Weird Tales (Thread zum Mitmachen)

Es gibt 43 Antworten in diesem Thema, welches 11.635 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (9. Oktober 2022 um 10:52) ist von Tariq.

  • Hey,

    habe mich jetzt auch mal durch diesen Thread gelesen. Seeehhhr cool :thumbsup:

    Hier nur eine Anmerkung zur letzten Geschichte @Myrtana222. Ich packe das mal in einen Spoiler, damit ich nichts vorwegnehme:

    Spoiler anzeigen

    Die Erkenntnis, dass der kleine Jimmy offensichtlich "hinter der Wand" lebt und gar nicht rauskommen darf, ist mir erst gekommen, als ich deinen Hinweis gelesen habe. Ich schätze, es lag an dieser Szene hier, die mich hat glauben lassen, dass der Junge tatsächlich vor dem Bett der Mutter steht und sie ihn dann in sein Zimmer schickt:

    „Verdammt noch mal Jimmy, geh in dein Zimmer und schlaf endlich ein! Hör auf, mich so anzusehen!“
    Entschuldigendes Murmeln, doch immer noch sah sie die Augen ihres Jungen auf sie gerichtet. Sie fragte sich, wie oft sie es nicht mitbekam, wie oft er nachts dort stand und sie ansah, während sie schlief.
    „Jimmy!“ Ihr Sohn musste erkannt haben, dass ihr Geduldsfaden gerissen war; schleppend entfernten sich seine Schritte, und die Augen, die sie kurz zuvor noch angestarrt hatten, waren verschwunden.

    Vielleicht könnte man das "Geh`in dein Zimmer!"einfach streichen...weil...er ist ja schon in seinem Zimmer, oder nicht? :hmm:
    Auf jeden Fall aber ziemlich unheimlich, das Ganze. Bohrt der da überall Löcher in die Wand, um seine Mutter und die Schwester zu beobachten. Uahhh....wie schrecklich. Auch die Vorstellung, dass die Mutter das so zulässt und ihn einfach wegsperrt. Naja, scheinbar ist er ja nicht ganz ungefährlich...

    Die Geschichte klingt in jedem Fall noch ein bisschen nach, weil einem tausend Fragen durch den Kopf schießen. Sehr schön!



    LG,
    Rainbow

  • @Myrtana222

    Spoiler anzeigen


    Gänsehautmachende Geschichte, Myrti!! Dass der Junge seltsam ist, dringt dabei aus jeder Pore des Textes. Ich hatte erst auf einen Autisten oder so getippt. :hmm:
    Aber es ist ja noch viel schlimmer. Ein Kind, das man wegsperren muss. Doch, ich habe schon verstanden, dass Jimmy die Löcher in die Wand gekratzt hat, um Schwester und vor allem Mutter zu sehen. Aber erst, als er sein Frühstück abgelehnt hat. Da hatte ich mich gewundert, warum die Kinder wohl in einem anderen Raum sitzen. Und warum er sein Essen kleingeschnitten braucht ...
    Bei der Stelle, die Rainbow angemerkt hat, habe ich auch gedacht, er steht am Bett der Mutter oder zumindest in der Tür. Hat er sein Zimmer da verlassen? Sie schickt ihn ja zurück in sein Zimmer.
    Auch der Schluss ist zwar sehr dramatisch und hektisch, lässt mich aber mit Fragezeichen zurück. Hat er durch ein Loch in der Wand gegriffen und seine Schwester am Arm gepackt? Wenn ja - warum?
    Auch schreibst du am Anfang, dass die Mutter weiß, dass er mit seinem Verhalten (Löcher in die Wände machen) nur nach Aufmerksamkeit sucht und alles nur schlimmer werden würde, wenn er durch sein Verhalten mit Aufmerksamkeit belohnt würde. So ziemlich am Schluss aber schreibst du, dass er die Löcher gemacht hat, um seine Mutter zu beobachten.
    Naja, vielleicht bin ich auch zu pingelig. Rundum war die Geschichte mal echt weird, und ich find sie wirklich beklemmend. Gerne mehr von der Art, Myrti! :thumbup:

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • Hier wurde zwar schon ziemlich lange nichts mehr gepostet, weiss garnicht, ob der Thread noch aktiv ist ... aber ich habe eine Schreibblocke ja, und tatsächlich, wenn ich die habe, fange ich an echt schräge Dinge zu schreiben. :rofl: darum denke ich, dass ich mein heutiges etwas sonderbare Werk doch hier posten könnte ... 8o

    Ich will hier raus!

    Es ist so weit.
    Es hat begonnen, wieder.
    Tick Tack Tick Tack Tick Tack
    Der Ton, dieser verflixte Ton, so einfach, so rhythmisch, so immerwährend, so schrecklich.
    Lass mich!
    Doch mein verzweifeltes Geschrei lässt den Ton nicht verstummen.
    Tränen bilden sich in meinen Augen, ich beginne zu zittern, gleich einem dieser Drogen-Junkies ohne Stoff.
    Ich brülle und schreie aus voller Kehle.
    Doch der Ton ist monoton.
    Dieser Ton, dieses Geräusch, es verfolgt mich!
    Es will mich verschlingen!
    Panik!
    Blanke Panik übermannt mich.
    Ich trete um mich, versuche mir die Haare auszureissen, mir die Ohren zu zuhalten.
    Ich bin ausser mir wie eine wild gewordene Furie.
    Es ist überall. Es ist immer hier.
    Tick Tack Tick Tack Tick Tack
    Ich will alleine sein, doch bin ich es nicht.
    Sie kommen, die Pfleger. Sie machen alles nur noch schlimmer, sie wollen nur das Beste für mich, so ihre Worte.
    Erst versuchen sie es freundlich, ruhig, beinahe beruhigend, wie ein indisches Mantra.
    Doch ich trete, schreie und wehre mich.
    Ein Arm packt mich. Er ist stark und bändigend – ich kann mich nicht bewegen!
    Tick Tack Tick Tack Tick Tack
    Die verlorene Kontrolle über meinen Körper lässt mich nur noch lauter und verzweifelter schreien.
    Es werden immer mehr Arme und Hände, die sich um mich schlingen.
    Die Luft erreicht meine Lungen nicht mehr, sie prallt einfach an mir ab.
    Plötzlich spüre ich diesen stechenden Schmerz. Es gelingt mir, mich noch einige Sekunden dem süssen Aroma im Blut zu widersetzten.
    Doch bin ich nur ein Mensch, der schwächelt.
    Nur ein Mensch.
    Die Dunkelheit wirft sich über mich und mit ihr die vollkommene Ruhe.
    Fast.
    Tick Tack Tick Tack Tick Tack
    Es verfolgt mich, sogar in meinen Träumen.
    Ich will hier weg, weit weg, so weit wie möglich, ohne es.
    Bitte!
    Tick Tack Tick Tack Tick Tack
    Lass mich!
    Wieder ist mein verzweifeltes Gebrüll machtlos dagegen.
    Es ist noch immer monoton, von Zeit zu Zeit weiter weg, es klingt hohler.
    Tick Tack Tick Tack Tick Tack
    Nach Luft schnappend öffne ich die Augen.
    Weiss.
    Überall dieses leere weiss!
    Ich renne dagegen.
    Alles ist flauschig.
    Der Boden, die Wände, sogar die weisse Weste, die meinen Körper umschliesst.
    Meine Arme sind gekreuzt, die Hände hinter dem Rücken.
    Ich bin gefangen in diesem schrecklichen flauschigen Gefängnis.
    Lasst mich raus!
    Lasst mich raus!
    Ich renne dagegen und pralle ab, leicht und unverletzt.
    Bitte!
    Tick Tack Tick Tack Tick Tack
    Die Weste soll mich beruhigen, aber sie bewirkt das Gegenteil.
    Sie ergänzt sich perfekt mit meinem Körper, schmiegt sich immer enger an mich.
    Lasst mich hier raus!
    Tick Tack Tick Tack Tick Tack
    Das Gefängnis öffnet seine Pforten und ich sehe schwarze Pantoffeln, die sich über das Weisse auf mich zu bewegen.
    Schwarz und weiss. Weiss und schwarz.
    Wie ein Schachbrett.
    Weisse Quadrate folgen auf schwarze und schwarze Quadrate folgen auf weisse.
    Bauer fällt.
    Läufer fällt.
    Turm fällt.
    Dame fällt.
    Schachmatt.
    Tick Tack Tick Tack Tick Tack
    Bitte!
    Es soll aufhören, schluchze ich.
    Ich sehe vom weissen Boden auf und erblicke einen Pfleger in weisser Kluft.
    Eine runde Scheibe, auf der Zeiger um die Wette rennen, ersetzt den Kopf.
    Tick Tack Tick Tack Tick Tack
    Ich mache einen Sprung rückwärts und spüre die flauschige Wand im Rücken.
    Die Zeiger rennen immer schneller und lösen sich vor meinen Augen auf.
    Übrig bleibt eine weisse Scheibe mit schwarzen Zahlen.
    Weiss und schwarz. Schwarz und weiss. Weiss und schwarz. Schwarz und weiss.
    Die Zahlen tanzen vor meinen Augen.
    Tick Tack Tick Tack Tick Tack
    Weiss und schwarz. Schwarz und weiss. Weiss und schwarz. Schwarz und weiss.
    Ach, das Schachbrett!
    Weisse Quadrate folgen auf schwarze und schwarze Quadrate folgen auf weisse.
    Tick Tack Tick Tack Tick Tack

    "Ein Schloss ohne Gruft, das wäre wie, wie ein Einhorn ohne Horn!"

    Eigenes von Fly
    Schatten unter London

    2 Mal editiert, zuletzt von 97dragonfly (14. April 2019 um 22:15)

  • Hey @97dragonfly,

    Mhh verrückt fällt mir im ersten Moment ein.
    Und gruselig irgendwie. Mal was anderes. Durch das ständige tick tack, fängt man an I eh endwie schneller zu lesen :D so als wenn man durch das Geschehen gescheucht wird. Dachte erst da träumt jemand dessen Wecker klingelt :D dann wäre das aber ein sehr verrückter Traum man oh man. Da würde ich schreiend aufwachen.
    Und bei diesem ganzen schwarz und weiß würde ich je wieder die Augen aufmachen und lieber blind sein. Und dann kann man noch nicht mal seine Arme bewegen weil man in einer zwangsjacke steckt...
    Wie bist du nur darauf gekommen? :D

    LG Sora :rolleyes:

    "Niemand weiß, was er kann, wenn er es nicht versucht." Zitat von Publilius Syrus


    "Und so verliebte sich der Löwe in das Lamm."
    "Was für ein dummes Lamm."
    "Was für ein kranker, masochistischer Löwe."
    Zitat aus dem Buch "Biss zum Morgengrauen"

  • @Sora

    Mhh verrückt fällt mir im ersten Moment ein.

    Sollte es ja auch sein :rofl:

    Und bei diesem ganzen schwarz und weiß würde ich je wieder die Augen aufmachen und lieber blind sein. Und dann kann man noch nicht mal seine Arme bewegen weil man in einer zwangsjacke steckt...

    Irgendwie war das mein Ziel, so völlig verrückt, man den Faden verliert und dann plötzlich an das Schachbrett erinnert wird.

    Wie bist du nur darauf gekommen?

    Keine Ahnug, Irrenanstalt. Hihi, irgendetwas verrücktes. Etwas was ich sonst nie schreiben würde, hilft mir meine Schreibblockaden zu überwinden. Einmal war ich inspiriert von dem lebenden Baum aus dem Film das letzte Einhorn ... die Geschichte ist auch total verrückt.

    Lg
    Fly

    "Ein Schloss ohne Gruft, das wäre wie, wie ein Einhorn ohne Horn!"

    Eigenes von Fly
    Schatten unter London

  • Elfe hat einen schlechten Tag

    Seit Stunden stand sie bereits in dieser grotesken Position auf dem Steg. Sie war einfach zu vertrauensselig gewesen. Aber das süße blonde Mädchen hatte wirklich nicht wie ein Schattendämon ausgesehen.
    „Tanzt du für mich?“, hatte das Biest gefragt und sie mit unschuldigen blauen Augen angeblickt. Niemals würde sie das zuckersüße Lachen vergessen, als die Kleine fröhlich hüpfend ihrer Wege ging.
    Der regungslose See reflektierte die letzten quecksilbrigen Strahlen der Sonne wie ein magischer Spiegel. Das sah hübsch aus, wären nur die grauen Schatten unter der glatten Oberfläche nicht gewesen. Sie wusste, wenn die letzten Sonnenstrahlen den Horizont verließen, würden die Schatten mehr als ein ästhetisches Ärgernis darstellen.
    Ein leichtes Kribbeln in den Fingerspitzen kündigte das Abklingen des Bannzaubers an. Das war gut! Schon konnte sie den kleinen Finger ein wenig bewegen.
    Das schmatzende Geräusch ließ sie angstvoll aufstöhnen. Ihr war, als glitten riesenhafte tentakelhafte Schatten die hölzernen Pfosten des Steges hinauf.
    Eine kalte Entsetzlichkeit berührte ihre Wade.
    Die Tiere der Nacht hielten nur kurz inne, dann setzten die Nachtzikaden ihr Abendkonzert fort.

  • Lebenslicht

    In Zeiten wie diesen ist Aufräumen eine gute Beschäftigung. Selbst der stolzen Kommode am Fenster schien Staub nicht mehr fremd zu sein. Das Mondlicht verfing sich verräterisch in einem Belag von Ruß und Vergängnis. Ich öffnete das untere Fach des Möbels und bemerkte die Phiole aus dickem Bleiglas.

    Nachdenklich nahm ich das Gefäß und stellte es auf den Tisch neben meinem geliebten Sessel aus Kamelleder. Die Phiole glitzerte im Mondlicht, oder besser, der Inhalt glitzerte im Lichte.

    Das war ihr gutes Recht. Denn in dem Glas befand sich nichts anderes als das Lebenslicht einer jungen Frau, die ich einst getroffen habe.

    Der Abend war lang gewesen. Bald schon würde die Sonne die Nacht erobert und in den Tag gezwungen haben. Ich aber schritt mit beschwingtem Schritt nach Hause zu. Die Beute der Nacht war reichlich gewesen. Ich bin ein leidenschaftlicher Sammler. Die Gefäße klapperten in der Tasche meines Mantels. Ein leiser Nieselregen setzte ein und ich zog den Kragen hoch.
    Die Joggerin überholte mich kurz vor der Brücke über den Main. Ein Mädchen auf der Schwelle zur Frau, mit einem Pferdeschwanz und hohem Tempo. Wir leben in einer hektischen Welt.
    Mein Stock half mir die Treppe zur Mainbrücke hinauf. Ich schlenderte zügig voran.

    Das Sonnenlicht war nicht fern.

    Da wurde ich der jungen Joggerin gewahr. Sie stand auf der anderen Seite der Brüstung und starrte auf Wasser.
    „Darf ich fragen. Was sie dort planen?“
    „Na wonach sieht das aus, alter Mann?“
    „Nun. Wenn ich es nicht anders wüsste, würde ich denken, dass sie sich in die Fluten stürzen wollen. Was ihren Tod bedeuten könnte.“
    Ich dachte nach. „Aber das wissen sie sicherlich.“
    „Der verdammte Idiot hat mich sitzen lassen, wegen dieser Schlampe. Das wird er noch bereuen!“
    „Hmm… “
    „Was hmm?“
    „Nun. Ich kenne mich mit derlei Dingen nicht gut aus. Aber es scheint mir als wollten sie ihr Leben beenden, weil sie sich der Liebe eines „Idioten“ nicht sicher sind.“
    „Reden sie nicht so geschwollen daher. Der Typ hat mich verarscht. So etwas passiert mir andauernd. Ich hab echt keine Lust mehr.“
    Ich muss erwähnen, dass mir die Beweggründe von Menschen oft im Verborgenen bleiben. Hier erschien es mir jedoch ganz klar.
    „Dann legen sie wegen dieses Typen keinen Wert mehr auf ihr Leben?“
    „So kann man es ausdrücken. Ich bringe mich jetzt um, dann kann er sehen, wo er bleibt.“
    Die Frau machte Anstalten sich in die Fluten zu stürzen.
    „Warten sie einen Moment!“
    „Was!?“
    Sie hielt inne.
    „Wenn sie keinen Wert mehr auf ihr Leben haben. Kann ich es dann haben?“
    „Hey Alter. Bist du irgendein Perverser, oder was?“
    „Nein ich habe keinerlei perverses Interesse an ihnen. Ich dachte nur, wenn sie ihr Leben nicht mehr brauchen… “
    „Klar!“ Die junge Frau lachte und sah mich abschätzend an. „Kannst du haben.“
    „Dankeschön!“
    Ich nahm die Phiole aus meiner Manteltasche.
    Die junge Frau sah mich erstaunt an. Es schien mir für einen Augenblick, als sei sie irritiert und wolle noch etwas sagen. Wer weiß schon genau was?

    Das Lebenslicht verließ ihren Körper. Die leere Hülle fiel von der Brücke hinab. Die Strömung würde sie zum Meer hin treiben.

    Was für ein schöner Gedanke.

    Die Phiole glänzte im Mondlicht. Ein guter Tropfen. Würdig die Nacht zu beschließen.
    Ich schenkte mir ein.


  • Die Welt der Girons

    Nur wenn die Sonne den Himmel verlassen hatte und der Silbermond am Horizont stand, konnten wir den Tunneln für einen Moment entfliehen und einen Blick auf die Welt werfen, die wir verloren hatten. Unsere Städte und Länder, die Flüsse und Meere, selbst der Tag, gehörte nun den Girons.

    "Ich möchte den Wald und das Meer sehen, Papa. Zeigst du mir das Meer?"

    "Deine Großmutter setzt dir zu viele Flausen in den Kopf, Mirja", sagte ich streng.

    Eine stille Träne rann die Wange meiner Tochter herab. Ich beugte mich zu ihr, wischte die Träne beiseite und umarmte sie sanft.

    "Es tut mir leid mein Schatz. Natürlich wirst du das Meer sehen. Eines Tages …"

    To be continued?

  • Der Sommer der anderen

    "Geben Sie ihn zurück!"

    "Das geht leider nicht."

    "Aber es ist doch meiner! Sie können doch nicht..."

    "Lassen Sie es gut sein, es wird gleich weniger werden, versprochen."

    "Weniger? Was soll weniger werden? Sie... kennen wir uns? Sie kommen mir so..."

    "Nein, wir kennen uns nicht."

    "Aber... aber Sie... Emilio war doch Ihr Name, richtig?"

    "Ja."

    "Wusste ich es doch! Ihr jugendliches Gesicht kam mir doch gleich so vertraut vor!"

    "Ja, das wird es wohl sein... nun denn, ich habe noch einen dringenden Termin. Haben Sie noch einen angenehmen Abend, Fabrice! Und gehen Sie vorsichtig, die Bürgersteige sind glatt."

    "Oh... ja... ja, ich werde vorsichtig sein. Danke sehr, Ihnen auch einen schönen Abend!"

    Emilio - so lautete nun sein Name - sah sich verstohlen um, aber niemand hatte etwas mitbekommen. Rasch brachte er einige Schritte zwischen sich und seine frühere Hülle und begann damit die neuen Erinnerungen durchzugehen. Hinter ihm stürzte Fabrice. Es wird wohl noch eine Weile brauchen, ehe er >Fabrice< als seinen eigenen Namen anerkennt... und ehe er sich an diesen abgenutzten Körper gewöhnt.

    Emilio hatte kein schlechtes Gewissen, denn er würde ganz normale Jahrzehnte verbringen, wie es auch Fabrice getan hätte. Er sah keinerlei Unterschied darin.

  • bigbadwolf

    Fieses kleines Geschichtchen :thumbsup: ... Besonder gut gefällt mir der Anfang:


    "Geben Sie ihn zurück!"

    "Das geht leider nicht."

    "Aber es ist doch meiner! Sie können doch nicht..."

    :rofl:

    Interessant, dass letztlich so wenig Gegenwehr kommt und der Betrogene sich so schnell mit seiner Situation arrangiert. Aber das macht es umso gruseliger, finde ich. Irgendwie ziemlich schräg! Schräg und damit auch irgendwie cool!

  • Es ist wieder Oktober und ich hätte einen Betrag zum Thread. Vielleicht findet sich ja noch jemand? ^^


    Die Jagd

    Ein Knacken kündigte es an.

    Er schloss die Augen, um sich ganz auf sein Gehör zu konzentrieren. Vögel zwitscherten und in den Baumkronen säuselte der Wind. Fast glaubte er, sich geirrt zu haben, da vernahm er es wieder. Schlurfen und Rascheln.

    Es kam.

    Seine schweißfeuchten Hände umklammerten Griff und Lauf der Schrotflinte fester. Ruhig, ermahnte er sich, warte, bis es da ist. Übereile nichts!

    Seine Augen tränten, weil er so angestrengt in die Richtung starrte, aus der er das Geräusch gehört hatte. Dieselbe Stelle wie beim letzten Mal. Hier war es gewesen, als er es erstmals erblickt hatte.

    Eine seiner Fallen war ausgelöst worden und er hatte sie wieder aufstellen müssen. Über die Schlinge gebeugt war er erst aufmerksam geworden, als der Wald plötzlich geschwiegen hatte. Er erinnerte sich, alarmiert aufgesehen und sich umgeblickt zu haben.

    Und da war es gewesen.

    Später hätte er nicht mehr sagen können, was er bei dem Anblick empfunden hatte, doch ihm war jede Sekunde und jedes Detail davon im Gedächtnis geblieben:

    Wie paralysiert hockte er über die Falle gebeugt, den Kopf halb nach hinten gewendet, um über die Schulter sehen zu können, und die Hände mit der Drahtschlinge regungslos in der Luft verharrend. Die Augen waren weit aufgerissen und auch sein Mund hatte offen gestanden, während sein Herz vor Aufregung wie rasend hämmerte.

    Nie zuvor war ihm etwas Derartiges vor Augen gekommen. Etwa zwanzig Meter seitlich hinter ihm stand ein Wesen. Kein Mensch, das konnte er auf den ersten Blick sehen. Es war zu groß und hatte Beine, dick wie Baumstämme und mit Rinde umkleidet. Nicht nur sie – den ganzen Körper bedeckte raue, braune Borke, teilweise bewachsen mit dunkelgrünem Moos. Und überall sprossen dünne Zweige heraus, die junge, zartgrüne Blätter trugen.

    Jetzt bewegte sich das Baumwesen. Schwerfällig bückte es sich und sank auf die Knie. Es hatte ihn nicht bemerkt und wenn doch, schenkte es ihm keinen Blick.

    Sein Hals begann zu schmerzen von der unbequemen Haltung, denn er wagte nicht, sich zu bewegen und konnte die Augen doch nicht abwenden. Wie festgeklebt verfolgten sie das Tun des lebendigen Baumes. Gebannt beobachtete er, wie dieser langsam seine Hände hob und sie über etwas im Gras breitete. Eine Weile geschah nichts, dann öffneten sich in der rindenbedeckten Brust des Wesens schmale Risse, durch die ein sanftes, hellgrünes Leuchten nach draußen drang. Es wurde größer und wanderte über dessen Schultern und Arme abwärts, bis es die Handflächen erreichte und von dort aus auf die Wiese übersprang.

    Nein, nicht die ganze Wiese, sondern nur auf eine verwelkte Pflanze. Einen kleinen Busch, dessen Zweige verdorrt und dessen Blätter braun oder bereits abgefallen waren. Und unter dem leuchtenden, grünlichen Schimmer sprossen helle Spitzen aus den dürren Ästchen, die sich zu kräftigen Knospen vergrößerten. Sekunden später entfalteten sich junge Blätter, deren helles Grün in das dunkle des Sommerlaubs wechselte. Der kleine, tote Busch war zu neuem Leben erwacht.

    Er konnte das sattgrün schimmernde Leuchten in der borkenbedeckten Brust des Baumwesens noch immer sehen, doch mit jeder Sekunde wurde es matter und verschwand schließlich hinter den sich wieder schließenden Rissen.

    Der lebendige Baum erhob sich langsam, wandte den Kopf und sah genau in seine Richtung. Ihre Blicke trafen einander und keiner rührte sich. Große, braungrüne Augen musterten ihn und er empfand keine Furcht, weil in ihnen eine nie vorher gesehene Sanftheit lag. Noch einen Augenblick währte der Moment, dann drehte sich das Baumwesen um und stampfte auf seinen stammartigen Beinen in den Wald zurück.

    Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis er sich wieder rühren konnte. Zu unglaublich war, was er da gesehen hatte. Dieses … Ding hatte etwas Totes lebendig gemacht! Mit etwas, das es in seiner Brust trug. Es konnte Leben schenken!

    Seit dieser Begegnung hatte ihn ein Gedanke nicht mehr losgelassen: Er musste es haben! Das Herz dieses Wesens, dieses grüne Leuchten wollte er unbedingt besitzen. Es würde ihm unsagbare Macht verleihen. Wie viel, das wagte er sich nicht vorzustellen. In Gedanken sah er schon Könige und Präsidenten an seine Tür klopfen. Er würde nie wieder Geldsorgen haben.

    Der Plan war schnell gefasst. Das lebensspendende Herz dieses Baumwesens würde ihm gehören. Ihm allein.

    Und er wusste auch schon, wie er es erlangen konnte.

    Heute Morgen war es so weit gewesen. Er hatte seine Schrotflinte aus dem Schrank genommen, war in den Wagen gestiegen und in den Wald gefahren. Mehr Vorbereitungen hatte es nicht gebraucht. Und nun stand er hier und starrte auf den kleinen Busch, den er umgeknickt, und auf den Trieb, den er aus dem weichen Waldboden gerissen hatte. Er wartete. Es war bereits Mittag, doch das störte ihn nicht. Als Jäger war er es gewohnt, viele Stunden im Ansitz auszuharren.

    Bewusst hatte er den Ort gewählt, an dem er seinem potentiellen Opfer damals staunend zugesehen hatte. Die winzige Lichtung. Dort drüben stand der kleine, ehemals tote Busch. Er strotzte vor Leben, trug eine Unzahl gesunder, kräftig grüner Blätter.

    Direkt daneben fand sich das Ergebnis seiner Zerstörung. Würde das Baumwesen kommen und auch diesen Schaden wieder gutmachen? Heilen, wo er getötet hatte? Leben schenken, wo keines mehr möglich war?

    Er bemerkte es erst, als es auf die Lichtung trat. Es blieb vor der herausgerissenen Pflanze stehen und er meinte, so etwas wie Trauer über das borkenbedeckte Gesicht huschen zu sehen. Wie erwartet bückte es sich und genau wie beim letzten Mal begann es unter der Rinde auf seiner Brust zwischen den sich öffnenden Rissen grün zu schimmern.

    Er hielt den Atem an. Sein Finger lag am Abzug, doch es war fast wie ein Zwang: Er musste es noch einmal sehen, dieses Wunder. Danach würde er schießen. Er hatte Zeit.

    Wie durch Zauberhand hob sich der abgeknickte Trieb des kleinen Busches. Die verwelkten Blätter erstarkten und wurden wieder frisch. Als das Wesen seine leuchtenden Hände zurücknahm, war die Pflanze gesund wie vorher.

    Der Zauber war vorüber.

    Langsam richtete er sich auf, die Finger fest um die Waffe geschlossen. Ein Zweig knackte unter seinen Füßen.

    Der lebende Baum hörte es und hob den Kopf. Wie beim letzten Mal trafen sich ihre Blicke, doch diesmal war etwas anders.

    Das Baumwesen erhob sich zögernd, die sanften, braungrünen Augen unverwandt auf ihn gerichtet. Argwohn sprach aus der Körperhaltung … Furcht. Wie in Zeitlupe trat es zwei Schritte zurück, einen dritten und noch einen, bis es sich umwandte und wie gehetzt davonstürzte.

    Einen Fluch ausstoßend jagte er ihm nach. Die Gelegenheit für einen sicheren Schuss hatte er verpasst und es war fraglich, ob er eine zweite erhielt. Wie konnte sich dieses plumpe, stämmige Ding so gewandt bewegen? Ihm zu folgen erwies sich als schwierig. Es hatte die gleiche Färbung und Musterung wie die Bäume und rannte in einem Tempo, das ein Aufholen unmöglich machte.

    Der Wald wurde dichter. Zweige streiften sein Gesicht und er musste während seiner Hetzjagd die Waffe mit einer Hand halten und mit der zweiten den Weg freimachen. Manchmal verlor er sein Opfer kurz aus dem Blick, dann sah er es wieder zwischen den Stämmen rennen.

    Ein Ruck an seinem Fuß ließ ihn straucheln. Verdammte Brombeerranken! Sie wurden immer dichter und ihre winzigen Dornen hängten sich an seine Jeans. Er hatte die Stiefel heute nicht angezogen, das rächte sich jetzt. An denen hätte das Grünzeugs keinen Halt gefunden!

    Eine neue Ranke brachte ihn nicht nur ins Straucheln, sondern ließ ihn stürzen. Heftiges Brennen im Gesicht und an der freien Hand verriet, dass er sich etliche Kratzer dabei zugezogen hatte.

    Erneut fluchend wollte er sich aufrappeln. Doch es schien, als würden die Ranken ihn festhalten. So sehr er sich mühte, sie von den Hosenbeinen zu lösen – sie widerstanden, zogen sich nur noch fester zusammen. Ein starker Druck auf der Brust ließ ihn an sich hinabsehen. Neue Triebe hatten den Weg unter seinen Armen hindurch gefunden und wanden sich langsam, aber unerbittlich um seine Allwetterjacke. Sie wurden stärker, wuchsen auf die Dicke von Fingern und verzweigten sich dabei.

    Als er jetzt auch Brennen an seinem Hals wahrnahm, packte ihn das Grauen. Was passierte hier? Dieses Grünzeug fesselte ihn! Er spürte, wie es an seiner Kleidung zerrte, hörte die Dornen über den derben Stoff kratzen. Der Trieb, der seinen Hals umschlang, zog ihn unerbittlich zu Boden und alle anderen Ranken strafften sich ebenfalls. Inzwischen lag er wie ein Käfer auf dem Rücken und konnte sich kaum mehr bewegen. Längst hatte er die Waffe losgelassen und seine Rechte tastete fahrig nach dem Jagdmesser, das er immer im Stiefel trug. Heute war es nicht dort, sondern in seiner Lederscheide am Gürtel.

    Etwas kratzte über seine suchende Hand und er zischte schmerzerfüllt, um gleich darauf ungläubig die Augen aufzureißen. In seinem Blickfeld erschien eine fingerdicke Brombeerranke, die sich um seinen Messergriff gewunden hatte. Fast triumphierend hielt sie ihm die Waffe vor das Gesicht, die gleich darauf unter unzähligen weiteren wie aus dem nichts hervorschießenden Ranken verschwand. Er hörte das Brechen des Holzgriffes …

    Längst hatte er angefangen zu schreien. Die Dornenranken hatten seinen Kopf umwickelt und fixierten ihn am Boden, zerrten ihn förmlich in den weichen Waldgrund. Er konnte ihn nicht mehr bewegen. Auch seine Brust war so zusammengeschnürt, dass er kaum noch zu atmen vermochte. Wie zum Hohn tauchte jetzt die von dornenbesetzten Trieben umschlungene Schrotflinte in seinem Sichtfeld auf. Aus fingerdicken Ranken wurden armstarke, die die Waffe erst verbogen und dann wie ein Streichholz in der Mitte knickten. Brombeerblätter huschten über sein Gesicht, während die Dornen sich noch straffer zogen und dabei blutige Striemen auf seiner Haut hinterließen. Er kniff gepeinigt die Augen zu.

    Immer fester wurde sein Körper auf den Boden gepresst, immer weicher wurde der Grund unter ihm. Sein anfangs entsetztes Kreischen erstarb und nur noch ab und zu hallte ein ersticktes, gekeuchtes Brüllen durch den sonst totenstillen Forst. Kühle Erde schmiegte sich an seine Wangen, feuchtes Moos an die Schläfen. Als die ersten Krumen Waldboden in seinen Mund drangen, verstummte seine Schreie. Noch einmal riss er die Augen auf und sein panischer Blick hetzte zwischen den Baumkronen umher. Es wirkte, als würden die Bäume um ihn herumstehen und schweigend zusehen, wie er für sein frevelhaftes Verhalten bestraft wurde.

    Seine Augenlider zwinkerten gegen die Erdbrocken an, die auf sie herabrieselten. Immer kleiner wurde der Bereich, den er noch sehen konnte. Das Letzte, was er wahrnahm, war ein rindenbedecktes Gesicht, das sich über ihn beugte, mit sanften, braungrünen Augen, in denen eine unendliche Trauer lag.

    Inspirationsquelle: YouTube

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

    2 Mal editiert, zuletzt von Tariq (8. Februar 2022 um 20:34)

  • Sehr interessant, dass du den Inhalt des Videos tatsächlich doch von der Message her abgewandelt hast, Tariq . Die Spannung wurde super aufgebaut und natürlich hat die bildreiche Beschreibung ihr Übriges getan, um mich völlig ins Geschehen hinein zu saugen. Während im Video eher eine Metapher für das gesamte menschliche Verhalten in der Umwelt entsteht, machst du den Protagonisten zu einem einzelnen, aus eigennützigen Gründen getriebenen Handelnden. Tatsächlich fand ich es im Video krass zu sehen, dass der Mensch nicht besser wurde, auch nicht als ihm eine zweite Chance gegeben wurde. Das hat mich noch mehr zum Nachdenken gebracht als die Brombeerranken in deiner Handlung. Was mir bei dir jedoch besser gefällt, ist die Darstellung des Baumwesens. Ich habe deine Geschichte zuerst gelesen und fand danach die Gestaltung im Film etwas seltsam. Da lob ich mir doch meine Vorstellungskraft, die beim Lesen solch guter Geschichten ordentlich gefüttert wird. :)

    Was ich schreibe: Eden

  • „Es tut mir leid.“ Kalt hallte das Schluchzen von dem Fels der Wände wider, mischte sich unter das beständige Tropfen, das Fließen und Knacken. Nicht ein Sonnenstrahl hatte hier je den staubigen Boden geküsst, auf dem der König der Tiefen kniete. Der König, der nie König sein wollte in diesem augenlosen Reich.

    „Bitte vergebt mir!“ Ein winselnder Ton gewann die Oberhand in dem Geschluchze des Bleichen, zitternd zog er sich mit seinen dreckigen Fingern voran, die langen Nägel über den blanken Stein kratzend. Ein jämmerliches Bild mochte der König der Tiefen abgeben mit seinem zerschlissenen Umhang, den strähnigen Haaren voller Kalkstaub, den dürren, ledrigen Armen. Aber würden nicht die Wurzeln des Weltenbaumes in diese Hallen herabreichen, wären sie nicht die Nahrung für die leuchtenden Pilze der Tiefen, so könnte man sein Trauerspiel nicht mitansehen. Es bliebe für immer verborgen in der Dunkelheit, in der der Bleiche die Ewigkeit verbracht hatte, in der leeren Einsamkeit der unendlichen Gänge. Aber schließlich gab es hier unten auch keine Augen, keine Ohren, die Zeuge dieser Schande werden konnten. Nicht wahr?

    „Ich konnte einfach nicht mehr!“ Erfolglos versuchte der König sich hochzuziehen, zitternd krallten sich seine Hände in eine überhängende Wurzel, doch vergebens. „Ich habe es nicht mehr ausgehalten. Die Einsamkeit. Die Dunkelheit.“ Jetzt hatte der Bleiche aufgegeben, keuchend lehnte er sich mit dem Rücken an das Geflecht aus feinen Wurzeln hinter ihm, rang um Atem. „Ich hätte nur über die Toten wachen sollen. Das war meine Aufgabe, der Sinn und Zweck, den ihr mir gabt. Aber ich habe es nicht mehr ausgehalten.“ Hustend erbrach der König der Tiefen Blut, grotesk grell in dieser farbenlosen Welt. Langsam, aber beständig begann es auch aus seinem Umhang zu tropfen, aus den Ärmeln und den Löchern, durch die sie Wunden geschlagen hatten.

    „Ich habe mir Freunde aus ihnen gemacht. Ich habe sie geformt, damit sie mir Gesellschaft leisten. Ich habe sie mit all dem gefüllt, was sie brauchen. Aber sogar sie wollen nicht hier unten bleiben!“

    Kratzen, Schaben vertrieb nun die einstige Monotonie der Stille, als sie in den Thronsaal eindrangen. Spinnen gleich schritten sie auf unzähligen Extremitäten durch das Königreich der Toten, zerflossene Körper ohne wahre Gestalt, amorphes Fleisch. Doch sie beachteten den Bleichen nicht, wie er blutend und hilflos vor ihnen lag. Wie ein einzelnes Schwarmwesen begannen sie, den Weltenbaum zu erklimmen, sich an seinen zahllosen Wurzeln emporzuziehen. Rauf in diese Welt der Wärme, diese Welt des Lebens, diese Welt des Blutes.

    Und langsam begannen auch die Wurzeln an dem König der Tiefe zu zerren, doch sie taten es nicht mit bösem Willen. Der Bleiche gab sich ihnen hin, erlaubte, dass sie eins mit ihm wurden, sich seiner annahmen.

    „Mir bleibt nun nur, euch zu warnen, und ich weiß, meine Worte werden euch erreichen. Bis dahin werde ich ruhen.

    Und meine neugeborenen Augen dürfen noch einmal das Tageslicht sehen.“

    Langsam erstarrten die Züge des Bleichen, als seine Haut zu Holz und sein Fleisch Teil des Weltenbaumes wurde. Über ihm zogen sich seine Geschöpfe empor, gruben, stachen, fraßen sich voran.

    Bis nun endlich wieder Stille über allem lag, in vergessenen Hallen, den Landen der Toten.

    Magie hat etwas einzigartiges: Sie berührt alle Sinne. Sie ist wie ein Geruch, der sich nicht wirklich wahrnehmen lässt, wie Sand, der durch Fingerrillen rinnt. Sie ist ein Geschmack auf der Zunge, der sich nicht benennen lässt, und wie ein Lied, dessen Melodie einem nicht im Kopf bleiben will.
    So lernte Aer die flüchtigste aller Künste kennen: Das Weben von Zaubern, das Formen der Magie.

    Die Schatten der Magie

  • So, da ich jetzt eine wohlige Gruselgänsehaut hab, reihe ich mich mal hier ein. Mit einer Geschichte, die ich geschrieben hab, als ich sechzehn war. Darin geht es um eine Angst, die vielleicht manch einer als Kind auch mal hatte.

    Jenny

    Jenny hat Angst. Sie liegt zitternd im Bett, ganz eng an die Wand gedrückt und die Decke bis zur Nasenspitze hochgezogen. Ihre Blicke huschen immer wieder zur gegenüberliegenden Wand.

    Zum Schrank.

    Mamas neuer Mann hat ihn mitgebracht, als er bei ihnen einzog, und in Jennys Zimmer gestellt. Und Jenny weiß auch, warum!

    Ihr neuer Stiefvater mag sie nicht. Sie ist ihm im Weg, weil er ihre Mama ganz allein für sich haben will. Aber er traut sich nicht, ihr was zu tun. Darum der Schrank. Denn in dem Schrank wohnt ein Monster. Jenny weiß das ganz genau. Manchmal, mitten in der Nacht, öffnet sich die Schranktür, nur einen kleinen Spalt breit, und dann schaut das Monster Jenny an. Groß ist es, mit bösen roten Augen. Es hat viele lange Arme, wie Tentakel, und es sondert einen ekligen grünen Schleim ab. Noch beobachtet es Jenny nur, aber eines Nachts wird es aus dem Schrank herauskommen und Jenny fressen. Das weiß sie ganz genau.

    Es ist ganz still im Zimmer. Der Vollmond leuchtet und wirft sein gespenstisches Licht direkt auf den Schrank.

    Plötzlich quietscht etwas leise, ganz leise. Jenny setzt sich auf und presst sich noch fester gegen die Wand. Ihre Augen weiten sich vor Angst und sie wagt kaum zu atmen.

    Die Schranktür öffnet sich. Jenny wimmert leise. Am liebsten würde sie nach ihrer Mama rufen, aber Jenny hat Angst, dass das Monster ihr dann auch was tut. Das will Jenny nicht. Sie hat ihre Mama ja sehr lieb.

    Es wäre natürlich etwas anderes, wenn das Monster ihren Stiefvater ... Jenny erschrickt. Sowas darf man sich nicht wünschen, das ist böse. Aber trotzdem...

    Jenny wird langsam wütend auf ihren Stiefvater. Sie hat ihm nie was getan. Aber er hat ihr was getan: er hat ihr ihre Mama weggenommen! Und er hat das Monster auf Jenny gehetzt.

    Jetzt lässt Jenny den Gedanken freien Lauf. Sie stellt sich vor, wie es wäre, wenn das Monster nicht sie, sondern ihren Stiefvater fressen würde.

    Sie schließt die Augen. Ganz deutlich sieht sie alles vor sich: sie sieht, wie das Monster den Schrank verlässt, eine grüne Schleimspur hinter sich herziehend. Es kommt ganz langsam auf Jenny zu. Vor ihrem Bett bleibt es stehen und starrt sie an. Aber jetzt ist es kein Feind mehr, sondern Jennys Diener. Und es wartet nur auf ihre Befehle.

    In ihren Gedanken malt sie sich aus, wie das Monster ihr verstehend zunickt und sich dann auf ihre Zimmertür zubewegt. Es öffnet sie und kriecht auf den Flur. Jenny weiß, dass es jetzt zum Arbeitszimmer ihres Stiefvaters kriechen wird. Da schläft er manchmal, wenn er viel am Computer arbeiten muss. Auch heute Nacht.

    Jenny öffnet die Augen. Der Schrank steht weit offen, eine grüne Schleimspur zieht sich zu ihrem Bett und von da zur Kinderzimmertür. Auch diese ist offen.

    Jenny lauscht. Und dann hört sie schreckliche Geräusche. Ein Knirschen und einen unterdrückten Schrei.

    Einen Augenblick lang herrscht Stille. Und dann beginnt das Schlürfen und Schmatzen.

    Jenny legt sich wieder hin und kuschelt sich zufrieden in ihre Bettdecke. Jetzt hat sie keine Angst mehr. Sie weiß, dass jetzt alles wieder gut ist. Jetzt gibt es wieder nur sie und ihre Mama. Und so muss das auch sein. Und vielleicht merkt Mama jetzt auch endlich, dass sie gar keinen Mann braucht, sondern nur ihre Jenny.

    Bevor sie einschläft, lächelt sie zufrieden und denkt, wie praktisch doch so ein Monster im Schrank ist!


  • Uuuuh, wie fies ^^

    Das eigentliche Monster lag also im Bett im Elternschlafzimmer. :rofl:

    Muss eine herbe Überraschung gewesen sein, als sich der gedungene und im Schrank eingeschmuggelte, schleimende Assassine plötzlich gegen einen wendet, weil ein anderer Auftraggeber mehr Durchsetzungsvermögen hatte. Sehr schön, danke für den kurzweiligen Lesespaß.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • Heyho Tarani

    Das war mal echt...gruselig.

    Wenn sich jemand zufrieden in seine Bettdecke kuschelt, während nebenan gerade jemand auf unaussprechliche Weise zu Matsch und Gulasch verarbeitet wird, dann ist das schon eine ziemlich eklige Vorstellung.

    Und das ich die beim Lesen hatte, dafür hast Du nur zwei Sätze gebraucht. Chapeau!!!

    :nummer1:

    Merke ich mir mal...Danke.

  • Es ist Oktober! herbst-blaetter-smilie_025.gifDer spooky Monat! halloween-smiley-71.gif

    Zeit für neue "Weird Tales"! Und ich würde deshalb mal eine neue Kurz-Story hier abladen. :evil:
    _______________________________________________

    Zoe

    „Und deshalb, bitte: Wenn Sie unsere Tochter bei sich haben, geben Sie sie uns zurück. Die Bitte kommt aus den unendlich verzweifelten Herzen ihrer Eltern. Haben Sie Mitleid, lassen Sie unsere Zoe frei. Wir vermissen sie und wollen sie wieder bei uns haben. Geben Sie uns unser Kind zurück. Bitte ...“
    Der Satz endet mit einem Schluchzen und dann bricht die Stimme. Zitternd krallen sich die Finger der weinenden Frau in ein weißes Taschentuch.
    Ihr Mann zieht sie sanft zur Seite. Weg vom Mikrofon, von den laufenden Kameras, von den neugierigen Augen der Reporter. Er legt den Arm um ihre bebenden Schultern und murmelt beruhigende Worte neben ihrem Ohr.
    An dem Platz, an dem die Frau bis eben stand, hat sich ein Kriminalbeamter aufgebaut.
    „Wir bitten die Bevölkerung dringend um Mithilfe“, verkündet er. „Die zehnjährige Zoe Gerber wird seit drei Tagen vermisst. Zuletzt hielt sie sich mittags an der Haltestelle des Schulbusses am Kirchhof auf. Wenn Sie das Mädchen später noch gesehen oder verdächtige Aktivitäten bemerkt haben, wenden Sie sich bitte umgehend an die nächste Polizeidienststelle. Die Beschreibung des Kindes ist online unter http://www.missedchildren-zoe.com einzusehen. Jeder kleine Hinweis ist wichtig. Helfen Sie uns, das Mädchen zu finden. Vielen Dank.“
    Der Mann tritt zurück. Murmelnd packt die Reportermeute ihr Equipment zusammen und verstaut es in den Fahrzeugen der Sender.

    „Wie oft willst du dir das noch anschauen, Monika?“
    Die Stimme, die das gesagt hat, lässt eine schlecht verhohlene Ungeduld und auch Unverständnis erkennen.
    Monika Gerber, die auf dem Sofa sitzt, drückt die Pausentaste auf der Fernbedienung und wendet sich um. „Ich weiß es nicht, Hartmut“, antwortet sie leise. „Aber heute musste ich einfach ...“ Sie hebt den Kopf und schaut ihn an. „Morgen wird -“
    „Ich weiß!“ Die zwei Worte zerschneiden das, was Monika Gerber sagen will, wie ein scharfes Schwert. Gleich darauf seufzt ihr Mann. „Ich weiß, dass Zoe morgen für tot erklärt wird. Tut mir leid, Schatz, ich wollte dich nicht anschreien.“
    Sie nickt. Wie damals auf der Pressekonferenz kneten ihre Hände ein weißes Taschentuch. „Fünfzehn Jahre und mir ist, als wäre es gestern gewesen. Ich denke jeden Tag daran. Und die Schuldgefühle schlagen dann über meinem Kopf zusammen wie eine große Woge.“
    „Hör auf, dich zu quälen. Wir waren uns doch einig, nicht mehr darüber zu sprechen. Den Tag morgen überstehen wir auch noch und dann lassen wir sie in Frieden ruhen. Also gönn auch dir endlich Frieden. Wenn es dir hilft, gehen wir morgen zusammen zur Bushaltestelle zum Gedenkstein.“
    Monika Gerber nickt.
    Das Telefon klingelt. Hartmut hebt ab, lauscht kurz und reicht den Hörer seiner Frau. „Deine Mutter“, meint er leise.
    Monika erhebt sich und geht mit dem Telefon in die Küche.
    „Hallo, Mama“, hört er noch, dann schließt sie die Tür. Er vermutet, dass seine Frau wieder weinen wird. Ihre Mutter ruft jedes Jahr am Tag von Zoes Verschwinden an und versucht zu trösten. Und natürlich weiß sie auch, was für morgen ansteht.
    Er selbst benötigt keinen Trost. Die Worte des Predigers haben ihm damals gereicht und er hat Frieden finden können. Doch Monika fühlt sich schlecht, das weiß er. Diese verdammte Pressekonferenz hat ihren Zusammenbruch zur Folge gehabt, obwohl sie vorher so stark und gefasst gewesen ist und ihre kurze Rede wirklich gut über die Bühne gebracht hat. Und sie erholt sich nicht davon. Bei den kleinsten Gelegenheiten kommen die Erinnerungen an den letzten Tag mit Zoe mit voller Wucht und werfen sie buchstäblich zu Boden. So wie heute.
    Seine Frau tritt aus der Küche, ein gequältes Lächeln auf den Lippen. „Sie hat es kurz gemacht diesmal“, meint sie entschuldigend, „wahrscheinlich, weil sie selber geweint hat.“
    Er nickt. Seine Schwiegermutter ist Monikas Fels gewesen in der Zeit nach der Pressekonferenz.
    Das Telefon klingelt erneut. Er zieht fast verärgert die Brauen zusammen. Noch jemand, der ihnen mitteilen will, wie sehr er mit ihnen fühlt? Das kann keiner. Niemand ist in der Lage, auch nur zu ahnen, was er empfindet. Und was er damals empfunden hat, in den Tagen, als Zoe noch bei ihnen gewesen ist.
    Mit einer raschen Bewegung bedeutet er Monika, sitzenzubleiben, und geht mit steifen Schritten zum Telefon.
    „Gerber“, meldet er sich knapp.
    Es rauscht in der Leitung.
    „Wer ist da?“, verlangt er zu wissen.
    „Hier ist Zoe.“
    Er fährt zusammen. „Das ist ein schlechter Scherz“, zischt er mit mühsam unterdrückter Wut in der Stimme und die Knöchel der Hand, die den Telefonhörer hält, werden weiß, so fest krampfen sich seine Finger darum. „Und ich verbitte mir diese Geschmacklosigkeit! Zeigen Sie gefälligst etwas Respekt! Unsere Tochter wird morgen für tot erklärt.“
    „Hier ist Zoe.“
    „Hören Sie auf damit!“, schreit Hartmut in den Apparat. „Unsere Tochter hieß Zoe, das ist richtig. Aber so haben wir sie nie genannt. Also: wie war Zoes Kosename?“
    Eine Weile bleibt es still am anderen Ende.
    „Hier ist Zozo.“
    Der Hörer poltert zu Boden. Mit schreckensbleichem Gesicht starrt Hartmut Gerber seine Frau an.
    „Was ist?“, fragt sie verständnislos. „Wer war das?“

    Zwei Minuten später sitzen beide im Auto. In wahnwitzigem Tempo setzt Hartmut rückwärts aus der Garageneinfahrt und lässt dann den Wagen mit kreischenden Reifen davonschießen. Die Fahrt durch die abendliche Stadt scheint kein Ende zu nehmen. Irgendwann bleiben die letzten Häuser der Vorstadt hinter ihnen zurück und das Auto verlässt ein paar Kilometer weiter die Hauptstraße.
    Sie sprechen kein Wort miteinander. Stumm starren sie durch die Frontscheibe, während Hartmut den Wagen über den halb zugewachsenen Waldweg quält. Auf einer winzigen Lichtung hält er, schaltet den Motor ab und sieht Monika kurz an, bevor er die Fahrertür öffnet und aussteigt.
    Die letzten Meter gehen sie zu Fuß. Nebeneinander, Hand in Hand, erreichen sie die Stelle, an der sie vor fünfzehn Jahren ihre Tochter getötet und begraben haben.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

    2 Mal editiert, zuletzt von Tariq (4. Februar 2023 um 15:53)