Tariqs Kurzgeschichten

Es gibt 77 Antworten in diesem Thema, welches 13.657 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (3. März 2024 um 19:34) ist von Tariq.

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    Herzlichen Dank für euer tolles Feedback, Jota und Charon und für deine Version dieser Geschichte, Thorsten ! Hab mich sehr gefreut, dass die Geschichte von so vielen gelesen wurde und ich so viele interessante Rückmeldungen bekommen habe.

    Schön, dass die krasse Änderung des Stils der Geschichte (belanglose, fast langweilige Liebesgeschichte im RL hin zum Ende im Fantasygenre) so gut wirkt und dass ich mit dem Ende überraschen konnte. Das war so beabsichtigt, auch wenn ich damit rechnen musste, dass mancher beim Lesen vielleicht ein Gähnen verkneifen muss. :) Von daher - mission completed! :thumbup:

    Dass die kalte Lady zwiespältige Gefühle im Leserherz hervorruft ist ein für mich unerwarteter, aber toller Effekt. Man weiß nicht, ob man Mitleid mit ihr haben muss oder ob man sie in die "eiskalte Schlampe"-Schublade steckt. Ich hab das problem aber auch gehabt und für das Schreiben Ersteres gewählt.

    Für eine Darstellung ihres Innenlebens wäre die Länge der Geschichte vielleicht nicht ganz so relevant gewesen, aber ich hätte dafür die Erzählperspektive ändern müssen. Bislang war es die von Adrian mit ein paar reingeschmuggelten Passagen des Erzählers. Wäre ich zu ihr gewechselt, um ihre Gefährlichkeit anzudeuten (und nur auf diese Weise hätte es mir gelingen können, denn nach außen ließ sie nichts davon erkennen), hätte das wohl früh schon auf das unerwartete Ende der Geschichte hingedeutet. Ein kühle und berechnende Art bei ihr hätte vielleicht nicht glaubhaft rüberbringen können, dass sie wirklich ein Herz erobern will/muss, von daher, Thorsten, hätte ich befürchtet, dass ihr das keiner abkauft. Auch hatte ich dabei größte Schwierigkeiten, das zu schreiben, weil ich ihr Verhalten selber nicht mit ihrem angestrebten Ziel unter einen Hut bekäme. :pardon:

    Auch dass sie ihn warnt, sich ihr zu nähern, weil sie denen, die ihr nahestehen, nicht guttut, wäre in meinen Augen ein Gegensatz zu ihrem Ziel. Sie riskiert damit, dass Adrian aufgibt und sie von vorn beginnen muss.

    Ich würde es wirklich gern so lassen, wie es ist und bin dir trotzdem sehr dankbar, dass du dir so viel Gedanken gemacht hast um die Geschichte, Thorsten. Würde ich die Geschichte in deiner Version lesen, wäre ich beizeiten gewappnet, die Gefühle (=das Herz) des armen Adrian in Stücke gerissen, gebrochen oder zertreten vorzufinden. Der Twist hätte für mich nicht die überraschende Wendung, die du für möglich hältst. Frauen halt ... :pardon:

    Zu den offenen Fragen am Ende: Hier habe ich einfach ein bisschen Fantasie vom Leser eingefordert für die Beantwortung (Hat sie wirklich das Herz rausgerissen? Überlebt Adrian? Wie ist er danach, so ohne Herz? Stirbt der Winter, wenn sie in einem Herbst mal kein Herz kriegt? usw.)

    Das die Frauen-Charaktere in den zwei Teilen der Geschichte nicht perfekt zusammenpassen, ist mir bewusst. Thorsten hat mit einer eigenen Version der Geschichte viele Dinge aufgezeigt, die man anders schreiben kann. Ich habe versucht, sie von Anfang als die tragische Heldin darzustellen, die leider nicht anders kann, als einem ihr nahestehenden Menschen zu schaden. Der klare break in der Geschichte sollte wirklich nur aufzeigen, dass sie in Wahrheit zwar nicht das Mauerblümchen aus Adrians Berufsschulklasse ist, aber trotzdem unendlich traurig ist über das, was sie ihm antun musste.

    Ein Übergangsteil zwischen A und B war nie geplant, im Gegenteil, Charon, ich wollte den Unterschied so krass wie nur möglich darstellen. Deshalb habe ich auch den Beschreibungsteil (Kleid und Eispalast) an den Anfang des zweiten Teils gesetzt.

    Also - nochmal herzlichen Dank euch, ich freu mich total!

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Die Quelle der Musik

    (Schreibwettbewerb Juli/August 2021 "Das Geheimnis der alten Mine")


    Abbauhammer = Druckluftwerkzeug im Bergbau zum Abbau von Kohle, Erzen oder Gestein

    Hauer = Bergmann, der Bodenschätze und Gestein löst und erfolgreich die Hauerprüfung abgelegt hat

    Hunt = vierräderiger Förderwagen im Bergbau, der in Stollen meist auf Schienen von Menschen bewegt wurde

    Karbidlampe = tragbare Gaslampe, die mittels einer chemischen Reaktion Licht erzeugt

    Schlägel = Hammer des Bergmannes mit viereckigem Querschnitt und hölzernem Stiel

    Sohle = im Bergbau ein Höhenniveau (eine meist horizontale Ebene) eines Bergwerks

    Stempel = Stützelement im Bergbau Untertage zum Abstützen der Stollendecke

    Stollen = waagerecht oder leicht ansteigend in einen Berg getriebener Grubenbau im Bergbau als Zugang bis unter Tage für den Abbau von Lagerstätten oder Schürfzwecken.

    Toter Mann = bergmännische Bezeichnung für einen stillgelegten Stollen

    (Quelle der Links: Wikipedia, Erklärungen gekürzt)

    Die Schicht war zu Ende. Mit der Karbidlampe in der einen Hand und dem Ledergriff der mit Gestein gefüllten Erztasche in der anderen machten sich Hans und sein Ausbilder, der Hauer Fred, auf den Weg zum Stollen, der zur Grubenbahn führte. Dort würden sie ihre schweren Taschen, die sie hinter sich her schleiften, ausleeren.
    Das plötzliche Knacken in der Decke ein paar Meter vor ihnen ließ Hans erschrocken nach oben sehen.
    Auch Fred, der vor ihm lief, hob ruckartig den Kopf. „Weg hier!“, brüllte er, fuhr herum und gab Hans einen Stoß. „Zurück in unseren Stollen!“
    Neues Knacken, dann ein länger anhaltendes Knirschen und Schaben und danach ein Geräusch, das Hans noch nie gehört hatte: Der Stein schrie.
    Er spürte Freds Finger, die sich wie eine Klammer um seinen Arm schlossen, als sich der Hauer an ihm vorbeidrängte. „Was stehst du wie ein Ölgötze?!“, dröhnte der Bass des Älteren gegen das Poltern an, das jeden anderen Laut übertönte. „Der Stollen stürzt ein!“
    Die Worte und ein huntgroßer Brocken, der sich von der Sohlendecke löste und herunter krachte, rissen Hans aus der Starre. Er schüttelte die Lähmung ab, die der Schrecken verursacht hatte, und seine Füße setzten sich in Bewegung. Ohne sich umzusehen, hastete er Fred nach, gebückt, die Augen auf den schweißnassen, nackten Rücken des Hauers geheftet. Hinter ihm ging das Knirschen in ein nervenzerreißendes Kreischen über und nach einem mächtigen, unheilverkündenden Donnerschlag folgte ein anhaltendes Poltern. Irgendwann war es still.
    Fred ließ seinen Arm nicht los. „Halt dir was vor den Mund!“, drang es an Hans’ Ohr, dann wurde das Licht ihrer Lampen von einer dichten Staubwolke geschluckt, die sie von hinten überrollte. Er zerrte sein Halstuch vor das Gesicht, kniff die Lider zusammen und versuchte, seinen Hauer trotzdem nicht aus den Augen zu lassen. Der am Boden liegende Luftschlauch des Abbauhammers wies ihm die Richtung. „Weiter!“, hörte er Freds Stimme vor sich. „Bleib nicht zurück! Wir müssen bis zur Kreuzung am 'Toten Mann'! Erst dort ist es sicher.“
    An dieser Stelle gab es eine Gabelung, das wusste Hans. Eine Abzweigung führte in den Gang, in dem sie heute gearbeitet hatten, und eine in den 'Toten Mann', wie die Bergmänner stillgelegte Stollen nannten.

    Das Licht seiner wild schwankenden Karbidlampe fiel auf den Rücken des erfahrenen Hauers. Hans sah die kräftigen Muskeln unter den Hosenträgern arbeiten und hörte seinen keuchenden Atem. Irgendwann hielt Fred an, setzte sich und hustete. Auch Hans würgte und spuckte. Das Tuch vor dem Mund half nicht und der Staub kratzte im Hals. Neben dem Hauer sank er nieder.
    „Hier bleiben wir“, keuchte Fred und sah nach oben. „Der Stein wird halten.“
    „Woher weißt du das?“, krächzte Hans.
    „Das Holz zum Abstützen ist alt und trocken, Junge. Vorn, wo die Decke runterkam, war es jung. Alle haben gewarnt, dass es bricht. Es wurde trotzdem für die Stempel verwendet und der Einsturz war nur eine Frage der Zeit.“
    „Was machen wir jetzt?“ Hans bemühte sich, nicht weinerlich zu klingen, obwohl die Angst sein Herz wie eine eisige Faust umschloss.
    „Warten“, war die ruhige Antwort. „Entweder sie graben uns aus oder sie geben uns auf.“
    „Uns aufgeben? Aber ich will nicht sterben!“
    Fred löschte seine Lampe, setzte sie ab und richtete den Blick auf Hans.
    „Das ist das Risiko hier unten. Niemand will das. Doch es gibt keinen Ausgang. Es sei denn, du willst in den verfluchten Stollen.“ Sein Daumen wies auf die Bretterwand hinter ihren Rücken, mit welcher der Ausgang des 'Toten Mannes' vor langer Zeit verbarrikadiert worden war. „Aber ich sag dir gleich, da musst du allein reingehen.“
    Hans spürte ein Frösteln, obwohl ihm heiß war. Der verfluchte Stollen … Jeder Grubenjunge hörte vor seiner ersten Einfahrt die Geschichten, die sich um ihn rankten. Man hatte ihn in den Stein getrieben, bis einer der Hauer plötzlich Musik hörte. Geigen, Trommeln und Flöten auf der vierten Sohle. Die Männer waren entsetzt davongestürzt und der Stollen wurde versiegelt. Damals, vor rund hundert Jahren, glaubte man noch an Berggeister und Zwerge und niemand wollte mehr dort abbauen. Ein halbes Jahrhundert später erklärten sich zwei mutige Hauer bereit, den Stollen weiterzutreiben, die Quelle der Musik zu finden und der Mär von Festen im Zwergenkönigreich ein Ende zu machen. Sie kehrten nie zurück und keiner traute sich, nach ihnen suchen. Erneut wurde der Stollen verbarrikadiert.
    Unbehaglich starrte Hans die Bretterwand an. „Ich geh da rein“, verkündete er und es klang sicherer, als er sich fühlte. „Vielleicht kommt die Musik von draußen.“
    „Junge, über uns sind drei Sohlen und der Berg mit der Ruine. Wie soll es von der vierten einen Ausgang ins Freie geben?“
    „Keine Ahnung.“ Hans hob seine Lampe und kam auf die Füße. Zentimeterweise leuchtete er die Bretter ab. Probeweise rüttelte er daran, doch sie hielt. „Hilfst du mir?“, bat er Fred.
    Der Hauer seufzte. „Ich bin nicht abergläubisch, aber – bist du sicher, dass du da rein willst?“
    Energisch nickte Hans. „Besser als hier sitzen und warten, bis ich verhungere oder verdurste.“
    Fred erhob sich. Seine kräftige Faust umschloss den Schlägel und er hieb ihn zwischen die Bretter, um eine der Holzplanken heraus zu hebeln. Als eine zweite gelockert war, konnte Hans hindurchschlüpfen.
    Der Hauer reichte ihm die Lampe nach. „Pass auf dich auf. Und du brauchst nicht nach mir zu rufen. Ich werde dir nicht folgen.“ Er hielt ihm den Hammer hin und Hans ergriff ihn dankbar.
    „Du wirst sehen, ich finde heraus, woher die Musik kommt, und dann komme ich zurück und hole dich.“
    Fred nickte nur. „Glück auf, mein Junge. Und Gott schütze dich.“
    Sie nickten einander ernst zu, dann atmete Hans tief durch und betrat den verfluchten Stollen. Der Lichtschein seiner Lampe zeigte nichts Auffälliges und er lief ungehindert. Für Zeit und Strecke hatte er in seiner kurzen Lehrzeit noch kein Gefühl entwickelt, aber es kam ihm endlos vor. Immer wieder blieb er stehen, um intensiv zu lauschen. Und irgendwann hörte er etwas.
    Musik …
    Das Grauen war wieder da. Einem Impuls folgend wollte er sich umdrehen und zurück zu Fred rennen. Doch er bezwang den Fluchtgedanken.
    „Nein!“, sagte er laut zu sich. „Wo Musik ist, sind Menschen. Weiter!“
    Irgendwann wurde es heller vor ihm und der Schimmer wurde – genau wie die Lautstärke der Musik – mit jedem Schritt stärker. Er vernahm Stimmen, Lachen …
    Und plötzlich war vor ihm ein Spalt in der Felswand, aus dem warmes, goldenes Licht fiel. Zögernd blieb er stehen. Am Boden standen zwei verlassene Karbidlampen. Die beiden Hauer fielen ihm ein, die den Stollen erkunden sollten. Wo waren sie?
    Vorsichtig äugte er durch die Felsspalte und glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Er sah einen riesigen, von unzähligen Kerzen erleuchteten Saal voller festlich gekleideter Menschen, die zu der Musik tanzten.
    Verblüfft prallte er zurück. Hier unten? So tief unter der Erde? Ein Festsaal? Und was für seltsame Kleidung die Leute trugen! Wie beim Theater. Frauen in kostbaren, bodenlangen Kleidern, Männer mit wappengeschmückten Umhängen. Manche hatten sogar Schwerter umgebunden!
    Die Neugier siegte über sein Unbehagen und er spähte erneut hinein in das Treiben. Wer auch immer die Tänzer waren – sie mussten irgendwie hereingekommen sein. Also gab es einen Weg hinaus. Entschlossen stellte er seine Lampe neben die beiden anderen auf den Boden und legte Freds Hammer dazu. Dann zwängte er sich durch den engen Spalt.
    Er wurde bemerkt. Ein schlicht gekleideter Mann trat auf ihn zu. Er trug ein Tablett mit kostbaren Glaskelchen. Erst glaubte Hans, dass er fragen würde, woher er kam. Doch der Mann hielt ihm nur das Tablett hin und neigte den Kopf.
    Verdutzt ergriff er ein Glas. Seine Kehle war noch immer staubtrocken. Er stürzte den Inhalt in einem Zug hinunter und stellte es zurück, bevor der andere sich abwenden konnte.
    Neben ihm kicherte jemand. „Du hast wohl Durst?“, fragte eine sanfte Stimme belustigt.
    Erschrocken fuhr er herum. „Ich … suche einen Weg nach draußen“, stammelte er und fühlte, wie seine Ohren rot wurden.
    Das Mädchen, das ihn angesprochen hatte, schüttelte noch immer lächelnd den Kopf, den ein schmaler Goldreif mit einem Edelstein schmückte. „Den gibt es nicht“, verkündete sie.
    „Aber wie seid ihr hier hereingekommen?“
    „Durch den Fluch.“
    Er musste sehr verdattert aussehen, denn sie ergriff seine Hand und zog ihn mit sich zu einer gepolsterten Liege. „Ich erkläre es dir“, meinte sie. „Mein Vater“, ihre Hand wies auf einen schmerbäuchigen Tänzer mit pelzverbrämtem Mantel und einem kostbaren, goldenen Stirnreif, „hat einst während eines Festes eine Zauberin verärgert. Nicht nur. Er hat sie lächerlich gemacht vor seinen Gästen.“ Diesmal schloss ihre Geste alle ein, die hier tanzten. „Jeder hat über sie gelacht. Und je mehr sie lachten, desto schlimmer trieb es mein Vater. Sie geriet furchtbar in Zorn. ‚Du und alle deine hier anwesenden Speichellecker sollen mitsamt diesem Bankettsaal klaftertief in die Erde hinab fahren und keiner von ihnen soll ihn je wieder verlassen und das Tageslicht sehen‘, schrie sie. ‚Bis in alle Ewigkeit müsst ihr tanzen und euch selbst ertragen, ohne einander entkommen zu können.‘ Das ist der Fluch, der uns zwingt, unablässig zu tanzen und zu schwatzen und wieder zu tanzen.“
    Sie sah ihn an und er erkannte die Verzweiflung hinter ihren Worten. Und die Ruine oben auf dem Berg über der Mine fiel ihm ein, das verfallene Schloss ...
    „Ich weiß, wie man von hier aus in das Bergwerk kommt. Vielleicht gräbt man uns aus nach diesem Deckeneinsturz.“ Er war erregt aufgesprungen.
    Sie schüttelte den Kopf. „Vergiss das Bergwerk“, flüsterte sie.
    Das Frösteln war wieder da. Langsam drehte er sich um und starrte auf die makellose, gemusterte Wandverkleidung aus teuren Stoffen. Wo war der Spalt? Erschrocken stürzte er hin und tastete mit beiden Händen nach dem Riss, durch den er sich gezwängt hatte.
    Nichts!
    Der Ausgang war verschwunden.
    „Möchtest du tanzen?“, hörte er sie leise hinter sich fragen und drehte sich um. Er sah ihren traurigen Blick, als sie ihm graziös die Hand reichte.
    Seine Beine waren wie Blei, als er sich hölzern zur Musik bewegte. Er kannte die Schritte nicht und versuchte deshalb, sie bei den anderen Männern abzuschauen.
    Da!
    Zwischen den sauberen Beinkleidern sah er zwei schmutzige Hosenbeine. Sein Blick glitt höher, über einen nackten, dreckigen Oberkörper, bis er direkt in das staubverschmierte, verzweifelte Gesicht eines der seit fünfzig Jahren vermissten Hauer starrte.

    Fred und Hans

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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    Einmal editiert, zuletzt von Tariq (12. September 2021 um 19:22)

  • Hey Tariq ,

    ich habe den Schreibwettbewerb dieses Mal nicht verfolgt, aber das hier ist wirklich ein exzellentes Beispiel von Spannungsaufbau, fast schon wie ein Drama geschrieben. Wir haben sogar ein retardierendes Moment, in dem wir als Leser glauben, dass alles noch gut wird, aber am Ende wird es sogar noch schlimmer. Ich habe sofort mitgefiebert und war dank der Fachbegriffe und der dichten Atmosphäre gleich mit im Stollen. Dass es ein "schlechtes" Ende ist, finde ich gut, denn so etwas regt viel mehr zum Nachdenken an und rahmt die Verzweiflung der Kurzgeschichte schön ein. Du gehörst in diesem Forum für mich nach wie vor zu den besten Schreiberlingen, daher bin ich immer dankbar für etwas neue Kost.

    Welche Lehre ziehe ich also daraus: den Schreibwettbewerb mehr verfolgen... :dead:

    Liebe Grüße!

    Stadtnymphe

    Was ich schreibe: Eden

  • Vielen lieben Dank, liebe Stadtnymphe , ich freu mich sehr, dass es dir gefallen hat. Mein größtes Problem war - wie immer - den Text in 10500 Zeichen zu quetschen (an der Stelle nochmal :danke: an Chaos Rising , der mir erlaubt hat, die Legende aus der Zählung auszuklammern).

    Vielen Dank auch für eure Likes, kalkwiese , Kirisha , Novize , Sensenbach und Der Wanderer !

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Schönes Stück Text Tariq :thumbup:

    Es liest sich - wie die meisten deiner Kurzgeschichten - wie ein Märchen :)

    Ein bisschen schade ist es ja schon, dass man nicht mehr davon lesen konnte. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie du an der Zeichenvorgabe verzweifelt warst :ugly:

    Ja, leider ist der Wettbewerb diesmal auch an mir vorbeigegangen, weswegen ich die Geschichte jetzt mal gelesen habe :blush:

    LG :)

  • Auch euch beiden ein herzliches Dankeschön, Rainbow und LadyK ! Ich hätte nicht erwartet, so viel Feedback zu bekommen. Freut mich total und macht Lust, es demnächst mal wieder mit einer Kurzgeschichte zu probieren. smilie_pc_013.gif

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Liebe Tariq,

    all die lobenden Worte der anderen Leser haben dann auch meine Neugier geweckt und so war deine Kurzgeschichte schließlich dafür verantwortlich, dass mein Frühstückstee kalt geworden ist :D

    Wir bekommen wir eine Geschichte in einem Bergwerk präsentiert, die gar nicht lange fackelt, um die beiden Protagonisten - einen Ausbilder und seinen Lehrling - in eine lebensbedrohliche Situation zu werfen. Es geht also gar nicht darum, die beiden Personen näher kennenzulernen, sondern um das, was sie hier erleben und wie Menschen in ihrer bedrohlichen Lage reagieren. Und das passiert hier - verbunden mit Fachbegriffen zum Setting - sehr glaubhaft, wie ich finde. Beschreibungen werden kreativ in die Handlung eingebunden, sodass man schnell vorangetrieben wird und sich dennoch ein Bild von der Umgebung machen kann. Auch fiel mir positiv auf, dass es bei all den Umschreibungen für Lärm sprachlich nicht redundant wirkte. Die fünf Teilstücke (Einsturz/Flucht/Gefangenschaft/Gang durch den verfluchten Stollen/Festsaal), in die ich die Geschichte für mich untergliedert habe, gingen ohne Längen und Pausen fließend ineinander über und boten keine Stelle, an der man die Geschichte ablegt, um mal einen Schluck Tee zu trinken. Nicht zuletzt gelingt es dem Ende, einen kalten Schauer über den Rücken zu jagen und greift dabei schön ein Gerücht wieder auf, das im Laufe der Geschichte gestreut wird. Ich war zwar etwas unsicher, ob die plötzliche Integration magischer Elemente in die Geschichte passt, weil es ansonsten auch eine Erzählung aus dem echten Leben hätte sein können - aber für die Wirkung, die entfaltet wird, kann ich damit hier gut leben.


    Zuletzt noch ein paar wenige Stellen, die mich etwas stutzig gemacht haben:

    - An der Stelle "Irgendwann war es still" hatte ich zunächst den Eindruck gewonnen, dass die beiden Protagonisten bereits in Sicherheit waren. Allerdings rannten sie zunächst weiter um ihr Leben -> Für meinen Geschmack hätte man hier noch ein subtilen Knarzen in der Decke oder etwas Ähnliches einbauen können, um die Gefahr zu zeigen, die noch immer im Raum schwebt.

    - Der nächste Punkt betrifft eigentlich die gleiche Stelle. Erst als der Einsturz zum Ende kommt, reißt eine Flut an Staub über die beiden Protagonisten hinweg. Hier hatte ich mich gefragt, ob der Staub durch den Einsturz nicht längst erzeugt wurde und den Stollen erfüllt. ...wir lesen ja vor dem Anrollen des Staubs: "[...] ein huntgroßer Brocken, der sich von der Sohlendecke löste und herunter krachte [...]"

    - Dann wunderte ich mich ein wenig, dass der Ausbilder nach der vermeintlichen Rettung in den Totschacht noch seinen Hammer bei sich trug. Ich hatte hier das Bild vor Augen, dass er eine Art Werkzeugtasche (=Erztasche) mit sich schleppte, die ich bei einer Flucht um mein Leben aufgrund ihres Gewichts wohl rasch abgeworfen hätte. Vielleicht hing das Werkzeug auch einfach nur an einem Gürtel? Da könnte man noch mit einem Satz deutlicher machen, wie sie ihre Erztaschen abwerfen, bevor sie flüchten ..oder hab ich das überlesen? ..hier stellt sich auch die Frage, wie folgende Stelle zu verstehen ist: "Dort würden sie ihre schweren Taschen, die sie hinter sich her schleiften, ausleeren. Das plötzliche Knacken in der Decke ein paar Meter vor ihnen ließ Hans erschrocken nach oben sehen." Mit dem 'würden' meinst du, dass sie er normalerweise gemacht hätten, wenn sie am Zielpunkt angekommen wären oder?

    - Bei der Formulierung "Verblüfft prallte er zurück" würde ich wahrscheinlich eher von zurückweichen sprechen, da er hier ja nicht gegen einen Widerstand prallt oder?

    - Zuletzt würde ich bei der Liste der Fachbegriffe noch "Karbidlampe", "Totschacht" hinzufügen - da musste ich nachschlagen.


    Alles in allem eine tolle Geschichte und die paar Anmerkungen hier sind im Grunde genommen nur kleine Details, die man sich nochmal anschauen könnte :)

    LG Juu

  • Hallo Juu-Ka ,

    vielen Dank für dein Lob und die interessanten Gedanken, die du mir hier aufgeschrieben hast. Fand ich spannend!

    Zu deinen Anmerkungen:

    war deine Kurzgeschichte schließlich dafür verantwortlich, dass mein Frühstückstee kalt geworden ist

    Das tut mir jetzt echt leid. Hier hast du einen neuen. Vorsicht, heiß! :tee:

    An der Stelle "Irgendwann war es still" hatte ich zunächst den Eindruck gewonnen, dass die beiden Protagonisten bereits in Sicherheit waren. Allerdings rannten sie zunächst weiter um ihr Leben -> Für meinen Geschmack hätte man hier noch ein subtilen Knarzen in der Decke oder etwas Ähnliches einbauen können, um die Gefahr zu zeigen, die noch immer im Raum schwebt.

    Mit dem "still" hatte ich gemeint, dass das letzte Poltern verklungen ist. Aber du hast recht, das Geräusch ihrer Schritte ist natürlich trotzdem noch zu hören. Von daher ist das "still" nicht ganz wörtlich zu nehmen.

    Was das Knarzen angeht - das hören sie nicht. Sie rennen vom Einsturzort weg. Nicht still. :D Das eventuelle Knarzen würde hinter ihnen zurückbleiben, weil sie ja zu einem Ort rennen, denn Fred als "sicher" einschätzt.

    ob der Staub durch den Einsturz nicht längst erzeugt wurde und den Stollen erfüllt. ...wir lesen ja vor dem Anrollen des Staubs: "[...] ein huntgroßer Brocken, der sich von der Sohlendecke löste und herunter krachte [...]"

    Ja, stimmt. Der Staub erreicht sie erst, nachdem der letzte Stein gefallen ist, denn sie rennen ja vor der Staubwolke davon. Sie werden also erst später von ihr eingeholt, obwohl bei Einsturzbeginn sofort Staub entsteht. Fred weiß das im Voraus, denn er ermahnt Hans, sich etwas vor das Gesicht zu halten. (war vielleicht nicht sein erster Stolleneinsturz ... :/ )

    Dann wunderte ich mich ein wenig, dass der Ausbilder nach der vermeintlichen Rettung in den Totschacht noch seinen Hammer bei sich trug. Ich hatte hier das Bild vor Augen, dass er eine Art Werkzeugtasche (=Erztasche) mit sich schleppte, die ich bei einer Flucht um mein Leben aufgrund ihres Gewichts wohl rasch abgeworfen hätte. Vielleicht hing das Werkzeug auch einfach nur an einem Gürtel?

    Den Hammer haben die Bergleute nach Schichtende bei sich, er ist wie ihr anderes Werkzeug ihr Eigentum (= Gezähe) und sie bewahren dieses sorgfältig und meist unter Verschluss auf. Nur wenn sicher ist, dass sie am nächsten Tag an derselben Stelle ihre Arbeit fortsetzen, lassen sie ihr Gezähe im Stollen zurück.

    Diese Dinge zu erklären, würde aber meiner Meinung nach den Text unnötig in die Länge ziehen. Ich halte eine genauere Erläuterung hier für nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass der Hauer Fred seinen Hammer dem Lehrling überlässt, als der sich auf den Weg in eine unsichere Zukunft macht. Hier hätte ich gern die tiefere Symbolik erwähnt, aber die Zeichenanzahl war begrenzt. X/

    die Frage, wie folgende Stelle zu verstehen ist: "Dort würden sie ihre schweren Taschen, die sie hinter sich her schleiften, ausleeren. Das plötzliche Knacken in der Decke ein paar Meter vor ihnen ließ Hans erschrocken nach oben sehen." Mit dem 'würden' meinst du, dass sie er normalerweise gemacht hätten, wenn sie am Zielpunkt angekommen wären oder?

    Genau.

    Die Erztasche ist ein riesiger Lederbeutel, der mit den abgeschlagenen Gesteinsbrocken gefüllt und dann vom Bergmann bis zum Hunt geschleift werden muss. Dort wird er dann (von Hand) in den Hunt entleert und zurück in den Stollen gebracht, um erneut befüllt zu werden. So voller Gestein sind Erztaschen zu schwer zum Tragen und werden nur dort verwendet, wo der Stollen zu eng/schmal/niedrig ist, um Gleise für die Grubenbahn zu legen.

    Hans und Fred waren auf dem Weg zur Grubenbahn, um ihre Erztaschen dort auszuleeren. Normalerweise macht das der Lehrling allein, aber es war Schichtende und Fred verließ den Stollen gemeinsam mit Hans.

    Bei der Formulierung "Verblüfft prallte er zurück" würde ich wahrscheinlich eher von zurückweichen sprechen, da er hier ja nicht gegen einen Widerstand prallt oder?

    Hm, ich verstehe, was du meinst, aber dein "zurückweichen" ist mir in diesem Fall nicht ruckartig und abrupt genug, sondern suggeriert mir eine langsame, fast schleichende Bewegung.

    Ein "zurückprallen" hingegen ist auch möglich, wenn es kein materielles Hindernis gibt, und es ist als zweite Bedeutung für das Wort im Duden angeführt.

    Zuletzt würde ich bei der Liste der Fachbegriffe noch "Karbidlampe", "Totschacht" hinzufügen - da musste ich nachschlagen.

    Das kann ich machen, guter Hinweis! :danke:

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Alles klar, danke für die zusätzlichen Erläuterungen ...und den Tee :D

  • Eine weitere Geschichte, die ich als Beitrag für Myrtana222's "Weird Tales" geschrieben habe.

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    Die Jagd

    Ein Knacken kündigte es an.

    Er schloss die Augen, um sich ganz auf sein Gehör zu konzentrieren. Vögel zwitscherten und in den Baumkronen säuselte der Wind. Fast glaubte er, sich geirrt zu haben, da vernahm er es wieder. Schlurfen und Rascheln.

    Es kam.

    Seine schweißfeuchten Hände umklammerten Griff und Lauf der Schrotflinte fester. Ruhig, ermahnte er sich, warte, bis es da ist. Übereile nichts!

    Seine Augen tränten, weil er so angestrengt in die Richtung starrte, aus der er das Geräusch gehört hatte. Dieselbe Stelle wie beim letzten Mal. Hier war es gewesen, als er es erstmals erblickt hatte.

    Eine seiner Fallen war ausgelöst worden und er hatte sie wieder aufstellen müssen. Über die Schlinge gebeugt war er erst aufmerksam geworden, als der Wald plötzlich geschwiegen hatte. Er erinnerte sich, alarmiert aufgesehen und sich umgeblickt zu haben.

    Und da war es gewesen.

    Später hätte er nicht mehr sagen können, was er bei dem Anblick empfunden hatte, doch ihm war jede Sekunde und jedes Detail davon im Gedächtnis geblieben:

    Wie paralysiert hockte er über die Falle gebeugt, den Kopf halb nach hinten gewendet, um über die Schulter sehen zu können, und die Hände mit der Drahtschlinge regungslos in der Luft verharrend. Die Augen waren weit aufgerissen und auch sein Mund hatte offen gestanden, während sein Herz vor Aufregung wie rasend hämmerte.

    Nie zuvor war ihm etwas Derartiges vor Augen gekommen. Etwa zwanzig Meter seitlich hinter ihm stand ein Wesen. Kein Mensch, das konnte er auf den ersten Blick sehen. Es war zu groß und hatte Beine, dick wie Baumstämme und mit Rinde umkleidet. Nicht nur sie – den ganzen Körper bedeckte raue, braune Borke, teilweise bewachsen mit dunkelgrünem Moos. Und überall sprossen dünne Zweige heraus, die junge, zartgrüne Blätter trugen.

    Jetzt bewegte sich das Baumwesen. Schwerfällig bückte es sich und sank auf die Knie. Es hatte ihn nicht bemerkt und wenn doch, schenkte es ihm keinen Blick.

    Sein Hals begann zu schmerzen von der unbequemen Haltung, denn er wagte nicht, sich zu bewegen und konnte die Augen doch nicht abwenden. Wie festgeklebt verfolgten sie das Tun des lebendigen Baumes. Gebannt beobachtete er, wie dieser langsam seine Hände hob und sie über etwas im Gras breitete. Eine Weile geschah nichts, dann öffneten sich in der rindenbedeckten Brust des Wesens schmale Risse, durch die ein sanftes, hellgrünes Leuchten nach draußen drang. Es wurde größer und wanderte über dessen Schultern und Arme abwärts, bis es die Handflächen erreichte und von dort aus auf die Wiese übersprang.

    Nein, nicht die ganze Wiese, sondern nur auf eine verwelkte Pflanze. Einen kleinen Busch, dessen Zweige verdorrt und dessen Blätter braun oder bereits abgefallen waren. Und unter dem leuchtenden, grünlichen Schimmer sprossen helle Spitzen aus den dürren Ästchen, die sich zu kräftigen Knospen vergrößerten. Sekunden später entfalteten sich junge Blätter, deren helles Grün in das dunkle des Sommerlaubs wechselte. Der kleine, tote Busch war zu neuem Leben erwacht.

    Er konnte das sattgrün schimmernde Leuchten in der borkenbedeckten Brust des Baumwesens noch immer sehen, doch mit jeder Sekunde wurde es matter und verschwand schließlich hinter den sich wieder schließenden Rissen.

    Der lebendige Baum erhob sich langsam, wandte den Kopf und sah genau in seine Richtung. Ihre Blicke trafen einander und keiner rührte sich. Große, braungrüne Augen musterten ihn und er empfand keine Furcht, weil in ihnen eine nie vorher gesehene Sanftheit lag. Noch einen Augenblick währte der Moment, dann drehte sich das Baumwesen um und stampfte auf seinen stammartigen Beinen in den Wald zurück.

    Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis er sich wieder rühren konnte. Zu unglaublich war, was er da gesehen hatte. Dieses … Ding hatte etwas Totes lebendig gemacht! Mit etwas, das es in seiner Brust trug. Es konnte Leben schenken!

    Seit dieser Begegnung hatte ihn ein Gedanke nicht mehr losgelassen: Er musste es haben! Das Herz dieses Wesens, dieses grüne Leuchten wollte er unbedingt besitzen. Es würde ihm unsagbare Macht verleihen. Wie viel, das wagte er sich nicht vorzustellen. In Gedanken sah er schon Könige und Präsidenten an seine Tür klopfen. Er würde nie wieder Geldsorgen haben.

    Der Plan war schnell gefasst. Das lebensspendende Herz dieses Baumwesens würde ihm gehören. Ihm allein.

    Und er wusste auch schon, wie er es erlangen konnte.

    Heute Morgen war es so weit gewesen. Er hatte seine Schrotflinte aus dem Schrank genommen, war in den Wagen gestiegen und in den Wald gefahren. Mehr Vorbereitungen hatte es nicht gebraucht. Und nun stand er hier und starrte auf den kleinen Busch, den er umgeknickt, und auf den Trieb, den er aus dem weichen Waldboden gerissen hatte. Er wartete. Es war bereits Mittag, doch das störte ihn nicht. Als Jäger war er es gewohnt, viele Stunden im Ansitz auszuharren.

    Bewusst hatte er den Ort gewählt, an dem er seinem potentiellen Opfer damals staunend zugesehen hatte. Die winzige Lichtung. Dort drüben stand der kleine, ehemals tote Busch. Er strotzte vor Leben, trug eine Unzahl gesunder, kräftig grüner Blätter.

    Direkt daneben fand sich das Ergebnis seiner Zerstörung. Würde das Baumwesen kommen und auch diesen Schaden wieder gutmachen? Heilen, wo er getötet hatte? Leben schenken, wo keines mehr möglich war?

    Er bemerkte es erst, als es auf die Lichtung trat. Es blieb vor der herausgerissenen Pflanze stehen und er meinte, so etwas wie Trauer über das borkenbedeckte Gesicht huschen zu sehen. Wie erwartet bückte es sich und genau wie beim letzten Mal begann es unter der Rinde auf seiner Brust zwischen den sich öffnenden Rissen grün zu schimmern.

    Er hielt den Atem an. Sein Finger lag am Abzug, doch es war fast wie ein Zwang: Er musste es noch einmal sehen, dieses Wunder. Danach würde er schießen. Er hatte Zeit.

    Wie durch Zauberhand hob sich der abgeknickte Trieb des kleinen Busches. Die verwelkten Blätter erstarkten und wurden wieder frisch. Als das Wesen seine leuchtenden Hände zurücknahm, war die Pflanze gesund wie vorher.

    Der Zauber war vorüber.

    Langsam richtete er sich auf, die Finger fest um die Waffe geschlossen. Ein Zweig knackte unter seinen Füßen.

    Der lebende Baum hörte es und hob den Kopf. Wie beim letzten Mal trafen sich ihre Blicke, doch diesmal war etwas anders.

    Das Baumwesen erhob sich zögernd, die sanften, braungrünen Augen unverwandt auf ihn gerichtet. Argwohn sprach aus der Körperhaltung … Furcht. Wie in Zeitlupe trat es zwei Schritte zurück, einen dritten und noch einen, bis es sich umwandte und wie gehetzt davonstürzte.

    Einen Fluch ausstoßend jagte er ihm nach. Die Gelegenheit für einen sicheren Schuss hatte er verpasst und es war fraglich, ob er eine zweite erhielt. Wie konnte sich dieses plumpe, stämmige Ding so gewandt bewegen? Ihm zu folgen erwies sich als schwierig. Es hatte die gleiche Färbung und Musterung wie die Bäume und rannte in einem Tempo, das ein Aufholen unmöglich machte.

    Der Wald wurde dichter. Zweige streiften sein Gesicht und er musste während seiner Hetzjagd die Waffe mit einer Hand halten und mit der zweiten den Weg freimachen. Manchmal verlor er sein Opfer kurz aus dem Blick, dann sah er es wieder zwischen den Stämmen rennen.

    Ein Ruck an seinem Fuß ließ ihn straucheln. Verdammte Brombeerranken! Sie wurden immer dichter und ihre winzigen Dornen hängten sich an seine Jeans. Er hatte die Stiefel heute nicht angezogen, das rächte sich jetzt. An denen hätte das Grünzeugs keinen Halt gefunden!

    Eine neue Ranke brachte ihn nicht nur ins Straucheln, sondern ließ ihn stürzen. Heftiges Brennen im Gesicht und an der freien Hand verriet, dass er sich etliche Kratzer dabei zugezogen hatte.

    Erneut fluchend wollte er sich aufrappeln. Doch es schien, als würden die Ranken ihn festhalten. So sehr er sich mühte, sie von den Hosenbeinen zu lösen – sie widerstanden, zogen sich nur noch fester zusammen. Ein starker Druck auf der Brust ließ ihn an sich hinabsehen. Neue Triebe hatten den Weg unter seinen Armen hindurch gefunden und wanden sich langsam, aber unerbittlich um seine Allwetterjacke. Sie wurden stärker, wuchsen auf die Dicke von Fingern und verzweigten sich dabei.

    Als er jetzt auch Brennen an seinem Hals wahrnahm, packte ihn das Grauen. Was passierte hier? Dieses Grünzeug fesselte ihn! Er spürte, wie es an seiner Kleidung zerrte, hörte die Dornen über den derben Stoff kratzen. Der Trieb, der seinen Hals umschlang, zog ihn unerbittlich zu Boden und alle anderen Ranken strafften sich ebenfalls. Inzwischen lag er wie ein Käfer auf dem Rücken und konnte sich kaum mehr bewegen. Längst hatte er die Waffe losgelassen und seine Rechte tastete fahrig nach dem Jagdmesser, das er immer im Stiefel trug. Heute war es nicht dort, sondern in seiner Lederscheide am Gürtel.

    Etwas kratzte über seine suchende Hand und er zischte schmerzerfüllt, um gleich darauf ungläubig die Augen aufzureißen. In seinem Blickfeld erschien eine fingerdicke Brombeerranke, die sich um seinen Messergriff gewunden hatte. Fast triumphierend hielt sie ihm die Waffe vor das Gesicht, die gleich darauf unter unzähligen weiteren wie aus dem nichts hervorschießenden Ranken verschwand. Er hörte das Brechen des Holzgriffes …

    Längst hatte er angefangen zu schreien. Die Dornenranken hatten seinen Kopf umwickelt und fixierten ihn am Boden, zerrten ihn förmlich in den weichen Waldgrund. Er konnte ihn nicht mehr bewegen. Auch seine Brust war so zusammengeschnürt, dass er kaum noch zu atmen vermochte. Wie zum Hohn tauchte jetzt die von dornenbesetzten Trieben umschlungene Schrotflinte in seinem Sichtfeld auf. Aus fingerdicken Ranken wurden armstarke, die die Waffe erst verbogen und dann wie ein Streichholz in der Mitte knickten. Brombeerblätter huschten über sein Gesicht, während die Dornen sich noch straffer zogen und dabei blutige Striemen auf seiner Haut hinterließen. Er kniff gepeinigt die Augen zu.

    Immer fester wurde sein Körper auf den Boden gepresst, immer weicher wurde der Grund unter ihm. Sein anfangs entsetztes Kreischen erstarb und nur noch ab und zu hallte ein ersticktes, gekeuchtes Brüllen durch den sonst totenstillen Forst. Kühle Erde schmiegte sich an seine Wangen, feuchtes Moos an die Schläfen. Als die ersten Krumen Waldboden in seinen Mund drangen, verstummte seine Schreie. Noch einmal riss er die Augen auf und sein panischer Blick hetzte zwischen den Baumkronen umher. Es wirkte, als würden die Bäume um ihn herumstehen und schweigend zusehen, wie er für sein frevelhaftes Verhalten bestraft wurde.

    Seine Augenlider zwinkerten gegen die Erdbrocken an, die auf sie herabrieselten. Immer kleiner wurde der Bereich, den er noch sehen konnte. Das Letzte, was er wahrnahm, war ein rindenbedecktes Gesicht, das sich über ihn beugte, mit sanften, braungrünen Augen, in denen eine unendliche Trauer lag.

    Inspirationsquelle: YouTube

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    An der Stelle auch noch ein herzliches :danke: an Rainbow und Stadtnymphe für die netten Kommis und Likes und ebenso an Asni , Sensenbach und KruemelKakao für's Vorbeischauen und die Likes im "Weird-Tales"-Thread. Hab mich sehr gfreut.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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    2 Mal editiert, zuletzt von Tariq (16. Februar 2022 um 10:19)

  • Der Steinbruchsee

    Während sie sich ihren Umhang umlegte und am Hals zuband, lauschte sie auf die schweren Schritte ihres Vaters. Er stieg die Treppe hinauf, schwerfällig, müde vom harten Tagwerk und trotzdem zufrieden, nachdem er nach dem Essen mit der Mutter eine Weile auf der Bank neben der Haustür gesessen, ein Pfeifchen geraucht und dann allein der Sonne beim Untergehen zugeschaut hatte. Die Mutter schlief längst und auch die jüngere Schwester, die im Bett hinter ihr lag.

    Jetzt knarrte die Tür des elterlichen Schlafzimmers, mit einem Murmeln antwortete der Vater der schlaftrunkenen Stimme der Mutter. Das Bett ächzte, als er sich niederlegte, ein letztes, beruhigendes Brummen und Stille kehrte ein.

    Sie kannte die Geräusche, sie konnte jedes von ihnen zuordnen, auch die Stimmen. Alles wiederholte sich jeden Abend. Es war ein vertrautes Ritual. Sie wusste, wann Vater die Stiefel auszog, welche Dielen knarrten und auch welche Treppenstufen.

    Und auf die musste sie besonders achten, denn gleich würde sie hinuntersteigen. Ein, zwei Minuten wartete sie noch, dann drückte sie geräuschlos die Klinke der Tür ihres kleinen Schlafzimmers herab, huschte in den schmalen Korridor und schloss sie hinter sich. Noch einmal lauschte sie, aber alles blieb still. Eben begann Vater zu schnarchen.

    Auf Zehenspitzen schlich sie die Treppe hinab, sorgfältig die gefährlichen Stufen aussparend. Licht benötigte sie keines, der Mond schien hell durch die Fenster unten im großen Wohnraum.

    Vollmond. Heute würden sie sich wiedersehen. Sie freute sich so sehr, dass ihr Herz wie verrückt hämmerte. Auf Zehenspitzen huschte sie bis zu Haustür, lauschte erneut und schlüpfte dann hinaus. Draußen schob sie rasch ihre Füße in die Stiefel, die sie bisher in der Hand getragen hatte.

    Es war kühl, doch das störte sie nicht. Ihre Arme rafften den wärmenden Umhang ein wenig fester um Schultern und dann lief sie los. Sie kannte den Weg im Schlaf, würde ihn wohl mit geschlossenen Augen finden. Kurz wollte die Traurigkeit sie übermannen, dass sie einander nur in der Nacht treffen konnten, aber sie straffte sich, hob den Kopf und verscheuchte diesen Gedanken. Ihr Vater würde sie nachts einschließen, wenn er von diesen Treffen wüsste, und wenn sie es wagte, aus dem Fenster zu klettern, dann würde er sie anbinden. Dessen war sie sicher. Und deshalb durfte er niemals davon erfahren.

    Seit fast einem Jahr schlich sie sich bei jedem Vollmond aus dem Haus. Elf Mal hatten sie sich getroffen, elf Nächte voller wunderbarer Zweisamkeit, ungestört von anderen, voll inniger Zuneigung und Liebe. Nächte, denen sie einen halben Monat lang nachtrauerte und auf die sie sich einen halben Monat lang freute.

    Auch heute Nacht war es nicht anders. Die Vorfreude verlieh ihr Flügel. Sie rannte den Weg am Malzer-Hof entlang, passierte die große Heuscheune und erreichte die Koppel. Hinter sich hörte sie, wie der Hofhund anschlug, aber es war nur eine halbherzige Beschwerde über die Störung seiner Nachtruhe und sein Bellen verstummte wieder. Auf der Weide dösten die Pferde. Eines schnaubte und ein zweites stampfte erschrocken mit dem Huf auf, als sie sie erreichte, doch ein leiser Ruf von ihr genügte und die Tiere beruhigten sich wieder.

    Sie lächelte. Es war nicht mehr weit. Fledermäuse, die unter dem First der Malzer-Scheune wohnten, huschten taumelnd über den nächtlichen Himmel. Der Mond erleuchtete den Weg vor ihr, sie sah jedes Grasbüschel und jeden Stein. Nur noch ein paar Meter, dann nahm der Wald sie auf.

    Er erwartete sie an der Brücke über das munter sprudelnde Bächlein. Wie immer stand er im Schatten der dicken Eiche. Als er sie bemerkte, trat er ins Mondlicht, stellte sich in die Mitte des Weges und breitete die Arme aus.

    Mit einem leisen Jubelruf warf sie sich hinein und spürte beglückt, wie er sie fest umarmte und an seine Brust presste. Sein Kinn ruhte auf ihrem Scheitel und seine Hände strichen über ihren Rücken, wieder und wieder.

    Sie atmete schnell, weil sie die letzten Schritte gerannt war. Auch ihre Arme hatten sich um ihn geschlungen, ihre Wange lag an seiner Brust und sie spürte den rauen Stoff seines Kittels darunter. Selig schloss sie die Augen und atmete seinen Duft ein. Er war hier und sie bei ihm. Sie hatten eine ganze Nacht lang Zeit.

    Wie immer saßen sie am Wasser. Die Steilwand am Südufer ragte bedrohlich über ihnen auf, völlig kahl und fast senkrecht abfallend. Unter ihr schlummerte der tiefe See und der Mond schaukelte auf den kleinen Wellen, die der sanfte Nachtwind kräuselte.

    Sein Arm lag um ihre Schulter und sie hatte den Kopf an seine gelehnt.

    Sie saßen einfach nur nebeneinander, hielten sich bei der Hand und schwiegen. Stumm betrachteten sie das gleichmäßig zitternde Spiegelbild des Mondes vor sich, das nur ab und zu in ein groteskes Zerrbild seiner selbst verwandelt wurde, wenn ein Fisch aus den glasklaren Fluten schnellte und wieder zurückfiel. Nichts störte diese vollkommene Harmonie. Nicht das Brechen eines Zweiges im nächtlichen Wald, nicht der Ruf eines Kauzes, nichts das Fiepen eines kleinen Tieres, das sich ängstlich vor einem nächtlichen Räuber in Sicherheit brachte.

    Als sie eine Weile gesessen hatten, begann sie zu erzählen. Ihr Leben bot nicht viel Aufregendes, aber er wollte alles wissen. Sein Blick ermunterte sie, immer weiterzusprechen. Und sie konnte ihm alles anvertrauen. Die Sorge um die kränkelnde Mutter genauso wie die kleinen Geheimnisse, die nur ihre Schwester kannte. Er erfuhr vom missglückten Kuchen und der gerissenen Wäscheleine, die die Arbeit eines ganzen Samstages zunichtegemacht hatte, vom neugeborenen Kälbchen und dem Tod der alten Sattlersfrau aus dem Dorf. Ihm wurde nie langweilig, ihr zuzuhören. Jede Kleinigkeit aus dem Dorf interessierte ihn und sie wusste das.

    Er selbst sprach nie. Sie hatte sich daran gewöhnt. Bei den ersten Treffen war sie verzweifelt gewesen. Weinend hatte sie ihn angefleht, mit ihr zu reden. Aber ihre Tränen änderten nichts. Er schwieg. Also fand sie sich damit ab, dass sie als Einzige redete. Doch es war trotzdem ein Zwiegespräch, wenn auch auf etwas andere Art. Das Licht dieser hellen Nächte half ihr, seinen Gesichtsausdruck zu sehen. Sie konnte deutlich erkennen, ob er lachte oder Mitgefühl auf seinen Zügen erschien, ob er zornig war oder traurig.

    Als der Mond sich auf die Kronen der Bäume herabsenkte, wusste sie, dass es Zeit war. Er stand auf, wie immer zuerst, dann bot er ihr die Hand. Sie ergriff sie, kam auf die Füße, glättete umständlich ihr Kleid und strich dann mit beiden Händen über seine Brust, den Kopf tief gesenkt. Er sollte ihre Tränen nicht sehen, doch seine Hand legte sich unter ihr Kinn und hob es sanft, aber unnachgiebig an. Verzweifelt presste sie die Lider zusammen, um seinen traurigen Blick nicht sehen zu müssen. Doch er wartete stumm, bis sie die Augen öffnete, dann hob er die Hand, legte sie an ihre Wange und lächelte.

    So stand er, bis ihre Tränen versiegt waren. Sie wusste, er wollte auch von ihr ein Lächeln sehen. Ein Lächeln zum Abschied, das für vier lange Wochen reichen musste. Und sie schenkte es ihm.

    Er ergriff ihre Hand. Wie immer begleitete er sie bis zur Brücke. Dort umarmte er sie ein letztes Mal und wischte mit dem Daumen die letzten feuchten Spuren von ihren Wangen.

    „Ich liebe dich, Stefan“, flüsterte sie, das Gesicht in den Stoff seines Kittels gepresst. „Auf Wiedersehen, bis zum nächsten Mal.“

    Er nickte, dann ließ er sie los und blieb im Schatten der dicken Eiche stehen.

    Sie drehte sich um und ging. Und wie immer ließ sie ihre Hand über die Holztafel an dem Baum gleiten, die zum Gedenken an das furchtbare Unglück im Steinbruch angebracht worden war, bei dem ein Wassereinbruch die unteren Ebenen geflutet hatte. Siebzehn Männer hatten ihr Leben dabei verloren.

    Stefan war der jüngste von ihnen gewesen.

    Der Steinbruchsee


    .

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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    Einmal editiert, zuletzt von Tariq (15. Mai 2022 um 13:32)

  • Heyho Tariq

    Eine sehr stimmungsvolle Geschichte, hat mich sofort angesprochen. Viele kleine Details in den Sätzen, die zusammen ein schönes Bild beim Lesen erschaffen.

    Den Schluß jedoch habe ich nicht verstanden, auch wenn ich die Erzählung nochmal gelesen habe.

    "Der neunte von Siebzehn" ?

    Worauf verweist das?

    Die Neun scheint ja wichtig zu sein (Die Gedenktafel), aber ich finde dazu nichts erklärendes im Text...oder habe ich da etwas in deiner Geschichte Verborgenes nicht verstanden? ?(

    Anbei noch einige Verschreiber und mir unverständliche Passagen.

    Spoiler anzeigen

    "Draußen schob sie rasch ihre Füße in die Stiefel, die sie bisher getragen hatte."

    (Gab's oder gibt's da noch andere??

    "Eines schnaubte und ein zweites stampfte erschrocken mit dem Huf auf, als sie vorbeiflog,"

    (Ääähh - sie flog vorbei?)

    "Fledermäuse, die unter dem First der Malzer-Scheune wohnten, torkelten durch den nächtlichen Himmel."

    (Auch, wenn ich jetzt als Korinthenkacker erscheine: Fledermäuse torkeln nicht, sondern fliegen exakt nach Sonar, auch wenn uns ihre Flüge ziemlich seltsam vorkommen beim Betrachten.)

    "...ein Arm lag um ihre Schulter und sie hatte den Kopf an seinen gelehnt."

    "„Ich liebe dich, Stefan“, flüsterte sie, das Gesicht in den Stoff seines Kittels gepresst."

  • Hallo, Der Wanderer , herzlichen Dank für dein Feedback und deine Anmerkungen. Schön, dass dir die Geschichte gefallen hat. :)

    Antwortbox

    Zum Ende: Nein, die Neun hat keine Bedeutung, es war nur eine willkürlich gewählte Zahl. Die wichtige Aussage ist, dass Stefans Name mit auf der Tafel steht. Ich habe es mal etwas angepasst.

    "Draußen schob sie rasch ihre Füße in die Stiefel, die sie bisher getragen hatte."
    (Gab's oder gibt's da noch andere??

    Nein, es gibt keine anderen. Sie hat sie nur in der Hand getragen. Ich habe das noch eingefügt.

    "Eines schnaubte und ein zweites stampfte erschrocken mit dem Huf auf, als sie vorbeiflog,"
    (Ääähh - sie flog vorbei?)

    Ja, das sollte ihre Beschwingtheit und ihr Tempo verdeutlichen und außerdem den Bezug zu dem

    Die Vorfreude verlieh ihr Flügel.

    herstellen. Schade, hat wohl nicht so funktioniert wie gedacht. Ich habe es geändert.

    "Fledermäuse, die unter dem First der Malzer-Scheune wohnten, torkelten durch den nächtlichen Himmel."
    (Auch, wenn ich jetzt als Korinthenkacker erscheine: Fledermäuse torkeln nicht, sondern fliegen exakt nach Sonar, auch wenn uns ihre Flüge ziemlich seltsam vorkommen beim Betrachten.)

    Du hast natürlich recht mit dem Sonar. Aber ihr Flug erinnert mich an ein Torkeln. Trotzdem habe ich es mal in "taumelnd" geändert, obwohl ich da nicht viel Unterschied sehe. Ein anderes Synonym fällt mir im Moment grad nicht ein, vielleicht hab ich später mal noch eine bessere Idee.

    "...ein Arm lag um ihre Schulter und sie hatte den Kopf an seinen gelehnt."

    Nein, das "n" ist nicht richtig. Das "seine" bezieht sich auf die Schulter und nicht auf den Arm oder den Kopf.

    "„Ich liebe dich, Stefan“, flüsterte sie, das Gesicht in den Stoff seines Kittels gepresst."

    Upps, Tippfehler. Hab ich verbessert. :sack:

    Lieben Dank auch für deinen Like, Kirisha

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Eine sehr schöne und tragischromantische Geschichte, Tariq.

    Am Anfang war ich total auf dem Holzweg, geschuldet dem Vollmond und meiner Werwolfvorliebe XD Hab wirklich drauf gewartet, dass die beiden sich verwandeln, war aber kein Stück enttäuscht, als es nicht so kam.

    Die Idee, dass nicht einmal der Tod die beiden für immer trennen konnte, ist sehr bewegend. Auch wenn es nur einmal im Monat ist, das ist besser als gar nichts. Wobei sich mir die Frage aufdrängt, ob sie nicht eines Tages wird lernen müssen, loszulassen. Sie scheint ja noch recht jung zu sein und ihr Leben geht weiter. Ob sie sich wirklich ihr ganzes Leben lang an einen Toten klammern wird/soll? Und was, wenn ihre Familie eines Tages davon erfährt? Ihre Schwester schläft ja sogar mit ihr im gleichen Bett, wie wahrscheinlich ist es, dass sie nie etwas mitbekommt?

    Entschuldige, wahrscheinlich denke ich zu viel über die Story nach, anstatt sie einfach zu genießen.

    LG

    Tarani

  • Heyho Tariq

    Deine kleinen Änderungen haben die Erzählung wundervoll verbessert.

    Das mit den torkelnden/taumelnden Fledermäusen ist echt schwierig anders zu beschreiben (kann ich deshalb sagen, weil hier bei mir im Innenhof in der Dämmerung ein Haufen von denen gerae herumsaust). Die erscheinen mir bem Betrachten völlig ziellos, gleichzeitig sowas von exakt in ihrem Flug - da hätte ich auch kein passendes Wort für...

    Die "Schulter" - Kiste...da habe ich mich tatsächlich verlesen, sorry.

    Darf ich mir die Erzählung für mein Archiv ausdrucken?

  • Mir hat die Geschichte sehr gefallen. Es war eine so schöne Stimmung, all die kleinen Details sind schön eingefangen und vor allem der Schluss hat mich überrascht und berührt. Das führt dazu, dass ich auch nach dem Ende noch über die Geschichte nachgedacht habe und so soll es ja sein.

    :love:

    Meine Geschichten: * Meermädchen * Kriegerkönigin * Dark Prince * No Way Out

  • Herzlichen Dank für eure netten Worte, Tarani und Kirisha und ich freue mich sehr, dass euch die Geschichte gefallen hat.

    Tarani

    Wobei sich mir die Frage aufdrängt, ob sie nicht eines Tages wird lernen müssen, loszulassen. Sie scheint ja noch recht jung zu sein und ihr Leben geht weiter. Ob sie sich wirklich ihr ganzes Leben lang an einen Toten klammern wird/soll? Und was, wenn ihre Familie eines Tages davon erfährt? Ihre Schwester schläft ja sogar mit ihr im gleichen Bett, wie wahrscheinlich ist es, dass sie nie etwas mitbekommt?

    Hm, darüber habe ich mir (im Gegensatz zu dir) gar keine Gedanken gemacht. Und jetzt, da ich es tue, könnte ich noch weitere Fragen dazuschreiben: Ist Stefan der Einzige, der in der Vollmondnacht an den See kommt? Wenn nicht - warum sind die beiden dann ganz allein dort? Wenn ja - wieso nur er?

    Antworten auf deine Fragen zu finden würde ich ganz einfach mal der Fantasie des Lesers überlassen. Da gibt es ja mehrere Möglichkeiten, wie es weitergehen kann. Der Vater erwischt sie beim Ausbüxen, die Schwester verpetzt sie, Stefan taucht nicht mehr auf ... :pardon:

    Der Wanderer

    Darf ich mir die Erzählung für mein Archiv ausdrucken?

    Klar darfst du. Du kannst aber auch warten, bis ich "Neue Geschichten zum Zurücklehnen" veröffentliche, darin wird die Geschichte enthalten sein. :) Überlasse ich dir.

    Kirisha

    vor allem der Schluss hat mich überrascht und berührt. Das führt dazu, dass ich auch nach dem Ende noch über die Geschichte nachgedacht habe und so soll es ja sein.

    "Überrascht und berührt" ist höchstes Lob für mich. Vielen lieben Dank dir.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Marvius, der Brotdieb

    (Schreibwettbewerb März/April 2022 "Henkersmahlzeit")

    Die Buchweizengrütze, noch dampfend in der Tonschüssel, duftete verlockend und der saftige Schinken daneben stand ihr in nichts nach. Bei dessen Anblick lief einem das Wasser im Munde zusammen, erst recht, wenn man sich vorstellte, wie die Kräuterkruste beim Kauen brach und ihren würzigen Geschmack auf der Zunge entfaltete. Eine Portion Eier mit gebratenen Zwiebeln auf dem Holzbrett vor ihm wetteiferte in strahlendem Gelb mit der Butter, die im selben Farbton leuchtend in einer kleinen hölzernen Schüssel danebenstand. Aus dem bauchigen Bierkrug dahinter war der Schaum übergelaufen und hatte auf der blankgescheuerten Tischplatte einen weißen Ring um das Gefäß gebildet. Und daneben, in ein feuchtes Tuch eingeschlagen, entdeckte er ein kleines Stück Käse.

    Das frisch gebackene Brot jedoch stellte alles in den Schatten. Es schien förmlich darum zu betteln, mit beiden Händen aufgenommen und gebrochen zu werden, um danach Zähne zu spüren, die sich hineingruben.

    Langsam hob er eine Hand und berührte die Kruste. Fast zärtlich strich er darüber. Brot. Wie wunderbar wohlschmeckend und zugleich sättigend es war. Er hatte nie darüber nachgedacht, wenn er welches aß. Gedankenlos und unachtsam hatte er Bissen um Bissen in sich hineingestopft.

    Er seufzte.

    Marvius hatte Brot gestohlen. Dafür war er zum Tode verurteilt worden.

    Nein, nicht nur für ein Brot. Für die Gegenwehr bei seiner Ergreifung. Für den toten Gardisten, der plötzlich auf dem blutüberströmten Pflaster des Marktplatzes gelegen hatte, mit dem langen Messer des Bäckers im Bauch.

    Wie hatte es dorthin kommen können? Er konnte es sich nicht erklären. Niemand sonst war in der Nähe gewesen. Nur drei: zwei Gardisten und Marvius. Der Brotdieb.

    War er tatsächlich der Mörder? Der Bäcker – so hieß es – hatte zu weit entfernt gestanden und war nie verdächtigt worden, den Gardisten erstochen zu haben. Und deshalb war der, der gestohlen hatte, für die Gerichtsbarkeit auch der, der getötet hatte.

    Tod durch Enthauptung. Auf eben dem Marktplatz, auf dem die Tat geschehen war. Die mit einem gestohlenen Brot begonnen hatte ...

    Er starrte den runden Laib vor sich an und spürte, wie es seine Kehle zuschnürte. Von solch einem Brot konnte ein Häftling nur träumen. Genau wie von all den Sachen hier auf dem Tisch.

    Stumm saß er da, wie erstarrt. Seine Hände, die nach den Köstlichkeiten greifen konnten, ruhten reglos im Schoß. Heute war der Tag. Er wusste, dass er essen sollte. Aber er konnte es nicht. Sein Magen fühlte sich an wie ein Stein und ihm war klar: Keinen Bissen würde er hinunterbekommen, keinen Schluck Bier. Das Rührei wurde kalt. Trotzdem griff er nicht nach dem Löffel. Und auch nicht nach dem Brot.

    Iss, befahl ihm sein Verstand. Das ist dein Frühstück. Nur für dich. Also iss! Es ist dein gutes Recht.

    Es half nichts. Er rührte das Essen nicht an.

    So saß er, bis die Tür geöffnet wurde. „Es ist so weit“, brummte eine tiefe Stimme.

    Er schob den Schemel zurück und erhob sich schwerfällig. Während er mit schleppenden Schritten zu Tür ging, spürte er sein Herz schlagen. Bis in den Hals hämmerte es. Angst ergriff ihn. Nackte Angst, wie er sie nie gekannt hatte. Würde er das durchstehen können, was ihn erwartete?

    Der Mann in der Stadtgardisten-Uniform, der im Korridor auf ihn gewartet hatte, musterte ihn. Er trug Schwert und Schild, wie es üblich war. „Dann mal los“, murmelte er. Es klang teilnahmslos und das bärtige Gesicht zeigte keine Regung.

    Es ist ja auch nicht seine Hinrichtung, dachte er bitter, während er die Kapuze über den Kopf zog und dem Gardisten folgte. Seine Hände zitterten schon jetzt wie im Fieber ...

    Noch bevor sie das Gebäude verließen, hörte er das Murmeln der Menschen auf dem Marktplatz. Es schwoll an, als sie ins Freie traten und er für einen Moment geblendet die Lider zusammenkniff. „Gnade!“, hörte er jemanden rufen und „Er ist unschuldig!“

    Es würde keine Gnade geben. Er musste diesen Weg bis zum Ende gehen. Mit weichen Knien stieg er die Stufen des Podestes hinauf, das man in der Mitte des Marktplatzes errichtet hatte. Oben hatten sich bereits drei Gardisten aufgereiht. Er stellte sich vor sie, dann wartete er.

    Das Gemurmel der Menschen schwoll an. Die Rufe nach Gnade wurden lauter, immer mehr wurden es. Sie steigerten sich zu einem Chor, zu einer einzigen, fordernden Stimme, die Gnade für Marvius, den Brotdieb, verlangte.

    Für Marvius, der eben aus dem Hof des Stadtgefängnisses herausgebracht worden war, der jetzt die Podeststufen erklomm und dabei starr nach unten sah.

    Für Marvius, der ohne Regung das Verlesen des Urteils über sich ergehen ließ und dann von derben Fäusten auf die Knie gezwungen wurde.

    Für Marvius, seinen besten Freund, dem er jetzt den Kopf abschlagen musste.

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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  • Dreizehn Stufen

    (Schreibwettbewerb Mai/Juni 2022 "Die Treppe zum Keller")

    „Dora, kannst du bitte ein Stück Butter aus dem Keller holen?“

    Der Kopf meiner Tochter ruckte hoch. Ihre Hände, die eben noch das ständig neu wuchernde Unkraut in unserem kümmerlichen Gärtchen gezupft hatten, verharrten reglos.

    „Ich?“, vergewisserte sie sich und strich sich eine blonde Strähne, die sich unter dem Kopftuch hervorgestohlen hatte, hinter das Ohr.

    „Ja. Und wenn es geht, gleich, bitte.“ Ich schloss das Fenster und schob den Blumentopf mit der Petersilie wieder davor. Es ging auf den Abend zu, in einer halben Stunde würde Jochen aus der Schmiede kommen und sein Abendessen vorfinden wollen. Die Butter, die Dora holen sollte, gehörte dazu. Ich bewahrte sie im Keller in einem kniehohen Holzfass auf. Sie war mir gut gelungen und ich geizte sehr mit diesem goldenen Luxus. Aber Jochen brauchte eine ordentliche Mahlzeit.

    Dora ließ auf sich warten. Ich schob die grün-karierte Gardine zur Seite und spähte durch das Fenster. Meine Tochter stand im Hof und redete auf ihren großen Bruder ein. Amos hörte ihr zu, dann verschränkte er die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. Doch sie fasste ihn am Hemdsärmel und ihr Blick wurde beinahe flehend, als sie weitersprach. Amos‘ Miene änderte sich. Der Elfjährige starrte seine Schwester verwundert an und begann zu lachen. Noch immer grinsend nickte er schließlich.

    Gleich darauf kam er durch die Hintertür herein, marschierte durch die Küche und öffnete die Tür zum Keller. Ich hörte ihn die Treppe hinabsteigen.

    Wenige Augenblicke später war er zurück. „Hier, deine Butter.“ Er legte das in Ölpapier eingeschlagene Päckchen auf die Anrichte und wollte wieder verschwinden.

    „Warte!“

    Mein Ruf ließ ihn stehen bleiben. Verwundert wandte er sich um.

    „Warum ist Dora nicht selbst gegangen?“, fragte ich scharf.

    „Sie hat gefragt, ob ich für sie gehe.“ Er hob die Schultern. „Und sie hat mir ihren Kluntje dafür versprochen.“

    Ich nickte verwirrt. Jedes meiner beiden großen Kinder bekam am Samstagabend einen Kluntje, ein Stückchen braunen, kandierten Zucker. Es war eine Kostbarkeit und oft das Druckmittel für das Durchsetzen von Forderungen. Und Dora hatte den Ihren Amos versprochen, weil sie keine Butter holen wollte?

    Ich schaute noch einmal durchs Fenster. Meine Tochter hatte sich wieder zwischen die Beete gehockt und zupfte weiter Unkraut.

    Nach dem Abendessen – Jochen und Amos waren im Stall zum Füttern, das Baby schlummerte in der Wiege – stellte ich Dora zur Rede.

    „Warst du heute zu faul zum Butterholen?“, wollte ich wissen.

    Sie sah mich an und ich bemerkte einen sonderbaren Ausdruck in ihren Augen, den ich schon vorhin gesehen und nicht weiter beachtet hatte. War das – Trotz?

    „Ich ...“, begann sie, brach aber ab.

    „Also?“ Ich ließ nicht locker.

    Eine Weile hielt sie meinem strengen Blick stand, dann senkte sie den Kopf. „Ich mag nicht mehr in den Keller gehen“, flüsterte sie.

    „Was soll das?“ Ich stemmte die Arme in die Hüften. „Du bist sieben. Sag mir jetzt nicht, dass du dich fürchtest!“

    Sie schwieg.

    „Dora?!“

    Ihr Kopf ruckte hoch und ich sah erschrocken die Tränen in den großen Kinderaugen.

    „Doch.“

    Es war nur ein gehauchtes Wort und in ihm schwang eine so große Furcht mit, dass es mir einen kurzen Schauer über den Rücken sandte.

    „Wieso? Was ist denn so Fürchterliches im Keller?“ Ich ließ den drohenden Unterton aus meiner Stimme verschwinden, denn Doras Angst war echt. Kinder bildeten sich manchmal seltsame Dinge ein.

    „Nichts.“ Sie knetete ihre Hände. „Im Keller ist nichts Fürchterliches. Es ist die Treppe.“

    „Die Treppe?“ Ich verstand nicht, was sie meinte. „Hast du Angst, weil es dunkel ist da unten? Du kannst die Kerze mitnehmen, das weißt du doch.“

    Sie schüttelte den Kopf. Ihre Unterlippe zitterte und nun rann eine Träne über die rundliche Wange. „Die Treppe hört nicht auf, Mama.“

    Ich wollte lachen, doch irgendwie brachte ich es nicht fertig. Zu seltsam war diese Äußerung. Unsere Kellertreppe hatte dreizehn Stufen. Ich wusste es, denn ich fegte sie wöchentlich und ich war auch schon hinuntergestiegen, ohne auf sie zu schauen.

    „Was meinst du?“, forschte ich deshalb.

    Sie zuckte mit den Schultern. „Es geht immer tiefer hinunter. Aber man kommt nicht in den Keller. Und es wird immer kälter.“

    Sie meinte das ernst. Das war keine normale, blühende Kinderfantasie, die auf die seltsamsten Dinge kam.

    „Wann hast du das gemerkt?“

    „Gestern, als ich den Besen holen wollte.“ Sie starrte wieder auf den Fußboden und schob die vorwitzige Haarsträhne zurück.

    „Und warst du seitdem noch einmal unten?“

    Hastig schüttelte sie den Kopf. „Ich will auch nicht mehr. Ich hatte solche Angst. Ich war so weit hinuntergestiegen, dass ich die Kellertür nur noch als winzig kleines, helles Viereck weit oben sah. Dann ist die Kerze ausgegangen und ich bin ganz schnell wieder hinaufgerannt.“ Jetzt zitterte sie.

    Ich ging zur Kellertür und öffnete sie. Misstrauisch spähte ich in das Dunkel unter mir. „Komm her, wir gehen gemeinsam. Du wirst sehen, es ist alles in Ordnung.“

    Ihr Entsetzen konnte nicht größer sein. Sie schüttelte wild den Kopf, während sie zwei, drei Schritte zurückwich, bis sie mit dem Rücken gegen unseren wuchtigen Küchenschrank stieß.

    Verärgert verzog ich das Gesicht, nahm den Kerzenhalter vom Wandbord und zündete den Docht an. „Dann gehe ich allein. Amos ist vorhin unten gewesen. Er hat nichts von einer nicht aufhörenden Treppe gesagt. Stell dich hier an die Tür und beobachte mich.“

    Ich wartete, bis sie neben dem Türrahmen stand, dann begann ich die Stufen hinabzusteigen. Elf, zwölf, dreizehn. Alles wie immer. Unten angekommen, drehte ich mich um und schaute zu Dora hinauf.

    „Siehst du? Alles gut. Die Treppe ist ganz normal. Du hast dich getäuscht.“

    Sie schwieg.

    Langsam ging ich wieder nach oben, stellte die Kerze ab und strich ihr über den blonden Schopf. „Geh schlafen“, sagte ich versöhnlich. „Vergiss das einfach.“

    Dora wandte sich um und verschwand in der Schlafkammer der Kinder. Später kamen Jochen und Amos herein. Ich erzählte ihnen Doras Schauergeschichte und mein Sohn meinte daraufhin, dass sie ihm dasselbe gesagt hatte. Deshalb sei er für sie Butter holen gegangen.


    Am nächsten Morgen war alles wieder in Ordnung. Der Vormittag verging mit dem Kirchgang und zu Hause angekommen, war es schon Zeit, das Mittagessen zu kochen.

    „Dora, bitte geh Kartoffeln holen“, rief ich.

    Sie kam aus der Kinderkammer, ihre Puppe im Arm. „Mama ...“, begann sie stockend.

    „Nein, Schluss mit dem Unsinn. Ich habe dir gezeigt, dass Treppe und Keller in Ordnung sind und nichts da unten ist, wovor man sich fürchten muss. Es kann nicht jedes Mal jemand für dich da hinuntersteigen. Du gehst!“

    Sie zögerte noch einen Moment, dann legte sie die Puppe auf die Küchenbank und griff nach dem Kerzenhalter.

    Ich lächelte ihr mutmachend zu, als sie die Kellertür öffnete, und wandte mich wieder zu dem Kohl um, der geschnitten werden musste. Hinter mir hörte ich ihre Schritte auf den Stufen.

    Sie ließ sich Zeit. Irgendwann – der Kohl war schon im Topf, beschloss ich, meine Trödelliese zu rufen. Keine Ahnung, was sie so lange da unten machte. Ja, die Kartoffeln waren in einer der hinteren Ecken, aber so lange konnte es unmöglich dauern, welche zu holen.

    „Wo bleibst du?“, rief ich die Treppe hinab. „Die Kartoffeln müssen aufgesetzt werden!“

    Keine Antwort.

    „Dora?“

    Es blieb still.

    Ich ging ein paar Stufen hinab und rief erneut. Kein Laut. Und auch kein Licht.

    Mein Herz fing an zu klopfen. Die Treppe hört nicht auf, hatte sie gesagt.

    Ich hastete zurück in die Küche, zündete eine zweite Kerze an und stieg dann in den Keller hinab. Unten angekommen blieb ich stehen und sah mich um.

    Dora war nicht da.

    Noch einmal rief ich ihren Namen. Längst klang meine Stimme schrill vor Angst.

    „Mama?“

    Ich konnte sie hören. In der Stille, die meinem Schrei folgte, hatte ich ihren hören können. Weit entfernt und – tief unter mir. Ich fuhr herum und starrte auf den Boden unter meinen Füßen.

    „Dora! Komm zu mir, meine Kleine. Steig die Stufen wieder nach oben! Ich warte hier!“

    Ein Schluchzen, kaum vernehmbar, dann erneut ganz leise: „Ich kann nicht!“

    „Du kannst, mein Schatz, komm! Komm zu mir herauf!“

    „Es geht nicht. Die Tür kommt nicht näher. Ich steige schon so lange hinauf, Mama. Die Treppe hört nicht auf!“


    Irgendwann fand ich mich von den Armen meines Mannes umklammert, der mich daran hinderte, mit bloßen Händen und blutenden Nägeln den festgestampften Lehmboden neben der Kellertreppe weiter aufzugraben. Ich schrie und tobte, als er mich von dort wegzog. Immer wieder rief ich meine Tochter, obwohl mein Verstand längst begriffen hatte, was meine Augen ihm gezeigt hatten:

    Es gab keine vierzehnte Stufe.




    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

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