„Verdammt, was tut Ihr da?“ Die Stimme des jungen Wachhabenden klang hart.
„Ich wollte nach Wunden im Gesicht sehen, die ich versorgen muss.“ Tuck hatte sich schnell gefasst.
„Nichts da!“ Er wurde zur Seite gedrängt, als der Soldat sich neben ihn hinkniete. Er zwang dem Gefangenen wieder den Leinenstreifen als Knebel in den Mund, zog den Sack hinunter. Zum Schluss streifte der Soldat dem Gefangenen wieder die Schlinge über, ehe er das Seil festzog.
„Kümmert Euch um die anderen Wunden! Und um sein Seelenheil, dafür seid Ihr schließlich hier. Ich hab nicht ewig Zeit!“
Die Wache blieb dieses Mal neben der Zellentür stehen.
Tuck fühlte seinen bohrenden Blick im Rücken. Er unterdrückte ein
Schaudern, das Zittern seiner Finger, als er aus dem Bündel die kleine
Tonflasche zog. Er goss das Wasser in die mitgebrachte Schale und
begann, die Wunden zu reinigen.
Während er das tat, überschlugen sich seine Gedanken. Konnte es wirklich sein? War es denn möglich? Sein Verstand sagte nein.
Niemand konnte sechzehn Jahre Gefangenschaft überleben! Auch nicht Robin! Er musste sich irren…
Marions Gesicht tauchte inTucks Erinnerung auf. Die Qual und der Schmerz in ihren Augen. All das würde er nie vergessen.
„Er ist tot! De Lacey, er hat ...Robin ...“
Nein, es musste ein Irrtum sein! Der Mann war sicher nicht Robin! Unddoch ... diese Stimme ... Tucks Herz klammerte sich an den kleinen Funken Hoffnung.
Er musste sich einfach vergewissern! Vorher würde er diese Zelle nicht verlassen. Doch wie sollte er es mit Sicherheit herausfinden? Er spürte deutlich den Blick der Wache im Rücken. Mit Argusaugen verfolgte sie jeden seiner Handgriffe. Natürlich! Robins Narbe, das war es! Eine Pfeilwunde in Robins Kniekehle. Damals hatte man den Pfeil nicht schnell genug entfernt. Die Wunde hatte sich schlimm entzündet. Zum Schluss war Tuck nichts anderes übriggeblieben, als die Wunde auszubrennen. Die Wundränder der Brandnarbe waren sehr wulstig gewesen. Sicherlich auch heute noch zu ertasten.
Vor Aufregung trat Tuck der Schweiß auf die Stirn. Während seine eine Hand den Tiegel aus dem Bündel zog, wanderte seine andere Hand zum Bein des Mannes. Er strich von der Wade zur Kniekehle. Als seine Fingerkuppen das ausgefranste Gewebe der Brandnarbe ertasteten, unterdrückte Tuck mit Mühe ein Aufstöhnen. Es gab keinen Zweifel! Noch einmal fuhren seine Finger über die wulstige Narbe, auf der Rückseite des Kniegelenks. Tuck fühlte sich hin und her gerissen zwischen Erleichterung und Unglaube. Was konnte ein Mensch ertragen? Sechzehn Jahre Gefangenschaft …
„Seid Ihr fertig?“ Tuck unterdrückte sein Zusammenzucken. Er fühlte sich angesichts der Tatsachen niedergedrückt und alt. Als würde ein schweres Gewicht auf seinen Schultern lasten.
„Ja, einen Augenblick.“ Er strich die heilende Salbe auf die offenen Hautstellen und verschloss den Tiegel. Mit zitternden Fingern packte er die mitgebrachten Sachen zurück in sein Bündel.
Schwerfällig erhob er sich. Sein Blick ruhte auf dem Gefangenen, der jetzt wieder ruhig da lag. Halte durch Robin, ich komme wieder, sprach Tuck die Worte in Gedanken und hoffte dabei, dass es ihm tatsächlich gelang, es umzusetzen.
Er zögerte noch einen Moment, dann gab er sich einen Ruck. Er beugte sich noch einmal hinunter und legte seine Hand an die Stelle wo er Robins Stirn vermutete.
„Ich werde für deine Seele beten, mein Sohn.“ Es kostete ihn alle Überwindung, die Zelle zu verlassen, ohne sich noch einmal nach dem Gefangenen umzusehen.