Die Todesapp
oder
Der Versuch, unsterblich zu werden
Erster Teil
Der lange Weg
1
Die Tür ging auf, und Dr. Engelmacher wehte herein, wie immer gut gelaunt, wie immer auf leisen Sohlen, wie immer mit weißem Kittel, weißen Socken und Sandalen.
„Wolf, alter Freund, was machst du bloß für Sachen!“ rief er jovial und gab seinem alten Freund Wolf Marottke die Hand. Die Hand war trocken, etwas kühl, und groß.
Als er Marottkes zerknirschte Miene sah, wurde Engelmacher euphorisch. „Aber, aber! Zur Panik besteht überhaupt kein Anlass, mein Lieber! Das wird schon wieder! Du bekommst gleich Sauerstoff, und dann fühlst du dich wie neugeboren! Setz dich doch!“
Des Doktors lärmende Fröhlichkeit war nicht jedermanns Sache, aber er brachte es auf diese Weise immerhin fertig, dass mancher Kranke wenn nicht geheilt, so doch immerhin – wenn auch nur für kurze Zeit – zumindest getröstet sein Sprechzimmer verließ.
„War das ein Hörsturz?“, fragte Marottke vorsichtig.
Engelmachers aufgesetzte Heiterkeit war mit einem Mal verschwunden. Er konnte es ums Verrecken nicht ausstehen, wenn der Patient die Diagnose stellte.
Er sah seinen Freund missmutig an.
„Diesen Ausdruck kenne ich nicht.“
„Was war´s dann?“
„Wahrscheinlich eine Thrombose infolge eines Blutgerinnsels im Bereich des linken Hörnervs.“ Der Doktor starrte interessiert auf seinen PC. „Hörst du noch Geräusche?“
„Kaum noch. Bis auf ein leichtes Schnirgeln sind sie weg.“
Engelmacher rieb sich vergnügt die Hände. „Sehr gut! Sagtest du nicht, du hättest an dem Abend mehrere Aspirin genommen? Zwei? Drei sogar! Siehst du? Das hat wahrscheinlich Schlimmeres verhindert.“
„Weiß ich... Also eine Art Infarkt –“
„Habe ich Infarkt gesagt?“ rief Engelmacher empört. „Die Diagnose überlass gefälligst mir! Ich sagte Blutgerinnsel! Das ist ja wohl ein kleiner Unterschied!“
„Entschuldige! Ich wollte –“
„Schon gut!“
„Winnifried, was ist mit mir los?“
Engelmacher hatte sich wieder in der Gewalt. „Nichts, was Anlass zu ernsthafter Besorgnis geben könnte. Nun ja, da sind einige... na, sagen wir körperliche Unzulänglichkeiten. Aber wer ist schon ganz gesund. Der eine hat´s hier, der andere da. Schau´n wir doch mal...“ Er drehte den Monitor so, dass Marottke mitlesen konnte. „Blutzucker, PKU-Wert normal, kein Hinweis auf einen Entzündungsherd, alles im grünen Bereich. Hm... Dein Cholesterinspiegel ist allerdings leicht erhöht –“
„Oha!“
„Lass mich ausreden. Aber nur der HDL-Wert, das gute Cholesterin sozusagen, der LDL-Wert ist durchaus tolerabel. Um es volkstümlich auszudrücken: In deinem Falle siegt das Gute über das Böse, hahaha!" Engelmacher lachte, als hätte er den Witz des Jahrungerts gerissen. "Aber dein Blutdruck gefällt mir nicht. Machst du mal bitte den rechten Oberarm frei?“
Engelmacher redete schnell und viel. Er bildete sich ein, eine goldene Zunge zu haben. Seine Kollegen sprachen da eher von Verbalinkontinenz.
„Fantastisch!“ rief er gerade und richtete sich wieder auf, „80 zu 140! Leicht erhöht, aber noch kein Grund zu ewiger Besorgnis.“
Er setzte sich und blickte den Patienten mit strahlenden Augen an. „Mit dieser Konstitution kannst du so alt wie eine Riesenschildkröte werden! Allerdings, da ist eine Kleinigkeit, die mir Sorgen bereitet.“
Eine Weile blickte er aufmerksam auf den Monitor, dann drehte er ihn noch weiter zu dem Patienten.
„Komm, schau´n wir uns das doch einmal genauer an. Siehst du diesen Strang? Das ist deine rechte Halsschlagader. Soweit ich sehe, alles frei. Gut, sehr gut! Nun schau´n wir uns jetzt diesen Bereich an, wo sich die Schlagader verzweigt, bevor sie ins Gehirn abtaucht. Erkennst du diesen kleinen weißen Fleck?“ Mit dem stumpfen Ende eines Bleistifts tippte er auf die entsprechende Stelle. „Gut, beziehungsweise nicht gut. Es handelt sich um eine unbedeutende Verengung des Lumens.“
„Das bedeutet?“
„Zunächst einmal gar nichts. Es ist aber denkbar – nun ja, was heißt das schon, der Mensch denkt sich vieles aus, und dann stimmt´s doch nicht – sagen wir mal so: Es besteht die entfernte Möglichkeit – ich sage ausdrücklich: Entfernte Möglichkeit und nicht Gewissheit – dass sich eine oder mehrere solcher Verengungen auch in feineren Verästelungen weiter oben befinden.“
„Du meinst im Gehirn?“
„Ja.“
Marottke starrte wie abwesend auf den Monitor. Er kannte Engelmachers gewundene Ausdrucksweise. 'Entfernte Möglichkeit' bedeutete bei ihm: Höchstwahrscheinlich. Er war nahe daran, das Gleichgewicht zu verlieren und stützte sich auf der Schreibtischkante ab.
Engelmacher erhob sich halb und rief: „Wolf, geht´s dir nicht gut?“
„Wieso?... Doch, doch, es geht schon wieder.“
Der Doktor sank auf seinen Stuhl zurück. Auf seinem Gesicht lag ein seltsamer Schimmer. „Wie ich schon sagte, zu ewiger Besorgnis besteht kein Grund.“ Er pflegte seine Sprüche mit ausgefallenen Wörtern zu dekorieren. „Aber deine kostbare Gesundheit sollten wir im Auge behalten.“
Er sah Marottke aufmerksam an.
„Wolf, mir kannst du nichts vormachen. Gegenwärtig läuft in deinem Leben einiges schief. Also, wo drückt der Schuh?“
„Wenn´s nur der Schuh wäre“. scherzte Marottke schwach.
„Ist was mit Martha?“
„Ja. Sie hat vor, wieder bei ihren Eltern einzuziehen.“
„Ach! Und wieso?“ In Engelmachers Blick lag echte Anteilnahme.
„Wieso, wieso! Es hat sich so ergeben.“
„Gut, gut, beruhige dich! Und du fühlst dich schuldig.“
„Ja.“
„Kennen wir. Hör ich hier jede Woche minestens dreimal. Und wie sieht´s beruflich aus?“
Marottke betrachtete Engelmachers große nackte Hände, die flach auf dem Tisch lagen. Die Finger feingliedrig, doch muskulös, Chirurgenfinger oder die eines Pianisten.
„Auch nicht besser, zumindest was den Stress betrifft. Ich spiele mit dem Gedanken, mich selbstständig zu machen.“
„Ach! Und als was?“
„Als Börsenmakler im Bitcoinhandel. Seit auf Madagaskar der Real ins Bodenlose fällt, greifen dort immer mehr Leute zum Bitcoin als Ersatzwährung, und nicht nur da. In einigen Ländern Südosteuropas auch. Der Bitcoinmarkt boomt. Wenn du es richtig anstellst, kannst du in kurzer Zeit Millionen machen. Und ein bisschen von dem Gewerbe verstehe ich schon.“ Marottkes Wangen glühten.
„Ich hingegen verstehe nur wenig bis nichts von den heiteren Dingen der Finanzwelt“, wandte Engelmacher launig ein, „aber glaubst du wirklich, dass dein Leben dann stressfreier wird?“
„Natürlich nicht. Genauso schnell wie man reich wird, kann man auch wieder arm werden." Plötzlich sah Marottke wieder grau aus. „Winnifried, was rätst du mir?“
Engelmacher zog seine buschigen Augenbrauen zusammen, sodass sie einen stumpfen Winkel bildeten.
„Tja, mein Lieber... Da ist guter Rat teuer! Am liebsten würde ich natürlich sagen: Mein lieber Freund und Kupferstecher, trenn dich von Wein, Weib, Gesang und dem ganzen gutbürgerlichen Drum und Dran, miete dir einen Schrebergarten und züchte Kürbisse oder bring deinem Kanarienvogel das Sprechen bei, schaff dir einen quirligen Hund an und geh´ täglich mit ihm zwei, drei Stunden spazieren... Willst du so etwas hören? Könntest du das überhaupt? Eben! Natürlich kann man diesen Hokuspokus eitler Gewohnheiten nicht so einfach mir nichte dir nichts über Bord werfen. Und wer lässt schon seine Familie gern im Stich! Schließlich hat man ja Verantwortung! Und zum Aussteiger muss man verdammt geboren sein!“
Der Patient seufzte herzerweichend.
„Nun Kopf hoch, alter Knabe! Es ist noch nicht aller Werktage Abend! Ich hätte da etwas für dich.“
Dr. Engelmacher lehnte sich zurück und griff in eine Schublade. Zum Vorschein kam ein weißes Schächtelchen, das er aufklappte und Marottke hin hielt. Es eine kleine schwarze Scheibe von der Größe eines Ein-Cent-Stücks.
„Was du da siehst ist ein Minichip, der einen Sensor und einen Sender enthält.“
Dann erklärte er mit der eindringlichen Ernsthaftigkeit eines Zeugen Jehovas: „Dieser winzige Sensor misst deine Gesundheitsparameter, also Blutdruck, Puls, Atemfrequenz, Sauerstoffversorgung und so weiter, und so fort. Der Sender übermittelt die Messdaten auf dein Smartphone, und du kannst sie mithilfe einer speziellen App abrufen. Ein elektronischer Gesundheitswächter, wenn du so willst. Du bist also jederzeit bestens über deinen Gesundheitszustand informiert. Aber das ist noch nicht alles! Das Beste kommt noch!“
Engelmacher holte tief Luft.
„Wenn du mir den Zugriff auf deine Smartphonedaten erlaubst, könnte ich jederzeit eine Ferndiagnose stellen und nötigenfalls entsprechende Maßnahmen vorschlagen. Wenn´s dich also sagen wir auf einer Geschäftsreise irgendwo kneift oder sonstwie drückt: Ich könnte sofort bei dir sein.“ Er lehnte sich zufrieden zurück. Sein Gesicht sah aus, als erwarte er einen Orden.
„Die App ist leider nicht ganz billig“, fuhr er fort, „aber sie ist es wert.“
Da Marottke nachdenklich schwieg, redete Engelmacher fröhlich weiter. „Übrigens eine Neuentwicklung aus den USA, genauer gesagt aus Silikon Valley unter dem ewig blauen Himmel Kaliforniens. Das Neueste vom Neuen. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass von dort noch manche Überraschung auf dem Gebiet der Körperelektronik kommt.“
Plötzlich sah er Marottke überrascht an. „Sag mal, Wolf, habe ich das richtig in Erinnerung? In deine Bankfiliale wurde doch zweimal kurz hintereinander eingebrochen? Ist die Bank denn nicht gesichert?“
„Natürlich ist sie gesichert! Wo denkst du hin! Aber die Räuber waren schlauer.“
„Erzähl´, das interessiert mich jetzt! Nicht, dass du denkst, ich will eine Bank ausrauben! Dafür hab´ ich die PKV!“ Engelmacher lachte grob. „Du wirst gleich sehen, warum.“
„Beim zweiten Mal sägten die Diebe unbemerkt ein Loch in das Flachdach und übernachteten im Zwischenboden. Als der Mitarbeiter am nächsten Morgen den Schalterraum betrat, stießen sie ein Element der Deckenverkleidung auf und fielen dem armen Mann buchstäblich auf den Kopf.“
„Lohnt sich das denn heute noch? Ich meine so ein Bankraub? Halten die Banken denn noch so viel Bargeld vor?“
„Na ja, ein paar tausend Euro für den Tagesverkehr sind es schon. Aber das war´s nicht. Sie hatten es auf den Tresorraum abgesehen. Winnifried, worauf willst du hinaus?“
„Gleich. Der Mann konnte natürlich keinen Alarm auslösen.“
„Nein. Wie denn auch? Sie banden ihm doch gleich die Hände hinterm Rücken zusammen.“
„Mit der App hätte er´s gekonnt!“
„So? Und wie?“
„Zunächst musst du wissen, wie die Sache funktioniert. Der Chip wird dir subkutan in den Oberarm eingepflanzt. Keine große Operation, machen wir hier ambulant – kleiner Schnitt, Chip rein, Pflaster drauf, fertig. In zehn Minuten bist du wieder draußen. Der Sensor misst deine Parameter – frag mich nicht, wie – sendet sie an dein Handy, und die App analysiert sie. Nehmen wir einmal an, dein überfallener Tresorwächter hat den Chip nicht im Oberarm, sondern im Ballen der rechten Hand, und weiterhin, über diesen speziellen Chip kann mittels einer speziellen App eine Alarmkette ausgelöst werden. Der Räuber schreit: Hände hoch! Keine Bewegung! Dein Mann reißt die Hände hoch und wackelt dabei unbemerkt dreimal mit dem Daumen. Fünf Minuten später steht die Polizei vor der Tür. Fantastisch, oder?“
Engelmacher sah Marottkes Zögern und sagte: „Du brauchst dich heute noch nicht entscheiden. Überleg´ es dir gut! Solltest du interessiert sein, ruf Frau Meier an, und wir vereinbaren kurzfristig einen Termin. Ich habe einige Patienten, die mit der App sehr zufrieden sind. Natürlich kann ich keine Unsterblichkeit versprechen“ – er lächelte süffisant – „aber immerhin ein gewisses Sicherheitsgefühl. Und das ist doch schon die halbe Miete!“ Er gab Marottke die Hand. „Ach übrigens“, fragte er im Hinausgehen, „du leidest doch nicht unter Depressionen?“
„Noch nicht. Wieso fragst du?“
„Warum nicht? Ich bin schließlich dein Arzt.“
2
„Mein lieber Wolf!“ rief Dr. Engelmacher aufgeräumt, „was kann ich heute für dich tun?“ Er ergriff Marottkes Hände und hielt sie eine Weile fest. Der Griff war zupackend, aber nicht unangenehm. Er lächelte sein Oberarztlächeln: Etwas herablassend, aber nicht ohne menschliche Wärme. In diesem Lächeln lag weder Ironie noch Vorsicht, es war einfach nur entwaffnend.
„Setz dich doch“, sagte er mit einer einladenden Handbewegung, „zunächst einmal: Was macht dein linkes Ohr? Hörst du noch Geräusche?“
„Kaum noch. Bis auf ein gelegentliches leises Flüstern sind sie verschwunden.“
Ein zufriedenes Lächeln glitt über Engelmachers rosiges Gesicht. „Sehr gut! Nicht umsonst sage ich immer: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!“ Er beugte sich interessiert vor. „Und wie steht´s mit der App? Kommst du mit ihr klar?“
Statt zu antworten legte Marottke sein Smartphone auf den Tisch.
„Siehst du die beiden Kürzel oben rechts? Du weißt natürlich, was sie bedeuten.“
Engelmacher beugte sich vor. „Nein. Die seh´ ich jetzt zum ersten Mal.“
„Dm steht für Dies mortis, und Cd für Carpe diem. Die Zahl hinter Dm gibt meinen voraussichtlichen Todestag an, und Cd die Anzahl meiner noch verbleibenden Tage.“
Engelmacher schwieg.
„Am Wochenende war ich zu einem Hearing im Bundesfinanzministerium“, sagte Marottke und versuchte, seiner Stimme 'Biss' zu verleihen. „Auf dem Rückflug saß neben mir ein Mann, der mir bezüglich der App die Augen öffnete.“
„Ich verstehe nicht“, sagte Engelmacher verdutzt.
„Das wirst du gleich. Dieser Mann erzählte mir, sein Bruder habe wegen dieser App Selbstmord begangen.“
Engelmachers rosiges Gesicht entfärbte sich..
„Das ist doch Unsinn!“
Der Doktor stand auf und lief einige Schritte ziellos im Raum umher. Dann riss er die Vorzimmertür auf und rief: „Frau Meier, sagen Sie alle Termine heute Vormittag ab und schicken Sie die Patienten zu Frau Dr. Irani!“
Er setzte sich wieder und blickte Marottke an. „Was hat der Mann erzählt?“
„Der Mann erzählte mir, sein Bruder habe dieselbe App, kurz nachdem sie ihm implantiert worden war, wieder abgestellt. Ihn habe die Gewissheit, dass er am 19. 8. 2037 sterben werde, fast wahnsinnig gemacht. Vor vierzehn nun Tagen erhielt der Mann von der Kriminalpolizei die Aufforderung, sich um den Nachlass seines Bruders zu kümmern und die Beerdigung in Auftrag zu geben. Der Bruder hatte sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen. Als die Kriminalpolizei die App reaktivierte, zeigte sein Dm den 15. 8. 2022 an, den Tag seines Selbstmordes, seines Dies mortis. Die App hatte seinen Dm richtig berechnet und sich als Todes-App erwiesen.“
Während Marottke berichtete, hatte Engelmacher sich immer weiter entfärbt. Noch nie hatte Marottke ihn so bleich gesehen. Auch nicht, als seine noch junge Frau bei einem Motorradunfall umd Leben gekommen war.
Nachdem Marottke seinen Bericht beendet hatte, herrschte zunächst Stille, nur unterbrochen durch fernes Donnergrollen. Schließlich sagte der Doktor mit finsterer Miene: „Das wusste ich nicht. Von einem Todesfall war mir bisher nichts bekannt.“
Wieder schwieg er bedrückt. Plötzlich ergriff er den Telefonhörer, wählte und sagte: „Frau Meier, verbinden Sie mich bitte mit Prof. Hausen in der Kurklinik Baden-Baden. Die Nummer steht irgendwo in der Telefonliste. Und Kaffee, bitte!“
Er wandte sich wieder seinem Freund zu. „Und das mit Dm und Cd ist mir völlig neu.“
Er holte das schon bekannte Kästchen hervor und entnahm ihm den Beipackzettel. „Entschuldige“, sagte er und las. „Nein“, murmelte er, „hier steht nichts von Dm und Cd.“ Er blickte Marottke zweifelnd an. „Kann es sein, dass dein Mann ein Spinner war, der dich hochnehmen wollte? Solche Leute sind nur gefährlich, wenn man sie ernst nimmt!“
„Ein Spinner?“ Marottke lachte schwach. „Dann bin ich auch einer! Nein, wie ein Spinner wirkte er weiß Gott nicht.“
Das Telefon schnurrte.
Engelmacher nahm ab.
Nach mehrmaligem Knacken ließ sich eine Stimme vernehmen. „Engelmacher hier! Frau Gnadenlos“, sagte er ungeduldig, „könnte ich bitte kurz mit Prof. Dr. Hausen sprechen? Wirklich, nur ganz kurz. Ach, er operiert gerade! Bis wann? Gut, dann versuch ich´s so gegen zwei noch mal.“ Kaum hatte er den Hörer abgelegt, da nahm er ihn wieder auf. „Frau Meier, wissen Sie zufällig noch, wie diese Firma heißt, die uns diese Gesundheitschips liefert? Wie? Chip an´ Deal in Heidelberg... Hervorragend! Sie sind ein Schatz! Dann machen Sie mir doch gleich eine Verbindung, aber dalli! Was? Natürlich habe ich Sie nicht gemeint, Verehrteste, da käme ich doch sofort in Teufels Küche! Ich meine diese Leute dort! Sagen Sie, es ist dringend!“
Der Doktor legte den Hörer wieder zurück und rieb sich die Hände. „Das haben wir gleich! Dann wird sich zeigen, wer hier spinnt! Dein ulkiger Gewährsmann oder ich.“ Sehr überzeugt klang er nicht.
Kurz darauf schnurrte das Telefon. Engelmacher nahm hastig ab. „Doktor Engelmacher vom städtischen Klinikum Drenhausen... Sie haben mir vor einiger Zeit etliche dieser Chips geliefert, die zu der neuen Gesundheits-App aus Amerika gehören. Kann es sein, dass... So? Ein Versehen? Ich höre!“
Je länger Engelmacher hörte, desto blasser wurde er. Als er den Hörer wieder auflegte, war er wieder aschfahl.
Frau Meier kam herein und stellte ein Tablett mit Kaffee, Zucker und Sahne auf den Tisch. Fast hilfesuchend blickte Engelmacher sie an und sagte: „Bestellen Sie Frau Gnadenlos einen schönen Gruß von mir. Die Angelegenheit hat sich erledigt.“
Frau Meier sah ihn besorgt an. „Herr Doktor“, sagte sie sanft, „geht es Ihnen nicht gut?“
„Nein... doch... mir geht´s nicht gut, mir geht es geradezu besch... Aber es wird schon wieder besser. Danke für die Nachfrage.“
Draußen tobte sich das Gewitter aus. Dicke Regentropfen klatschen gegen die Fensterscheiben. Blitz folgt auf Blitz, Donner auf Donner.
„Winnifried, nun red´ schon! Was hat der Mann gesagt?“
„Später. Jetzt brauch´ ich erst mal einen Kaffee.“
Er tat Zucker in seine Tasse und rührte geistesabwesend um. Dabei murmelte er: „Ich frage mich, wie es mir immer wieder gelingt, jährlich eine so große Anzahl von Patienten wenn nicht geheilt, so doch erheblich gebessert zu entlassen. Ich muss dir gestehen: In diesem Moment weiß ich es nicht! Möglicherweise wären sie ohne meine Hilfe sogar gesund geworden.“
„Wenn du weiterrührst“, sagte Marottke genervt, „trennst du noch den Tassenboden raus!“
Engelmacher hörte nicht. „Gut, es hat Rückschläge gegeben. Aber wo gibt´s die nicht? Wichtig ist doch: Es hat immer ein gutes Ende genommen.“ Ein heller Blitz, ein krachender Donner – der Schlussakkord des Gewitters.
Erbittert hieb Engelmacher mit der Faust auf den Tisch. „Und jetzt das!“ Er trank einen großen Schluck.
„Winnifried, was hat der Mann gesagt?“
„Wie? Ach so, ja, natürlich...“ Der Doktor räusperte sich. „Dein Gewährsmann hat Recht, mein Freund. Die Todestagsapp existiert wirklich. Und ich habe dir einen brandgefährlichen Chip eingesetzt, ohne es zu ahnen. Diese Nachlässigkeit verzeihe ich mir nie, denn solche Fehler zerstören auf die Dauer die Vertrauensbasis zwischen Arzt und Patient.“
„Na, na! Soweit sind wir noch nicht! Mein Vertrauen hast du nach wie vor. Wie konnte das denn überhaupt passieren?“
„Die Vertriebsfirma in Heidelberg hat aus Versehen zu diesem Chip den Beipackzettel des Vorgängermodells eingepackt, das die Funktionen Dm und Cd noch nicht enthielt.“
„Oha! Das ist natürlich ein dicker Hammer! Aber dann trifft dich doch gar keine Schuld! Woher konntest du wissen –“
„O doch, mein Lieber, o doch! Auch wenn´s nur eine Teilschuld ist, so ist es doch eine Schuld! Ich hätte es wissen müssen! Ich hätte die App zumindest einmal klinisch testen müssen, bevor ich sie dir ans Herz legte. Wenn du willst, nehme ich dir das Teil wieder heraus. Kostenlos natürlich.“
„Es sei denn, ich bin jetzt dein klinischesVersuchskaninchen.“
„Wenn du die App weiter gebrauchen willst, könnte man es so sagen, ja.“
„Hm... Die Sache mit dem Todesdatum ist natürlich nicht ganz ungefährlich. Obwohl – soviel habe ich schon gesehen, meiner liegt noch in weiter Ferne.“
„Dein voraussichtlicher Todestag!“ rief Engelmacher munter.
Mit dem Doktor geschah eine eigenartige Veränderung. Seine Wangen röteten sich, seine Augen blitzten, seine Miene entspannte sich.
„Wie meinst du?“
„Da hast doch in deinem Auto bestimmt diese Reichweiten-App. Hast du dich noch nie gewundert, dass die Reichweite zugenommen hat, obwohl du schon eine Ganze Weile gefahren bist? Und bist du da vielleicht schon mal auf die Idee gekommen – im Scherz natürlich –: wenn es so weiter geht, komme ich mit vollem Tank zuhause an? Na?“
„Nein, denn die Erklärung ist einfach. Die Berechnung bezieht den vorherigen Benzinverbrauch mit ein. Wenn ich also jetzt langsamer fahre und weniger Sprit verbrauche –“ M. blickte den Doktor verblüfft an – „du meinst?“
„Genau das meine ich! Die App berechnet deinen Todestag auf Basis deiner bisherigen Lebensweise. Anders geht´s auch gar nicht. Zwar steht geschrieben, dass jedem sein letztes Stündlein schlägt, aber wann, das steht nirgendwo, und auch nicht, dass man nicht daran drehen kann. Wenn du also, sagen wir, dich aufraffst und dein Leben änderst, könnte sich dein Todestag weiter in die Zukunft verschieben.“
„Hmm... Ein verlockender Gedanke!“
„Eine Vision, mein Lieber, eine gewaltige Vision! Stell dir vor! Du könntest für eine gewisse Zeit unsterblich werden!“
Engelmacher war wie elektrisiert aufgesprungen und lief gestikulierend im Zimmer herum. „Ein alter Menschheitstraum geht in Erfüllung! Das ewige Leben rückt in greifbare Nähe! Ewige Jugend! Unsterblichkeit! Alle Religionen versprechen sie, keine kann sie garantieren... Es wäre ein gewaltiges Experiment, ein noch nie da gewesener Versuch, und wenn er gelingt, hättest du zumindest etwas erreicht, was bisher für unmöglich galt: Du würdest nicht älter! Wir wären... äh... du wärst schlagartig berühmt!“
„Darauf pfeife ich. Und außerdem, ich wäre doch nicht wirklich unsterblich! Höchstens für ein paar Wochen oder Monate! Denn irgendwann ist der Tank doch leer! Also, wo ist da der sittliche Nährwert?“
„O ihr Kleingeister und Erbsenzähler! Da bietet sich eine Wahnsinnsmöglichkeit, und schon ihr kneift den Schwanz ein. `tschudige, war nicht so gemeint.“ Engelmacher blieb vor Marottke stehen und blickte ihn beschwörend an. „Was macht das schon!“ Er senkte seine Stimme. „Es geht doch hier nicht nur um dich. Hier geht es um höhere Ziele. Sieh´s doch mal so: Wenn es dir gelänge, auch nur vierzehn Tage nicht älter zu werden, könntest du der Menschheit einen großen Dienst erweisen. Du könntest sagen: Leute, wovor habt ihr Angst? Altwerden und Sterben sind keine zwingenden Naturgesetze!“
„Und wie soll das gehen?“
„Du musst nur erreichen, dass sich dein Dm für jeden vergangenen Tag um einen Tag weiter vorschiebt.“
„Nur ist gut!“ rief Marottke zaghaft.
„Du musst alles, was dich belastet, über Bord werfen und dich neu aufstellen. Vor allen dingen in puncto Ernährung.“ Der Doktor beugte sich vertraulich zu Marottke herab. „Es ist doch ein alter Hut“, sagte er, und in seinen Augen lag ein eigenartiger Glanz, „schon Eva im Paradies zum Beispiel wusste schon, wie lebensverlängernd fleischlose Ernährung sein kann. Oder warum, glaubst du, reichte sie Adam den Apfel?“ Er lachte dröhnend.
„Und nervige Verwandtschaft war auch nicht da!“
„Du sagst es!“
Marottke dachte eine Weile nach, und Engelmacher schwieg erwartungsvoll.
„Das wird aber nicht so leicht sein!“
„Papperlapapp! Natürlich wird es nicht leicht sein!“ Engelmacher blickte Marottke an, als wollte er ihn hypnotisieren. Seine hohe Stirn wetterleuchtete im Licht des späten Vormittags. „Neuland ist nie leicht! Natürlich ist dieses Experiment nichts für Weicheier! Aber du bist ein fester Mann mit Grundsätzen! Wenn´s einer schafft, dann du!“
„Hm... Nun ja... Du vergisst den Todesfall! Das sieht mir nicht gerade nach ewigem Leben aus.“
„Ach was! Hör auf mit diesen kleinlichen Bedenken!“
Der Doktor machte eine Armbewegung, als wollte er eine Fliege in der Luft erschlagen. „Ja wenn einer ständig auf sein Todesdatum starrt und von Natur aus labil ist und sich nicht in der Gewalt hat! Vielleicht war der Mann ja depressiv oder in einer schweren Lebenskrise... Gut, ich will nicht abstreiten, dass das Experiment gewisse Gefahren in sich birgt. Die seelische Belastung könnte zuweilen zum Problem werden... Aber, mein Lieber, ich bin doch bei dir! Mithilfe der App könnte ich dich Tag und Nacht begleiten, rund um die Uhr, an Wochentagen, Sonntagen, Feiertagen! Sogar aus dem Urlaub heraus!“ Er blickte Marottke beschwörend an. „Also, was zögerst du noch! Greif zu, eh´s ein anderer tut!“
„Das geht mir alles zu schnell! Winnifried, gib mir etwas Bedenkzeit.“
Engelmacher setzte sich und schnaufte resigniert.
„Aber natürlich gebe ich dir Bedenkzeit, mein lieber Wolf, wir wollen bei einer so bedeutenden Unternehmung doch nichts übers Knie brechen!“
Er erhob sich.
„Also überleg´ es dir gut. Und wenn du mit dir im Reinen bist, meldest du dich. Aber warte nicht zu lange.“
Forts. folgt