzt. Um ehrlich zu sein, macht es keinen Unterschied, ob ich die aktuellen Ereignisse mitbekomme. Kriege werden geführt, Unwetter ziehen auf, Goblins werden geboren und töten einander und auch der Elbenkönig kann seinen Jahren nicht entfliehen. Aber es ist dennoch schön, das Eine oder Andere zu erfahren. Verschwörungen, politische Intrigen oder auch schlichte Notlügen sind zu Tausenden an der Tagesordnung. Es geschieht so viel Interessantes und selbst, wenn ich nicht alles sofort verstehe, lohnt es sich, dabei zu sein. Mittlerweile weiß ich nämlich, dass ich ein schier unbegrenztes Gedächtnis habe. Ja, es stimmt. Ich könnte von der generationenlangen Belagerung Elgaroths erzählen, jede Sekunde des Kampfes zwischen Trollen und Zwergen in der Schlacht am Weinenden See schildern und auch die Vermählung von Zalja und Isenbold bleibt als größte Hochzeit überhaupt in meinem Wesen verankert. Doch ebenso eindrucksvoll ist das Leben eines Ahorns, sein wunderbares Wachsen und Gedeihen, der Kampf gegen Unwetter und Insekten. Die Geschichten eines Baumes mögen weniger wichtig erscheinen als die eines Zwerges, aber ich habe festgestellt, dass jedes Leben objektiv gleichwertig ist. Und selbst das Leben ist nur ein Aspekt dieser Gegenwart, nimmt man die Steine, die Luft, die salzigen Meere hinzu. Es gibt Steine, die haben mehr Geschichte geschrieben als Kervas, der Grausame. Nahezu jede Welle des Großen Halion hat mehr Schiffe gesehen als der älteste Elbenseemann. Doch nur allzu leicht kann man dies vergessen, zumal es in den letzten Jahrtausenden immer mehr Menschen, Elben, Zwerge und dergleichen wurden. Ich denke ja, sie sollten sich selbst nicht so wichtig nehmen, aber vielleicht urteile ich auch zu hart über sie… immerhin werden sie mit der Zeit relativ durchschaubar und insofern sind sie zumindest angenehmer als beispielsweise Katzen.
    Heute bin ich Rhinjo, davor war ich nur ich. Manchmal denke ich an die alten Zeiten, in denen die Ruhe noch vorherrschte, das ziellose Sein und die bedingungslose Freiheit zufälliger Existenzen...
    Hm, wenn ich so darüber nachdenke, bin ich wohl auch eine dieser zufälligen Existenzen. Eine interessante Vorstellung… ich sollte den Astronomen der Gnome mal wieder beiwohnen. Ob ich einem Zufall entsprungen bin? Vielleicht gilt das auch für die Sonne mit ihrer ganzen Hitze? In den letzten Jahrmillionen ist sie immer heißer und auch etwas größer geworden. Oder ist das bloß Einbildung? Nein, ich glaube, ich hab in der letzten Zeit wirklich mehr Wüsten und Wirbelstürme bekommen. Früher hatte ich sogar mal eine hübsche Eisschicht, aber das ist lange her…, ich hoffe nur, dass das nicht so weitergeht, sonst kriegen meine Bewohner noch echte Probleme.

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    Die Mission (von @Tariq)

    Schneller!
    Sie musste schneller werden.
    Es war bereits jetzt schon unaussprechlich heiß. Keine Wolke am Himmel. Erbarmungslos brannte der Glutball.
    Sie wusste, dass diese Hitze gefährlich für sie war. Wenn sie nicht mehr genug von der Substanz hatte, mit der sie ihren Körper davor schützte, dann war ihr Leben in Gefahr.
    Ganz früh heute, als gerade der Morgen graute, war alles noch in Ordnung gewesen. Als sie von den anderen Abschied nahm und sich auf den Weg machte, herrschte noch angenehme Kühle. Nichts deutete auf das hin, in was sie nun geraten war. Wenn sie das Tempo beibehielt, würde sie sehr lange unterwegs sein. Länger als geplant, vielleicht sogar bis zum Abend. Wahrscheinlich hatte sie die Entfernung unterschätzt. Dabei hatte es so nahe ausgesehen.
    Vor ihr breitete sich die kahle, endlos weite Fläche aus. Das leere Land nannten sie es. Der Name war der einzig passende, denn hier wuchs nichts. Der Boden war hart und völlig kahl. Aber ganz, ganz weit am Horizont leuchtete ein schmaler grüner Streifen. Ihn galt es zu erreichen. Sie musste es einfach schaffen. Schließlich war sie die schnellste Läuferin im Langfuß-Stamm. Ihr schlanker, muskulöser Körper hatte kein Gramm Fett. Nur ihr Bruder war noch schneller.
    Das Grün versprach Nahrung in Hülle und Fülle. Wo grün war, wuchs etwas. Und wo etwas wuchs, war Leben.
    Auch zu Hause waren alle satt geworden. Bis jetzt. Doch das würde nicht so bleiben. Seit dem Frühling wuchsen am Horizont Bauten in den Himmel, die sie Wolken-Riesen nannten, weil sie fast mit denen zusammenstießen. Es wurden immer mehr, und sie rückten bedrohlich näher. Schon jetzt hatte der Langfuß-Stamm unzählige Flüchtlinge zu versorgen, die aus den Gebieten kamen, wo sich jetzt diese monströsen glatten Wände erhoben. Sie verdunkelten die Sonne, und sie verkleinerten ihren Lebensraum. Mit jedem Tag wurde es weniger. Die Stammesältesten hatten das Orakel befragt, was sie tun sollten, und hatten als Antwort ein Bild erhalten. Das, was sie selbst jetzt vor sich sah: Ein verzerrtes, flimmerndes Abbild des grünen Streifens am fernen Ende des leeren Landes. Die Ältesten waren zu dem Schluss gekommen, dass dort die Hoffnung ihres Volkes lag.
    Deshalb musste einer den Weg dahin finden. Einen Weg, den auch die Schwachen und Kranken bewältigen konnten, denn keiner sollte zurückgelassen werden. Schon andere vor ihr hatten es versucht. Doch niemand wusste, was auf der anderen Seite war, weil nie jemand zurückkam. Dort musste das Paradies sein.
    Es war so heiß. Sie merkte, wie ihre Bewegungen langsamer wurden. Wo war ihre Flinkheit geblieben, ihre Geschmeidigkeit, ihr atemberaubendes Tempo.
    Gestern war es wieder so weit gewesen. Das Los wurde geworfen, um erneut jemanden auszusenden. Fünf Freiwillige hatten sich gemeldet, und auf sie war es gefallen. Und deshalb hatte sie sich heute auf den Weg gemacht. Und sie würde auch zurückkommen.
    Es war nicht das erste Mal, dass sie im leeren Land unterwegs war. Gefährlich war es immer dort. Niemandem hatte sie bislang von den schwarzen Schatten erzählt, die blitzschnell über den Himmel zogen. Oder von den Giganten. Das waren zornig brüllende Monster, die die Erde erzittern ließen, wenn sie heranstürmten. Noch nie hatte einer von ihnen sie erwischt, obwohl sie gegen deren Tempo chancenlos wäre. Deshalb vermutete sie, dass die Giganten blind waren und verharrte absolut still und reglos, wenn einer nahte.
    Jetzt verschnaufte sie einen Augenblick, obwohl es gefährlich war, anzuhalten. Wenn sie hinter sich schaute, sah sie ihre Spur. Unübersehbar zeigte sie den Weg, den sie schon zurückgelegt hatte. Ganz in der Ferne konnte sie den grünen Streifen ausmachen, von dem sie gekommen war. Wo die anderen zurückgeblieben waren, ihr nachgesehen hatten und nun auf ihre Rückkehr warteten.
    Weiter!
    „Schneller“, trieb sie sich selbst an, „lauf schneller!“
    Höher und höher stieg die Sonne. Weit und breit gab es nichts, was Schatten spenden konnte. Sie spürte die sengende Hitze auf ihrer Haut. Doch noch hatte sie genügend von der Substanz. Bislang war sie auch nicht erschöpft, aber sie wusste, das würde sich ändern. Die Zeit war ihr härtester Gegner. Denn es wurde immer heißer. Mit jeder Minute, die verging. Erbarmungslos hüllte die heiße Luft sie ein, und der kahle Boden heizte sich auf. Es war schon deutlich zu merken.
    Sie versuchte, noch schneller voranzukommen, denn jetzt spürte sie die Gefahr. Ihr Körper wurde wärmer. Dann würde er noch mehr von der lebensnotwendigen Substanz benötigen. Nur sie schützte durch die besondere Mischung der geheimnisvollen Zutaten ihre Haut wirksam vor dem Austrocknen in der Hitze. Sie musste sparsam damit sein.
    Kam sie dem grünen Saum am Horizont näher? Er war nur undeutlich zu sehen durch diesen flirrenden Schleier, der ihn seltsam verzerrte und flimmern ließ. Diesen Schleier musste sie erst noch durchdringen. Wie es sich wohl anfühlen würde? Keiner hatte ihr sagen können. Erst dahinter kam üppiger, grüner Dschungel.
    Bald musste sie es geschafft haben. Nur immer weiter, nicht nachlassen.
    Ein Schatten huschte über sie hinweg. Erschrocken sah sie nach oben und versuchte instinktiv, sich klein zu machen. Es gab keine Deckung, nichts, wo sie sich verbergen konnte. Ein neuer Schatten, gleich darauf ein zweiter. Sie wusste genau, über ihr war etwas. Nicht mehr nur die Hitze war die Gefahr, die glühende Sonne. Auch diese unheimlichen schwarzen Schatten flößten ihr Furcht ein.
    Und als wäre das noch nicht genug, begann nun der Boden zu zittern. Ein sachtes Beben, das aber unaufhaltsam und vor allem schnell näherkam. Mühsam rang sie ihre Angst nieder. Sie kannte es. Eines der blinden, brüllenden Monster, ein Gigant, näherte sich. Doch niemals erschien es ihr so laut und so bedrohlich nahe wie diesmal! Immer stärker wurde das Zittern und immer lauter das Geräusch, verstärkte sich zu einem Brummen und Dröhnen, bis es alles übertönte. Es schien viel näher als sonst zu sein. Wie schon vorhin bei den Schatten erstarrte sie förmlich und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen.
    Und dann war der Gigant vorbei. Die riesigen, walzenartigen Beine hatten sie verfehlt. Das Dröhnen wandelte sich wieder in ein Brummen, das immer leiser wurde. So schnell, wie es gekommen war, war es wieder erstorben. Befreit atmete sie auf. Er hatte sie ein weiteres Mal nicht gesehen.
    Ihr Herz hämmerte in harten Stößen. Weiter, nur schnell weiter!! Fort von hier.
    Nur noch durch den flirrenden Schleier hindurch, um das Grün zu erreichen. Das Paradies, wo all die anderen waren. Wovon sie den anderen bei ihrer Rückkehr erzählen konnte und wohin sie eines Tages ihr Volk führen würde.
    Verbissen strengte sie sich an, verdoppelte ihre Bemühungen. Eine Weile ging es gut voran. Aber dann merkte sie, wie alles an ihr zu schmerzen begann. Die Substanz war aufgebraucht. Und jetzt ging es um nichts anderes als um ihr Leben, das war ihr klar. Jede Bewegung tat jetzt weh und ihre Haut begann zu brennen.
    Unerbittlich war die Sonne, warf Glut vom Himmel und brachte sie an den Rand der totalen Erschöpfung. Das Brennen auf der Haut wurde heftiger, die Schmerzen bei jeder Bewegung stärker. Der Gedanke, einfach anzuhalten und aufzugeben, wandelte sich zum alles beherrschenden Wunsch. Kaum konnte sie der Versuchung widerstehen, ein bisschen auszuruhen. Doch das durfte sie nicht. Nicht sie, die schnellste Läuferin vom Langfuß-Stamm. Sie würde nicht aufgeben. Die anderen verließen sich darauf, dass sie das Ziel erreichte.
    Doch die Zeit schritt unerbittlich fort, und noch stand die Sonne nicht einmal im Zenit.
    Gerade als sie ihre Anstrengung noch einmal verdoppelte und sich trotz der Schmerzen schneller bewegte, hörte sie wieder eines der brüllenden Monster näherkommen.
    Einen Moment später fuhr ein LKW über die erschöpfte Schnecke hinweg, die bereits zwei Drittel der Straße überquert hatte.

    • Offizieller Beitrag

    Eine Ewigkeit an Deck (von @Ralath)

    Der einsame Schrei einer Möwe erklang über ihm.
    Durans Lider flatterten zunächst, bis es ihm schließlich gelang, sie ganz auseinander zu zwängen. Er blinzelte gegen die blendende Helligkeit an, die verschwommenen Umrisse über ihm gewannen langsam wieder an Schärfe. Mit den Konturen der schlaffen Segel, der Takelage und des imposanten Hauptmastes, kehrte aber auch der quälende Durst zurück. Und gleichsam mit ihm die unerträglichen Kopfschmerzen, sowie das Gefühl, als läge seine Zunge wie ein aufgedunsener, toter Hering in seinem Mund.
    Über ihm erstreckte sich noch immer nichts anderes als der wolkenlose Himmel, mit Azodyns unerbittlich niederbrennendem Auge, das er am liebsten wie eine räudige Katze im türkisblauen Meer ertränkt hätte.
    Er tastete mit aufgerissenen Fingerkuppen nach der Bordwand. Seine Hand, die seit einer Weile mehr und mehr ihr Gefühl einbüßte, fand unsicher Halt. Durans schweißgebadeter Körper pappte für einen Moment an den teerversiegelten Planken fest, dann gab ihn der warme, klebrige Untergrund nach einem kurzen Kampf frei. Ächzend zog er sich an der Reling hinauf. Es war, als würde das Schiff selbst sich mit dem Meer und der Sonne verbünden, um ihm endgültig den Garaus zu machen.
    Zitternd vor Erschöpfung gelang es ihm, für einen Augenblick hinaus auf die See zu spähen, dann fiel er kraftlos mit einem dumpfen Poltern zurück auf das Deck und schloss die Augen.
    Ihm war schwindelig, selbst von dieser lächerlichen Anstrengung. Daran änderte auch der Schattenwurf des Segeltuchs über ihm nichts, das in völliger Windstille herunterhing.
    Fahrig fuhr er sich mit der Zunge über die ausgetrockneten Lippen, aber es gelang ihm nicht mehr, sie zu befeuchten. Sein Speichel klebte dick und zäh an seinem Gaumen und das nicht erst seit kurzem.
    Es war hoffnungslos. Überdies gab es auch gar keinen Grund, die geringste Mühe auf sich zu nehmen. Aus dem Krähennest wäre todsicher ein Ruf ertönt, wenn Land in Sicht gekommen wäre, oder ein anderes Schiff… aber niemand hatte etwas gerufen. Den ganzen Tag über nicht. Ebenso wenig, wie in den Tagen und Wochen zuvor.
    Vielleicht hatte Azodyns Gestirn auch bereits das Leben dieses Seemanns eingefordert. Man hätte es nicht für möglich halten sollen, aber oben, im vierzehn Schritt höher gelegenen Ausguck, war es noch heißer und die Luft noch stickiger, als an Deck.
    „Glücklicher Bastard“, murmelte Duran heiser, „wir restlichen Hurensöhne werden noch ein wenig weiter von Azodyns beschissener Sonne gebacken, wenn diese fliegenden Ratten uns nicht vorher tot hacken.“
    Ob die anderen bereits dasselbe Schicksal ereilt hatte?
    Sein Kopf rollte kraftlos zur Seite. Noch einmal gehorchten seine Lider der Order, sich zu heben. Obwohl er das Wogen des Wassers nicht spüren konnte und das Meer bei seinem Spähversuch ihren Kahn glatt wie ein Spiegel umschlossen hatte, knarrten die Bretter um ihn herum beständig unter ihrem eigenen Gewicht und der Hitze. Duran beäugte die anderen Mitglieder der Mannschaft mit leise rasselnden Atemzügen – zumindest jene, die sich in seinem Blickfeld befanden.
    Zwei seiner Kameraden konnte er ausmachen… der Rest… das wusste nur Azodyn selbst.
    Kendriks, ihr zweiter Maat, hing kniend und mit einem Arm über der Bordwand, sein Kopf, mit den langen straßenköter-blonden Haaren, ruhte auf dem Handlauf der Reling. Der goldene Ring an seinem Ohr schien in der Mittagssonne regelrecht zu glühen und funkelte Duran wütend an. Kendriks regte sich nicht, doch seine Haltung ließ erahnen, dass er noch nicht lange so da hing. Also lebte er vermutlich - noch.
    Keine zwei Schritt daneben lag Gregon, „die Rumkehle“, der erste Bukanier des Schiffes. Ein zäher, alter Haudegen, ein Seehund durch und durch, überall von Narben übersät, mit nur noch einer Hand voll Zähnen im Hals. Zugleich war er auch der Älteste an Deck. Eine schmutzstarrende rote Binde, lag ihm halb über das Gesicht, halb über die Glatze gezogen, um seine leere rechte Augenhöhle zu verdecken. Er trug sie, seit er sich vor Jahren unter Deck ein Auge mit einem Korken ausgeschossen hatte, als er sich unerlaubt an der hochprozentigen Ladung vergehen wollte. Fliegen krochen ihm nun über den grauen Bart und hinein in den offenstehenden Mund.
    „Ha Gregon“, gluckste Duran schwach hervor. „Wir haben beide gedacht, dass du uns alle überlebst. Da haben wir wohl beide falsch gelegen, was?“ Die Andeutung eines Grinsens hob seine Mundwinkel ein wenig. Selbst in seinen letzten Stunden stand ihm sein salziger Galgenhumor treu zur Seite. „Der Tod holt eben auch die Säufer. Vor allem die Säufer. Scheint trübselige Gemüter mehr zu schätzen, als alles andere.“ Seine Stimme wurde leiser. „Mehr jedenfalls, als die Gesellschaft von uns flohzerbissenen, durstigen Hunden.“
    Duran hatte keinen Zweifel daran, dass er einer der Nächsten sein würde, selbst wenn er sich nie viel aus Rum gemacht hatte.
    „Eine letzte Nase Tabak, das wär’s jetzt“, flüsterte er, während er einen Augenblick lang abdriftete, um in schöneren Gedanken zu schwelgen.
    Doch statt eine Prise Schnupftabak zu schniefen, trieb er weiter, wie seit Wochen zuvor, auf diesem Schiff durch einen gottverlassenen Ozean. Was hatte sich die Schöpfung für einen grausamen Scherz damit erlaubt, dass man mitten auf dem Meer – umgeben von Wasser – verdursten konnte, weil man eben jenes Wasser nicht trinken durfte. Schlimmer noch! Trank man es wider besseren Wissens, starb man nur noch schneller.
    Dabei hatte sich die Mannschaft dieses verfluchte Schicksal selbst eingebrockt.
    Duran hatte sie alle beschworen, es nicht zu tun. Wieder und wieder. Sie hätten den Priester in Frieden lassen sollen. Ihn unter Deck einsperren und in Quarantäne stecken können, bis die Krankheit den Mann von selbst dahingerafft oder er sich den Beistand von Azodyn herangebetet hatte, um es bis in den nächsten Hafen zu schaffen. Aber sie warfen ihn über Bord, noch bevor die erste Beule aufgeplatzt war. Aus Angst vor einer Seuche. Diese Tat vergolt Azodyn ihnen nun von oben herab mit seinem unerbittlichen Glanz, weil sie sich an einem seiner Anhänger vergangen hatten. Der Priester hatte das Schiff mit seinem letzten Atemzug verflucht, daran hegte Duran keinen Zweifel. Diese andauernde Windstille und die zugleich sengende Sonne waren kein bloßes Unglück, sie waren eine dreifach verdammte Gottesstrafe.
    Und nun litten sie alle gemeinsam, ohne dass er Schuld am Tod des Priesters trug... jetzt war es auch egal, denn unter der brütenden Sonne starben sie alle gleich. Niemand würde ihn und die restliche Mannschaft mehr retten können.
    Der Kapitän war längst über die Planke geschickt, jede Proviantkiste restlos geplündert, jedes Wasserfass bis auf den letzten Tropfen leergeleckt. Was nun blieb, war nur noch unter dem gleißenden Auge dieses trostlosen, unendlich blauen Himmels auf den Gevatter zu warten. Doch all das hatte er gestern schon gedacht, hatte gehofft, dass es heute endlich vorbei sein würde. Und? Jetzt lag er hier, erneut in diesen furchtbar quälenden Alptraum hinein erwacht. Der Gevatter wollte einfach nicht kommen, um seine Seele zu holen. Wie sollte er auch? Es gab kein Lüftchen, keine Brise oder Böe, auf der er heranreiten konnte.
    Allein der Gedanke daran, dass das, was von Duran bleiben würde, für ewig hier auf dem offenen Meer herumirren könnte, wie es Gregons Geist vielleicht bereits schon tat…
    „Nein“, murmelte Duran angestrengt, während ein letzter Funken des Trotzes sich in ihm aufbäumte, „ich bin nicht mein Leben lang zur See gefahren, nur um mich während meiner letzten Stunde von einem angepissten Gott zu Dörrobst backen zu lassen. Wenn, dann bestimmte ich selbst, wie ich abtrete und verflucht noch eins, ich scheiße auf alles, was danach kommt.“
    Elend langsam robbte er zu Gregon herüber, ungeachtet des Teers, der ihn fest zu halten versuchte. Duran hatte noch eine letzte Sache in seinem Leben zu erledigen, die er nicht sich nicht stehlen lassen würde: Seinen Abgang in die eigene Hand zu nehmen.
    Ungelenk eroberte er von dem toten Bukanier das handlange, in die Bauchschärpe gesteckte, Messer. „Danke Gregon, hast was gut bei mir“, ächzte er mit dünner Stimme an seinem stoßweise gehenden Atem vorbei und stemmte sich im Schlagschatten des Mastes ins Sitzen.
    In den mittlerweile gefühllosen, zitternden Fingern hielt er den Dolch und betrachtete die schartige Schneide, die von jungfräulichen Rostflecken übersät war. Während der vergangenen Tagen und Wochen hatte es wichtigeres gegeben, als den Stahl scharf zu halten und gegen die salzige Seeluft zu wappnen. Doch die Schneide brauchte Duran auch nicht, die Spitze würde für seine Zwecke vollkommen ausreichen. Sein Unterarm lag schon vor ihm in Position. Auch auf diesem Körperteil vereinten sich Teer, Schmutz, Salz und Schweiß zu einer Kruste, die die Hautfarbe darunter allenfalls erahnen ließ. Mit dem Daumennagel kratzte er darüber, um die große Ader am Handgelenk frei zu legen, sodass er sehen konnte, wo er hinstechen musste. Er wollte es vernünftig machen, um nicht noch mal ansetzen zu müssen.
    So hatte er es sein ganzes Leben lang gehandhabt. Trotz der mörderischen Hitze und des Wassermangels, die beide sein Herz nur noch schwerfällig pumpen und immer öfter stolpern ließen, wollte er wenigstens an diesem einen Prinzip festhalten.
    „Prinzipien sind das, was uns zu Männern macht“, wiederholte er träge, nur noch hauchend, seinen Leitspruch. „Wir sind zwar so oder so alle räudige Stiefellecker, aber ohne Prinzipien wären wir nur heuchlerische, räudige Stiefellecker.“
    Es nahm seine allerletzte Kraftreserve in Anspruch, aber schlussendlich gelang es Duran, den Schmutz abzureiben. Es wurde Zeit, der Durst schien ihm geradezu die Kehle zu zerfetzen und die Sonne erreichte beinahe ihren Zenit. Er hatte lange genug um sein schnelles Ende gebettelt, jetzt würde er es eben selbst tun, wenn Azodyn – dieser Bastard – ihm nicht mal das gewährte. Keinen Moment länger wollte er mehr auf diesem Seelenverkäufer ausharren müssen. Ein letztes Mal bat er seine steifen Finger, sich um das Heft des Dolches zu legen. Wenn auch taub, taten sie ihm träge diesen einen letzten Gefallen. Er nahm mit bebendem Griff Maß. Hob den Dolch schwerfällig an. Versuchte ihn ruhig zu halten, während die Spitze immer wieder an der Ader nahe des Handgelenks vorbeischwankte - und stach zu.
    Duran spürte den Einstich nicht. Wie hätte er ihn auch spüren sollen? Er hatte seinen Arm um eine gute halbe Handbreite verfehlt. Nun klemmte das Messer in einer Ritze zwischen den Planken und ihm fehlte das bisschen Kraft, es wieder heraus zu ziehen.
    „Dreifach vollgeschissenes Krähennest“, fluchte er beinahe stumm vor Heiserkeit, als ihm brennende Tränen in die Augen stiegen.
    Eine Möwe schrie über ihm, gefolgt von einer weiteren und noch einer.
    Duran hörte die Schreie der Seevögel nur noch wie aus weiter Ferne und lauschte den eigenartigen Gesängen eine Weile nach, bis sich ganz schwach noch ein anderer scheuer Klang unter die Rufe der Möwen mischte.
    „Land.“ Duran verstand es nicht.
    „Land.“ Diesmal war das Wort lauter, wenngleich noch immer so leise, wie das Rascheln der sich sanft aufbähenden Segel, als sich eine schwache Böe darin verfing.
    „Land,“ krächzte es wieder mit durstrauer Stimme aus dem Krähennest. Immer wieder hörte Duran, wie Männer um ihn herum das Wort in einem unsteten Chor murmelten und keuchten, ächzten, hauchten, flehten und beteten.
    Hier und da vernahm er einen unsicheren Schritt, als wackelige Beine das Gewicht von ausgezehrten Körpern Zoll um Zoll weiter dem Bug entgegen schleppten.
    Erneut erklang der einsame, durchdringende Schrei einer Möwe über ihm und hielt ihn davon ab, sich seinen Qualen zu entziehen, indem er sich der bleiernen Erschöpfung und der aufkommenden Schwärze an seinen Augenrändern hingab. Er ließ das Wort langsam, schmeckend über seine trockene Zunge rollen.
    „Land…“, röchelte er vor sich hin.

    Dann bäumte sich das Hauptsegel mit einem knallenden Schlag im Wind auf.

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    Wir sehen uns wieder, kleine Katze (von @Asni)

    Endlich hatte Myra den Hügel erklommen und konnte einen Blick ins Tal werfen. Dort unten lag schlafend in der Gluthitze der erbarmungslosen Sommersonne eine kleine Stadt. Eher ein Dorf, kaum mehr als eine Handvoll Häuser, die sich entlang der einzigen Straße wie Perlen aufreihten. Nun „Straße“ war auch etwas zu hoch gegriffen. „Staub zwischen Häusern“ traf es ganz gut. So konnte man ihn vom Staub um das Dorf herum unterscheiden.
    Myra wischte sich mit dem Arm den Schweiß aus dem Gesicht. Bei der Hitze störte sie ihr Fell immens. Eigentlich brauchte sie keine Kleidung, denn für sie als Katzenkriegerin war es normal, nackt zu sein. Doch in einer Welt, die von Menschen und ihren abgehobenen Moralvorstellungen geprägt war, war es manchmal einfacher, sich anzupassen. Ganz abgesehen davon fand Myra ihren Mantel ziemlich praktisch, konnte sie doch darin eine Vielzahl an Waffen und kleinen Gegenständen verstecken, die ihre Arbeit als Kopfgeldjägerin erleichterten. Körperlich war sie Menschen sowieso weit überlegen. So groß wie eine durchschnittliche Frau, aber durchtrainiert und athletisch und mit der Sprungkraft und Schnelligkeit einer Katze ausgestattet, konnte sie es mit jedem Kerl aufnehmen. Ihre spitzen Zähne und scharfen Krallen ließen sie auch in unbewaffnetem Nahkampf zu einer ernstzunehmenden Gegnerin werden.
    Nach einigen kurzen Augenblicken begann Myra den Abstieg hinab zum Dorf. Weit und breit sah sie keinen einzigen Baum, nur noch die toten Stümpfe dort, wo die Bewohner des Dorfes Holz für ihre Häuser und ihre Herdfeuer geschlagen hatten.

    Der Weg durchs Dorf war kurz und genauso ereignislos. Nur ein alter, grauhaariger Mann saß im Schatten auf seiner Veranda und schaukelte gemächlich in einem Schaukelstuhl. Er hatte die Augen so weit zugekniffen, dass Myra nicht erkennen konnte, ob er wach war oder schlief. Es spielte auch keine Rolle.
    Ihre Beute befand sich wahrscheinlich im einzigen Wirtshaus des Dorfes. Breitbeinig stand sie davor, ihr Lasso locker in den Händen haltend. Nach außen wirkte sie entspannt, beinahe schläfrig, aber jede Faser ihres Körpers war bereit, vollen Einsatz zu geben.
    „Valedocar!“, rief sie den Namen des Verbrechers, den sie im Auftrag ihres Meisters jagte.
    Keine Antwort.
    Der Wind strich leise zwischen den Häusern hindurch. Irgendwo am Rande des Dorfes spielte jemand auf einer Rohrflöte. Der alte Mann schaukelte weiter auf seinem Schaukelstuhl, begleitet von einem ewigen, monotonen Knarzen.
    „Valedocar! Komm heraus!“, rief Myra erneut. Voller Ungeduld begannen sich ihre Finger zu bewegen. Immer noch deutete nichts darauf hin, dass Valedocar herauskommen würde. Myra war sich sicher, dass er dort auf sie wartete. Doch die langen Momente der Stille beunruhigten sie.
    Endlich, als sie schon anhob, nochmals zu rufen, hörte sie das Scharren eines Stuhls und den Tritt von beschlagenen Stiefeln auf Holzdielen. Jemand kam. Er kam.
    Myra wusste nicht, wen oder was sie erwartet hatte. Sie wusste nur, dass Valedocar ein gefährlicher Verbrecher war, der seine Opfer dadurch verstümmelte, dass er ihnen die Augen nahm. Gerüchten zufolge setzte er sie irgendwie in seine eigene Haut ein. Myra wusste nicht, was sie davon halten sollte, aber sie musste ihn seiner gerechten Strafe zuführen. Von dem Mann, der zur Tür heraustrat, war sie auf den ersten Blick jedenfalls enttäuscht.
    Valedocar war etwa so groß wie sie. Ein weiter Ledermantel ließ ihn breiter und massiger wirken, aber Myra vermutete, dass dieser Verbrecher ihr körperlich nichts entgegenzusetzen hatte. Sein Gesicht war unter dem breitkrempigen Hut hager und schmal. Langes, schwarzes Haar rahmte es ein und verschwand hinter den Schultern. Die schmalen Lippen deuteten ein trauriges Lächeln an.
    „Ergebt Euch, Valedocar. Ich Myra Scarviani und verhafte Euch im Namen seiner Eminenz Gregorius Esteban, damit Ihr Euch den gegen Euch vorgebrachten Anklagen stellt.“
    Valedocar blickte sie aus dunklen Augen an. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich kein bisschen. Er blinzelte nicht, zuckte nicht mit den Augenbrauen oder dem Mundwinkel, er starrte nicht einmal richtig. Myra begann sich wie eine Maus zu fühlen, die von einer Katze oder einer Schlange in die Enge getrieben wurde. Dabei sollte sie selbst die jagende Katze sein.
    Zornig geworden knurrte sie in die Stille zwischen ihnen beiden: „Ergebt Euch, Valedocar, oder ich muss Euch fesseln.“
    Valedocar nickte kurz mit dem Kopf.
    Dann wandte er sich zum Gehen.
    „Jetzt reicht es,“ fauchte Myra zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch und schwang ihr Lasso. Stimmlos murmelte sie den Zauberspruch, der aus dem einfachen Seil eine magische Fessel machen würde. Valedocar schaffte keine zehn Schritte, bevor sie ihn zielsicher mit dem Seil erwischte und seine Arme an seinen Körper gefesselt hatte. Mehrere grün leuchtende Fesseln aus magischen Energien schlangen sich um seinen Körper und hielten ihn fest. Für einen gefürchteten Kriminellen ließ sich Valedocar ziemlich leicht fangen. Vorsichtshalber zerrte Myra nochmals am Seil, damit die Schlingen richtig fest um ihren Gefangenen saßen.
    „Hab ich Euch,“ kommentierte sie leicht höhnisch.
    Valedocar konnte nicht mehr weiter gehen. Langsam drehte er sich zu ihr um und beobachtete sie dabei, wie sie das Seil am Pfosten der Veranda festband. Myra ließ ihn dabei auch nicht aus den Augen. Als sie fertig war, griff sie unter ihren Mantel und tastete nach den eisernen Handschellen, die neben ihrem Revolver am Gürtel hingen. Als sie diese gefunden hatte, grinste sie breit und zog sie hervor.
    „Seht her, mit diesen wunderbaren Armreifen werde ich Euch nun schmücken. Und jammert bloß nicht, dass Euch das Metall die Haut wund scheuert. Ihr hattet die Wahl, mir auch freiwillig zu folgen.“
    Valedocar blickte sie immer noch ausdruckslos an. Myra wurde immer wütender. Sie würde ihm die Handschellen so fest wie möglich anlegen und ihm dabei noch den ein oder anderen Tritt oder Stoß verpassen. Dieser Bastard hatte es verdient. Bevor sie den ersten Schritt auf ihn zu gehen konnte, lächelte Valedocar sie freundlich an. Dann schloss er für einen Augenblick die Augen.
    Die Handschellen fielen leise klirrend in den Staub.
    Myra war geblendet, so als hätte sie kurz in die Sonne geblickt. Als sie blinzelnd wieder sehen konnte, wusste sie nicht, was geschehen war. Plötzlich stand sie gefesselt an der Stelle, wo gerade eben noch Valedocar gelächelt hatte. Und dieser immer noch lächelnde Bastard war frei. Mit einem entschuldigenden Gesichtsausdruck – er deutete eine leichte Verbeugung an und schloss kurz die Augen – ließ er sie stehen und ging die Straße entlang, hinaus aus dem Dorf. Sein Schatten folgte ihm.
    Myra warf sich zornig gegen ihre eigenen Fesseln. Schäumend vor Wut sprach sie die Worte, die sie befreien sollten. Doch immer wieder verhaspelte sie sich und die Kraft des magischen Seiles hielt sie fest. Knurrend warf sie sich nochmals mit soviel Kraft, wie sie aufbringen konnte, in das Seil. Die einzige Folge war, dass sie stürzte und hart auf den staubigen Boden aufschlug. Verbittert musste sie sich eingestehen, dass sie verloren hatte. Valedocar war ihr entwischt und hatte sie erniedrigt.
    Nein, kleine Katze, hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf. Erniedrigt hast du dich selbst. Mit einem Ruck drehte sie den Kopf so, dass sie Valedocar hinterher sehen konnte. Er stand am Rand des Dorfes und blickte zu ihr zurück – mit einem Lächeln auf den Lippen. Grüßend lüftete er seinen Hut und schritt durch die gleißende Sonne in Richtung Horizont davon. Wir sehen uns wieder, kleine Katze. Hab nur Geduld.
    „Worauf du Gift nehmen kannst,“ flüsterte Myra wütend in den gleichgültigen Staub.

    • Offizieller Beitrag

    Liebe Leser,

    der Votingzeitraum zum Schreibwettbewerb August/September 2018 ist abgelaufen und wir haben einen Gewinner/eine Gewinnerin!

    Ich freue mich, dass diesmal sowohl am Wettbewerb selbst, als auch bei der Abstimmung so viele teilgenommen haben und hoffe, das bleibt so. :D
    Immerhin gibt es nächstes Mal wieder ein neues Thema!


    Und hier kommt auch schon die Auflösung:

    ...Gewonnen hat mit 6 von insgesamt 19 Stimmen (32%)...

    *trommelwirbel* :mamba2:

    Spoiler anzeigen

    :mamba2:

    Spoiler anzeigen


    Ralath mit der Geschichte Eine Ewigkeit an Deck


    Herzlichen Glückwunsch zum Sieg! Du kannst nun das Thema für den nächsten Wettbewerb vorgeben (PN an mich bitte ). Ausserdem wurdest du in die Rangliste eingetragen und bekommst für zwei Monate 5 goldene Sterne, sowie einen eigenen Benutzertitel. Schon jetzt viel Spass damit!

    Ein herzliches Dankeschön auch an alle anderen Teilnehmer! Wir hoffen, dass ihr beim nächsten Schreibwettbewerb auch wieder fleißig mitmacht und so zahlreich abstimmt. Wir sind schon sehr auf das neue Thema gespannt, das unser aktueller Gewinner hoffentlich schon bald vorgeben wird.

    Übrigens könnt ihr nun auch nachschauen, wer die Autoren sind. Diese wurden den Geschichten beigefügt.

    Das war der Schreibwettbewerb August/September 2018. Vergesst nicht, euer Feedback zu den Geschichten zu hinterlassen!

    Euer Fantasy-Geschichten-Forum

  • @Ralath Schön, dass deine Geschichte gewonnen hat! Sie hat mir auch von allen am besten gefallen, wenn auch mit winzigem Vorsprung. Dennoch war es wieder mal spannend und interessant, was alles aus einem vagen Thema entstehen kann.
    Alle haben sich große Mühe gegeben und jede Geschichte war lesenswert.
    Bin mal gespannt auf deine Themenwahl!

  • Auch von mir: Herzlichen Glückwunsch @Ralath. :friends:

    Der Unterschied zwischen dem, was Du bist und dem, was Du sein möchtest, liegt in dem, was Du tust.
    -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
    Was würdest Du tun, wenn Du keine Angst hättest?

  • Glückwunsch zum Sieg, @Ralath.
    Danke auch für eure tollen Geschichten @Asni, @Cory Thain, @kijkou, @wennnichtjetzt, @bigbadwolf und @Sensenbach!!

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • Gratulation @Ralath , tolle Geschichte, auch wenn sie mir einen Tick zu wenig Fantasy war.

    Diesmal waren es ja viele Stories und keine Einzige ging auch nur in die Nähe der Idee, die ich dazu im Kopf hatte - Wahnsinn.
    Bin ja auch auf's nächste Thema gespannt, wie ein Flitzebogen.

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    Tom Stark
    zum Lesen geeignet