Herr und Frau Schimmer

Es gibt 1 Antwort in diesem Thema, welches 1.033 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (17. April 2019 um 21:18) ist von McFee.

  • Es ist der Ausdruck in seinen Augen. So viel Schmerz, der ihn innerlich zerreißt. Die Verzweiflung spiegelt, die er jetzt gerade empfindet.
    „Inge, meine liebe Inge, warum hast du mich allein gelassen.“ Seine Stimme ist tränenerstickt, geht mir durch Mark und Bein. Ich sitze neben ihm halte seine Hand, spende ihm Trost, aber sein Blick ist ins leere gerichtet. Was geht in ihm vor? Woran denkt ein Mensch, der das halbe Leben mit einem anderen geteilt hat? Durch Höhen und Tiefen ist er mit ihr gegangen, immer im Vertrauen, das der andere an seiner Seite ihm den Rücken stärkt. Und jetzt?
    „Sie war doch immer so voller Lebensfreude, bis vor einigen Wochen.“

    Ich weiß aus meiner Erfahrung in diesem Beruf, dass wenn ein Mensch den Lebensmut verliert, es schleichend geschieht, nach und nach. Sein Strahlen nimmt ab, nicht nur sein Körpergewicht. Es ist sein Glanz, seine Freude am Leben.
    „Ich kann es gar nicht fassen, das sie vor mir gegangen ist…“, flüstert er mehr zu sich selbst, als zu mir. Er atmet schluchzend ein und schüttelt den Kopf. „Dabei dachte ich immer, Ich gehe zuerst!“

    Ich drücke seine Hand, mittlerweile schnürt mir ein Kloß die Luft ab. Meine Augen werden feucht, er tut mir so leid, dass es schmerzt, dabei habe ich Frau Schimmer kaum gekannt. Ich nehme mir nicht das Recht heraus seinen Schmerz zu teilen. Sicher, in den letzten Wochen, in denen es ihr immer schlechter ging, war ich öfters hier. Habe geholfen, aber einen Menschen zu kennen, wie er sie kannte, ist etwas anderes.

    „Sie war doch immer an meiner Seite und jetzt? Wie soll das alles weitergehen?“ Auch diese Fragen kann ich ihm nicht beantworten. Seine Angehörigen sind verständigt und die Ärztin kommt auch bald um den Totenschein auszustellen. Ich schaue zur geschlossenen Schlafzimmertür. Die Schwestern haben sie geschlossen, nachdem er von seiner Inge Abschied genommen hat. Sehr zärtlich und sanft, so wie sie immer miteinander umgegangen sind.

    Für einen Moment sehe ich Frau und Herr Schimmer auf der Holzbank im Vorgarten, letztes Jahr im Herbst, als sie hier ihre altersgerechte Wohnung bezogen haben. Beide waren noch rüstig und saßen öfters draußen auf der Terrasse zum Hof. In solchen Momenten, wenn ich sie sah, wie sie miteinander umgingen, konnte ich das Strahlen sehen. Die Liebe, die sie füreinander empfanden.
    Er bemerkt meinen Blick zur Tür und lächelt mit feuchten Augen.

    „Mit ihr habe ich die besten Jahre meines Lebens verbracht! So viele Reisen, die wir unternommen haben. Meine erste Frau war da ganz anders! Das gerade Gegenteil. Ich bin so dankbar, dass ich die letzten Jahre mit ihr erleben durfte.“ Sein Blick ist nicht mehr leer und er schwelgt in vergangenen Erlebnissen.

    Er erzählt von Nizza, Monte Carlo und Paris. Ich habe schon ihn und seine Frau auf dem Eifelturm in einer der Fotoalben gesehen, die mir Inge gezeigt hat. Bei Konstanz und Marienbad schildert er lebhaft kleine Anekdoten. Kostbare Erinnerungen, die alles lebendig machen. Es dauert nicht lange, dann lacht er unter Tränen mit mir.
    Wie ein ertapptes Kind schau ich zur Tür und mir wird wieder bewusst, wo ich bin. Hinter der Tür liegt Inge. Es klingelt an der Wohnungstür. Herrn Schimmers Tochter ist eingetroffen, es wird Zeit für mich zu gehen. Beim verabschieden scheint es ihm besser zu gehen. Seine Tochter redet über Inge, das reißt die Wunde von neuem auf. Ich wiederstehe dem Drang ihn tröstend zu umarmen und reiche ihm stattdessen die Hand. Er drückt sie zum Abschied. „Danke, noch mal für alles!“ Ich wehre mich gegen das Gefühl, dass in mir aufsteigt.

    Manchmal hat man ein Gespür, wenn jemand sich auf den Weg macht. Es ist die Art wie jemand sich verabschiedet oder Anschaut. Wo sich etwas in den Augen spiegelt, eine Entschlossenheit …


    Ich stehe auf dem gepflasterten Weg zwischen den einzelnen Wohngebäuden. Der Himmel ist grau, das Wetter trübe. Ich habe den Kopf in den Nacken gelegt. Feiner Regen trifft mein Gesicht verbindet sich mit den Tränen und wischt sie weg. In Gedanken sehe ich ihn lächeln. Er ist nicht mehr allein. Jetzt ist er wieder mit seiner Inge vereint.

    Mehr aus meiner Feder: Gefangen im High Fantasy Bereich.

    Der Tag an dem alles begann findet ihr im Urban Fantasy Bereich auf fleißige Leser. ^^