Hallo an euch, die ihr hier mal reinschaut. Willkommen, setzt euch, nehmt euch einen Kaffee oder Tee und legt die Füße hoch.
Hier findet ihr meine Beiträge zu Schreibwettbewerben und diverse andere kurze Textchen. Danke für euer Interesse!
1. Der Geist und die Tänzerin (Schreibwettbewerb Februar/März 2018 "Tanz mit einer/einem Fremden")
2. Die Putzfrau (Bestandteil von Myrtana222's "Weird Tales")
3. Die Mission (Schreibwettbewerb August/September 2018: "Unter glühender Sonne")
6. Die Quelle der Musik (Schreibwettbewerb Juli/August 2021 "Das Geheimnis der alten Mine")
7. Die Jagd
9. Marvius, der Brotdieb (Schreibwettbewerb März/April 2022 "Henkersmahlzeit")
10. Dreizehn Stufen (Schreibwettbewerb Mai/Juni 2022 "Die Treppe zum Keller")
11. Zoe (Bestandteil von Myrtana222's "Weird Tales")
12. Drei Herzen für eines (Schreibwettbewerb Januar/Februar 2023 "Das schwarze Kleeblatt")
13. Die Wünsche des Einhorns (Ein Kindermärchen)
14. Für den König (Schreibwettbewerb Januar/Februar 2024 "Für den König")
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Der Geist und die Tänzerin
(Schreibwettbewerb Februar/März 2018 "Tanz mit einer/einem Fremden")
Die blaugestrichene, mit goldenen Schnörkeln verzierte Tür öffnete sich langsam, und SIE kam zum Vorschein. Es war, als würde mit ihrem Erscheinen die Sonne in seinem Gemüt aufgehen.
Der Geist seufzte unhörbar. Seit drei Jahrhunderten harrte er in diesem Gemälde aus, das an Scheußlichkeit kaum zu überbieten war.
Nein, das stimmte nicht. Das Gemälde war außerordentlich gut. Aber das Motiv, das der Maler gewählt hatte, war scheußlich. Mehrmals hatte der Geist hören müssen, wie die Leute darüber tuschelten, und manchmal beobachtete er bitter, wie sie sich schaudernd davon abwandten. Es zeigte ein Wesen, das einer morbiden Fantasie entsprungen zu sein schien. Eine furchterregende, geflügelte Kreatur mit struppigem, schwarzem Fell, glühenden Augen und handtellergroßen Tatzen, die sich aus dem Dunkel schälte und langsam auf den Betrachter zu schlich.
Es zeigte ihn selbst. Das war er früher gewesen: ein nach Menschenblut dürstendes Monster. Des Nachts hatte er die Dörfer terrorisiert, Schrecken verbreitet und unendliches Leid über die Bewohner gebracht ... bis dieser Magier ihn tötete und seinen Geist hier in dieses Gemälde bannte.
Die glühenden Augen der gemalten Kreatur waren die Fenster seines Gefängnisses. Dank ihnen konnte er sehen, und dank ihnen hatte er auch schon vieles gesehen. Das Bild war aus dem Haus des Magiers, der es damals mit sich genommen hatte, in die Villa eines Kaufmannes gekommen. Dort entdeckte es ein Kunstsammler, der es erwarb und hier in diesem Raum seines schlossähnlichen Wohnsitzes an die Wand hängte. Das Zimmer strotzte von Sammelstücken, die er - wie das Gemälde - irgendwann einmal erstanden hatte und hier aufbewahrte, um sie ab und an voller Stolz seinen Gästen zu präsentieren.
Der Geist war verbittert. Fünfhundert Jahre Bann hatte die Strafe gelautet. Waren sie um, würde er erlöst sein und endlich im großen Nichts verschwinden dürfen. Eine winzige Annehmlichkeit hatte der Magier ihm damals gewährt. Es stand ihm frei, innerhalb dieser langen Zeit ein Mal sein Gefängnis zu wechseln. Die Bedingung dabei war, dass es ein toter Gegenstand sein musste, in dem er seine Existenz fortführte. Weder Person noch Tier, auch keine Pflanze. Nur ein lebloses Ding.
Er hatte nie davon Gebrauch gemacht. Wozu auch? Warum das Bild verlassen, wenn er SIE von hier aus sehen konnte?
Die Jahre vergingen. Er zählte sie nicht. Für ihn stand die Zeit still. Es kam nur selten jemand in den Raum, um das Sammelsurium abzustauben, und so war jede Abwechslung willkommen.
SIE war der Lichtblick seiner freudlosen Tage, der Höhepunkt dieser endlosen Stunden, von denen sich jede genauso ereignislos an die eben vergangene reihte, wie diese es schon vor ihr getan hatte.
Sehnsüchtig richtete er nun seine Augen auf ihre grazile Gestalt. Niemals würde er sich an ihr sattsehen können. Die schlanken Arme hatte sie über sich erhoben und ein wenig angewinkelt, so dass sie fast einen Kreis bildeten. Die Hände waren locker geöffnet, die Finger nicht ganz gestreckt, mit bewegungslosen Spitzen, die in einer zart wirkenden Geste einander zugewandt verharrten. Die rechte Hand stand dabei ein klein bisschen höher. Das lag daran, dass sie den Oberkörper anmutig leicht nach links neigte und auch den Kopf in diese Richtung gewandt hatte. Ihr Blick war auf den Boden neben ihr gerichtet, auf dem sie auf den Fußspitzen stand. Das erkannte er an den winzigen Schuhen, die unter dem tiefreichenden Saum des duftigen, weiten Spitzenkleides hervorlugten.
Oft schon hatte er sie gesehen, den Blick nicht von ihr wenden können. Sie jedoch hatte ihn niemals angeschaut. Den Kopf mit der perfekten Frisur, die ihre hochgesteckten, ebenholzfarbenen Haare in einen spitzenumhüllten Dutt zwang, drehte sie nie. Stur sah sie an ihm vorbei. Man hätte meinen können, dass sie den Augenkontakt bewusst vermied. Doch er wusste, dass das nicht so war. Sie konnte ihn nicht ansehen.
Wie immer war vorher leise diese liebliche Tonfolge erklungen. Mit Musik selbst konnte er nicht viel anfangen, aber diese Melodie liebte er, weil es bedeutete, dass sie gleich erscheinen würde.
Und immer, wenn der kleine, hohe Trillerton erklang, öffnete sich die blaue Tür.
Doch etwas störte ihn.
Sie kam nie allein. Stets war ER dabei. Dieser aufgeblasene Gockel. Steif, als hätte er einen Stock verschluckt, und stolz, als sei er das wichtigste Individuum auf dieser Erde, erschien er im selben Augenblick in der roten Tür, in dem sie in der blauen auftauchte. Seinen linken Arm mit der geballten Faust verbarg er leicht angewinkelt hinter dem Rücken, den rechten hatte er vor seiner Brust. In der Hand hielt er eine Rose. Jedes Mal, wenn er kam, trug er eine bei sich. So blutrot, dass sie einen fast schmerzhaften Kontrast zu dem Schwarz seines Gehrockes und dem strahlenden Weiß seiner Hemdbrust bildete.
Während der eingebildete Lackaffe sich langsam auf sie zubewegte, war sein Blick nur auf die Schönheit vor ihm gerichtet. Keine einzige Sekunde ließ er ihn abschweifen, um so unwichtige Dinge wie die Gegenstände im Zimmer zu betrachten.
Der Kerl war nichts als ein hochnäsiger Geck. Der Geist hasste ihn. Mit der ganzen Leidenschaft, zu der er fähig war. Voller Genugtuung erkannte er, dass SIE ihr vornehm gekleidetes Gegenüber auch diesmal keines Blickes würdigte, während sie einander näherkamen. Die Augen blieben niedergeschlagen, der Kopf verharrte in der anmutig gebeugten Haltung, die Linie des erhobenen rechten Armes folgte dem sanften Schwung ihres zarten Halses.
An einem bestimmten Punkt ihres Weges begannen beide, sich zu drehen und bewegten sich dabei zusätzlich um eine unsichtbare Mitte zwischen sich. ER blieb stocksteif, drehte sich nur langsam und stoisch um die eigene Achse.
SIE tat das auch, fing aber außerdem an, ihren Oberkörper sanft zu neigen. Zuerst nach vorn, wobei sie mit den Armen den weit bauschenden Rock ihres Spitzenkleides berührte, dann nach rechts, hinten und schließlich nach links, um gleich darauf wieder von vorn zu beginnen.
Sie tanzte.
Es wirkte so leicht und anmutig, als sei sie schwerelos. Die Drehungen, die ihre Gestalt während dieser Bewegungen vollführte, verstärkten den Eindruck noch. Welch ein Gegensatz zu ihrem Mittänzer, wenn man dessen starre Haltung mit den an den Körper gepressten Armen überhaupt als Tanz bezeichnen konnte.
So bewegten sie sich zweimal umeinander herum, ohne sich dabei näherzukommen.
Nachdem sie den zweiten Kreis vollendet hatten, hörten beide wie auf geheime Absprache auch auf, sich um sich selbst zu drehen. Sie erstarrten. Und während die letzten Töne der Musik perlten, zogen sie sich langsam wieder zu ihren jeweiligen Türen zurück. SIE zur blauen, ER zur roten.
Als sich diese hinter ihnen geschlossen hatten, fiel die Anspannung von dem Geist ab. Wie jedes Mal, wenn ER und SIE sich trafen, hatte er grauenhafte Angst gehabt, dass sie dem Rosenkavalier ihre Aufmerksamkeit schenken würde. Es hätte ihn zutiefst getroffen, denn dann wäre er der Einzige gewesen, der von ihr nicht beachtet wurde. Diesen Schmerz hätte er nicht verkraftet. Er wäre daran zerbrochen. All die Jahre der Einsamkeit hatten das nicht schaffen können, aber ihr hätte es allein dadurch gelingen können, dass sie ihren Tanzpartner ansah.
Doch es war auch diesmal nichts dergleichen passiert. Und wie immer begann, sobald die Erleichterung bei ihm nachließ, sofort die nagende Furcht zu wachsen, was bei der nächsten Begegnung zwischen den beiden geschah. Würde sie stark bleiben? Würde sie IHN weiter ignorieren mit seiner albernen Rose, die er ihr nicht einmal hinreichte, sondern fest an die Brust drückte, als wäre es ihm gar nicht wichtig, dass Sie die Blume erhielt?
Eine Stunde musste er nun warten. Eine Stunde lang hoffen, dass der Lackaffe auch beim nächsten Mal unverrichteter Dinge mitsamt seiner Rose wieder verschwand. Eine weitere Stunde ...
Was gäbe der Geist darum, der Tänzerin ein einziges Mal eine solche Blüte reichen zu können. Oder - was noch viel unvergleichlicher wäre und was er weder zu denken noch zu hoffen wagte - einmal mit ihr zu tanzen. Und sei es nur diese steife Drehung um die eigene Achse, mit der Lackaffe ständig versuchte, sie zu beeindrucken.
Nur ein Mal. Er könnte ihr nahe sein, mit jeder vollen Stunde. So nah, dass er endlich ihr Gesicht aus der Nähe betrachten und ihr Kleid bewundern konnte, ihr Haar, ihre zarten Hände ...
Nur ein Mal anstelle des Rosenkavaliers aus der roten Tür kommen ...
Als die Stunde um war, begann es von vorn. Leise erklang die Musik.
Die blaugestrichene, mit goldenen Schnörkeln verzierte Tür auf der altertümlichen Uhr öffnete sich langsam, und SIE erschien.
Die rote Tür, die der blauen genau gegenüberlag, ging ebenfalls auf. Und er kam zum Vorschein. In der Hand trug er die blutrote Rose. Während er sich ihr näherte, ließ er ganz kurz einen Blick hinüberfliegen zu dem Bild an der Wand, in welches er dreihundert Jahre lang gebannt gewesen war. Das Motiv, das der Maler gewählt hatte, war scheußlich. Es zeigte ein Fantasiewesen, eine furchterregende, geflügelte Kreatur mit struppigem, schwarzem Fell, glühenden Augen und handtellergroßen Tatzen, die sich aus dem Dunkel schälte und langsam auf den Betrachter zu schlich.
Das war er einmal gewesen. Früher, vor langer Zeit, in seiner Vergangenheit.
Jetzt trug er ein weißes Hemd und einen schwarzen Gehrock. Und gleich würde er tanzen mit der Dame seines Herzens. Zu jeder vollen Stunde, und das noch zweihundert wunderbare Jahre lang.