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Ich hab mal wieder was geschrieben, weiß aber nicht wirklich, was ich damit anfangen soll. Sprachlich frage ich mich, ob es funktionieren kann, durch einen Baum die Welt wahrzunehmen und so zu beschreiben, dass ein menschlicher Leser das versteht. Wie seht ihr das? Kann ein erzählender Baum, der unsere Sprache nicht kennt und spricht, keine Augen und Ohren hat, als Erzählcharakter eingesetzt werden?
Die Idee dazu kam mir mal beim Spazierengehen. Foto folgt demnächst.
Der Baum
Lange hatte es den Baum nicht gestört, dass der Stuhl neben ihm leer blieb. Doch als der Frühling in den Sommer überging, da wunderte er sich, wo der alte Mann wohl war, der sich sonst bei schönem Wetter zum Baum gesetzt hatte und Wind und Sonne genoss.
Der Baum hatte sich keinen Namen gegeben, denn wozu brauchte er schon einen? Niemand sprach mit ihm. Nur der alte Mann erzählte ihm immer wieder etwas. Die leisen, brummeligen Worte drangen kaum durch die dicke Rinde des Baumes, aber die zarten Blätter an dem einen Ast, der direkt hinter dem Stuhl herabhing, vibrierten voller Freude, wenn der Alte sprach. Natürlich verstand der Baum nicht, was der Mann sagte, aber das war ihm auch nicht wichtig. Er spürte, dass er dem Mann gut tat. Und der Mann tat ihm gut.
Manchmal versuchte sich der Baum zurückzuerinnern, wann der Mann das erste Mal hier gewesen war und sich damals noch ohne Stuhl einfach ins Gras im Schatten des Baumes niedergelassen hatte. Bestimmt waren schon zwanzig Winter seitdem vergangen. Vielleicht auch dreißig. Baum wusste es nicht. Dass der Mann ihn nun nicht mehr besuchen kam, machte den Baum traurig. Der Sommer war heiß, trocken und sehr lang gewesen. Sicherlich hätte der Mann in seinem Schatten Ruhe und Kühlung finden können. Noch dazu war der Ausblick in das sanft zum Wald hin abfallende Tal auch irgendwie schön.
Der Baum selbst hatte natürlich keine Augen wie Tiere und Menschen sie haben. Aber dennoch nahm er seine Umwelt in so vielfältiger Weise wahr, wie es kaum ein Mensch vermochte. Zumal die meisten Menschen sich gar nicht die Zeit nahmen, sich ihrer Umwelt bewusst zu werden. Immer wieder eilten sie am Baum vorbei, sahen vielleicht den leeren Stuhl, doch sie setzten sich nicht. Sie sprachen nicht zu dem Baum, schenkten ihm keine Aufmerksamkeit. Ihre Ziele lagen woanders, vielleicht hinter dem Tal.
Von dort wehte manchmal eine schreckliche Luft herüber, wenn der Wind schlecht stand. Sie war voller Gift. Der Baum hatte schnell gemerkt, dass er über seine Blätter Stoffe aufnahm, die er nicht gebrauchen konnte, die ihm wehtaten und schädigten. Doch er konnte sich nicht dagegen verschließen. Er brauchte die Luft. Anders als die Menschen zwar, aber dennoch war er auf sie angewiesen. Mit der Kraft der Sonne und dem Wasser, das er durch seine Wurzeln in sich aufsog, konnte er seine Blätter und Äste weiterwachsen lassen. Doch wenn er Gifte in sich aufnahm, wuchsen sie oft nicht so, wie sie sollten. Gerade die Blätter und zarten Blüten waren dann zu fein, manchmal krumm oder konnten ihre Funktionen nicht erfüllen. Der Baum spürte das und war traurig und machtlos.
Irgendwann hatte der Mann einen alten Liegestuhl mitgebracht. Er war aus Holz und frisch lackiert. Die Blätter des Baumes hatten das wahrgenommen. Den hatte der Mann neben den Baum gestellt und sich gesetzt. Anfangs war er jeden Tag gekommen und schweigend für einige Minuten oder sogar Stunden dort gesessen. An manchen Tagen blieb er weg. Damals hatte es den Baum noch nicht gestört. Doch mit der Zeit hatte der Mann angefangen zu ihm zu sprechen. Vielleicht hatte er Frust abladen müssen oder seine Lebensgeschichte erzählen, weil niemand außer dem Baum noch Zeit hatte, ihm zuzuhören. Vielleicht gab er auch Witze zum Besten, damit der Schmerz sich nicht so tief in sein Herz bohrte.
Der Baum wusste all das nicht. Er spürte nur die Vibration an den Blättern, wenn der Mann sprach.
Jetzt sprach der Mann nicht mehr zu ihm. Lange war er nicht hier gewesen. Vielleicht zu lange. Der Baum fragte sich, ob ein Sturm den Mann gebrochen hatte oder der Mangel an Wasser ihn vertrocknen ließ. Oder – und diese Möglichkeit fand der Baum am schönsten – vielleicht hatte der Mann dem Baum alles gesagt, was ihm auf dem Herzen gelegen hatte. Und nun, seit er gereinigt war, brauchte er nicht mehr zum Baum zu kommen und konnte weiter durch das Leben gehen. Der Baum wusste es nicht, würde es vielleicht niemals erfahren, es sei denn, es käme jemand, um mit dem Baum zu sprechen.