Die Todesapp

Es gibt 4 Antworten in diesem Thema, welches 2.326 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (1. März 2019 um 18:49) ist von wunderkind.


  • Die Todesapp
    oder
    Der Versuch, unsterblich zu werden

    Erster Teil


    Der lange Weg

    1

    Die Tür ging auf, und Dr. Engelmacher wehte herein, wie immer gut gelaunt, wie immer auf leisen Sohlen, wie immer mit weißem Kittel, weißen Socken und Sandalen.
    „Wolf, alter Freund, was machst du bloß für Sachen!“ rief er jovial und gab seinem alten Freund Wolf Marottke die Hand. Die Hand war trocken, etwas kühl, und groß.
    Als er Marottkes zerknirschte Miene sah, wurde Engelmacher euphorisch. „Aber, aber! Zur Panik besteht überhaupt kein Anlass, mein Lieber! Das wird schon wieder! Du bekommst gleich Sauerstoff, und dann fühlst du dich wie neugeboren! Setz dich doch!“
    Des Doktors lärmende Fröhlichkeit war nicht jedermanns Sache, aber er brachte es auf diese Weise immerhin fertig, dass mancher Kranke wenn nicht geheilt, so doch immerhin – wenn auch nur für kurze Zeit – zumindest getröstet sein Sprechzimmer verließ.
    „War das ein Hörsturz?“, fragte Marottke vorsichtig.
    Engelmachers aufgesetzte Heiterkeit war mit einem Mal verschwunden. Er konnte es ums Verrecken nicht ausstehen, wenn der Patient die Diagnose stellte.
    Er sah seinen Freund missmutig an.
    „Diesen Ausdruck kenne ich nicht.“
    „Was war´s dann?“
    „Wahrscheinlich eine Thrombose infolge eines Blutgerinnsels im Bereich des linken Hörnervs.“ Der Doktor starrte interessiert auf seinen PC. „Hörst du noch Geräusche?“
    „Kaum noch. Bis auf ein leichtes Schnirgeln sind sie weg.“
    Engelmacher rieb sich vergnügt die Hände. „Sehr gut! Sagtest du nicht, du hättest an dem Abend mehrere Aspirin genommen? Zwei? Drei sogar! Siehst du? Das hat wahrscheinlich Schlimmeres verhindert.“
    „Weiß ich... Also eine Art Infarkt –“
    „Habe ich Infarkt gesagt?“ rief Engelmacher empört. „Die Diagnose überlass gefälligst mir! Ich sagte Blutgerinnsel! Das ist ja wohl ein kleiner Unterschied!“
    „Entschuldige! Ich wollte –“
    „Schon gut!“
    „Winnifried, was ist mit mir los?“
    Engelmacher hatte sich wieder in der Gewalt. „Nichts, was Anlass zu ernsthafter Besorgnis geben könnte. Nun ja, da sind einige... na, sagen wir körperliche Unzulänglichkeiten. Aber wer ist schon ganz gesund. Der eine hat´s hier, der andere da. Schau´n wir doch mal...“ Er drehte den Monitor so, dass Marottke mitlesen konnte. „Blutzucker, PKU-Wert normal, kein Hinweis auf einen Entzündungsherd, alles im grünen Bereich. Hm... Dein Cholesterinspiegel ist allerdings leicht erhöht –“
    „Oha!“
    „Lass mich ausreden. Aber nur der HDL-Wert, das gute Cholesterin sozusagen, der LDL-Wert ist durchaus tolerabel. Um es volkstümlich auszudrücken: In deinem Falle siegt das Gute über das Böse, hahaha!" Engelmacher lachte, als hätte er den Witz des Jahrungerts gerissen. "Aber dein Blutdruck gefällt mir nicht. Machst du mal bitte den rechten Oberarm frei?“
    Engelmacher redete schnell und viel. Er bildete sich ein, eine goldene Zunge zu haben. Seine Kollegen sprachen da eher von Verbalinkontinenz.
    „Fantastisch!“ rief er gerade und richtete sich wieder auf, „80 zu 140! Leicht erhöht, aber noch kein Grund zu ewiger Besorgnis.“
    Er setzte sich und blickte den Patienten mit strahlenden Augen an. „Mit dieser Konstitution kannst du so alt wie eine Riesenschildkröte werden! Allerdings, da ist eine Kleinigkeit, die mir Sorgen bereitet.“
    Eine Weile blickte er aufmerksam auf den Monitor, dann drehte er ihn noch weiter zu dem Patienten.
    „Komm, schau´n wir uns das doch einmal genauer an. Siehst du diesen Strang? Das ist deine rechte Halsschlagader. Soweit ich sehe, alles frei. Gut, sehr gut! Nun schau´n wir uns jetzt diesen Bereich an, wo sich die Schlagader verzweigt, bevor sie ins Gehirn abtaucht. Erkennst du diesen kleinen weißen Fleck?“ Mit dem stumpfen Ende eines Bleistifts tippte er auf die entsprechende Stelle. „Gut, beziehungsweise nicht gut. Es handelt sich um eine unbedeutende Verengung des Lumens.“
    „Das bedeutet?“
    „Zunächst einmal gar nichts. Es ist aber denkbar – nun ja, was heißt das schon, der Mensch denkt sich vieles aus, und dann stimmt´s doch nicht – sagen wir mal so: Es besteht die entfernte Möglichkeit – ich sage ausdrücklich: Entfernte Möglichkeit und nicht Gewissheit – dass sich eine oder mehrere solcher Verengungen auch in feineren Verästelungen weiter oben befinden.“
    „Du meinst im Gehirn?“
    „Ja.“
    Marottke starrte wie abwesend auf den Monitor. Er kannte Engelmachers gewundene Ausdrucksweise. 'Entfernte Möglichkeit' bedeutete bei ihm: Höchstwahrscheinlich. Er war nahe daran, das Gleichgewicht zu verlieren und stützte sich auf der Schreibtischkante ab.
    Engelmacher erhob sich halb und rief: „Wolf, geht´s dir nicht gut?“
    „Wieso?... Doch, doch, es geht schon wieder.“
    Der Doktor sank auf seinen Stuhl zurück. Auf seinem Gesicht lag ein seltsamer Schimmer. „Wie ich schon sagte, zu ewiger Besorgnis besteht kein Grund.“ Er pflegte seine Sprüche mit ausgefallenen Wörtern zu dekorieren. „Aber deine kostbare Gesundheit sollten wir im Auge behalten.“
    Er sah Marottke aufmerksam an.
    „Wolf, mir kannst du nichts vormachen. Gegenwärtig läuft in deinem Leben einiges schief. Also, wo drückt der Schuh?“
    „Wenn´s nur der Schuh wäre“. scherzte Marottke schwach.
    „Ist was mit Martha?“
    „Ja. Sie hat vor, wieder bei ihren Eltern einzuziehen.“
    „Ach! Und wieso?“ In Engelmachers Blick lag echte Anteilnahme.
    „Wieso, wieso! Es hat sich so ergeben.“
    „Gut, gut, beruhige dich! Und du fühlst dich schuldig.“
    „Ja.“
    „Kennen wir. Hör ich hier jede Woche minestens dreimal. Und wie sieht´s beruflich aus?“
    Marottke betrachtete Engelmachers große nackte Hände, die flach auf dem Tisch lagen. Die Finger feingliedrig, doch muskulös, Chirurgenfinger oder die eines Pianisten.
    „Auch nicht besser, zumindest was den Stress betrifft. Ich spiele mit dem Gedanken, mich selbstständig zu machen.“
    „Ach! Und als was?“
    „Als Börsenmakler im Bitcoinhandel. Seit auf Madagaskar der Real ins Bodenlose fällt, greifen dort immer mehr Leute zum Bitcoin als Ersatzwährung, und nicht nur da. In einigen Ländern Südosteuropas auch. Der Bitcoinmarkt boomt. Wenn du es richtig anstellst, kannst du in kurzer Zeit Millionen machen. Und ein bisschen von dem Gewerbe verstehe ich schon.“ Marottkes Wangen glühten.
    „Ich hingegen verstehe nur wenig bis nichts von den heiteren Dingen der Finanzwelt“, wandte Engelmacher launig ein, „aber glaubst du wirklich, dass dein Leben dann stressfreier wird?“
    „Natürlich nicht. Genauso schnell wie man reich wird, kann man auch wieder arm werden." Plötzlich sah Marottke wieder grau aus. „Winnifried, was rätst du mir?“
    Engelmacher zog seine buschigen Augenbrauen zusammen, sodass sie einen stumpfen Winkel bildeten.
    „Tja, mein Lieber... Da ist guter Rat teuer! Am liebsten würde ich natürlich sagen: Mein lieber Freund und Kupferstecher, trenn dich von Wein, Weib, Gesang und dem ganzen gutbürgerlichen Drum und Dran, miete dir einen Schrebergarten und züchte Kürbisse oder bring deinem Kanarienvogel das Sprechen bei, schaff dir einen quirligen Hund an und geh´ täglich mit ihm zwei, drei Stunden spazieren... Willst du so etwas hören? Könntest du das überhaupt? Eben! Natürlich kann man diesen Hokuspokus eitler Gewohnheiten nicht so einfach mir nichte dir nichts über Bord werfen. Und wer lässt schon seine Familie gern im Stich! Schließlich hat man ja Verantwortung! Und zum Aussteiger muss man verdammt geboren sein!“
    Der Patient seufzte herzerweichend.
    „Nun Kopf hoch, alter Knabe! Es ist noch nicht aller Werktage Abend! Ich hätte da etwas für dich.“
    Dr. Engelmacher lehnte sich zurück und griff in eine Schublade. Zum Vorschein kam ein weißes Schächtelchen, das er aufklappte und Marottke hin hielt. Es eine kleine schwarze Scheibe von der Größe eines Ein-Cent-Stücks.
    „Was du da siehst ist ein Minichip, der einen Sensor und einen Sender enthält.“
    Dann erklärte er mit der eindringlichen Ernsthaftigkeit eines Zeugen Jehovas: „Dieser winzige Sensor misst deine Gesundheitsparameter, also Blutdruck, Puls, Atemfrequenz, Sauerstoffversorgung und so weiter, und so fort. Der Sender übermittelt die Messdaten auf dein Smartphone, und du kannst sie mithilfe einer speziellen App abrufen. Ein elektronischer Gesundheitswächter, wenn du so willst. Du bist also jederzeit bestens über deinen Gesundheitszustand informiert. Aber das ist noch nicht alles! Das Beste kommt noch!“
    Engelmacher holte tief Luft.
    „Wenn du mir den Zugriff auf deine Smartphonedaten erlaubst, könnte ich jederzeit eine Ferndiagnose stellen und nötigenfalls entsprechende Maßnahmen vorschlagen. Wenn´s dich also sagen wir auf einer Geschäftsreise irgendwo kneift oder sonstwie drückt: Ich könnte sofort bei dir sein.“ Er lehnte sich zufrieden zurück. Sein Gesicht sah aus, als erwarte er einen Orden.
    „Die App ist leider nicht ganz billig“, fuhr er fort, „aber sie ist es wert.“
    Da Marottke nachdenklich schwieg, redete Engelmacher fröhlich weiter. „Übrigens eine Neuentwicklung aus den USA, genauer gesagt aus Silikon Valley unter dem ewig blauen Himmel Kaliforniens. Das Neueste vom Neuen. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass von dort noch manche Überraschung auf dem Gebiet der Körperelektronik kommt.“
    Plötzlich sah er Marottke überrascht an. „Sag mal, Wolf, habe ich das richtig in Erinnerung? In deine Bankfiliale wurde doch zweimal kurz hintereinander eingebrochen? Ist die Bank denn nicht gesichert?“
    „Natürlich ist sie gesichert! Wo denkst du hin! Aber die Räuber waren schlauer.“
    „Erzähl´, das interessiert mich jetzt! Nicht, dass du denkst, ich will eine Bank ausrauben! Dafür hab´ ich die PKV!“ Engelmacher lachte grob. „Du wirst gleich sehen, warum.“
    „Beim zweiten Mal sägten die Diebe unbemerkt ein Loch in das Flachdach und übernachteten im Zwischenboden. Als der Mitarbeiter am nächsten Morgen den Schalterraum betrat, stießen sie ein Element der Deckenverkleidung auf und fielen dem armen Mann buchstäblich auf den Kopf.“
    „Lohnt sich das denn heute noch? Ich meine so ein Bankraub? Halten die Banken denn noch so viel Bargeld vor?“
    „Na ja, ein paar tausend Euro für den Tagesverkehr sind es schon. Aber das war´s nicht. Sie hatten es auf den Tresorraum abgesehen. Winnifried, worauf willst du hinaus?“
    „Gleich. Der Mann konnte natürlich keinen Alarm auslösen.“
    „Nein. Wie denn auch? Sie banden ihm doch gleich die Hände hinterm Rücken zusammen.“
    „Mit der App hätte er´s gekonnt!“
    „So? Und wie?“
    „Zunächst musst du wissen, wie die Sache funktioniert. Der Chip wird dir subkutan in den Oberarm eingepflanzt. Keine große Operation, machen wir hier ambulant – kleiner Schnitt, Chip rein, Pflaster drauf, fertig. In zehn Minuten bist du wieder draußen. Der Sensor misst deine Parameter – frag mich nicht, wie – sendet sie an dein Handy, und die App analysiert sie. Nehmen wir einmal an, dein überfallener Tresorwächter hat den Chip nicht im Oberarm, sondern im Ballen der rechten Hand, und weiterhin, über diesen speziellen Chip kann mittels einer speziellen App eine Alarmkette ausgelöst werden. Der Räuber schreit: Hände hoch! Keine Bewegung! Dein Mann reißt die Hände hoch und wackelt dabei unbemerkt dreimal mit dem Daumen. Fünf Minuten später steht die Polizei vor der Tür. Fantastisch, oder?“
    Engelmacher sah Marottkes Zögern und sagte: „Du brauchst dich heute noch nicht entscheiden. Überleg´ es dir gut! Solltest du interessiert sein, ruf Frau Meier an, und wir vereinbaren kurzfristig einen Termin. Ich habe einige Patienten, die mit der App sehr zufrieden sind. Natürlich kann ich keine Unsterblichkeit versprechen“ – er lächelte süffisant – „aber immerhin ein gewisses Sicherheitsgefühl. Und das ist doch schon die halbe Miete!“ Er gab Marottke die Hand. „Ach übrigens“, fragte er im Hinausgehen, „du leidest doch nicht unter Depressionen?“
    „Noch nicht. Wieso fragst du?“
    „Warum nicht? Ich bin schließlich dein Arzt.“


    2


    „Mein lieber Wolf!“ rief Dr. Engelmacher aufgeräumt, „was kann ich heute für dich tun?“ Er ergriff Marottkes Hände und hielt sie eine Weile fest. Der Griff war zupackend, aber nicht unangenehm. Er lächelte sein Oberarztlächeln: Etwas herablassend, aber nicht ohne menschliche Wärme. In diesem Lächeln lag weder Ironie noch Vorsicht, es war einfach nur entwaffnend.
    „Setz dich doch“, sagte er mit einer einladenden Handbewegung, „zunächst einmal: Was macht dein linkes Ohr? Hörst du noch Geräusche?“
    „Kaum noch. Bis auf ein gelegentliches leises Flüstern sind sie verschwunden.“
    Ein zufriedenes Lächeln glitt über Engelmachers rosiges Gesicht. „Sehr gut! Nicht umsonst sage ich immer: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!“ Er beugte sich interessiert vor. „Und wie steht´s mit der App? Kommst du mit ihr klar?“
    Statt zu antworten legte Marottke sein Smartphone auf den Tisch.
    „Siehst du die beiden Kürzel oben rechts? Du weißt natürlich, was sie bedeuten.“
    Engelmacher beugte sich vor. „Nein. Die seh´ ich jetzt zum ersten Mal.“
    „Dm steht für Dies mortis, und Cd für Carpe diem. Die Zahl hinter Dm gibt meinen voraussichtlichen Todestag an, und Cd die Anzahl meiner noch verbleibenden Tage.“
    Engelmacher schwieg.
    „Am Wochenende war ich zu einem Hearing im Bundesfinanzministerium“, sagte Marottke und versuchte, seiner Stimme 'Biss' zu verleihen. „Auf dem Rückflug saß neben mir ein Mann, der mir bezüglich der App die Augen öffnete.“
    „Ich verstehe nicht“, sagte Engelmacher verdutzt.
    „Das wirst du gleich. Dieser Mann erzählte mir, sein Bruder habe wegen dieser App Selbstmord begangen.“
    Engelmachers rosiges Gesicht entfärbte sich..
    „Das ist doch Unsinn!“
    Der Doktor stand auf und lief einige Schritte ziellos im Raum umher. Dann riss er die Vorzimmertür auf und rief: „Frau Meier, sagen Sie alle Termine heute Vormittag ab und schicken Sie die Patienten zu Frau Dr. Irani!“
    Er setzte sich wieder und blickte Marottke an. „Was hat der Mann erzählt?“
    „Der Mann erzählte mir, sein Bruder habe dieselbe App, kurz nachdem sie ihm implantiert worden war, wieder abgestellt. Ihn habe die Gewissheit, dass er am 19. 8. 2037 sterben werde, fast wahnsinnig gemacht. Vor vierzehn nun Tagen erhielt der Mann von der Kriminalpolizei die Aufforderung, sich um den Nachlass seines Bruders zu kümmern und die Beerdigung in Auftrag zu geben. Der Bruder hatte sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen. Als die Kriminalpolizei die App reaktivierte, zeigte sein Dm den 15. 8. 2022 an, den Tag seines Selbstmordes, seines Dies mortis. Die App hatte seinen Dm richtig berechnet und sich als Todes-App erwiesen.“
    Während Marottke berichtete, hatte Engelmacher sich immer weiter entfärbt. Noch nie hatte Marottke ihn so bleich gesehen. Auch nicht, als seine noch junge Frau bei einem Motorradunfall umd Leben gekommen war.


    Nachdem Marottke seinen Bericht beendet hatte, herrschte zunächst Stille, nur unterbrochen durch fernes Donnergrollen. Schließlich sagte der Doktor mit finsterer Miene: „Das wusste ich nicht. Von einem Todesfall war mir bisher nichts bekannt.“
    Wieder schwieg er bedrückt. Plötzlich ergriff er den Telefonhörer, wählte und sagte: „Frau Meier, verbinden Sie mich bitte mit Prof. Hausen in der Kurklinik Baden-Baden. Die Nummer steht irgendwo in der Telefonliste. Und Kaffee, bitte!“
    Er wandte sich wieder seinem Freund zu. „Und das mit Dm und Cd ist mir völlig neu.“
    Er holte das schon bekannte Kästchen hervor und entnahm ihm den Beipackzettel. „Entschuldige“, sagte er und las. „Nein“, murmelte er, „hier steht nichts von Dm und Cd.“ Er blickte Marottke zweifelnd an. „Kann es sein, dass dein Mann ein Spinner war, der dich hochnehmen wollte? Solche Leute sind nur gefährlich, wenn man sie ernst nimmt!“
    „Ein Spinner?“ Marottke lachte schwach. „Dann bin ich auch einer! Nein, wie ein Spinner wirkte er weiß Gott nicht.“
    Das Telefon schnurrte.
    Engelmacher nahm ab.
    Nach mehrmaligem Knacken ließ sich eine Stimme vernehmen. „Engelmacher hier! Frau Gnadenlos“, sagte er ungeduldig, „könnte ich bitte kurz mit Prof. Dr. Hausen sprechen? Wirklich, nur ganz kurz. Ach, er operiert gerade! Bis wann? Gut, dann versuch ich´s so gegen zwei noch mal.“ Kaum hatte er den Hörer abgelegt, da nahm er ihn wieder auf. „Frau Meier, wissen Sie zufällig noch, wie diese Firma heißt, die uns diese Gesundheitschips liefert? Wie? Chip an´ Deal in Heidelberg... Hervorragend! Sie sind ein Schatz! Dann machen Sie mir doch gleich eine Verbindung, aber dalli! Was? Natürlich habe ich Sie nicht gemeint, Verehrteste, da käme ich doch sofort in Teufels Küche! Ich meine diese Leute dort! Sagen Sie, es ist dringend!“
    Der Doktor legte den Hörer wieder zurück und rieb sich die Hände. „Das haben wir gleich! Dann wird sich zeigen, wer hier spinnt! Dein ulkiger Gewährsmann oder ich.“ Sehr überzeugt klang er nicht.
    Kurz darauf schnurrte das Telefon. Engelmacher nahm hastig ab. „Doktor Engelmacher vom städtischen Klinikum Drenhausen... Sie haben mir vor einiger Zeit etliche dieser Chips geliefert, die zu der neuen Gesundheits-App aus Amerika gehören. Kann es sein, dass... So? Ein Versehen? Ich höre!“
    Je länger Engelmacher hörte, desto blasser wurde er. Als er den Hörer wieder auflegte, war er wieder aschfahl.
    Frau Meier kam herein und stellte ein Tablett mit Kaffee, Zucker und Sahne auf den Tisch. Fast hilfesuchend blickte Engelmacher sie an und sagte: „Bestellen Sie Frau Gnadenlos einen schönen Gruß von mir. Die Angelegenheit hat sich erledigt.“
    Frau Meier sah ihn besorgt an. „Herr Doktor“, sagte sie sanft, „geht es Ihnen nicht gut?“
    „Nein... doch... mir geht´s nicht gut, mir geht es geradezu besch... Aber es wird schon wieder besser. Danke für die Nachfrage.“
    Draußen tobte sich das Gewitter aus. Dicke Regentropfen klatschen gegen die Fensterscheiben. Blitz folgt auf Blitz, Donner auf Donner.
    „Winnifried, nun red´ schon! Was hat der Mann gesagt?“
    „Später. Jetzt brauch´ ich erst mal einen Kaffee.“
    Er tat Zucker in seine Tasse und rührte geistesabwesend um. Dabei murmelte er: „Ich frage mich, wie es mir immer wieder gelingt, jährlich eine so große Anzahl von Patienten wenn nicht geheilt, so doch erheblich gebessert zu entlassen. Ich muss dir gestehen: In diesem Moment weiß ich es nicht! Möglicherweise wären sie ohne meine Hilfe sogar gesund geworden.“
    „Wenn du weiterrührst“, sagte Marottke genervt, „trennst du noch den Tassenboden raus!“
    Engelmacher hörte nicht. „Gut, es hat Rückschläge gegeben. Aber wo gibt´s die nicht? Wichtig ist doch: Es hat immer ein gutes Ende genommen.“ Ein heller Blitz, ein krachender Donner – der Schlussakkord des Gewitters.
    Erbittert hieb Engelmacher mit der Faust auf den Tisch. „Und jetzt das!“ Er trank einen großen Schluck.
    „Winnifried, was hat der Mann gesagt?“
    „Wie? Ach so, ja, natürlich...“ Der Doktor räusperte sich. „Dein Gewährsmann hat Recht, mein Freund. Die Todestagsapp existiert wirklich. Und ich habe dir einen brandgefährlichen Chip eingesetzt, ohne es zu ahnen. Diese Nachlässigkeit verzeihe ich mir nie, denn solche Fehler zerstören auf die Dauer die Vertrauensbasis zwischen Arzt und Patient.“
    „Na, na! Soweit sind wir noch nicht! Mein Vertrauen hast du nach wie vor. Wie konnte das denn überhaupt passieren?“
    „Die Vertriebsfirma in Heidelberg hat aus Versehen zu diesem Chip den Beipackzettel des Vorgängermodells eingepackt, das die Funktionen Dm und Cd noch nicht enthielt.“
    „Oha! Das ist natürlich ein dicker Hammer! Aber dann trifft dich doch gar keine Schuld! Woher konntest du wissen –“
    „O doch, mein Lieber, o doch! Auch wenn´s nur eine Teilschuld ist, so ist es doch eine Schuld! Ich hätte es wissen müssen! Ich hätte die App zumindest einmal klinisch testen müssen, bevor ich sie dir ans Herz legte. Wenn du willst, nehme ich dir das Teil wieder heraus. Kostenlos natürlich.“
    „Es sei denn, ich bin jetzt dein klinischesVersuchskaninchen.“
    „Wenn du die App weiter gebrauchen willst, könnte man es so sagen, ja.“
    „Hm... Die Sache mit dem Todesdatum ist natürlich nicht ganz ungefährlich. Obwohl – soviel habe ich schon gesehen, meiner liegt noch in weiter Ferne.“
    „Dein voraussichtlicher Todestag!“ rief Engelmacher munter.
    Mit dem Doktor geschah eine eigenartige Veränderung. Seine Wangen röteten sich, seine Augen blitzten, seine Miene entspannte sich.
    „Wie meinst du?“
    „Da hast doch in deinem Auto bestimmt diese Reichweiten-App. Hast du dich noch nie gewundert, dass die Reichweite zugenommen hat, obwohl du schon eine Ganze Weile gefahren bist? Und bist du da vielleicht schon mal auf die Idee gekommen – im Scherz natürlich –: wenn es so weiter geht, komme ich mit vollem Tank zuhause an? Na?“
    „Nein, denn die Erklärung ist einfach. Die Berechnung bezieht den vorherigen Benzinverbrauch mit ein. Wenn ich also jetzt langsamer fahre und weniger Sprit verbrauche –“ M. blickte den Doktor verblüfft an – „du meinst?“
    „Genau das meine ich! Die App berechnet deinen Todestag auf Basis deiner bisherigen Lebensweise. Anders geht´s auch gar nicht. Zwar steht geschrieben, dass jedem sein letztes Stündlein schlägt, aber wann, das steht nirgendwo, und auch nicht, dass man nicht daran drehen kann. Wenn du also, sagen wir, dich aufraffst und dein Leben änderst, könnte sich dein Todestag weiter in die Zukunft verschieben.“
    „Hmm... Ein verlockender Gedanke!“
    „Eine Vision, mein Lieber, eine gewaltige Vision! Stell dir vor! Du könntest für eine gewisse Zeit unsterblich werden!“
    Engelmacher war wie elektrisiert aufgesprungen und lief gestikulierend im Zimmer herum. „Ein alter Menschheitstraum geht in Erfüllung! Das ewige Leben rückt in greifbare Nähe! Ewige Jugend! Unsterblichkeit! Alle Religionen versprechen sie, keine kann sie garantieren... Es wäre ein gewaltiges Experiment, ein noch nie da gewesener Versuch, und wenn er gelingt, hättest du zumindest etwas erreicht, was bisher für unmöglich galt: Du würdest nicht älter! Wir wären... äh... du wärst schlagartig berühmt!“
    „Darauf pfeife ich. Und außerdem, ich wäre doch nicht wirklich unsterblich! Höchstens für ein paar Wochen oder Monate! Denn irgendwann ist der Tank doch leer! Also, wo ist da der sittliche Nährwert?“
    „O ihr Kleingeister und Erbsenzähler! Da bietet sich eine Wahnsinnsmöglichkeit, und schon ihr kneift den Schwanz ein. `tschudige, war nicht so gemeint.“ Engelmacher blieb vor Marottke stehen und blickte ihn beschwörend an. „Was macht das schon!“ Er senkte seine Stimme. „Es geht doch hier nicht nur um dich. Hier geht es um höhere Ziele. Sieh´s doch mal so: Wenn es dir gelänge, auch nur vierzehn Tage nicht älter zu werden, könntest du der Menschheit einen großen Dienst erweisen. Du könntest sagen: Leute, wovor habt ihr Angst? Altwerden und Sterben sind keine zwingenden Naturgesetze!“
    „Und wie soll das gehen?“
    „Du musst nur erreichen, dass sich dein Dm für jeden vergangenen Tag um einen Tag weiter vorschiebt.“
    „Nur ist gut!“ rief Marottke zaghaft.
    „Du musst alles, was dich belastet, über Bord werfen und dich neu aufstellen. Vor allen dingen in puncto Ernährung.“ Der Doktor beugte sich vertraulich zu Marottke herab. „Es ist doch ein alter Hut“, sagte er, und in seinen Augen lag ein eigenartiger Glanz, „schon Eva im Paradies zum Beispiel wusste schon, wie lebensverlängernd fleischlose Ernährung sein kann. Oder warum, glaubst du, reichte sie Adam den Apfel?“ Er lachte dröhnend.
    „Und nervige Verwandtschaft war auch nicht da!“
    „Du sagst es!“
    Marottke dachte eine Weile nach, und Engelmacher schwieg erwartungsvoll.
    „Das wird aber nicht so leicht sein!“
    „Papperlapapp! Natürlich wird es nicht leicht sein!“ Engelmacher blickte Marottke an, als wollte er ihn hypnotisieren. Seine hohe Stirn wetterleuchtete im Licht des späten Vormittags. „Neuland ist nie leicht! Natürlich ist dieses Experiment nichts für Weicheier! Aber du bist ein fester Mann mit Grundsätzen! Wenn´s einer schafft, dann du!“
    „Hm... Nun ja... Du vergisst den Todesfall! Das sieht mir nicht gerade nach ewigem Leben aus.“
    „Ach was! Hör auf mit diesen kleinlichen Bedenken!“
    Der Doktor machte eine Armbewegung, als wollte er eine Fliege in der Luft erschlagen. „Ja wenn einer ständig auf sein Todesdatum starrt und von Natur aus labil ist und sich nicht in der Gewalt hat! Vielleicht war der Mann ja depressiv oder in einer schweren Lebenskrise... Gut, ich will nicht abstreiten, dass das Experiment gewisse Gefahren in sich birgt. Die seelische Belastung könnte zuweilen zum Problem werden... Aber, mein Lieber, ich bin doch bei dir! Mithilfe der App könnte ich dich Tag und Nacht begleiten, rund um die Uhr, an Wochentagen, Sonntagen, Feiertagen! Sogar aus dem Urlaub heraus!“ Er blickte Marottke beschwörend an. „Also, was zögerst du noch! Greif zu, eh´s ein anderer tut!“
    „Das geht mir alles zu schnell! Winnifried, gib mir etwas Bedenkzeit.“
    Engelmacher setzte sich und schnaufte resigniert.
    „Aber natürlich gebe ich dir Bedenkzeit, mein lieber Wolf, wir wollen bei einer so bedeutenden Unternehmung doch nichts übers Knie brechen!“
    Er erhob sich.
    „Also überleg´ es dir gut. Und wenn du mit dir im Reinen bist, meldest du dich. Aber warte nicht zu lange.“

    Forts. folgt

    4 Mal editiert, zuletzt von wunderkind (17. Februar 2019 um 12:52)

  • 3

    Auch ohne Arzt war Marottke klar, worin die Verschlechterung seines Cd in den nächsten Tagen und Wochen begründet war. Die Auseinandersetzungen mit Martha hatten an Schärfe zugenommen und stürzten ihn in eine tiefe Niedergeschlagenheit. Er sehnte sich nach Ruhe und klaren Verhältnissen.
    Wenn ich wenigstens diese Baustelle abschließen könnte, dachte er verzweifelt, die Bank belastet mich schon genug.
    Es war so: Er hatte einige Verfahren wegen fehlerhafter Anlageberatungen am Hals. Die Anleger wollten ihr Geld zurück, und er bekam mächtig Druck von oben. Da spielte die Tatsache, dass das Ansehen von Anlageberatern laut einer Forsa-Umfrage unter das von katholischen Priestern gerutscht war, kaum mehr eine Rolle. Trotzdem belastete ihn dieser Ansehensverlust noch zusätzlich.
    In der Küche würgte er lustlos ein Frühstück herunter.
    Mein Dm heute morgen war ein Warnschuss, dachte er. Schon wieder zwei Tage weniger! Und feststellen zu müssen, dass die Zeit von beiden Seiten an der eigenen Lebenserwartung nagt, ist schon eine harte Nummer! Ich darf nicht an nächsten Sonntag denken! (Um sich nicht unnötig aufzuregen, las er seine Daten nur noch einmal in der Woche ab).
    Durch das halb geöffnete Fenster drang Gelächter. Er blickte hinaus. Die jungen Leute von nebenan. Die Frau, noch sehr jung und mit einem Mund flammend wie Klatschmohn, das Gesicht umrahmt von zerzausten schwarzen Haarsträhnen, blickt lachend in die Augen ihres Freundes, eines langen Menschen mit himmelblauen Augen, der sie untergehakt und in die Wohnung zu führt.
    Marottke beging jetzt einen schweren Fehler, der seine bürgerliche Existenz weiter aufs Spiel setzte. Um die traurigen Erinnerungen an verflossenes Eheglück zu verscheuchen, braute er sich einen besonders starken Bohnenkaffee und stürzte, kaum dass die Kaffeemaschine den letzten Röchler ausgehaucht hatte, zwei Tassen hinunter. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: Neben einer gewissen nebelhaften Sorglosigkeit waren nach kurzer Zeit auch die Ohrgeräusche wieder da, nur stärker als je zuvor. In seinem linken Ohr schnirgelte und kreischte es wie in einer Schreinerwerkstatt, und sogar im rechten war keine Ruhe mehr.
    Doch seltsam: Die befürchtete Angstattacke blieb aus. Das Coffein tat seine euphorisierende Wirkung. Zuversicht keimte auf. Ich werde mit Martha reden, dachte er nach der dritten Tasse, es gibt immer einen Ausweg!
    Kurzentschlossen ging er in sein Arbeitszimmer und rief bei Tätgens an. Heinrich kam an den Apparat. Er klang überrascht, geradezu freudig. „Wolf! Du? Schön, dass du mal anrufst!“
    Marottke fand, wie viele Menschen, wenn sie mit sich ringen, zunächst nicht die richtigen Worte. Außerdem störte ihn das Geschwätz im anderen Ohr. „Ich würde gerne... Ließe es sich einrichten...“ Ärgerlich über den Mangel an Bestimmtheit sagte er: „Ist Martha da? Ich würde gerne mit ihr sprechen. Am besten noch heute!“
    Stille. Dann sagte Heinrich: „Warte!“
    Das leise Pochen von Heinrichs Stock – ein Reitunfall hatte ihm ein gebrochenes Bein beschert – entfernte sich und hörte plötzlich ganz auf: Heinrich hatte den Teppich im 'Salon' erreicht. Marottke hörte, wie sein Schwiegervater „Martha!“ rief. Nach einiger Zeit kam das Pochen wieder, und Heinrich sagte: „Martha ist einverstanden. Sie schlägt halb acht vor.“


    Heinrich empfing ihn an der Tür, schwer auf seinen Stock gestützt, gefolgt von den Hunden, die Marottkes Hosenbeine beschnüffelten. Er war sichtlich gealtert.
    „Martha ist im Salon“, sagte er laut. Dann leiser, flüsternd: „Schimmelpfeng ist auch da!“ Marottke verstand das Geraune kaum. Dr. Ralf Schimmelpfeng war Marthas Rechtsbeistand. Einen Mediator hatte sie entschieden abgelehnt. Begründung: Hier gibt es nichts mehr zu vermitteln.
    Martha stand, als er den 'Salon' betrat, in einer Fensternische und blickte nach draußen. Ihre Figur war immer noch atemberaubend.
    „Guten Abend, Martha. Danke, dass du für mich Zeit hast!“
    Martha drehte sich um und kam ein paar Schritte auf ihn zu. „Guten Abend, Wolf“ sagte sie und streckte die Hand aus. Aber nicht, um sie ihm zu reichen, sondern um anzudeuten: Nimm bitte Platz!
    Vom Kamin löste sich eine Gestalt, die jetzt auf ihn zukam, ihm die Hand gab und sich dabei lakaienhaft verbeugte: Der Rechtsanwalt. Auf einen Wink Marthas hin verzog er sich wieder auf seine Warteposition.
    Heinrich sagte: „Ich lass´ euch dann mal allein!“, und humpelte davon.
    Martha setzte sich und blickte ihren Marottke erwartungsvoll an. Um ihre großen Augen mit den getönten Wimpern lag ein Kranz feiner Fältchen. Auch sie sieht älter aus, dachte er schadenfroh, da hilft die ganze Pinselei nichts. Er sagte: „Martha, ich bin gekommen, um diese unschöne Angelegenheit zu einem Abschluss zu bringen.“ Er wollte noch sagen: Diese Ungewissheit halte ich nicht mehr lange aus, merkte aber noch rechtzeitig, dass dies ein taktischer Fehler gewesen wäre.
    Sie hob erstaunt die Augenbrauen. „Mit so viel Entschlusskraft habe gar nicht nicht gerechnet.“
    Da war wieder dieser ironische Unterton, den er so hasste.
    Martha schwieg, und Marottke fuhr fort: „Da ich von dir noch kein Signal der Verständigung erhalten habe, dachte ich mir: Einer muss ja mal den Anfang machen. Wir sind doch vernünftige Leute. Diese Missverständnisse beruhen doch im Grunde nur auf Lappalien.“
    „Lappalien?“ rief Martha mit scharfer Stimme und legte die beine übereinander. „Da machst du es dir aber sehr einfach, mein Lieber!“
    Marottke betrachtete bestürzt ihre Waden, die sich verführerisch wölbten. Früher, in der guten alten Zeit, da hatten ihn diese Waden manchmal rasend vor Verlangen gemacht. Doch jetzt empfand er nichts mehr, wie ihm auch dieser überladene 'Salon' mit all dem Kitsch und Krempel, den ihm einst als Inbegriff großbürgerlicher Wohnkultur vorgekommen war, nichts mehr sagte.
    „In den letzte Tagen habe ich mir alles gut überlegt.“
    Er bemühte sich, seiner Stimme einen möglichst sachlichen Ton zu verleihen. „Schon seit einiger Zeit weiß ich, dass mir meine jetzige Lebensweise nicht gut bekommt. Meine Gesundheit ist angeschlagen, und ich bin fest entschlossen, mein Leben neu zu strukturieren. Vielleicht lässt sich ja auf dieser Basis für uns beide ein Neuanfang finden.“
    Er verstummte. Im Spiegelbild der Fensterscheibe sah er Schimmelpfeng heftig mit dem Kopf nicken.
    Marottke begann von neuem. „Ich habe mir folgendes überlegt. Was hältst du von folgendem Vorschlag: Du ziehst wieder in unser Haus ein, zu Monika und dem Kind, und ich miete mir in gehöriger Entfernung für ein halbes Jahr oder länger eine Wohnung – das wäre sozusagen die Standartlösung. Denn mit meiner Wohnung in Baden-Baden wird es so schnell nichts. Der Mieter stellt sich quer und will nicht ausziehen. Alles weitere wird sich dann ergeben. Was hältst du davon?“
    Das Spiegelbild schüttelte den Kopf.
    In Marthas Gesicht war nicht die geringste Bewegung zu erkennen. Sie beugte sich vor und nahm eine Zigarette.
    „Darf ich?“, fragte sie, ohne auf eine Antwort zu warten. Ihre Finger zitterten leicht. Sie ist unsicher, dachte Marottke. Vielleicht ist sie ja innerlich doch nicht der Eisklotz, den sie nach außen hin spielt.
    Dr. Schimmelpfeng löste sich vom Kaminsims und sprang diensteifrig herbei, um Feuer zu geben. Martha nickte gnädig mit dem Kopf, nahm eine Lunge voll, lehnte sich affektiert zurück und stieß den Rauch mit schiefem Mund schräg nach der Seite aus. In dieser Pose wirkte sie so arrogant wie ein kauendes Dromedar, das den hundertsten Namen Allahs kennt.
    „Das kommt etwas überraschend“, sagte sie und nahm die Beine voneinander, um aufzustehen, „du erlaubst, dass ich mich mit Dr. Schimmelpfeng berate.“
    „Warum so geheimnisvoll!“ rief Marottke, „bitte den Herrn doch an den Tisch! Oder gibt es da etwas, das ich nicht wissen darf?“
    „Sicherlich nicht“, sagte der Rechtsbeistand und kam näher.
    „Sie haben da einen Vorschlag gemacht, der in dieser Situation nicht der schlechteste ist.“
    Er setzte sich und lächelte nachsichtig.
    „Wie Sie richtig sagten: Die Standartlösung. Doch nicht immer führt ein solches Arrangement zum gewünschten Erfolg.“ Seine Stimme war weich, für Marottkes Ohren etwas zu weich. Er empfand sofort Abneigung gegen den Mann. „Und da sind noch einige Dinge zu klären, die nicht ganz einfach sind.“
    Marottke blickte ihn an und entdeckte in seinen Augen eine Tendenz zum Schielen. „Als da wären?“
    „Hm... Nun ja...“
    „Lass mich mal“, unterbrach Martha Schimmelpfengs Gestammel und belegte ihn mit einem vernichtenden Blick. „Mein Herr Rechtsbeistand will dich darauf aufmerksam machen, dass du noch nicht gefragt hast, was ich von diesem Vorschlag halte.“
    „Und was hältst du davon?“
    „Nichts!“
    Warum ist es so schwierig, dachte Marottke betrübt, dass man sich in schwierigen Situationen noch nicht einmal mit seiner Frau verständigen kann?
    „Und warum nicht? Ist es die Anspielung auf den Reitlehrer? Mein Gott, Martha, das sollte doch nur ein Witz sein!“
    Martha sah ihn belustigt an und stieß einen Rauchkringel aus. „Ein Witz! Und ich hatte mir schon eingebildet, dass du einer so finanzmarktfernen Regung wie Witze machen gar nicht fähig warst!“
    „Martha, bitte, werd´ nicht zynisch! Wenn du ehrlich bist, musst du zugeben, damals warst du etwas zu häufig auf dem Tattersall! Manchmal dachte ich, noch ein bisschen, und sie bringt ihren Hengst zum Tee mit!“
    Martha parierte diesen Hieb mit großer Selbstbeherrschung. „Nun werd´ mal nicht albern! Dann hätte ich doch wohl eher den Reitlehrer mitgebracht!“
    Der Rechtsanwalt hatte sich anscheinend von der verbalen Backpfeife erholt und sagte: „Ihre Gattin wünscht die Scheidung.“
    „Ach daher weht der Wind! Deshalb warst du so schnell zu einem Gespräch bereit! Ich hab´ mich schon gewundert.“
    „Red´ kein Dummdeutsch!“, giftete Martha. „Du hast gehört, was er gesagt hat. Bist du einverstanden?“
    „Auch recht“, sagte Marottke prompt. Er wusste selbst nicht, warum er das sagte. Vielleicht war der Grund ja Marthas arrogantes Gehabe. Doch jetzt musste der einmel eingeschlagene Weg beibehalten werden.
    Schimmelpfeng sah Martha an, Martha sah Schimmelpfeng an. Das ging wohl etwas zu glatt.
    „Sie wissen, was Sie da sagen?“
    „Herr!“, brauste Marottke auf, „halten Sie mich für einen Idioten?“
    Eine Seitentür ging auf. Das Hausmädchen. „Wünschen Herrschaften Getränke?“
    Unwirsch winkte Martha sie hinaus.
    „Verstehe ich dich richtig –“
    „Wie du und deine Rechtsmatratze mich verstehen“, blaffte Marottke kochend vor Wut darüber, dass er sich hatte überrumpeln lassen, „ist mir völlig schnuppe.“ In seinem linken Ohr tobte es. An eine Rückkehr zu Tisch und Bett war also nicht mehr zu denken. Er beschloss, Martha aus der Liste der Menschen, die ihm noch etwas bedeuteten, zu streichen. „Deine ganze bürgerliche Wohlanständigkeit hier geht mir am Arsch vorbei!“ rief er außer sich. „Du und deine Muschpoke, ihr spielt doch von früh bis spät nur Komödie. Heinrich, mein teurer Schwiegervater, ein Bordellbesitzer, spielt den biederen Geschäftsmann, hahaha, Mathilde zieht ihm nach Feierabend die Lederhosen stramm, und du treibst es mit dem Reitlehrer! Lass mich ausreden!“ brüllte er, als Martha dazwischenfahren wollte, „ich bin noch nicht fertig! Nach außen hin ganz groß, aber in Wirklichkeit scheißt ihr doch allesamt ganz kleine Haufen!“
    Martha und ihrer 'Rechtsmatratze' verschlug es vor Verblüffung über diese Ungeheuerlichkeiten die Sprache, sodass Marottke ungestört weiterpöbeln konnte. „Aber ihr werdet euch noch wundern, ihr... ihr!“ Er schnappte nach Luft. „Ja, jetzt habt ihr noch Oberwasser! Aber nicht mehr lange! Dann bin ich der Mauscheloberst! Dann seid ihr alt und krumm, und ich werde dann immer noch ein fester Mann sein! Ja, grins du nur! Du wirst dich noch wundern, meine Teuerste! Ich stehe nämlich am Anfang eines völlig neuartigen Experiments, und dabei würdest du mich sowieso nur stören!“
    Ihm fielen die Worte Engelmachers wieder ein: Wenn du dein Leben änderst, kannst du deinen Todestag weiter in die Zukunft verlegen, und diese Aussicht spornte ihn zu immer kühneren Behauptungen an.
    „Wenn es gelingt, werde ich nicht nur weltberühmt, sondern für einige Zeit sogar unsterblich sein! Ich werde beweisen, dass Unsterblichkeit kein leerer Wahn ist! Ich werde alle Philosophen, Heilsverkünder, Seelenmasseure auf die hinteren Plätze verweisen! Ja, Martha, da staunst du, was? Dein kleiner Held ist immer für eine Überraschung gut!“ Er schwieg erschöpft.
    Martha hatte ihren Mann in den letzten Minuten unverwandt angesehen, in ihren Mundwinkeln zuckte es.
    „Du bist ja wahnsinnig!“
    Dann brach es los. Die Hunde sprangen von ihrem Lager beim Kamin auf und verkrochen sich winselnd unter einem der vielen Sofas. Martha lachte, lachte, lachte, und dem Dr. Schimmelpfeng schien es, als sei nicht nur der Mann, sondern jetzt auch noch die Frau wahnsinnig geworden. Es half auch nichts, dass er begütigend die Hand hob und Martha etwas zurief. Der Erfolg war lediglich, dass sie jetzt auch ihm zudrehte und ihn auslachte, mit der ganzen Verachtung einem Manne gegenüber, der sich hinterhältig in ihre erotischen Bezirke eingeschlichen hatte, obwohl seine Fähigkeiten auf diesem Gebiet mehr als dürftig waren, und der darüber hinaus noch nicht einmal besonders gut aussah.
    Marottke sprang auf, raffte Mantel und Mütze zusammen und stürzte aus dem Haus. Der Kobold in seinem Ohr war außer Rand und Band.


    4


    Zu Hause kippte er, noch in Mantel und Mütze, erst einmal einen ordentlichen Kognak. Dann legte er ab und rief Dr. Engelmacher in seiner Privatwohnung an. Das Gespräch mit seiner Frau hatte ihn tief verstört. Besonders ihr höhnisches Gelächter brannte wie einen offenen Wunde, in die Salz geraten war. Er brauchte jetzt einen Menschen, mit dem er reden konnte.
    Frau Engelmacher war am Telefon. Als sie seinen Namen hörte, sagte sie sofort: „Einen Augenblick bitte“, und kurz darauf meldete sich ihr Mann.
    Durch die gefäßerweiternde Wirkung des Alkohols ließen die Geräusche etwas nach, und Marottke konnte freier reden. Er entschuldigte sich für den späten Anruf und kam gleich zur Sache. Er schilderte kurz das Gespräch mit Martha, und dass er befürchte, auch das bisschen Porzellan, das noch heil geblieben war, zerschlagen zu haben. „Außerdem“, sagte er, „jetzt hält sie mich für wahnsinnig.“ Er habe ihr nämlich in einer unbedachten Minute von dem Experiment erzählt.
    „Das war natürlich dumm“, sagte der Doktor nach einer Weile. „Man redet nicht über ungelegte Eier!“ Er räusperte sich. „Aber deshalb hast du doch bei mir nicht angerufen.“
    „Natürlich nicht.“
    „Also, worum geht´s?“
    „Winnifried, ich schaff´s nicht.“
    „Was schaffst du nicht?“
    „Das Unsterblichkeitsexperiment.“
    „Gut! In einer halben Stunde bin ich mit meinem kleinen Sektionsbesteck bei dir und nehme dir den Chip wieder heraus!“
    „Nein, nein, so mein ich´s nicht.“
    „Wie meinst du´s denn?“
    „Ich weiß immer weniger, wie ich´s anstellen soll. In der letzten Woche ist mein Dm um zwei Tage vorgerückt. Wenn das so weitergeht, hat mich mein letztes Stündlein bald ereilt... Trotz Gesundheitswächter! Und mein Ohrensausen hat wieder zugenommen. Ich liege die halbe Nacht wach und zähle Schafe... Mit achtundvierzig fühle ich mich schon reif für die Insel... Glaubst du denn, ich könnte mich unter diesen Umständen mit dem Unsterblichkeitsprojekt befassen? Jetzt, wo meine Lebenszeit anscheinend rasant abnimmt? Und bei dem ganzen Ärger, den ich gegenwärtig habe? Kannst du mir nicht ´ne Kur verschreiben? Irgendwohin, wo mich niemand findet?“
    „Den Teufel werd´ ich tun. Du und Kur! Und nach der Kur ist dann wieder vor der Kur, wie? Nein, nein, mein Lieber, diesen Gedanken schmink´ dir mal ab! Willst du nun unsterblich werden, oder nicht? Wenn du damit schon angibst, dann musst du´s auch durchstehen. Du willst es deiner Frau doch beweisen! Na also! Dann zeig mal, dass du Mumm in den Knochen hast! “
    „Ja schon... Aber...“
    „Nichts aber! Überleg´ doch mal nüchtern. Wie sieht dein Leben denn jetzt aus. Du verrichtest Kärrnerdienste bei der Bank, schlägst dich mit deiner Frau herum, ärgerst dich, dass deine Tochter den Namen ihres Kindsvaters nicht weiß, und von dem, was Heinrich mit dir anstellt, ganz zu schweigen. Interessiert mich auch nicht. Und was hast du davon? Du musst dir von deiner reichen Frau noch sagen lasse: 'Für dein Gehalt würde mein Vater beim Pfurzen noch nicht einmal den Hintern heben?' Oder hab´ ich mich da verhört?“
    Engelmacher erwartete nicht wirklich eine Antwort, deshalb redete er unverdrossen weiter.
    „Nehmen wir doch einmal an, dir würde es gelingen, für eine bestimmte Zeit so zu leben, dass die Anzahl deiner Tage für einen längeren Zeitraum nicht abnimmt. Muss ja nicht für ewig sein, hahaha! Aber du hättest etwas erreicht, was noch keinem Sterblichen gelungen ist! Wie oft muss ich das denn noch sagen! Ja Herrgottnochmal, siehst du denn nicht, welches finanzielle Potential dahinter steckt? Du könntest dich als Guru verkaufen, eine neue Sekte, ach was sag´ ich, du könntest eine Kirche gründen! Die 'Neue Unsterblichkeitskirche' oder so. Milliarden von Menschen auf dieser Erde haben Angst vorm Sterben! Und du könntest ihnen die Angst – zumindest zeitweise – nehmen.“
    „Aber erlaube mal! Ich wäre dann doch noch nicht wirklich unsterblich! Und an Betrug –“
    „Wer spricht denn hier von Betrug. Nun bleib´ mal auf dem Teppich. Die Menschen wollen Visionen, Versprechungen, Verheißungen, keine Fakten. Verheißungen sind kein Betrug, denn du garantierst ja nichts. Oder glaubst du wirklich, dass es im Himmel noch garantiert zweiundsiebzig Jungfrauen gibt, nach der Anzahl der Selbstmordattentäter, die bereits oben sind? Ich auch nicht. Und trotzdem glauben viele immer noch daran. Also, wo ist das Problem? Du deutest an, du stellst in Aussicht, du erwägst die Möglichkeit, du erweckst Hoffnungen – mit dieser Methode kannst du viel Geld verdienen! Das müsstest du als ehemaliger Anlageberater besser wissen als ich.“
    „Hör bloß auf! Hm... Wenn ich dich so anhöre, dann könnte ich fast selbst daran glauben... Aber andererseits... Als Guru oder sogar als Kirchengründer kann ich mich nur schlecht vorstellen. Von Menschen hab ich mittlerweile die Nase gestrichen voll!“
    „Na gut, dann schreibst du eben ein Buch. Als Titel könnte ich mir vorstellen: 'Wie ich unsterblich wurde' oder 'Anleitungen zur Unsterblichkeit'. Den Text stellst du als E-Book ins Internet und verlangst einen Euro Schutzgebühr. Du wirst sehen, in kurzer Zeit bist du Millionär!“
    „Das wäre tatsächlich eine Möglichkeit! Aber ich weiß immer noch nicht, wie ich´s anstellen soll.“
    „Wolf, das habe ich dir doch schon gesagt! Ändere dein Leben von Grund auf! Wirf Ballast ab, vermeide alles, was dir den Schlaf raubt, schaff dir einen Hund an, lerne Klavierspielen, zeichne in der freien Natur windgeformte Bäume... Und vor allem: Lass dich von deiner reichen Verwandtschaft nicht ins Boxhorn jagen! Versuche einfach, noch reicher zu werden als die! Du wirst sehen, dann gibt auch dein Ohr Ruhe, und es wird dir wieder besser gehen. Wir sollten die Gelegenheit, die uns die App bietet, nicht ungenutzt lassen. Und ich sage noch einmal: Wenn es einer schafft, dann bist du es!“
    5


    Marottke saß an seinem Schreibtisch. Vor ihm der Entwurf der Steuererkärung, die ihm sein Steuerberater zugeschickt hatte. Doch das Denken fiel ihm zunehmend schwerer; er merkte: Heute ist nicht mein Tag. Wahrscheinlich lag´s wieder mal am Wetter, denn draußen prasselten schwere Regenschauer auf das Garagendach.
    Um seinen Augen etwas Entspannung zu gönnen, blickte er aus dem Fenster. Das Wasser lief in schmalen Bächen die Scheiben herunter, im Fallrohr an der Hausecke gluckerte es geschäftig.
    An einer Fensterscheibe entdeckte er vor dem matten Tageslicht einen schwarzen Punkt, der eben noch nicht da war.
    Marottke wendete sich wieder seinen Unterlagen zu, doch irgendetwas zwingt ihn, wieder auf den Fleck zu starren. Doch jetzt sind es bereits zwei – nein drei, und der dritte Fleck bewegt sich.
    Verwundert steht er auf und geht ans Fenster. Mit Erstaunen stellt er fest: Es sind Fliegen, dicke, schwarze, eklige Fliegen, und auf eine unerklärliche Weise werden es immer mehr. Jetzt sind es schon fünf, sechs, sieben – er gewinnt den Eindruck, dass sich ihre Anzahl bei jedem Lidschlag vermehrte. Jetzt kriechen schon mehr als ein Dutzend an der Scheibe herum.
    Es darf nicht wahr sein, denkt er belustigt, aber ich erlebe gerade eine Invasion von Winterfliegen!
    Mit den Augen sucht er sorgfältig die Fensternische nach einem Spalt oder einer Ritze ab. Doch er kann nichts dergleichen finden. Aber irgendwoher müssen sie doch kommen! Er tritt einen Schritt zurück und blickt reglos auf die Stelle, wo sich die Tapete leicht vom Fensterrahmen gelöst hat. Nichts. Gerade diese Stelle ist fliegenfrei. Nur eines ist sicher: Es sind schon wieder mehr geworden. Wo sie herkommen bleibt ihr Geheimnis.
    Anscheinend haben einige dieser seltsamen Tiere ihn jetzt bemerkt, denn sie fliegen auf und umschwirren seinen Kopf. Ihr Flug wirkt eigenartig unsicher und ist bis auf ein leises kraftloses Brummen fast geräuschlos. Nichts ist mehr übrig von dem kühnen Schwung ihrer Rasse, die sich sommertags todesmutig in jeden schwarzen Schatten stürzt. Es hört sich an, als seien sie zu Tode erschöpft. Und schon liegen einige sterbend auf dem Fensterbrett. Ihre Hinterleiber sind durchsichtig wie Pergament, die Flügel zerbrechlich wie Glas. Marottke zerdrückt eine der bewegungslos Daliegenden mit dem Zeigefinger. Übrig bleibt eine platte Hülle ohne Inhalt und Feuchtigkeit, es sieht aus, als sei sie vollständig leer gewesen.


    Verblüfft setzt er sich wieder an seinen Schreibtisch. Eine eigenartige Erregung ergreift ihn. Er hat das Gefühl, gerade etwas Entscheidendes beobachtet zu haben, etwas, das ihn seinem Ziel näher bringen könnte. Er legt den Kopf in die Hände und denkt nach.
    Winterfliegen.
    Wie schaffen es diese jämmerlichen Kreaturen, den Winter zu überstehen?
    So viel weiß er noch: Eine normale Stubenfliege lebt etwa vierzehn Tage. Dann hat sie bereits reichlich für Nachkommenschaft gesorgt und tritt ab. Diese hier leben nun schon seit acht Wochen und länger. Was befähigt sie dazu, murmelt er laut, ihre Lebenserwartung so weit auszudehnen und dem Frost zu trotzen?
    Nachdenklich klickt er durch´s Fenster auf einen hellen Streifen über der Föhrenreihe hinter seinem Haus. Das Regenband zieht ab. Eine der Kassettenscheiben ist jetzt schwarz von Fliegen.
    Eine Idee nistet sich in seinem Hirn ein, aber er traut ihr noch nicht. Aufgeregt tippte er einige Suchwörter in seinen PC ein und surfte eine Weile herum. Schließlich findet er, was er sucht, zieht einen Schreibblock heran und notiert:


    Durchschnittliche Lebensdauer einiger Vogelarten (Jahre):
    Kaiserpinguin 20
    Kanadagans 20 – 24
    Zwergpinguin 6


    Durchschnittliche Lebenserwartung (Jahre):
    Island 79,5
    Deutschland 77,7
    Nigeria 48,8
    Sierra Leone 43,8


    Na bitte! ruft er vergnügt, dacht´ ich mir´s doch! Die Kälte ist´s, die das Leben verlängert! Kaiserpinguin und Kanadagans leben in der Arktis, der Zwergpinguin hingegen lebt in den Tropen!
    Natürlich weiß er auch, dass die Lebenserwartung beim Menschen nur wenig mit dem Klima zu tun hat. Wichtiger sind Kindersterblichkeit, ärztliche Versorgung, Ernährung und pipapo. Aber die Zahlen passen in sein Denkschema, und die Tendenz stimmt. Also denkt er nicht weiter darüber nach. Und wissenschaftliche Redlichkeit ist das Letzte, was ihn jetzt interessiert.
    Er gibt das Suchwort: 'Langlebige Menschen' ein und erfährt, dass die ältesten Männer Europas unter den Mönchen eines griechischen Felsenklosters zu finden seien. Angeblich ernährten sie sich ausschließlich von Oliven, Rotwein und etwas Weißbrot.
    Wie´s der Zufall will, liest er zwei Tage später in der Zeitung:


    Die Lebenserwartung in Deutschland steigt langsamer als in anderen
    EU-Staaten und ist deutlich kürzer als etwas in Spanien oder Italien...
    Eine Rolle spielen demzufolge beeinflussbare Risiken wie Alkohol,
    Rauchen und Fettleibigkeit. Gleichzeitig gibt Deutschland besonders
    viel Geld für Gesundheit aus...


    Er hat genug erfahren und ruft eine Klimakarte von Deutschland auf. Natürlich wäre die Zugspitze der beste Ort, ein Leben in Kälte zu verbringen, wenn man nicht ins Ausland gehen will und sparsam heizt. Doch kann man da überhaupt dauerhaft wohnen? Und spazieren gehen? Wohl weniger. Er hat nämlich gelernt, dass ihm die Unternehmungen mit Karl dem Großen, seinem Hund, sehr gut tun. Vor ein paar Tagen ist er mit ihm um die Wette gerannt, bis er Seitenstiche bekam, aber hinterher fühlte er sich wie neu geboren.
    Der Oberharz. Klimatisch gut geeignet, aber er will einen Kompromiss zwischen Lebenserwartung und Lebensgefühl finden. Diese düsteren Fichtenwälder mag er nicht, die schlagen ihm aufs Gemüt, und dann dieses Waldsterben, überall kahle Stämme und totes Holz – überall Tod und Verderben, und gerade dem Tod will er ja entkommen! Nein, das ist´s auch nicht wirklich.
    Wie wär´s denn mit Nordfriesland?, überlegt er. Gilt doch landläufig als nicht besonders warme Gegend! Sogar im Hochsommer laufen sie dort mit blau gefrorenen Nasen im Friesennerz herum. Und sollte es mal warm werden, ist die Freude nach höchstens drei Tagen wieder vorbei, und das Wetter wieder nebelfeucht. So wurde ihm jedenfalls berichtet. Aber wenn die Sonne scheint, so wurde ihm von anderer Seite auch berichtet, soll es dort fantastisch sein. Ein weites Land unter einem grandiosen Himmel, strahlend hell und so grün, dass selbst die Luft grün schimmert. Und freundliche Einwohner soll es dort geben, und Kinder, die ältere Leute und sogar Fremde grüßen!
    Er schaut sich die Klimadaten von Husum an uns ist begeistert. Da ist kein wirklich eisiger, aber auch kein wirklich warmer Monat zu finden. Genau das richtige für eine kalte Existenz! Und das Ernährungsproblem, nun ja, das ist seine geringste Sorge!
    Gleich Morgen, beschließt er, wird er einen Immobilienmakler in Husum beauftragen, nach einem geeigneten Mietobjekt für ihn zu suchen. Möglichst mit kalten Bodenfliesen und undichten Fenstern.
    Leider übersieht er, dass Klima und Wetter zwei unterschiedliche Hüte sind.


    wird fortgesetzt

  • Hey @wunderkind

    Spoiler anzeigen


    Ich habe jetzt erst mal nur Kapitel 1 und 2 gelesen. Mir gefällt dein Schreibstil wirklich sehr. Es lässt sich alles sehr flüssig lesen und es macht Spaß, dir zu folgen. Dieser Doktor ist der Knüller. Den hast du wirklich super charakterisiert. :thumbsup: Und die Idee mit dieser App ist äußerst interessant...bin mal gespannt, was für eine Wendung das Ganze nehmen wird. Irgendwie habe ich schon so eine dunkle Vorahnung, aber ich lasse mich mal überraschen.

    Den Rest lese ich später...

    LG,
    Rainbow

  • Zweiter Teil

    1
    Endlich unsterblich!


    Marottke schlug die Augen auf. Durch das Fenster drang heller Sonnenschein, ein frisches Lüftchen bauschte die Vorhänge.
    Er blieb noch eine Weile liegen und betrachtete einen hellen Fleck, den ein Sonnenstrahl auf die Tapete zauberte. Fast unmerklich bewegte sich das blendende Quadrat und wurde allmählich zur Raute.
    Vom Turm der nahen Marktkirche wehte zitternd der Stundenschlag herein. Eins – zwei – drei – vier... zehn. Zehn Uhr. Sollte er? Oder lieber doch noch nicht?
    Das späte Aufstehen war keine Faulheit, sondern Kalkül. Vor langer Zeit – nein, vor etwas mehr als einem halben Jahr, aber das war noch in seinem ehemaligen Leben gewesen und somit gefühlt eine Ewigkeit her – vor etwa einem halben Jahr hatte er erfahren, dass ein entfernter Verwandter, ein umtriebiger Kerl, der auf allen Hochzeiten tanzte und sich nie Ruhe gönnte, mit sechsundfünfzig gestorben war. Dagegen lebte eine seiner Tanten mit 96 noch in ihrer Wohnung und konnte die meisten ihrer Tagesgeschäfte selbst erledigen.
    Danach hatte er sich umgetan und festgestellt, dass Kurzschläfer zwar viel erreichen – auch viel Böses, wie die Geschichte zeigt – aber in der Regel relativ früh sterben, während notorische Langschläfer... Nun ja, so genau wollte er es gar nicht wissen. Der Vermutung reichte ihm.
    Marottke richtete sich auf und griff nach seinem Smartphone. Ein wohliger Schauer freudiger Erwartung lief über seinen Rücken. Er rief die App auf und schloss für einen Moment die Augen.
    Der Eindruck war zu stark, und die Freude raubte ihm fast die Sinne! Wieder war sein Dm um einen Tag zurückgewichen. Er schaute zweimal hin. Um ganz sicher zu sein, verglich er die Zahl mit dem Eintrag von gestern. Da stand es schwarz auf weiß: 25846 gestern, und heute: 26846! Sein Cd stand! Seit mehr als einer Woche nahm die Zahl seiner Tage nicht ab!
    Er ließ sich wieder in die Kissen zurückfallen uns stöhnte beglückt auf. Endlich! Das Ziel ist erreicht! Gegenwärtig bin ich unsterblich!, jubelte er innerlich. Der Einsatz trägt endlich Früchte!
    Er fühlte sich stark und mächtig wie ein Magier, der den Naturgewalten gebieten kann. Denn die Zeit ist eine Naturgewalt, vielleicht die mächtigste überhaupt, überlegte er, denn sie hat keinen Anfang und kein Ende, und wir sind ihr hilflos ausgeliefert.
    Und ich habe sie besiegt!
    Eine kleine Wolke verdunkelte seine Gemüt.
    Nun ja, die letzte Wochen und Monate waren auch schwer gewesen, sehr schwer, nicht nur wegen der Scheidung und des Umzugs. Fast Tag und Nacht hatte er an sich gearbeitet, langsam, beharrlich, unerbittlich. Mehrfach hatte er bei Engelmacher angerufen und um Beistand gebeten. Doch der hatte gepoltert: „Hör auf zu jammern! Lerne leiden ohne zu klagen! Ohne Schmerzen an Leib und Seele hat noch nie jemand den höchsten Gipfel erreicht!“
    Dann wieder, als die Schmerzen im linken Arm unerträglich wurden: „Reg dich nicht auf, mein Lieber, es ist nichts Ernstes. Deine Daten sind ohne Befund. Nur dein Gehirn spielt dir einen Streich. Es will nicht, dass du deinen Körper so quälst. Das geht vorüber, glaub es mir! Denk´ an das Ziel!“
    Und es ging vorüber. In fröstelndem Alleinsein war es ihm schließlich gelungen, die Sehnsucht nach Besitz, Weib und Kind auszulöschen, und seinen täglichen Nahrungsmittelbedarf auf eine Minimum zu reduzieren. Der Erfolg belohnte die Mühsal. Und seit etwas vierzehn Tagen träumte er nachts nicht mehr von der Vergangenheit.

    Eine viertel Stunde stellte er sich unter die eiskalte Dusche, dann putzte er sich fröhlich, unter häufigem Grimassenschneiden, die Zähne. Aus dem Spiegel blickte ihn ein unregelmäßiges Asketengesicht an. Es sah bleich, fremd und übernächtigt aus, aber auf seine Weise edel und intelligent. Es strahlte den Adel von Leuten aus, die lange wenig gegessen haben. Und schmal war er geworden, sehr schmal. Die Nase war fast nur noch ein Strich, und seine Ohren schimmerten durchsichtig wie die Ohren von Ferkeln.
    Er verließ sein Schlafzimmer, das die Gemütlichkeit einer Gefängniszelle ausstrahlte – der eingebaute Kleiderschrank, das Waschbecken in der Ecke, die Liegestatt, der Tisch, zwei Stühle, das Bücherbord – und hüpfte mit federleichtem Schritt die Treppe hinunter, Karl der Große hinter ihm her. Marottke war nicht nur dünner geworden, sondern auch kleiner und leichter. Nur seine Füße und sein Schädel waren gleich groß geblieben, was ihm etwas Clowneskes verlieh.
    In der Küche aß er ein Dutzend Oliven, zwei Scheiben Weißbrot und trank mehrere Tassen stark gezuckerten Schwarztee. Das musste bis zur nächsten Mahlzeit, die um achtzehn Uhr fällig war, reichen. Die Banane, die er gegen vierzehn Uhr aß, wenn Karl der Große sein Fressen bekam, ausgenommen. Vorgesehen war für heute Abend gedünsteter Seelachs, zwei mittelgroße Pellkartoffeln mit einem Klacks Butter, und ein Schüsselchen Kopfsalat. Dazu würde eine Karaffe mit warmem Wasser bereitstehen. Und dann, später, ein Glas Rotwein.
    Marottke zog sich die Joggingschuhe an, nahm den Hund an die Leine und verließ das Haus. Der mehrstündige Vormittagsspaziergang stand bevor. Er fühlte sich bestens: Leicht, kühn und erfüllt vom Pulsschlag eines standhaften Herzens.
    Es war heute nicht so schwül wie in den vergangenen Tagen. Das war etwas, das ihm zunehmend Sorgen bereitete: Dieser August war außergewöhnlich warm. In der Zeitung stand: Die wärmsten Augusttage seit Menschengedenken. Wenn das so weitergeht, dachte er, steht zu befürchten, dass mein Dm wieder zurückfällt. Das wäre nicht gut. „Die Mühsal von Wochen nutzlos vertan“, murmelte er etwas pathetisch. Er blickte zur Kirchturmspitze und atmete auf. Der Wetterhahn wies nach Norden. Ein gutes Zeichen, dass es bald kühlere Luft geben wird. Da er sich in dieser Gegend noch nicht auskannte, ahnte er nicht, dass der Wetterhahn in diesem Moment nicht die Himmelsrichtung, sondern kommendes Unheil anzeigte.
    Er wandte sich nach rechts, denn er hatte vor, über den Alten Deich bis zum Siel zu gehen und seinen und Karls Beinen freien Lauf zu lassen. Gerade trat der Nachbar, Herr Morgenknecht, aus dem Haus.
    „Moinmoin!“
    „Moinmoin!“
    Die ortsübliche Begrüßung.
    „Auch schon so früh auf den Beinen?“ rief Marottke gutgelaunt.
    Morgenknecht grinste. So früh! Um elf! Er war ein stämmiger, untersetzter Mittfünfziger mit dreieckigem Gesicht, auffällig großen Ohren und Bürstenschnitt. „Man muss ja, die Arbeit ruft!“
    „Was arbeiten Sie denn?“, fragte M. auf gut Glück.
    „Ich bin Trainer beim FC Tönnhausen.“
    „Aha! Aber ist es denn zum Trainieren heute morgen nicht zu warm?“
    „Ich gehe nicht zum Training, sondern ins Vereinslokal!“ Er lachte. „Nein, nein, nicht, was Sie jetzt denken. Um halb zwölf ist Krisensitzung.“
    Marottke blickte ihn fragend an. „Wo kriselt´s denn?“ Er ist als Neubürger natürlich an allem interessiert, was so im Städtchen passiert.
    „Wenn Sie mich ein Stück begleiten, dann erzähl´ ich´s Ihnen! Sie zittern ja, ist Ihnen nicht gut?“
    „Doch, doch, es ist alles bestens.“
    Sie setzten sich in Bewegung, und Morgenknecht berichtet. Karl der Große trottete ergeben hinterher.
    Nach einer Weile fragte Marottke: „Sagen Sie mal, Herr Morgenknecht, sind diese hohen Temperaturen hier eigentlich normal? Ich bin extra von Süddeutschland mit der Hoffnung auf kühleres Klima hierher gezogen.“
    Morgenknecht machte eine abwehrend Handbewegung. „Hier ist nichts mehr normal! Am allerwenigsten das Wetter.“
    Er lachte trocken.
    „Vor fünfzehn Jahren hat es hier zum letzten Mal geschneit! Ich könnte Ihnen noch das Datum sagen. Denn in der Nacht musste ich unsere Gerda bei dichtem Schneetreiben in die Entbindungsstation nach Husum fahren. Dafür gibt´s jetzt immer häufiger Frost im April!“
    Er schüttelte den Kopf.
    „Seit einigen Jahren beobachte ich einige sehr merkwürdige Wetteranomalien: Ein paar warme Tage im Mai, dann wird es wieder kalt und unbeständig bis in den extrem heißen August hinein, und ab Mitte September wieder kalt und Regen, Regen, Regen... Manchmal denke ich, wir leben auf einem Regenplaneten... Es scheint, als beschränke sich der Sommer neuerdings auf die paar Wochen im August. Und dann die Stürme! Unberechenbar und total außerhalb der Reihe! Waren Sie schon mal im Katinger Watt? Da sieht´s aus wie nach einem Atomschlag! Überall umgestürzte und zerfetzte Bäume. Es ist sogar für einen gelernten Nordfriesen wie mich manchmal nicht zum Aushalten!“
    „Dann trinken Sie doch einen Eiergrog und eine ordentlichen Becher Ostfriesentee mit Speck!“
    „So viel Grog und Tee können Sie gar nicht trinken wie ihnen das Wetter manchmal auf die Nerven geht!“
    „Für mich ist dieses Wetter gerade richtig! Nur der August macht mir Sorgen!“
    Morgenknecht sah seinen Nachbarn von der Seite an. „Sie sind ein komischer Kauz, Herr Marottke, wenn ich das mal sagen darf! Die Touristen bleiben aus, und dann kommt eins zum anderen. Dieser leckere Ort, hahaha, hat von den Sommergästen gelebt. Und die bleiben aus. Sogar die Seehunde haben schon Reißaus genommen. Seit zwei Jahren sind die Seehundbänke leer, weiß der Teufel warum.“ Er grinste anzüglich. „Demnächst macht auch noch die einzige Nachtbar zwischen Heide und Husum dicht!“
    „Aber bestimmt nicht wegen ausbleibender Seehunde!“
    „Herr Marottke wissen Sie was?“, sagte Morgenknecht, „kommen Sie doch heute Abend zu unserer Grillfete. Sie sind herzlich eingeladen! Dann kann ich Ihnen mehr über diese Gegend. Als Neubürger sollten Sie nämlich ein paar Kleinigkeiten wissen!“
    Marottke zierte sich. „Das ist furchtbar nett von Ihnen, mein lieber Herr Morgenknecht, doch nehmen Sie mir´s bitte nicht übel, aber Grillfeten sind nicht so meine Sache.“
    „Aber, aber! Wer wird denn gleich kneifen!“
    „Ich kenne doch niemanden.“
    „Das wird sich schnell ändern! Wir Tönnhausener sind ein lustiges Völkchen.“
    „Außerdem esse ich kein Fleisch.“
    Morgenknecht lachte unbeschwert. „Herr Marottke, Sie sind ein Meister im Erfinden von schwachen Ausreden! Dann besorgt Ihnen meine Frau eben leckere vegane Würstchen! Schon mal Algen- oder Kartoffelkrautwürstchen gegessen? Lecker, lecker, kann ich Ihnen sagen! Wie viele wollen Sie? Eins, zwei, drei, vier? Die Gisela wird sie besorgen! Nein, nein, lassen Sie mal! Das geht aufs Haus! Also, abgemacht, Sie kommen! Halb sieben geht´s los. Keine Widerrede! Meine Frau? Die wird sich freuen! Noch gestern sagte sie zu mir: Joseph, lad´ doch unseren neuen Nachbarn auch ein, der ist immer so alleine! Wenn Sie wollen, können Sie ja ´ne leckere Flasche Rotwein mitbringen.“
    Marottke blickte ihm nach, wie er mit knorrigen Knien und knotigen Waden davon stapfte und sich vor lachen bog. „Lecker, lecker, hihihi... Lecker vegane Würstchen, hahaha... Lecker, lecker, hohoho...“

    2

    Der Abend versprach lustig zu werden.
    Gisela stellte zwei eisdampfende Schnapsflaschen auf den Tisch uns reichte Gläschen herum.
    Morgenknecht kam mit zwei beladenen Tellern zurück. Sein Polohemd war schwitznass, und von seiner Stirn tropfte es. Er stellte die Teller ab und setzte sich neben Marottke. Mit der zartfühlenden Aufmerksamkeit eines frisch Verliebten sagte er: „Dein Würstchen sieht aber gut aus!“
    Marottke sagte nichts. Er blickte auf die Ziegelwand, an der sich im flackernden Kerzenschein die Schatten des Ehepaares Sixta und Ulf Müller-Mondschein wie Kobolde bewegten. Er überlegte, ob der Mensch im Allgemeinen und er selbst im Besonderen wirklich ein vernunftbegabtes Wesen sei, denn welches vernünftige Wesen käme auf die Idee, bei diesen Temperaturen zu grillen? Die Hitze hing wie heißer Schleim zwischen den Hauswänden.
    Und er hatte sich auch noch ohne zwingende Not zu einer Grillfete überreden lassen!
    Morgenknecht, dem Marottkes Grabesmiene missfiel, fragte: „Darf ich?“ Und schon war Marottkes Gläschen gefüllt. Er blickte in die Runde. „Auf euch alle!“ rief er und kippte den Malteser hinunter.
    Marottke dachte: Halunke, so leicht kriegst du mich nicht und kippte ebenfalls, aber nicht in die Kehle, sondern über die Schulter am linken Ohr vorbei in die Blumenrabatten.
    Durch das Gartenpförtchen trat eine Gestalt, über die Marottke trotz seiner soziophoben Laune lächeln musste. Der Mann besaß einen gewaltigen runden Oberkörper, auf dem ein mächtiger Schädel thronte. Der kümmerliche Rest steckte in kurzen weißen Hosen, aus denen zwei dünne, fast wadenlose Beine mit knubbeligen Knien herausragten.
    „Rainer!“ rief Morgenknecht und sprang hurtig auf, „wie schön! Hast du´s doch noch geschafft!“
    Das Riesenei auf Stelzen trat an den Tisch, vom flackernden Kerzenschein fremdartig beleuchtet. „Ich komme direktemang von der Baustelle“, sagte er, „heute Nacht soll es hier ordentlich krachen, und da wollte ich noch mal nach dem Rechten sehen.“
    „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste“, sagte Sixta schlicht.
    „Bedien´ dich!“ rief ihm Morgenknecht mit großer Geste zu, „es ist von allem noch reichlich da!“ Er setzte sich wieder und rückte dabei noch näher an Marottke heran. Es herrschte jetzt eine gewisse abwartende Stille.
    Rainer kam mit gut gefülltem Teller zurück und nahm neben Frau Gisela Platz. Er nahm sich von dem Nudelsalat und begann zu essen.


    „Sag mal, Reiner, warum baut ihr eigentlich schon wieder um?“, fragte Ulf Meier-Mondschein dröhnend, „der alte Laden war doch groß genug! Dann senkt doch lieber die Preise, anstatt das Geld unnötig zu verbauen!“
    „Wir sind froh, wenn wir unsere Preise halten können. Und um sie zu halten, bauen wir um.“
    „Sixta lachte kurz und spitz. „Reiner, erzähl keine Märchen!“
    „Ich erzähle keine Märchen, meine Liebe“, sagte Reiner und schob den leeren Teller beiseite. „Die Hütte ist vom Umweltstandart her nicht mehr zeitgemäß. Die Energiekosten sind zu hoch.“
    „Aber Energiekosten werdet ihr doch immer haben! Oder wie willst du bei diesen Temperaturen kühlen?“, fragte Sixta einfältig.
    „Mit Solarstrom vom heißen Blechdach, du Dummchen!“, belehrte sie ihr Götter-Gatte gut gelaunt.
    „Und im Winter, mein Dicker, he? Dann ziehen sie den Strom dem Reiner aus der Nase, oder wie?“
    „Eben nicht“ rief Reiner sichtlich vergnügt. „Meine Nase wird für andere Dinge gebraucht! Der Neubau wird ganz ohne Strom auskommen.“
    „Du meinst ohne Zukauf von Strom.“
    „Nein, ganz ohne Strom. Wir werden der erste Discounter auf der Welt sein, der völlig ohne Fremdenergie auskommt.“
    „Und wie soll das gehen?“
    „Mit überflüssigem Helium.“
    Silke lachte schallend. „He, Alter, was erzählst du da für´n Onk! Überflüssiges Helium? Das wüsste ich aber gern ´nen Tacken genauer!“ Ihr Gesicht glich einem Buntglasfenster. Schwarze Haare, knallrote Lippen, blaue Augen, rosa überglänzte Haut.
    „Ja, so nennt man tiefgekühltes Helium.“
    „Und warum überflüssig?“, wollte Frau Gisela wissen. „Du sagtest doch gerade, mach braucht es zum Kühlen.“
    „Weil es die Eigenschaft besitzt, an glatten Wänden hoch zu fließen. Man bezeichnet es deshalb auch als superfluid.“
    „Aha!“
    „Nichts aha!“, grunzte Ulf. „Das würd´ ich auch gerne wissen! Ich meine, wie man damit kühlen kann.“
    „Bitte jetzt keine Vorlesung!“, sagte Sixta und legte die bildungsferne Stirn in Falten.
    „Na gut, dann fasse ich mich dir zuliebe kurz. Wir kühlen Helium auf minus zweihundertsiebzig Grad herunter und befüllen mit der jetzt entstandenen Flüssigkeit Stahlzylinder, so genannte Heliumbomben, in deren Wänden sich feinste Poren, so genannte Kapillaren, befinden. Durch diese Poren tritt das überflüssige Helium, das unter hohem Druck steht, wieder aus und verdampft. Dabei entzieht es der Umgebung Verdunstungswärme, und das ist der Kühleffekt –“
    „Also so eine Art Heliumdusche“, bemerkte Joseph, der von seinem Posten am Grill zurückgekehrt war,
    Sixtas schlichtes Gemüt witterte hinter jeder Bemerkung, die sie nicht verstand, einen Ostfriesenwitz. Also lachte sie vorsorglich lautstark und erhielt dafür von ihrem Mann einen kräftigen Rippenstoß.
    „Genau! Die Zylinder werden in speziell konstruierte Kühlkammern unserer neuen Gefriertruhen eingestellt“, führ Rainer fort. „Wir benötigen also keine repereturanfälligen Kühlaggregate mehr. Die neuen Truhen arbeiten völlig verschleißfrei.“
    „Aber die Angelegenheit ist doch nicht energieneutral!“, wandte Ulf dröhnend ein. „Wo kommt denn die Energie fürs Herunterkühlen her? Du erzählst uns hier den gleichen Ulk wie die Leute, die Elektroautos als emissionsfrei bezeichnen.“
    „Da verwechselst du Äpfel mit Birnen, mein Lieber! Wenn wir –“
    Marottke unterbrach ihn. „Und was geschieht mit den ausgemusterten Kühltruhen?“
    „Die werden entsorgt“, antwortete Reiner ziemlich förmlich, denn er ärgerte sich über diese dumme Unterbrechung.
    „Könnten Sie mir eine davon überlassen?“
    „Wenn Sie die Truhe selber abholen, gerne“, sagte Reiner, von seinen eigenen Worten überrascht.
    „Wann wäre es Ihnen denn recht?“
    In Marottkes Gehirn verfestigte sich immer mehr die Überzeugung, dass der Umbau des Supermarktes extra für ihn geschah. Die Gefriertruhe war ein Geschenk des Himmels! Das war die Lösung! Er könnte noch gesünder leben, sich die Truhe zum Bett umbauen, das ganze Jahr bei tiefen Temperaturen schlafen und sich bei Hitzewellen wie der gegenwärtigen darin abkühlen. Sein Dm würde davongaloppieren wie ein Turnierpferd!
    Und nicht nur das!
    Ein Gedankensplitter blitzte auf. Vielleicht wäre es mithilfe einer Gefriertruhe sogar möglich, den nächsten Gipfel zu ersteigen! Er schauderte. Der Gedanke war zu aufregend, um ihn jetzt, wo ihn alle anstarrten, zuende zu denken. Er kam sich vor wie einer dieser alten Seefahrer, der gerade am fernen Horizont einen neuen Kontinent entdeckt. Spontan nahm er sich vor, gleich morgen früh Engelmacher anzurufen und ihm das neue Projekt vorzutragen. Schon hörte er dessen erstauntes Schweigen.
    Er sah Reiner erwartungsvoll an. „Reiner, wissen Sie zufällig, wie lang und tief die Truhen sind?“, fragte er leise.
    Das war zu viel. Silke knallte die Faust auf den Tisch und keuchte: „Hihihi, Alter, willst du etwa darin schlafen?“
    Ohne sich im Geringsten um die Häme zu kümmern, die ihm jetzt schon entgegenschlug, blickte Marottke das Buntglasfenster ernst an uns sagte: „Ja“.
    Zunächst herrschte, wie in solch bizarren Situationen nicht unüblich, verblüfftes Schweigen. Man sah sich erstaunt an. Das konnte er doch unmöglich ernst meinen! Man blickte Marottke an. Häufig wird ja ein scharfer Witz oder ein kühner Scherz mit todernster Miene vorgetragen, um die Wirkung zu steigern. Aber in diesem Gesicht war auch nicht die kleinste Andeutung zu erkennen, wie dieses Ja gemeint war.
    Aus dem Haus erklang Kindergeschrei. Silke erhob sich und verschwand kichernd.
    Auf einmal ertönte brüllendes, schenkelklopfendes Gelächter.

    3

    Kurzer Bericht zum Hintergrund des Erfrierungstodes des Wolf Marottke


    Am 15, 8, 20.. fand Herr Joseph Morgenknecht, ein Nachbar, Herrn Wolf Marottke tot und steif gefroren in der Gefriertruhe, die der Verblichene seit einiger Zeit als Bett benutzte. Die Kriminalpolizei ging aus Überlegungen, die nicht bewiesen werden konnten, von Selbstmord aus. (Die Gründe, warum Marottke überhaupt in einer Gefriertruhe schlief, stehen hier nicht zur Debatte.)
    Von Anfang an unterlag diese Theorie jedoch erheblichen Zweifeln. Nach gründlicher Durchsicht der schriftlichen Hinterlassenschaften des Toten sowie eingehender Befragung der Zeugen erwies es sich bald, dass ein Selbstmord überhaupt nicht zum psychologischen Hintergrund des Verblichenen passte. Es gab nicht den geringsten Hinweis auf depressive Angstzustände oder eine anders begründete Todessehnsucht. Hingegen geht aus dem Material eindeutig hervor, dass er sich immer mehr in eine euphorische Grundstimmung hineinsteigerte, die schließlich in wahnhaften Unsterblichkeitsfantasien mündete.
    Nichts lag also näher, als einen Unfall ins Auge zu fassen.
    Laut mündlicher Mitteilung des Joseph Morgenknecht hatte Marottke am Abend zuvor auf einer Grillfete etwas über den Durst getrunken. Somit war folgendes Szenario denkbar: Marottke, leicht alkoholisiert, verstellt beim Einsteigen in sein bizarres Bett unbemerkt den Temperaturregler und erfriert. Obwohl auch diese Möglichkeit erhebliche Schwächen aufweist – es bleibt völlig unklar, wie viel Marottke an diesem Abend trank und ob er danach tatsächlich betrunken war – wurde sie doch von allen Beteiligten als die angenehmste Lösung akzeptiert.
    Um sicher zu gehen, schaute sich der Berichterstatter einige in Frage kommende Gefriertruhen bei einem Discounter an. Dabei erwies es sich, dass die Unfalltheorie kaum noch zu halten war, denn keines dieser Modelle besaß einen Regler, der unbeabsichtigt verstellt werden konnte. Die Regelmodule befanden sich durchweg hinter einem Sichtfenster am rechten unteren Rand der Truhen. Es gab zwei Versionen: Eine mit Temperaturanzeige und Drucktastatur, die andere ohne Temperaturanzeige und mit einer unscheinbaren kleinen weißen Scheibe, die mit einem Schraubenzieher oder einem Ein-Cent-Stück gedreht werden konnte und Einstellungen von 1 bis 8 erlaubte. Nach Auskunft einer Angestellten betrug der Regelumfang dieser Truhe plus zwei bis minus fünfundvierzig Grad.
    Marottkes Tiefkühltruhe, die noch in einer Halle der Entsorgungsfirma stand, und die der Berichterstatter später besichtigte, entsprach diesem Modell.
    Damit waren wieder alle Fragen offen und eine Lösung nicht in Sicht.
    War es Mord, war es Selbstmord, ein Unfall oder gar ein verhängnisvoller Irrtum?
    Jetzt ging es zunächst darum, diejenige Möglichkeit auszuschalten, die am unwahrscheinlichsten war: Mord.
    Die Kriminalpolizei hatte Mord schon ausgeschlossen, weil sie kein Motiv und keinen Tatverdächtigen sah. Aber auch andere, praktische Umstände sprachen dagegen. So hätte der Täter die Regelscheibe verstellen müssen, während Marottke schlief – will sagen, er hätte das Sichtfenster unbemerkt abschrauben und das Scheibchen mühsam verstellen müssen, und das alles völlig geräuschlos und beim schwachen Schein einer Taschenlampe – auch ohne den Hund, der nach Aussage Morgenknechts im selben Zimmer lag, nur sehr schwer vorstellbar.
    Auch ein Unfall schied aus bereits bekannten Gründen aus. Also blieb noch die Möglichkeit eines tragischen Irrtums.
    Doch worin sollte der bestanden haben?
    Denkbar ist dies: In dieser drückend schwülen Nacht sehnt sich Marottke nach schnellerer Abkühlung und dreht die Stellscheibe auf Position 8, übersieht dabei allerdings – und das wäre dann der fatale Irrtum –, dass damit minus fünfundvierzig Grad vorprogrammiert sind, denn, wie schon gesagt, eine Temperaturanzeige gibt es nicht. Entgegen seiner Absicht, bald wieder plus zwei Grad einzustellen, steigt er ins Bett und schläft er ein – und wie gesagt, nicht mehr ganz nüchtern.
    Ja, so könnte es gewesen sein.
    Aber bei näherer Betrachtung zeigt sich schnell der seidene Faden, an dem auch diese Theorie hängt. Denn erstens ist Marottke kein Trinker, und zweitens, warum stellt er auf minus fünfundvierzig Grad ein? Zehn oder fünfzehn hätten doch auch gereicht! Hat er sich beim Einstellen geirrt? Und: Ist ihm ein solcher Irrtum überhaupt zuzutrauen? Auch wenn er im Wahn lebt, so zeigt er doch Methode, und es ist kaum anzunehmen, dass er sich unbedacht auf ein solch eisiges Wagnis einlässt.
    Der Berichterstatter hat lange gezögert, die Möglichkeit eines Suizids auch nur ansatzweise zu erwägen. Doch da er Morgenknecht und Marottkes Frau Aufklärung versprochen hat, sieht er sich gezwungen, trotz erheblichster Bedenken auch diese Variante in den Abschlussbericht aufzunehmen.
    Der Berichterstatter stützt sich dabei auf Marottkes Tagebuch, in dem der Verfasser von sich fast immer in der dritten Person spricht. Es gibt also für ihn zwei Marottkes: Den Tagebuchschreiber – und einen erzählten, den er für den wirklichen hält. In schizophrener Verblendung will er mit dem Schreiber, dem total Gescheiterten, dem an der Welt Verzweifelten, nichts mehr zu tut haben. In einem ungeheuren Willensakt übergibt er den Schreiber entsprechend seine Logik dem Kältetod, um als erzählter Marottke in ewiger Jugend weiterzuleben, denn schließlich ist er ja mittlerweile unsterblich. Um ganz sicher zu gehen, dass der Tod auch wirklich eintritt – denn wie oft gehen Selbstmordversuche schief – stellt er die tiefste Temperatur ein: Minus fünfundvierzig Grad.
    Jetzt passt auch der so genannte psychologische Hintergrund: Wolf Marottke tötete sich nicht, weil er des Lebens überdrüssig war, sondern weil er in unbändiger Lebensfreude auf einer höheren Stufe des Daseins weiterexistieren wollte.


    Zugegeben, Psychologie hin, Psychologie her, auch diese Version klingt ziemlich unwahrscheinlich. Doch Hand aufs Herz: Was ist bei einem Menschen wie Marottke schon wahrscheinlich...

  • Hallo Rainbow

    Vielen Dank für dein Interesse. :)
    Ich antworte erst jetzt, weil ich dir Zeit geben wollte, auch noch den Rest zu lesen. Es ist ja nicht wenig.
    Ersteinmal freue ich mich, dass dir der Text gefällt. Aber jetzt bin ich auf deine Meinung gespannt. Wie gefällt dir der Schluss?
    Würde mich freuen, von dir zu lesen!

    LG
    wunderkind