Es gibt 42 Antworten in diesem Thema, welches 11.231 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (25. August 2020 um 09:19) ist von Stadtnymphe.

  • Liebe Cory Thain , liebe Alle – was für eine tolle Diskussion hier erblüht ist, als ich das erdfarbene Forenfenster für ein paar Tage missachtete :D

    Zuerst abzuhandeln:

    Der Punkt ist, dass es im aegyptischen Substantivalsatz (ein Satz ohne Verben) einen Unterschied fuer sie Wortstellung macht, was Thema und was Rhema ist - der Satz wird dadurch nicht besser wenn sich der Schreiber klar macht was was ist, sondern er wird erst dadurch richtig.

    Forum.exe has stopped working. :thumbsup: Sorry Thorsten, hier musste ich herzlich lachen, plötzlich vom "Ägyptischen Substantivalsatz" zu lesen! Nein, es ist ein toller Einschub, weil er zeigt, dass die Begriffe wichtig sind, und insbesondere was selbst zum Erlernen unserer Sprache das Gefühl übernehmen kann uns zu Einsichten über unsere eigene Sprache zwingen würde, wenn wir nun ägyptisch lernen wollten!

    Mein Linguistikdozent sagt nach jedem dritten Satz: "Und das grandiose ist ja, dass Sie 90% von dem einfach können!"

    Stanzls (überholtes) Modell der Erzählperspektiven

    Nichts gegen Stanzls unüberholbares Modell der Erzählperspektiven! :pirate:

    Etwas erstaunt war ich dann ueber die Antwort - es kaeme nicht auf die Absicht des Autors an, sondern auf die Rezeption des Texts.

    Dazu fällt mir ein: Autonomieästhetik. Die Vorstellung dass die Kunstsphäre für sich und nur für sich steht und jeder kreative Beitrag selbst für den Autor unbegründet bleibt. Daher war auch Biographismus (das Analysieren des Textes hinsichtlich des Lebens des Autors) lange Zeit in der Germanistik verpönt. Dein Germanistik(freund/feind) wollte vielleicht darauf hinaus. Dann hat er deine Umfrage missachtet, weil er vielleicht, wie so einige Autoren der Moderne (Anfang 20.Jhd.) ein elitäres Verständnis von Kunst oder Autorschaft hat. Denn wenn die Kunst zur absoluten und entkörperlichten Sphäre wird, ist sie natürlich nur den ›Priestern‹ vorbehalten.

    Und noch zu dir Cory, die du das hier angestoßen hast, eigentlich als Antwort auf meinen (ich gestehe es: eigentlich überflüssigen) Exkurs: Ja! Die Wissenschaft zerstört das Gefühl. Es ist auch was dich stört: Du fühlst etwas und jemand kommt und reduziert es auf leere Begriffe. Das ist Postmoderne in Reinform… Das ist auch der Grund, warum Germanistik meine Hassliebe ist.

    Man kann sich allerdings durchaus durch Analyseübungen von Literatur (ich sitz gerade dran und untersuche Thema-Rhema in einem Kafka-Text) sich selbst ein feineres Verständnis einhandeln von den Bedeutungsnuancen, die ein Satz haben kann. Das ist wie ein Musikinstrument üben: Das Üben selbst ist auch wenig Gefühl, aber viel Technik. Das Tolle ist: Die ganzen feinen Triller, die man stundenlang in den Stinkefinger einarbeiten musste, die ganzen feinen Bedeutungsnuancen also, für die man nach so einer Analyse zumindest sensibilisierter ist, wirken dann doch wieder direkt auf das Gefühl!

    Ich glaube Teils-Teils an Autonomie des Textes, also Unabhängigkeit vom Autor. Wenn er in einer gewissen Kreativität schreibt, dann verbinden seine Metaphern Welten und stellen neue Wahrheiten auf, die er nicht einmal selbst begriffen haben muss. Viele Dinge laufen dann auch unterbewusst, sicherlich. Beim Autor wie beim Leser.

    Gewisse Schreibziele gibt es dann schon. Bei einem Abenteuerroman sind es wohl eher die großen Handlungslinien, die die Metaphern bilden; bei einer Kurzgeschichte können das auch wenige Worte sein, die, unbewusst zusammengestellt, irgendwas ins Klingen bringen; schließlich beim Gedicht alles.

    Danke für die Diskussion, ist toll wie viel Standpunkt hier über unsere Lieblingsbeschäftigung zusammenkommt. Mich als Forenneuling beglückt das ;*

  • Ich werfe mal noch ein paar erste Sätze ein:

    Zitat von Jun'ichiro Tanizaki

    Ich habe mich entschlossen, von nun an alle Dinge, auch solche, die ich noch nie meinen Tagebüchern anvertraut habe, aufzuzeichnen.

    Jun'ichiro Tanizaki - Der Schlüssel

    Recht simpel und trocken, aber passend für einen Tagebuchroman. So wirklich viel anders hätte man die Geschichte wohl nicht starten können, denke ich. :hmm: Auch wenn das nun nicht spannend aussieht, es ist doch typisch für die Stimme dieser Figur.

    Zitat von Jorge Amado

    Es war einmal vor langer, aber wirklich langer Zeit, in allertiefster Vergangenheit, als die Tiere noch sprechen konnten, die Hunde mit Würsten angebunden wurden, Schneider Prinzessinnen heirateten und Kinder vom Storch im Schnabel gebracht wurden.

    Jorge Amado - Der Gestreifte Kater und die Schwalbe Sinhá

    Da wird schon fleißig das Setting etabliert! Der märchen- bzw. fabelhafte poetische Charakter wird sofort klar und man ahnt, was einen hier erwartet.

    Zitat von Reif Larsen

    Der Anruf kam an einem späten Augustnachmittag, als meine ältere Schwester Gracie und ich auf der Gartenveranda saßen und Maiskolben putzten.

    Reif Larsen - Die Karte meiner Träume

    Ha! Das ist das Muster, das ich mal vor ein, zwei Seiten beschrieben habe! Zugegeben, die meisten Bücher in meinem Regal brechen mit dem Muster, zumindest für den allerersten Satz. Aber nützlich isses halt trotzdem mMn. Eine typische Alltagssituation der Figuren, mehr will und muss es nicht sein, und darum fehlen auch die Schnörkel.

    Häupter auf meine Asche!

  • Da ich heute Nacht witzigerweise von meinem Deutsch-Leistungskurs geträumt habe, indem wir auch erste Sätze besprochen haben (im Deutsch-LK, nicht im Traum), möchte ich diesen Thread wieder mal aufrollen.


    Kein „Erster-Satz-Thread“ kommt eigentlich ohne diesen hier aus! (Habe ich mal so beschlossen. ^^)


    Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.

    • Ein Beweis dafür, dass man keinen prägnanten „Wir sind in der Szene, zack“-Einstieg braucht, sondern durchaus auch philosophisch-allgemein anfangen kann. Wir erfahren hier nichts über die Szene, das Setting, die Zeit, die Personen. Es bleibt so allgemein, dass der Leser vielmehr zum Nachdenken angeregt wird.
    • Über diesen Satz gibt es sogar einen eigenen Wikipedia-Artikel. Soll heißen: Wir haben es hier nicht nur mit Weltliteratur zu tun, sondern auch mit einer sehr ausgeklügelten Taktik, ein Buch zu beginnen. Das Prinzip dahinter lautet so: Bei glücklichen Familien kommen viele erfüllte Faktoren (Reichtum, Harmonie, Religion, Beziehungen, blabla) zusammen, aber nur einer dieser Faktoren braucht wegzufallen, dann wird daraus eine unglückliche – und dadurch individuelle – Familie.
    • Und wenn man das als Leser durchstiegen hat, ist natürlich klar, welche Vorstellungen sofort aufgeworfen werden:
      • Offensichtlich geht es in besagter Handlung um Familien.
      • Diese Familien sind offensichtlich glücklich und unglücklich; die Vermutung kommt auf, dass es sich wohl eher um eine dieser individuelleren unglücklichen Familien handelt.
      • Und dann fragt man sich: Warum wird diese Familie unglücklich?

    Und schon sind wir mittendrin in…

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    Leo Tolstoi: Anna Karenina

    (Das Prinzip dieses ersten Satzes heißt "Anna-Karenina-Prinzip": Wikipedia )

    Der zweite Satz, den wir damals besprachen, war


    Ilsebill salzte nach.

    • Unser Deutschlehrer hatte diesen Satz ausgewählt, weil er wohl mal den Wettbewerb „Der schönste erste Satz“ gewann. Ob zu recht oder unrecht, ist sicher Geschmackssache. Ich finde, der Satz ist sprachlich ganz nett, er lässt sich gut vorlesen, die vielen Ls erzeugen eine schöne Klanggestalt.
    • Davon abgesehen, ist der Satz herrlich kurz. Er reicht gerade so aus, um in der klassischen Schulgrammatik überhaupt erst als Satz prädestiniert zu werden. Da er so kurz ist, enthält er offenbar nur die prägnanteste, wichtigste Information: Die Person heißt Ilsebill, und sie salzt etwas nach, das offenbar nicht salzig genug ist; wir sind vielleicht beim Essen. Mehr erfährt man nicht.
    • Es ist meiner Meinung nach jetzt nicht der spannendste Einstieg aller Zeiten. Ja, man mag sich fragen, wer Ilsebill ist (es sei denn, man kennt den Namen schon aus der deutschen Märchenlandschaft), und vielleicht noch, was sie isst und ob das allein geschieht oder nicht. Mehr frage ich mich da aber nicht. Ich habe das Buch auch nie gelesen, liegt aber nicht nur am ersten Satz.
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    Günter Grass: Der Butt

    Was ich schreibe: Eden