Vergessen
Er ist ende Achtzig. Seine Gesichtsmuskulatur ist im Schlaf entspannt, ich lausche auf seine Atemzüge. Ein, Aus, unterbrochen von unregelmäßigen Pausen. Ich zähle die Sekunden dazwischen. Je mehr Zeit verstreicht, umso lauter wird die Stimme, die in meinem Kopf mitzählt. Erleichtert hohle ich Luft, als auch er es tut. Ab und zu seufzt er im Schlaf. Ich frag mich, was er gerade noch einmal durchlebt. So viele Lebensjahre..
Ich weiß er stammt aus dem Sudetenland, das heutige Polen. Er hat die Kriegsjahre erlebt, er war in französischer Gefangenschaft, wurde mit seiner Familie vertrieben und musste neu anfangen. Sich eine Existenz aufbauen, was nicht immer einfach war. Viele Hochs und Tiefs.
Ich muss lächeln, da ich ihn vor mir sehe wie er mir aus der Heimat erzählt. Seine Kindheit in seinem Heimatdorf Auriet. Dann leuchten seine Augen und er wirkt um Jahre jünger. Leider verblassen die Bilder der Erinnerung viel zu schnell und er blickt wieder ins Leere. Immer seltener werden diese lichten Momente, wo er Anteil nimmt. Er zieht sich in seine eigene Welt zurück. Hinter den schützenden Vorhang der Vergessens…
Jedes Mal wenn ich ihn besuche, bin ich darauf gefasst. Darauf gefasst, dass von dem Mensch den ich kenne wieder ein kleines Stück fehlt. Diese Krankheit kenne ich, habe vieles darüber gelesen. Doch es ist etwas anderes darüber zu lesen, oder es selbst mitzuerleben. Wie Menschen immer weniger werden.
Mit einem tiefen Seufzer wacht er auf, als wenn er meine Anwesenheit spürt. Er dreht den Kopf in meine Richtung. Vom Schlaf verschleierte blaue Augen blicken mich an.
„Na meine Klenne. Da bist du ja wieder.“ So begrüßt er jeden. „Soll ich dir von Auriet erzählen?“
Ich kenne die Geschichte habe sie schon viele Male gehört und doch sind es diese Momente für die ich hier bin. Er strahlt als ich nicke und beginnt zu erzählen…