Ralaths Kurzgeschichten-Kompendiums-KrimsKrams-Kiste

Es gibt 6 Antworten in diesem Thema, welches 2.133 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (3. Juli 2021 um 14:28) ist von Rainbow.

  • Mahlzeit zusammen.
    Ich dachte mir, ich mache für die knapp zwei Kurzgeschichten pro Jahr, die ich bewältigt bekomme, auch mal einen Sammelthread auf. Ihr wisst schon, der Ordnung halber.

    Ohne noch mehr Worte zu vergeuden (die folgende Story hat sowieso schon ihre ca. 20 Normseiten) möchte ich euch "Goldkehlchens Laute" vorstellen.
    Da der Titel so schön irreführend, nichts- oder auch vielsagend ist, schenke ich mir an dieser Stelle einfach fieserweise eine kurze Beschreibung der Geschichte. (Müsste ich den Text mit einem Wort beschreiben, ich würde mich ohne groß zu überlegen für "BROCKEN" entscheiden :D )

    Stattdessen lade euch einfach recht herzlich ein, während eines ruhigen Moments mit in den bibbernden Bären zu kommen, um zu schauen, welche Geschichten uns so über den Weg laufen, während die klammen Lumpen trocknend vor dem Kaminfeuer hängen und man Bier aus einem prallgefüllten Humpen die Kehle herunterstürzt. Und das alles, während draußen der Winter vor den Butzenglasfenstern tobt und es aber trotz aller Gewalt nicht bis in den Schankraum oder gar in die Gemüter der alteingesessenen Zecher schafft.


    :beer:


    ~Goldkehlchens Laute~

    Spoiler anzeigen


    Es war keine Selbstverständlichkeit, dass der bibbernde Bär zu dieser Jahreszeit derart gut besucht war. Denn wenn sich der Winter erst einmal von den Berggipfeln herabsenkte und die steilen Talhänge in harschem Weiß begrub, dann galten die Passagen durch das Gebirge schon seit langem als unpassierbar.
    Wer nun der Meinung war, nur die verrücktesten der Lebensmüden würden unter solchen Bedingungen noch einen Fuß in die Berge setzen, der hätte richtiger nicht liegen können und wäre dennoch überrascht davon, wie viele Verrückte es auf der Welt noch immer gab. Der Gefahr zum Trotz stapften sie zu dutzenden in die grausame Obhut des Winterwinds, der mit fürchterlicher Gewalt durch die verschlungenen Schluchten jaulte. Schneidend kalt fegte er um die Felsentürme und ließ die, über viele Jahrhunderte lang eingetretenen Pfade, unter dickem Eis verschwinden. Sein Schneetreiben verschleierte die Sicht und drängte jeden noch so Vorsichtigen vom Weg ab, aufdass alle Unbelehrbaren auf nimmer Wiedersehen in der Tiefe verschwanden und für ewig ein Teil der Berge wurden. Für jene Wagemutigen, die sich dem Wahnsinn dennoch entgegenwarfen, waren Herberge und Pferdewechselstation des bibbernden Bären der erste oder letzte Anlaufpunkt – je nachdem, ob man die beschwerliche Reise durch das Gebirge schon hinter sich gebracht hatte oder gerade die letzten Fuß des steilen, zerfurchten Zuweges erklomm und ein finales Mal verschnaufte.
    Wie der Namensgeber der Herberge es in harschen Wintern tat, so schmiegten sich auch die Stallungen, zwei kleine Scheunen und das niedrige Wirtshaus mit den Gastquartieren unter den Überhang eines Felsvorsprungs, um die kälteste der Jahreszeiten auszusitzen. Direkt neben dem kleinen Gehöft lag die Passstraße – wenn man den durchlöcherten und zerfahrenen Weg denn überhaupt mit dem Wort Straße adeln wollte – und führte mit steilem Anstieg hinauf zum Eingang des Passes. Links und rechts davon säumten geröllübersäte Hänge den Zugang bis hinein in die Wolken, ganz so, als wären sie das Tor zu einer anderen Welt. Letzte verkümmerte und von den Böen geneigte Bäume trotzten der sturmschweren Luft und fingen sich den umhertaumelnden Schnee mit ihren nadelbesetzten Ästen ein, bis sie kleine Kappen und Hüte zur Schau trugen, welche an dem letzten bisschen Grün auch gleich ohne Umschweife festfroren.
    Wer zu dieser Zeit einer Reise entgegensah, der war aus vollstem Herzen dankbar für den hartgesottenen Wirt des Bären, der ohne Rast die Tür geöffnet und den Kamin ordentlich geschürt hielt und dessen Stall mit ausgeruhte Pferde glänzte, die ganzjährig auf ihren Einsatz warteten. Eben so, wie es sich für eine vernünftig geführte Wechselstation gehörte.
    Wie sich ein Jeder sicher denken konnte, wollten wichtige Nachrichten auch im Winter zügig und zuverlässig überbracht werden, Arzneien mussten rechtzeitig eintreffen, Termine und Audienzen zwangen einige Unglückliche zur Überquerung der Pässe, ohne Rücksicht auf die Gegebenheiten.
    Es war jedoch nicht nur die große Dringlichkeit vieler Anliegen, die es lohnenswert machte, Quartiere, Wirtshaus und Ställe in den wenig gastfreundlichen Höhenlagen zu betreiben, es war kurioserweise auch die Gesellschaft, die die Schankfamilie mehr und mehr zu schätzen gelernt hatte.
    Halb erfrorene Männer waren voll des Lobes für ein prasselndes Feuer und nicht zu Handgreiflichkeiten aufgelegt. Die Münzen saßen locker in den Börsen und für einen warmen Eintopf fand sich immer auch ein dankendes Wort. Und die Aussicht auf eine Strohmatratze hatte noch bei jedem für einen sehnsuchtsvollen Blick gesorgt, der zuvor nächtelang auf harten Ladeflächen Schlaf suchen musste.
    Und dennoch hatte der alte Narn - seines Zeichens Wirt des Hauses und beleibtes Oberhaupt der Familie - noch eine andere Vermutung, warum sich der Gastraum Abend für Abend bis unter die Decke füllte… auch mit Besuch, der aus dem Tal heraufkam und gar nichts in der nächstbesten Nachbarstadt hinten dem Gebirge zu suchen hatte. Ob ihm dieser Grund gefiel, stand wiederum auf einem anderen Blatt. Jener Grund hatte schon immer seinen eigenen Kopf gehabt und gab nicht viel auf Narns Bedenken.
    Der alte Wirt hatte ihn bei seiner Geburt Lysanna getauft und beobachtete nun mit krauchendem Ärger im Bauch, wie seine älteste Tochter gerade über die grob zusammengezimmerten Tische stelzte und dabei auf ihrer Laute die Melodie eines anzüglichen Trinkliedes zupfte.
    Ihr Haar, fuchsfellfarben wie… nunja, ein Fuchsfell eben, hüpfte verspielt auf ihren Schultern herum und schlug sich auf dem Ausschnitt ihres Mieders nieder, während sie über die massiven Bohlen tänzelte, sich drehte und den Anwesenden mit festgeschnürtem Schankkleid besten Grund zu guter Laune gab.
    Die Gäste fanden seiner Meinung nach etwas zu viel Geschmack an der Unterhaltung durch seine Tochter und Lysanna fand - wenn es nach ihm ging - zu viel Gefallen daran, den Männern etwas darzubieten.
    Solange es sich allerdings in genügend Münzen auszahlte, ohne dass einer der Gäste ihr zu nahe kam, wollte Narn es knirschend erdulden. Männer und Gäule durch den Winter zu kriegen war nämlich alles andere als billig. Auf jede Münze kam es an.
    Ein Rest des Unwohlseins verblieb am Ende dennoch. Sein ergrauender Schnauzer juckte ständig. Das war ein unzweifelhaftes Zeichen dafür, dass noch an diesem Abend etwas im Gange war, was er nicht mögen würde.
    Lysannas Zwillingsschwester und der jüngere Bruder waren derweil ausser Haus und sollten in zwei Tagen mit dem letzten großen Einkauf vor dem Winter vom Talmarkt zurückkommen, wenn ihnen das Wetter halbwegs gewogen war. In der Zwischenzeit kümmerten sich Narn und Lysanna allein um das Wohlergehen der Durchreisenden und Zechfreudigen.
    Das Publikum war auch heute wieder, wie so oft, gebannt von der Stimme seiner Ältesten. Goldkehlchen war schon seit langem der Spitzname, der ihr vorauseilte. Nicht zu Unrecht, nein, ganz und gar nicht. Sie hatte diese Gabe von seiner verstorbenen Frau geschenkt bekommen und wann immer Lysanna sang, wurde ihm warm ums Herz. Ein weiterer Grund, weshalb er dem Treiben nicht augenblicklich ein Ende bereitete. Narn hatte ebenfalls, wenn auch anders als die anderen Zuhörer, seine helle Freude an Lysanna. Woher allerdings das Talent mit der Laute stammte, das war ihm schleierhaft. Nie hatte ihr jemand gezeigt wie man sie spielt und dennoch dauerte es kaum ein paar Wochen, da konnte sie es bereits.
    Ein Spielmann hatte das Instrument vor langer Zeit zurückgelassen, unter der Bedingung, dass Lysanna darauf würde spielen können, wenn er das nächste Mal mit seiner Familie hereinschaute. Auf dem Weg über die Pässe wollte er dem wunderschön gearbeiteten Holz die Witterung nicht zumuten, weil es dadurch nur unnötig Schaden nehmen würde. Er meinte, die Laute würde seiner mitreisenden Frau zu sehr am Herzen liegen, weil die Kinder ihren Klang so mochten und sie würde für den Besuch in der Nachbarstadt stattdessen eine andere nehmen. So ergab es sich, dass sie die Laute lieber in Lysannas Obhut ließen und auf dem Rückweg wieder danach schauen wollten. Das waren des Spielmannes letzten Worte gewesen, bevor er und sein Anhang den langen Weg antraten, um eine Aufführung als Gastmusikanten auf einem Ball der Obrigkeit irgendwo in einer der Städte hinter den Bergen zu spielen.
    Diese Worte waren schon alt und lange vergangen. Niemand kam je wieder um die Laute zurückzufordern. Der Berg kannte keine Nachsicht, selbst dann nicht, wenn es um einzulösende Versprechen ging.
    Lysanna hingegen hatte sich jene letzten Worte zu Herzen genommen und mit dem Instrument Tag um Tag geübt. Sie hielt es in Ehren, spielte gerne und oft darauf.
    Narn fragte sich, was mit dem Mann, der seine Tochter schelmisch auf den Spitznamen Goldkehlchen getauft hatte, und seiner Familie wohl letzten Endes wirklich geschehen sein mochte. Gedankenverloren ließ er den Aufwaschlumpen zum hundertsten Mal durch den Krug kreisen.
    „Heyda, Narn, bist beim Krügeschrubben eingeschlafen, nehm‘ ich an?“, fragte eine bekannte Stimme. Das passende Gesicht dazu schob sich in sein Blickfeld und hielt ihm auffordernd einen leeren Humpen über die Theke.
    Narn bemerkte erst jetzt, dass er ins Leere gestarrte hatte und schüttelte seine schweifenden Gedanken ab. Nach kurzem Blinzeln fiel ihm auch der Name des kurzharrigen blonden Störenfriedes wieder ein. Frennik.
    „Ihr sauft mir das Bier weg wie Kälber die Biestmilch! Wenn ich beim Spülen nicht schlafen kann, dann komm' ich euretwegen gar nicht mehr zur Ruh‘!“
    „Ja, freilich mein Bester, so haben wir’s doch beide gern!“, lachte Frennik. Er war ein fliegender Händler für allerlei gebraute Wundermittelchen, der schon des Öfteren im Bären Station gemacht hatte und damit zu den alteingesessenen Stammgästen zählte – oder, da er die Nächte häufig sturzbesoffen auf dem Fußboden verbrachte, noch eher zum Inventar.
    „Schaffst du‘s vielleicht heut‘ mal auf deine Stube, oder muss ich nachher wieder um dich rumwischen, wenn ich die Tische abdeck‘?“
    „Ich und auf der Stube schlafen? Wer’s glaubt! Und nun Schluss mit dem Geplänkel, ich bin nicht zum Schwatzen hier, mein Alter, ich hab‘ Durst. Zapf mir lieber einen neuen Humpen und schnärbel dir kein‘ Zahn locker!“
    Narn riss ihm den Krug mit einem Rucken aus der Hand, murmelte eine Verwünschung die wenig erbaulich mit du Lump endete, und zog ein kniehohes Bierfass unter der Theke hervor. Doch bis auf ein paar wenige Tropfen und Schaum quoll aus dem eingeschlagenen Hahn nichts mehr heraus.
    „Ich muss kurz zum Lager“, sagte er und deutete mit dem Daumen über die Schulter nach draußen. „Das Fass mit Pferdepisse, die du so sehr liebst, ist gerad‘ leer geworden“, murrte er zu Erklärung.
    „Hol‘ besser zwei Fässer, die Pferdepisse schmeckt uns all‘n heut‘ nämlich wieder prächtig. Warm und frisch gemolken, wenn’s denn keine Umstände macht“, antwortete Frennik gut gelaunt und klopfte dem Wirt grinsend auf die massige Schulter. Sein lückenloses Gebiss kam dabei zum Vorschein, was Hierzulande nach etwas über dreißig Sommern kein allzu häufiger Anblick mehr war.
    Auch wenn es für Außenstehende nicht den Anschein erweckte, die rauhbeinige Art im Bären hätte freundschaftlicher nicht sein können. Das beschwerliche Leben und vor allem die langen Winter schweißten alle zu einer eingeschworenen Gemeinschaft zusammen.
    Narn schaute durch die Butzenglasscheiben hinaus in das Schneetreiben und schimpfte sich selber zum dutzendsten Male einen Narren, dafür, dass er damals keinen Keller angelegt hatte. Es war ihm zu mühselig gewesen, ganz allein die vielen Fuhrwerke Stein aus der Bergflanke zu brechen. Stattdessen hatte er hinter dem Schankhaus einfach eine zweite Scheune als Lager aufgestellt. Es war um Längen schneller gegangen, bedeutete aber auch immer wieder einen Spaziergang an frischen Luft. Bei jedem Wetter.
    „Du passt mir auf, dass hier alles beim Rechten bleibt. Jeder Teller, der zu Bruch geht, den setz‘ ich dir auf deine Rechnung“, wandte er sich mit drohendem Finger zurück an Frennik und nickte in Richtung des Trubels. „Und lass' ja die Finger von meiner Lysanna, du kleiner Tunichtgut“, fügte er hinzu und deutete mit einem besonderen Blick zu seiner Tochter herüber.
    Frennik verstand und zwinkerte heiter mit beiden Augen. „Wir woll‘n deine Spelunke in der Zwischenzeit schon nicht in Brand setzen und auch auf’s Töchterchen geben wir bestens acht. Ich schwör's bei meiner Seel‘! Jetzt aber husch husch, mir dörrt‘s in der Kehle und ich wird‘ sicher nicht der letzte Durstige bleiben.“
    Während Narn seufzend seine speckige Schürze gegen einen dicken Wollmantel tauschte und sich eine Fellmütze über die ergrauenden schwarzen Haare zog, schnappte sich Frennik seinen angefüllten Krug und warf sich wieder auf eine der Bänke, gleich neben die restlichen angetrunkenen aus seiner Reisegruppe, mit denen er sich erst Stunden zuvor zusammengeschlossen hatte. Es zog sich mit mehreren Gespannen nun mal einfach besser durch die verschneiten Lande, denn allein. Die Räder nahmen durch die Felsen, Eis und das Geröll auf den Wegen oft genug Schaden. Dann war guter Rat teuer und eine helfende Hand wie Gold.
    Es dauerte nicht lange, da tanzte auch schon Lysanna mit wehendem Rock an ihm vorbei und, mit den letzten Tönen des Liedes beschäftigt, geradewegs wieder auf ihn zu. Sie setzte über einen halben Braten hinweg und schwang sich auf den Zehenspitzen zwischen Tellern und Besteck hindurch. Geschickt umkreiste sie die etlichen Humpen und abgenagten Knochen. Direkt vor Frennik kam sie zum Ende des Liedes und ihrer bereits zweiten Zugabe. Geschwitzt vom Kaminfeuer in ihrem Rücken und mit rotem Gesicht verbeugte sie sich elegant, eine rote Strähne in langen Locken löste sich hinter ihrem Ohr und schwang sich frech in ihr hübsches Gesicht. Die Verbeugung ließ den ohnehin schon kaum verhaltenen Jubel der Anwesenden gleich aus mehreren Gründen noch einmal tosend anschwellen.
    Im selben Moment, in dem sie sich wieder aufrichten wollte, ergriff Frennik sie am Unterarm und zog daran, sodass Lysanna auf seinen Schoß herunterpurzelte.
    Aufdringlich legte er einen Arm um sie.
    „Oho! Immer langsam mit den jungen Wildpferden, wir woll‘n doch nicht, dass deine Tanzeinlage für heut‘ schon die letzte gewesen ist!“
    „Frennik!“, rief Lysanna empört und stemmte noch im Sitzen ihre Fäuste in die Hüften.
    „Wieder eine wunderbare Vorstellung, mein Täubchen mit der Goldkehle“, säuselte Frennik.
    „Recht vielen Dank, der Herr“, erwiderte Lysanna gezwungen artig und konnte trotzdem einen gewissen kratzbürstigen Unterton nicht aus ihrer Stimme verbannen. „Doch solang man mich auf einem Schoß gefangen hält, wird’s wohl die Letzte gewesen sein.“
    Lysanna kannte die gesteigerte Zutraulichkeit der Gäste bereits zur Genüge. Im Alter von neunzehn Sommern blieb es nicht aus, dass ihr die durchreisenden Männer nach langen Abenden schöne Augen machten. Gerade von Frennik kannte sie das nur zu gut und sie wusste, wie sie sein ständiges Anschmachten zu nehmen hatte.
    „Wie wär’s mit einem Kuss, mein Täubchen? Nur eine kleine Verabschiedung, bevor der tapfere Frennik sich wieder hinaus ins Ungemach schlagen muss, um den Armen und fürchterlich Kranken hinter den Bergen ihr rettendes Tonikum zu bringen“, brachte er theatralisch vor. „Wer weiß, kleines Täubchen, vielleicht ist’s ja mein Letzter?“
    Lysann sah sich um, ihr Vater war gerade nirgends zu sehen.
    „Ach, ich weiß nicht…,“ begann sie.
    „Zier dich nicht so, mein Täubchen, es soll dein Schaden nicht sein“, gurrte er.
    „Aber wenn ich das tu‘, dann wollen die anderen Herrschaften auch einen Kuss“, sagte sie gespielt seufzend, ließ dabei einen Zeigefinger kreisen. „Und dann komm‘ ich heute Abend weder zum Bedienen, noch zum Tanzen, zum Singen, noch zu was ander‘m…“
    „Ach was, es gibt schlimmeres!“, rief einer von den hinteren Tischen.
    „Das nehm' ich gern in Kauf für einen Schmatzer!“ rief ein weiterer der knapp dreidutzend Gäste und auch andere stellten lachend aus dem Hintergrund ihre persönliche Forderung auf Gleichberechtigung.
    „Aber ich hab‘ im Gegensatz zu euch noch alle Zähne im Maul“, rief Frennik laut und gut gelaunt den Nebenbuhlern zu, „ und ich stink im Vergleich zu euch auch nicht schlimmer als die Pferde, die ihr bis hier her zu Schande geritten habt!“ Der Scherz wurde mit gackerndem Gelächter erwidert. Man verstand sich und erwartete den rauen Ton in jedem Satz, ohne ihn allzu krumm zunehmen.
    „Nun, mein Täubchen? Es tut auch gar nicht weh, ich versprech’s bei allem was heilig ist. Und ich schwör‘s, dass ich’s dem alten Narn auch nicht auf die Nase binde. Ein Geheimnis, nur zwischen uns zwei‘n.“
    „…und dem andern halben Tal, dem der Wildeintopf noch nicht aus den Ohren quillt“, beendete sie mit einem Augenrollen und deutete ausladend in den Raum.
    Lysanna atmete aus und rang anschließend noch einen Moment mit sich. „Na gut“, gab sie überraschend nach und hüpfte keck von Frenniks Schoß. „Aber mein erster Kuss soll ein richtiger, ein besonderer sein, also lässt du mich führen und schließt dabei die Augen. Das ist die Bedingung.“
    „Wie die Dame wünscht“, sagte Frennik charmant und gleichzeitig milde verblüfft, dass sie ihm den Gefallen wirklich tat.
    Lysanna ließ ihren Unterkiefer ein paar Mal von Links nach Rechts kreisen und erntete für ihren Mut leisen Beifall und Anfeuerungsrufe. Frennik spitzte sogleich die Lippen. „Ah, ah ah! Augen schließen, sonst fällt das Glück einem ander'n zu! Und sei vor allem langsam und sacht‘ und zärtlich… und nicht so ungestüm“, fügte sie verführerisch hinzu.
    „Freilich, freilich! Augen zu und sacht‘, ganz wie die Herrin Täubchen befiehlt.“
    Der Gastraum hielt den Atem an, als Frennik die Lider senkte. Nur ganz leises Rumpeln und Rascheln erklang noch in der Stille, unterdrücktes Atmen und das eine oder andere erwartungsfroh kindische Kichern.
    Lysanna griff ihn sanft am Kinn und führte seinen Kopf in ihre Richtung. Sie ließ sich Zeit dabei. Frennik jedoch, ungeduldig wie er war, schnellte auf halbem Weg plötzlich nach vorn um sich den Kuss von ihr zu stehlen, damit sie es sich vorher nicht doch noch anders überlegen konnte – und versenkte seine Lippen zwischen den warmen Hinterbacken seines Sitznachbarn. Als er bemerkte, dass er keinesfalls die weichen Lippen seines Täubchens getroffen hatte, riss er die Augen weit auf, stieß hustend-würgend den haarigen Hintern von sich fort und fiel dabei mit rudernden Armen rücklings von der Bank.
    Der gesamte Gastraum johlte über den Schabernack, wieherndes Gelächter füllte die Stube und war sicher noch über den Sturm hinweg nach draußen zu hören. Frennik war der Schanktochter gerade gehörig auf den Leim gegangen und wurde zum unfreiwilligen Mittelpunkt der Belustigung.
    „Was ist los Frennik?“, rief einer, der neben der Tür saß, „Hat dir dein erstes Mal nicht gefallen?“ Auch dieser Scherz wurde lautstark mit Beifall quittiert, Stiefelsohlen polterten dazu auf den ausgetretenen Dielen.
    „Scheint nicht ganz sein Geschmack zu sein“, antwortete Lysannas Komplize und zog über alle vier Backen grinsend seine Hose wieder hoch. Sie bedankte sich bei ihm mit einem adretten Knicks und einem ebenso schelmischen Grinsen.
    Frennik rappelte sich derweil auf, wischte sich angewidert mit dem Ärmel über den Mund und spuckte mehrfach aus. Lysanna hatte unterdessen ihre Bühne erneut erklommen, sah vom Tisch auf ihn hinunter und ließ den Blick dann durch den Schankraum schweifen. „Lasst euch das eine Lehre sein, meine hochwohlgeborenen Herren! Huren und leichte Mädchen kann man sich ergaunern, aber wer eine richtige Frau will, der muss mehr können als nur mit der Börse und schönen Worten klimpern!“
    „Hört, hört!“, schallte es glucksend im Chor.
    Lysanna streckte die Arme von sich und posierte in burschenhaften Posen, um mit ihren zierlichen Muskeln anzugeben. Nach dem Possenspiel zwinkerte sie Frennik entschuldigend zu und zuckte mit den Schultern, als Antwort darauf, dass er schwer verärgert zu ihr hinaufsah.
    „Aber da wir im bibbernden Bären alle keine Unmenschen sind“, richtete sie das Wort erneut an die Anwesenden, „entschädigen wir unsere Gäste, die zum Abendprogramm und der guten Laune beitragen, natürlich gebührend.“
    Sie beugte sich versöhnlich zu Frennik herunter und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn, dann patschte sie ihm sachte gegen die stoppelige Wange.
    Frenniks Sitznachbarn zogen ihn daraufhin wieder auf die Bank herunter und schenkten ihm mit großen Schwappen aus ihren Bechern nach, freundschaftliches Schulterklopfen und Haarewuscheln dämpften den Ärger über den groben Scherz auf seine Kosten leidlich. Schon bald darauf stahl sich wieder ein Lächeln auf seine Züge.
    „Lacht nur, ihr kurzbeinigen Wichte“, moserte er gegen den Spaß an, der allem Schabernack zum Trotz wieder in ihm aufglühte, „meinen Kuss hab‘ ich ja doch bekomm‘!“
    „Auf Frennik!“, rief Lysanna und hob, der Menge zuprostend, einen unsichtbaren Becher in die Höhe. Die restlichen Männer taten es ihr gleich und nahmen jeder einen kräftigen Zug aus ihren Humpen.
    Lysanna wartete die erleichterten Ahs und lautstarken Rülpser ab, dann klatschte sie kräftig in die Hände. „Nun die Herren, was machen wir mit begonnenen Abend?“, rief sie in die Runde.
    „Wir singen und saufen, bis der nächste Winter vor der Türe steht!“
    „Ja, Mädchen, ein Lied!“, pflichtete einer dem ersten Rufer bei.
    „Danz nommal fhür uns, D-Däubchen! Dasss wahr doch s-so soho hüpsch!,“ lallte einer undeutlich neben ihr und konnte schon die Augen nicht mehr offen halten.
    „Ein Gedicht! Ein bisschen Poesie für das verdummte Pack hier und was schönes für die vernarbten Seelen!“
    „Nein, eine Geschichte, Kleines! Erzähl uns was aus dem Nähkästchen!“, rief ein anderer.
    Lysanna wandte sich dem Letzten zu.
    „Eine Geschichte also, hm? Ja… ja, nach einer Geschichte steht mir auch der Sinn! Aber was für eine Geschichte soll’s sein? Es gibt doch so viele!“
    In gespielter Hilflosigkeit wartete sie erneut auf Vorschläge – wie erwartet überschlugen sich die Rufe zum wiederholten Male. Die Mehrheit bestand auf eine anzügliche Erzählung und Lysanna zog tatsächlich in Erwägung, den durcheinanderbrüllenden Kerlen ihren Willen zu lassen. Doch sie entschied sich nach kurzem Überlegen anders.
    Mit einer knappen Geste bat sie um Ruhe und das Publikum gehorchte sogleich.
    „Lieder, Gedichte,… alle schön und gut. Aber was haltet ihr stattdessen von einer noch sehr jungen Sage aus den Bergen? Einer unheimlichen Geschichte, bei der sich euch die Haare zu Berge stellen? Meint ihr, eure alten gegerbten Mägen verdauen einen zähen Schauderschinken?“
    „Du kannst doch gar keine Gruselgeschichten erzählen, Knöspchen!“
    „Genau, so hübsche Mädchen kennen überhaupt keine Geschichten, die uns das Fürchten lehren können!“
    „Oh! Seid ihr euch da wirklich sicher?“, fragte Lysanna schelmisch und zog eine Augenbraue in die Höhe.
    „Natürlich, sieh uns stattliche Männer doch an!“, lachte einer lauttönend und hob sein Holzbein in die Höhe.
    „Nun gut.“ Lysanna machte einen Satz vom Tisch herunter und zog einem der Männer salopp seinen ledernen Schlapphut vom Kopf. Sie hielt ihn auffordernd in die Runde.
    „Jeder, der der selben Meinung ist, wirft mir einen Schilling zu! Ich find‘ nämlich, die wirklich Furchtlosen sollten auch keine Angst davor haben, für ihren Mut mit ein wenig Kupfer zu bürgen. Doch Achtung! Schaudert‘s euch am Ende doch, behalt‘ ich den Wetteinsatz. Könnt ihr stattdessen reinen Gewissens behaupten, ich hab‘ euch nicht wenigstens ein bisschen erschreckt bekomm‘, kriegt derjenige ein ganzes Fass Bier! Also, ein Schilling gegen ein Fass, wer ist ein Hasenfuß und wer ist keiner?“
    Es dauerte keine fünf Herzschläge, da klimperten so viele Münzen im Hut, dass Lysanna mit der zweiten Hand darunter greifen musste, ihm ihn nicht fallen zu lassen. Es waren bei weitem mehr als ein Schilling je Kopf. Geschichten zu erzählen wurde immer großzügig belohnt, keinem ging es vorrangig um die Fässer, und wie man am gut gefüllten Hut sah, eilte Lysanna mit dem Goldkehlchen ihr Ruf einmal mehr voraus.
    „Wie ich seh‘ sind die meisten von euch sehr von sich selbst überzeugt. Schau‘n wir mal, wie lang‘ der Übermut noch anhalten wird.“
    Sie trat um den langen Tisch herum, legte den prallgefüllten Hut neben sich auf die Dielen und zog scharrend einen Schemel heran. Vor dem prasselnden Kaminfeuer nahm sie Platz, ließ sich ihre Laute und einen herrenlosen Krug reichen, an dem sie gegen ihre trockene Kehle nippte.
    „Seid so gut und löscht das Licht… es sei denn, ihr habt Angst im Dunkeln – dann löscht es trotzdem, denn keiner schert sich hier um euch schlotternde Wichte.“
    Umhänge, Mäntel und Lederwesten raschelten, während die Männer leise glucksend nach den kleinen Öllampen an den Wänden griffen und die Flammen niederdrehten. Artig nahm jeder wieder Platz und sah gespannt zur Wirtstochter herüber.
    Lysanna wartete geduldig, bis es vollkommen ruhig war und nur noch der flackernde Feuerschein des Kamins dem Raum die Dunkelheit streitig machte. Die flackernden Flammen schienen sich in ihrer Mähne zu verfangen und auf den Strähnen zu tanzen, von ihrem Gesicht hingegen blieben nur noch zarte Konturen zu erkennen. Das Knacken der Scheite und deren wohlige Wärme erzeugte eine dazu passende Stimmung.
    Lysanna schloss die Augen und räusperte sich. Sie atmete einmal tief durch und begann mit festem Ton in ihre Erzählstimme zu schlüpfen, während ihr Blick von Gesicht zu Gesicht zu Gesicht wanderte und jeden mit einem persönlichen Augenaufschlag in die Geschichte einlud.
    „Es ist einige Jahre her, da erzählte mir ein Gaukler, der hier Station machte, von der weißen Witwe in den Bergen.“
    „Oh nein! Ich schlotter‘ schon jetzt, so halt‘ mich doch einer!“, rief jemand frech herein.
    Mit einem deutlichen „Halt’s Maul, du dummer Sack!“ fing er sich daraufhin gleich etliche grobe Rempler von allen Seiten.
    Lysanna nickte dankend in Richtung derjenigen, die den Unruhestifter wieder zum Schweigen gebracht hatten. Sie rückte etwas vom heißen Kaminfeuer weg und näher an die Zuhörer heran, senkte die Stimme, um es geheimnisvoller zu machen und fuhr fort.
    „Der Mann schien ein bisschen wirr im Kopf zu sein und er war noch dazu betrunken, doch seine Angst und das Schaudern in seiner Stimme… ich schwöre es euch bei meinem Leben… nie, niemals habe ich echtere Furcht erlebt. Seine Augen waren weit aufgerissen und von Tränen des Schreckens verschleiert, als er mir von der Witwe und ihrem schlimmen Schicksal berichtete. Und ihr könnt es mir freilich glauben, nachdem ich hörte, was er zu sagen hatte, kann ich ihm nur beipflichten.“
    Lysanna schüttelte sich, als würde sie erst ihre aufziehende Gänsehaut überwinden müssen und setzte dann die Erzählung fort.
    „Einst soll eine Frau mit Mann und Kind hier entlanggekommen sein. Sie nahmen im Spätjahr, kurz vor dem Einbruch des Winters, die gleiche Straße, die hier an der Tür des bibbernden Bären vorbeiführt. Sie entschieden sich für jene Passage, die auch ihr noch nehmen werdet oder genommen habt, um auf die andere Seite nach Brackenwall zu gelangen. Sie schafften es unversehrt hinüber. Das Unglück jedoch ereignete sich nicht auf dem Weg dorthin, sondern nach ihrer Ankunft am Ziel in Brackenwall.
    Einer der Fürsten wollte die Frau ehelichen, nachdem sie ihm zwischen den vielen feinen Damen aufgefallen war. Wollte ihre Schönheit nur und allein für sich in Anspruch nehmen und ihr die Welt zu Füßen legen. Doch sie verschmähte ihn, weil sie schon einen guten Mann hatte und der Fürst hingegen ein verbitterter Tyrann war. Der Fürst allerdings war es nicht gewohnt, dass man ihm verwehrte, was er begehrte. Niemand zuvor hatte es je gewagt. Zurückgewiesen und von bösartiger Wut verzehrt, ordnete er an, die Frau hinrichten zu lassen und ihren Sohn und dessen Vater gleich mit. Die passenden Lügen hatte er parat, und da er der Fürst war, stellte niemand seine Lügen in Frage. “
    Lysanna machte einen Atemzug lang Pause, um die Dramatik des Gesagten wirken zu lassen. Die Worte entfalteten ihre Wirkung.
    „Eine gute Seele warnte die Familie jedoch und so flohen sie alle rechtzeitig, um der Hinrichtung zu entgehen. Der Fürst aber war rasend vor Zorn und folgte ihnen allein auf seinem Pferd. Er hetzte sie. Hetzte aus der Stadt. Hetzte sie über die Wiesen und Hänge. Hetzte sie hinein in den Pass. Hetzte sie Tag um Tag, bis er sie schließlich auf einem Pfad unweit von hier einholte. Der Vater stellte sich dem Fürsten mutig um seine Familie zu schützen, doch er unterlag dem geübten Kämpfer ohne jede Chance und wurde vor den Augen von Frau und Kind niedergestochen - und anschließend vom Fürsten grausamst enthauptet. Wie ihr selbst am besten wisst, haben die Berge allerdings ihr eigenes, zumeist sehr sprunghaftes Gemüt. Im selben Moment noch, in dem die Klinge auf den Hals niederging, ballte sich grollend ein Unwetter zusammen. Der Fürst war zwar ein böser Mensch, doch ebenso mannigfaltig schlecht wie er auch war, so wenig war er mit Dummheit geschlagen. Er wusste um die Macht der Natur in den Bergen und was sie mit Menschen tat, die in einem Gewitter Eisen am Leibe trugen. Bangend um seine eigene Haut jagte er auf seinem Pferd davon, ließ im Angesicht der Gefahr Rache eben Rach sein. Denn ein Feigling war er überdies.
    Und so ließ er Mutter und Kind im heulenden Sturm zurück.
    Verängstigt und frierend, ohne die Führung des Vaters, irrten die beiden in den Bergen herum. Bald schon wähnten sie sich fauchenden Schneegestöber verloren und hatten zu ihrem Unglück damit recht.
    Wäre ihnen an diesem Tage der Götter Gnade auf dem Fuße gefolgt, so wären sie einfach Arm in Arm erfroren. Doch wie so oft blieb jene Gnade gerade denen verwehrt, die am meisten auf sie angewiesen waren.
    Doch damit nicht genug!
    Eine Spalte tat sich aus dem Nichts im Gletscher auf und verschlang das Kind urplötzlich von einem Augenblick zum nächsten. Die Mutter wollte hinterher, wollte sich hineinstürzen ins Loch, um wenigstens das Kind zu retten, wo ihr Gemahl doch schon erschlagen worden war. Aber die Spalte war so klein, dass nur der Sohn hindurchpasste. Er war sogleich fort, verstummt und verschwunden in den Eingeweiden des eisigen Berges.
    Der Tod nahm sich kurz darauf der Mutter an, doch die Mutter weigerte sich, mit ihm zu gehen. Nicht, bevor sie ihr Kind nicht geborgen hatte, nicht, bevor die Vereinigung mit ihrem Fleisch und Blut jene Gram über den Verlust besänftigen konnte. Der Schnitter willigte ein ihre Seele auf der Erde wandeln zu lassen, bis sie fündig geworden war, er mahnte sie aber gleichzeitig, dass sie vielleicht nie mehr Ruhe finden würde, wenn sie nun nicht mit ihm ginge. Die Mutter vernahm das Gesagte und die Mutter... zahlte den Preis.“
    Lysanna begann mit den Fingerspitzen sachte und gleichmäßig gegen den Bauch der Laute zu trommeln, immer und immer wieder hallten die zwei schnell ineinander übergehenden Töne durch den mucksmäuschenstillen Schankraum. *po-poch* *po-poch* *po-poch*
    Etliche Wiederholungen lang sprach Lysanna nichts. Beinahe unmerkbar langsam senkte sie den Kopf, ihre Züge verschwammen mehr und mehr in ihrem selbstgeworfenen Schatten. Die unheimliche Stimmung griff um sich, untermalt von dem nicht enden wollenden Pochen.
    „Seitdem berichten die Reisenden immer und immer wieder davon, auf ihren Gängen durch die Berge von diesem leises Pochen begleitet zu werden. Es scheint in ihren Köpfen zu sein und gleichsam von den Hängen widerzuhallen, doch keiner kann seine Quelle finden und niemand weiß, wovon es entstammt. Doch zu viele berichten vom Herzschlag der Berge, als dass es bloße Einbildung sein kann oder wie erklärt man sich, dass jeder, der durch das Gebirge streift, dem gleichen Hirngespinst anheimfällt?
    Gleichbleibend ertönt es des Tages wie des Nachts, gibt den Wanderern und Pilgern den Takt ihrer Schritte vor und manchmal, wenn die Reise zu lange dauert… dann führen sie jene Schritte, aus der Bergestiefe geleitet, ins Unheil und in den Wahnsinn. Die Bemitleidenswerten stürzen schreiend von den Pfaden und in die Schluchten hinein. Sie lösen durch Fehltritte Lawinen aus, in denen sie mit Geröll und Schnee und Eis tosend herniedergehen. Sie schlagen mit fürchterlichen Geräuschen auf den Felsen auf und sterben qualvolle Tode in der Kälte, irrgeleitet – denn sie folgen dem Herzschlag des Kindes, der nach seiner Mutter ruft und sich weigert, zu verstummen, bis sie wieder vereint sind. Der Schlag zieht die Unglücklichen an und wirft sie in einen furchtbaren Tod, hofft dadurch, dass ihre Schreie von der Mutter vernommen werden… hofft, dass die peingeplagten Laute jene Frau an sein Grab heranführen, die ihn einst geboren hat.
    Doch die Mutter kann das Kind nicht finden. Sie will von Herzen, doch sie ist dazu nicht imstande. Erblindet durch Sturm und Schnee irrt sie, immer den Böen folgend, herum, auf der Suche nach etwas, dass für sie auf immer verloren scheint und wird gequält von der Einsamkeit des kleinen Herzschlags, der so nah und doch so fern im Echo durch die Schluchten schallt.“
    Lysanna wurde bei den folgenden Worten immer leiser, Angst durchsetzte ihre wohlklingende Stimme und ließ sie zittern wie die Saiten einer Leier.
    Ihre geraunten Silben schnitten geradewegs in die Herzen der Zuhörer.
    „Doch manchmal *po-poch
    wenn ein Wintersturm so wie heute *po-poch*
    vor den Fenstern des bibbernden Bären tobt, *po-poch*
    treibt der Wind die weiße Witwe vor sich her *po-poch*
    und ihre Suche nach dem verlorenen Balg, *po-poch*
    führt sie über die Pfade, *po-poch*
    führt sie durch unseren Pass *po-poch*
    und führt sie bis an die Tür unserer Hauses *po-poch*
    und dann …“

    Lysanna schlug zwei kräftige Male auf den Lautenbauch und sprang dabei mit einem Schrei auf, der Schemel fiel laut polternd nach hinten um. Einige selbsternannte, gestandene Männer jauchzten vor Schreck in die Totenstille hinein, andere zuckten erschrocken zusammen. Wieder andere verschluckten sich an ihrer eigenen Spucke und begannen zu Husten, weil sie das Abschlucken schon vor Minuten vergessen hatten.
    Als in den folgenden Augenblicken nichts weiter geschah, begannen die ersten erleichtert auszuatmen, einige sahen sich zunächst unsicher um und an, und begannen dann gelöst zu grinsen.
    Die Wirtstochter sah sich mit großen Augen in der Runde um und atmete schwer, dann entspannte sich Ausdruck und die verbeugte sich mit der Laute in der Hand.
    Verhaltenes Lachen ging schon bald in ersten, zaghaft anschwellenden Applaus über, der sich tosend steigerte.
    Plötzlich drosch es zweimal gegen die Eichenbohlen der Haupttür.
    Ausnahmslos alle sprangen auf und wandten sich zum Eingang um, Hände schnellten an Gürtel und umfassten Dolche, Schwerter und Prügel. Eine Armbrust richtete sich auf die Quelle des Klopfens, Pulverhähne klackten und Läufe schwenkten herum.
    Niemand sprach.
    Niemand wagte auch nur zu atmen.
    Sekunden verstrichen in vollkommener Stille.
    Wieder schlug es zweimal ans Holz.
    „Heyda! Ich weiß, dass ihr noch da seid!“, drang eine bekannte Stimme gedämpft von außerhalb durch die Ritzen der Tür. Narn erschien am Fenster und klopfte erneut mit dem Ellenbogen. Er stand bibbernd draußen in der Kälte. „Lasst mich gefälligst in mein eigenes Haus, ihr elendes Lumpenpack. Die vermaledeite Hintertür geht nicht mehr auf!“
    Mit pochenden Herzen ließ man die Waffen wieder sinken und Frennik erbarmte sich schließlich, dem halb erfrorenen Narn zu öffnen. Der Wirt stolperte mit einem kleinen Fass auf jeder Schulter über die Schwelle, brachte den halben Winter mit in die Schankstube hinein und schüttelte sich die Flocken vom Leib und aus dem Bart, nachdem er den Nachschub neben die Tür gewuchtet hatte. Der Sturm heulte für einen Augenblick von draußen herein und zankte sich bei jener Gelegenheit sogleich kräftig mit dem herunterbrennenden Kaminfeuer.
    „Herrje!, rief Frennik und griff sich, noch immer schnaubend vor Schreck, an die Brust. „Hast du uns einen Schrecken eingejagt!“
    „Du hätt‘st mal sehen sollen, wie dumm ich erst geguckt hab, als die verfluchte Hintertür einfach zugefroren war! Glotz mal nach draußen, Jung, ich dacht‘, ich schaff’s erst gar nicht mehr zur Vordertür!“
    Frennik starrte an Narn vorbei in die Dunkelheit, in welcher fingernagelgroße Schneeklümpchen durch den heraussickernden Lichtschein der Stube geschleudert wurden.
    Narn rempelte ihn in die Seite. „Frennik, verdammt, auf was wartest du? Mach‘ zu, oder hast du daheim Säcke vor den Türen?“
    „Ja…ich mein‘ nein, hab ich nicht… ich dacht‘ nur gerad‘… ich hätt‘-„
    Ein gewaltiger Windstoß fegte in den Schankraum hinein. Frennik bekam die katapultierende Tür ab, flog rücklings davon und ging zu Boden. Die obere Angel brach durch die Wucht aus der gemauerten Wand. Krachend schlug das Türblatt gegen die Steine und blieb dann schräg auf den Dielen hängen, die anhaltende Kraft der Böe verhinderte, dass das zerschundene Türblatt wieder zurückkippte.
    Das freihängende Scharnier tanzte quietschend im Sturmwind.
    Ein Schatten erschien in dem Viereck, den das ersterbende Kaminfeuer in die Schwärze nach draußen warf. Langsam wurde der Umriss heller, die Konturen klarer und der Schreck, der jedem Anwesenden das Mark zittern ließ, schlimmer.
    Ein vom Sturm zerfurchtes Gesicht in ungesundem grau-weiß, eingerahmt von silbernen Haaren, die wie verklebte Spinnennetze vom Wind umhergerissen wurden, starrte mit trüben Augen ins Innere der Schankstube – und gefühlt bis auf den Grund jeder einzelnen Seele. Die verdorrten und verschrumpelten Lippen reichten nicht mehr bis aufeinander und verliehen dem toten Antlitz ein bizarres Grinsen, welches einem das Blut in den Adern gerinnen ließ.
    Füße, knochig, zerbrechlich und in ein trostloses grau gefärbt, schwebten eine Handbreit über dem Boden und schoben einen abgemagerten Körper in einem zerschlissenen, viel zu groß wirkenden Reiseumhang über die Schwelle. Ein durchlöchertes Kleid wurde darunter sichtbar. Einst in bunten Farben gehalten lag nun ein trauriger schmutziger Grauschleier blass über den ehemals schönen Mustern. Leblose Augen richteten sich langsam auf Lysanna, die angststarr beobachtete, wie sich das geisterhafte Wesen ihr nährte. Nur ihr und niemandem sonst.
    Sie stand durch den drückenden Wind mit dem Rücken zur Wand, wollte fliehen, mit jeder Faser ihres Körpers wollte sie auf und davon. Doch Lysanna konnte nicht. Keines ihrer Glieder gehorchte ihr mehr. In ihrem Kopf heulte die Angst mindestens so laut wie der Sturm selbst und ließ keinen anderen Gedanken mehr zu, bis auf den einen, dass sie nun sterben würde.
    Langsam kam die Gestalt näher. Tische schoben sich laut scharrend wie von Geisterhand davon, als würde die unnatürliche Aura sie einfach zur Seite pflügen. Lysanna starrte auf die knorrigen Finger, die sich ihr Zoll um Zoll auf sie zuschoben und bekam kreischende Todesangst vor jener klauenhaften Spukhand, die sich ihr entgegenstreckte. Zu ihrer Überraschung und gleichsam zu ihrem Entsetzen, zogen die von der Kälte mumifizierten Glieder ihr die Laute aus dem verkrampften Griff.
    Das Wesen starrte auf das Holz hinab, auf dem sich erste Eiskristalle in den Vertiefungen der Blumen- und Rankenschnitzereien zu bilden begannen. Für einen halben Herzschlag hätte man glauben können, dass Wehmut in dem erloschenen Blick aufgetaucht wäre.
    Steif, aber dennoch sanft, pochte der Spuk gegen den hölzernen Korpus. Lysannas künstlich erzeugter Herzschlag ertönte von neuem. Ein einziges Mal nur. Und obwohl er so sacht angeschlagen wurde, klang er doch über den Sturmwind hinweg und drang gleichsam durch Mark und Bein.
    Das Wesen schloss die Augen und senkte den Kopf, eine gefroren Träne kam unter einem der Lider hervor. Sie fiel, unbekümmert vom Wind, zu Boden und formte eine tellergroße Eisblume. Von draußen erklang ein furchtbares Heulen im Sturm. Es schwoll unvermittelt an und ließ jede Scheibe des bibbernden Bären in einem Gewitter aus Scherben zerspringen.
    Lysanna kreischte mit einem hohen Schrei auf, warf sich zu Boden und hielt sich wimmern und verängstigt den Kopf. Beide Hände pressten sich gegen ihren Schädel, der vor Furcht ebenso zu zerspringen drohte, wie es den Butzenglasscheiben des Wirtshauses gerade widerfahren war.
    Und kurz bevor ihr Verstand vollends erlahmen wollte, und die eisigen Klauen des Schreckens ihr Herz zu zerquetschen drohten, verstand sie plötzlich.
    Der plötzliche Kummer, der Sturm, die Tote und das Pochen. Es war der nachgeahmte Herzschlag, der die arme verdammte Seele angelockt hatte. Doch dieser Herzschlag war nicht der richtige, nicht der, den sie suchte. Nicht der ihres…
    „Du bist… die weiße Witwe…“, raunte sie fassungslos und sah zwischen den Fingern hindurch nach oben.
    Die Erkenntnis traf Lysanna wie ein Huftritt vor die Brust und unter die schreckliche Angst in ihrem Innersten, mischte sich der Samen des Verstehens. Lysanna gewährte ihm einen Moment und spürte, wie daraus etwas erwuchs. Ein zarter Sprössling des Mitgefühls und der Aufforderung, die geschehene Ungerechtigkeit wieder ins Reine zu bringen. Sie spürte, dass sie etwas tun musste, vielleicht sogar helfen konnte und betete dabei inständig, dass sie mit ihrer dummen Ahnung nicht gerade ihr Leben verspielte. Lysanna biss sich schmerzhaft auf die Unterlippe bis rote Blutstropfen hervorquollen und zwang sich dazu, schlotternd aufzustehen. Vorsichtig kroch sie an der Wand empor, betrachtete unablässig das Antlitz der lebenden Toten, suchend, ohne jedoch fündig zu werden. Nun war sie es, die ihre Hand vorsichtig nach der Laute ausstreckte. Lysanna näherte sich ihr ganz langsam und griff äußerst behutsam über die ersten Saiten hinweg. Die Spukgestalt ließ sie ausdruckslos gewähren. Die Wirtstochter zupfte, von einem herzzersprengenden Angstzittern geschüttelt und der Ohnmacht nahe, einige der Saiten, um eine einfache Melodie erklingen zu lassen. Es war die erste, die sie sich selbst beigebracht hatte und in der sie Trost fand, wann immer sie traurig war.
    Sie schluckte gegen den Klos in ihrem Hals an, das Wesen war ihr viel zu nahe. Und es verströmte eine so derart unnatürlich Kälte. Es fühlte sich an, als würden Eiskristalle durch ihre Adern kratzen und sie von innen heraus aufschlitzen. Lysannas Angsttränen begannen in den Augenwinkeln zu gefrieren, als der tote Blick sich in den ihren bohrte und sich der Spukschädel mit der pergamentartigen eingerissenen Haut knisternd zur Seite legte. Taubheit begann sich von ihren Fingerspitzen an ihren Arm hinaufzuschieben und auf ihr Herz zuzuhalten.
    „Wenn… wenn er dich spielen hört“, begann sie schluchzend mit bebender Stimme, „dann… antwortet er vielleicht. Vielleicht findet ihr dann wieder zusammen… vielleicht bist du es diesmal, die Rufen muss… und er… er muss antworten.“
    Sekundenlang geschah nichts.
    Da war nur noch dieser Blick, kalt wie das Herz eines Gletschersees und so bar jeden Gefühls wie die Berge selbst.
    Dann nickte das Wesen kaum merklich, drehte sich langsam mit der Laute in den Armen um und schwebte wieder in die Nacht hinaus. Nur Augenblicke später war es in der Nacht verblasst, spurlos verschwunden und mit ihm jeder noch so seichte Hauch des Sturms - als wäre all das niemals geschehen.
    Die vom Schrecken gelähmten Anwesenden starrten noch lange in die Finsternis hinaus und beobachteten das ersterbende Schneetreiben, bevor sich endlich einer von ihnen traute, aufzuspringen und die schlingernde Tür ruckartig ins Schloss zu werfen.

    Als die Morgendämmerung einsetzte saß Lysanna immer noch weinend an die warme Basaltwand des Kamins gelehnt. Sie hatte in dieser Nacht nicht geschlafen. Keiner von ihnen allen hatte den Raum verlassen oder geschlafen, oder auch nur eine Silbe gesprochen. Das Wimmern hartgesottener Männer hatte sie alle durch die Nachtstunden begleitet, ebenso das jämmerliche Quietschen des Scharniers, dass die Eingangstüre nicht mehr im Schloss zu halten vermochte und sie halboffen immer eine Elle hin- und herschlingern ließ.
    Lysanna fragte sich, ob die lähmende Kälte je wieder aus ihren Gliedern weichen mochte. Noch immer hatte ihr Herz Mühe, das nur langsam auftauende Blut durch die Adern zu pumpen, obwohl der Basalt in ihrem Kreuz noch immer warm war.
    Sie die Arme um ihr Beine geschlungen, hatte sich stundenlang ausgeweint und seitdem nicht mehr aufgesehen. Sie wollte auch gar nichts und niemanden sehen, sie hatte Angst davor, was sich ihr zeigte, wenn sie den Kopf anhob und die Augen öffnete. Bis jetzt. Denn jetzt hörte sie etwas Anderes als ihr eigenes Schluchzen und die leisen Geräusche des nicht weichen wollenden Schreckens.
    Nein, was sie nun vernahm, war völlig anders, völlig unerwartet, völlig fern jeder Vernunft, völlig unmöglich. Die Wirtstochter war sich sicher, dass ihr niemals jemand glauben würde, was anschließend in ihrem Geist widerhallte.
    „Danke“, zitterte sich eine wohlklingende dünne Stimme zaghaft durch Lysannas Gedanken, die sich im Nachklang ein wenig nach raschelndem Laub anhörte, und ließ die Schankmaid mit Gänsehaut im Nacken aufblicken. Das erste Morgenrot tränkte den Horizont flammenfarben und blutete allmählich über den wolkenlosen eisblauen Himmel.
    „Danke, dass du solange darauf achtgegeben hast.“
    Lysanna traute ihren Ohren nicht, und sie tat es noch viel weniger, als eine weitere Stimme, eine, die sie Jahre zuvor das letzte Mal gehört hatte, in ihrem Kopf erklang.
    „Hab Dank, kleines Goldkehlchen. Hab vielen Dank.“
    Ein Kinderlachen schloss sich den wärmenden Worten des verschollenen Spielmannes an und verhallte mit langem Echo in ihrem Geist, während Lysanna durch den Haupteingang beobachtete, wie die erstarkende Sonne die Nacht davonscheuchte. Ihre warmen Strahlen tilgten die schwarzen Schatten und schmiegten sich um etwas, das zwischen Scherben und verblassender Dunkelheit auf der Türschwelle auftauchte.
    Lysanna wusste bereits was es war, noch bevor sie den Umriss ganz erkannte hatte: Es war das wunderschön gearbeitete und polierte Holz ihrer unversehrten Laute.


    *

    Ende

  • Den Prototypen dieses Textes hatte ich vor einer ganzen Weile schon mal in einem anderen Thread gepostet, dieser hier ist allerdings eine mehrfach überarbeitete und feingeschliffenere Version und damit einer der wenigen Texte, unter die ich wirklich mal ein "Ende" drunter setzen kann.


    ~Ausstrahlung~


    Spoiler anzeigen


    Stell dir vor…

    … du sitzt auf einer Bank in der Fußgängerzone. Die angewitterten, grausilbernen Holzbalken, welche rechts und links auf zwei Betonklötzen aufliegen, sind nicht sonderlich bequem, aber das müssen sie auch nicht sein. Du wartest ja nur für den Moment. Darauf, dass dein Kumpel sich endlich aus den Umrissen der vielen Menschen herausschält und ihr zu eurem Termin aufbrechen könnt. Seit Wochen wartet ihr schon darauf, dem Kunden euer neues Konzept vorzustellen.
    Der Himmel über dir ist in einem einheitlichen hellen Grau bewölkt, macht aber dennoch seit den frühen Morgenstunden keinerlei Anstalten seine Schleusen über der Stadt zu öffnen. Es würde dich nicht stören, wenn es zumindest heute mal nicht regnet.
    Gelangweilt starrst du deine schwarzen Sneaker mit den schmutzig-weißen Schnürsenkeln an und steckst die Hände in die weiten Taschen deines Kapuzenpullovers. Du hast ihn heute Morgen samt einer zerfledderten Jeans aus dem Klamottenhaufen auf deinem Schreibtischstuhl herausgewühlt, weil sein stumpfes Blau dir irgendwie zugesagt hat und es laut Wetterprognose den ganzen Tag über recht frisch bleiben soll. Gut, dass du dich so entschieden hast. Eine Jacke wäre womöglich eine noch etwas bessere Wahl gewesen, aber der Pulli tut es auch. Immerhin geht es gerade mal zaghaft auf den Herbst zu und nicht auf den tiefsten Winter. Er wird also reichen.
    Mit einer Mischung aus Schnauben und stummem Seufzen ziehst du nun eine Hand aus der Pullovertasche und spickst auf deine abgetragene alte CASIO. Dein Kumpel ist überfällig. Mal wieder. Wie hattest du auch etwas Anderes erwarten können? Pünktliche Menschen müssen überraschend oft die Zeit totschlagen, indem sie warten…
    Ungeduldig schiebst du deine Brille auf der Nase ein Stück nach oben und tippst mehrmals unruhig mit der Fußspitze auf den Boden.
    Trotzdessen, dass es zwar wie angekündigt, frisch, aber nicht wirklich kalt ist, ziehst du im Anschluss die Kapuze an ihren beiden braunen Schnüren enger und versenkst deine Hände dann wieder in den warmen Taschen deines geliebten alten Pullis. Ein wenig fröstelst du ja nun doch irgendwie. Kein Wunder, weil du ja auch schon eine halbe Ewigkeit starr herumsitzt.
    Gedankenverloren wippst du auf deinem Platz ein wenig nach vorn und hinten, um durch die Bewegung wenigstens ein bisschen warm zu bleiben, während dein Blick ohne wirklichen Anker über die Menschen schweift. Sie schlendern alle nur stumpf umher, wie immer, wenn es an Freitagen auf den Nachmittag zugeht, weil sie in Gedanken schon Zuhause auf dem Sofa sitzen. Die letzten Wochenendeinkäufe werden gemacht, für die Party am Samstag wird noch schnell ein schrilles Top besorgt – aber eigentlich eint sie alle, dass sie in ihrem Inneren der Mattscheibe, einem guten Film und einer Tüte Chips entgegenfiebern.
    So wie du auch, gäbe es da nicht noch diesen Termin.
    Da die Langeweile nicht nachlässt, musterst du nach kurzer Zeit schließlich doch die Leute, die, ohne von dir Notiz zu nehmen, durch die Gasse laufen. Eine alte Frau mit einem knielangen hellbraunen Fellmantel geht an dir vorbei und zerrt einen wenig beneidenswerten, schwer hechelnden Mops hinter sich her, der nicht mehr weiter will, es aber dennoch muss. Mit ihrem kurzgeschorenen grauen Pixieschnitt, dem schreiend roten Lippenstift und dem völlig überdosierten türkisblauen Lidschatten sticht seine Besitzerin aus der Menge heraus - auf eher skurrile Weise und nicht etwa als willkommener Blickfang. Ja, in dem Strom aus Menschen gibt es auch vereinzelte Kuriositäten und Paradiesvögel.
    Dein Augenmerk springt auf einen schlaksigen Jungen über, der sich gekonnt auf seinem Skateboard durch die Menge schlängelt. Er trägt nur ein viel zu weites weißes T-Shirt, eine zerschlissene Schlaghosenjeans und Sandalen, die kaum unter den Hosenbeinen hervorschauen. Alles in allem eine Kombination, die deiner Meinung nach gar nicht zu dem Wetter des heutigen Tages passt und dich bei ihrem bloßen Anblick noch mehr frösteln lässt. Bevor du den Aufdruck auf seinem umgedrehten, erdfarbenen Cappi lesen kannst, ist er auch schon ratternd auf den Rollen seines Boards die Fußgängerzone hinuntergeschossen und zwischen den wogenden Leibern der Passanten verschwunden.
    Du ziehst die Sohle deines rechten Fußes mit ein wenig Widerstand über die unebenen gelben Pflasterplatten, während die Zeit zäh dahinfließt. Die Wurzel eines nahen Baumes hielt es scheinbar für nötig, sich gerade hier bei der Bank einen Weg nach oben zu bahnen und hebt den Untergrund langsam aber sicher an. Gleichsam mit der Wurzel sprießt auch überall Unkraut durch die Fugen. Die Stadt täte gut daran, dem aufdringlichen kleinen Gestrüpp mal mit ein wenig Unkraut-Ex zu Leibe zu rücken. Über was man sich nicht alles Gedanken macht, wenn man warten muss…
    Wieder schweift dein Blick ziellos über die Fußgänger. Du nimmst die Geräuschkulisse um dich herum kaum mehr richtig wahr, es ist dasselbe beständige Hintergrundrauschen aus Schritten und Stimmgewirr, dem Rascheln von Einkaufstüten und den Geräuschen aus den umliegenden Geschäften, wie sonst auch. Die Körper verschwimmen immer mehr zu einem Strom aus schwarzen Jacken und blauen Jeans, die in vielfarbigen Schuhen und Stiefeln enden. Während deine Realität langsam in eine dumpfe Leere davondriftet, besteht alles zunehmend nur noch aus verwaschenen Schlieren… bis…
    …bis dein Blick plötzlich an einer jungen Frau haften bleibt. Ohne, dass du weißt warum, fokussiert er sich regelrecht auf sie. Sie ist hübsch, keine Frage und hat ein süßes Gesicht mit Stupsnase, aber sie hat nichts derart Besonderes an sich, dass rechtfertigen würde, dass du ihr länger als einen Augenblick Beachtung schenkst. Dennoch siehst du ihr entgegen, während sie die Gasse entlanggeht und sich vorsichtig über den blonden Pferdeschwanz fährt, als würde sie überprüfen, ob er nicht zwischenzeitlich verloren gegangen ist.
    Auch ihre Kleidung ist nicht sonderlich auffällig. Ein beiger Rollkragenpullover schützt sie vor der kühlen Herbstluft, ihre Beine stecken in schwarzen Jeans und ihre Füße in wadenhohen braunen Schnürstiefeln. Langsam dämmert dir, dass das, was deine Aufmerksamkeit auf sich zieht, nicht die Frau selbst ist. Jedenfalls nicht nur. Der geschwungene Lederkoffer, den sie in der rechten Hand trägt, birgt ebenfalls eine gewisse Faszination und weckt deine Neugier.
    Ein wenig unsicher steuert sie auf die Sitzgelegenheiten zu, die auf der anderen Seite der Fußgängerzone aufgestellt sind und nimmt zögerlich auf einer unbesetzten Bank Platz. Zwischen euch liegen gute dreißig Meter Abstand und obwohl sie sich direkt gegenüber von dir niedergelassen hat, sieht sie nicht zu dir herüber. Etwas verklemmt und steif - in sich gekehrt - aber auch irgendwie adrett sitzt sie dort, die Beine geschlossen und die Arme nahe am Körper. Der Koffer ruht sanft auf ihren Schoß gebettet. Ihre filigranen Hände liegen schützend darauf, fast schon so, als würde sie einen kleinen schlafenden Hundewelpen dort liegen haben und sich nicht trauen aufzustehen, weil sie ihn sonst wecken würde.
    Sie schließt die Lider, nimmt einen tiefen Atemzug und spitzt die Lippen, als sie die Luft in einem sachten Stoß wieder in die belebte Fußgängerzone entlässt. Wieder und wieder tut sie das. Anscheinend kosten diese Atemzüge viel Kraft und Überwindung. Sie muten wie eine Beruhigungsübung an. Jetzt wirst du langsam wirklich neugierig. Die junge Frau ist von etwas umgeben, das du nicht recht benennen kannst. Es ist eine Art Aura, die deinen Blick anzieht wie ein entferntes Licht in der Nacht.
    Noch während du zu begreifen suchst, warum deine Gedanken sich derart merkwürdig um gerade sie zusammenscharren, geht ein Ruck der Entschlossenheit durch ihren zierlichen Körper. Sie öffnet die beiden Verschlüsse des Koffers mit einem schnappenden Klicken, das du selbst über den leisen Trubel der Passanten hören kannst. Gleich darauf fördert sie eine glänzende, in wunderschönem Nussholz gemaserte Violine zutage. Vorsichtig legt sie den nun leeren Koffer neben sich auf die Sitzfläche ihrer Bank und steht auf. Ihre Finger greifen gefühlvoll neben sich und zaubern den zur Geige dazugehörigen Bogen hervor. Sie benötigt drei, vier Anläufe, bis ihr Kinn in der richtigen Position auf der Stütze des Instruments aufliegt, dann hebt sie den Hals der Violine mit einer tausendfach einstudierten Geste in die Waagerechte – und zögert. Erneut atmet sie angestrengt durch.
    Du kannst ihr ansehen, dass sie sich innerlich vor dem kommenden Moment scheut und sich dagegen wehrt, nicht zurückzuweichen. Ihre Wangen sind leicht angespannt und bekommen allmählich eine rosige Farbe, als die Aufregung nun doch die Oberhand gewinnt. Der darauffolgende Atemzug wird von einem kaum wahrnehmbaren Zittern begleitet. Entgangen ist es dir trotzdem nicht. Sie wirkt unfassbar nervös. Eine starke Zerrissenheit geht von ihr aus.
    Du bist völlig gebannt von ihrem Anblick, wohingegen sie noch nicht ein einziges Mal in deine Richtung gesehen hat. Sie selbst scheint keinen der herumwuselnden Passanten wirklich wahrzunehmen und auch die Passanten interessieren sich nicht für sie, während die Violinistin in ihrem Inneren mit sich selbst ringt und einen unerbittlichen Kampf austrägt, dessen Ausmaß du lediglich erahnen kannst. Ein Hindernis, eine Hürde, die sie kaum überwinden kann, hält sie scheinbar davon ab, den nächsten Schritt zu tun und den Bogen auf die Saiten zu setzen.
    Sie beißt sich auf die Unterlippe. Ihre Augen bleiben dabei die ganze Zeit über geschlossen. Das Publikum bedeutet ihr rein gar nichts und gleichzeitig ist jeder Zuhörer einer zu viel.
    Eine ganze Weile ragt sie wie eine nervöse Statue neben ihrer Bank auf, steht dort wie angewurzelt, und kämpft mit ihren unsichtbaren Dämonen.
    Schließlich lässt sie die Violine wieder sinken, ohne ihr auch nur einen Ton entlockt zu haben. Obwohl du die fremde Frau nicht kennst und überhaupt nicht wissen kannst, ob sie gut spielen kann, bist du enttäuscht.
    Wie dir klar wird, würdest du sie sehr gerne spielen hören und du weißt beim besten Willen nicht, warum. Deiner Meinung nach wäre es falsch, wenn sie jetzt aufgibt. In Gedanken ermutigst du sie, weiter zu machen, sich zu überwinden und einfach drauf los zu spielen, nichts auf die anderen zu geben und schlicht ihr Ding durchzuziehen. Ihr kennt euch nicht, trotzdem bist du der festen Überzeugung, dass sie es kann, dass sie Talent hat. Du willst, dass es so ist.
    Doch sie steht nur da und hat die Augen vor der Welt verschlossen. Der Violinenbogen hängt schicksalsergeben in ihrer Rechten herab, genauso wie das Instrument selbst in der anderen Hand. Ihre Erscheinung wirkt von einem Moment zum Nächsten erschöpft, beinahe so, als hätte sie die Niederlage gegen sich selbst auf eigenartige Weise gebrochen. Traurigerweise sieht sie aus, als hätte sie diese Niederlage bereits akzeptiert.
    Wieder und wieder beschwörst du sie stumm, sich einen Ruck zu geben.
    Du willst, dass sie ihre Motivation wiederfindet und sich ihr Mut wieder aufrappelt.
    Du wünschst dir nichts sehnlicher.
    Du musst sie um jeden Preis spielen hören.
    Aber sie steht nur da und hat offensichtlich bereits das Handtuch geworfen.
    Komm… trau dich… du kannst das…, murmelst du immer wieder hauchleise zwischen deinen eigenen angespannten Atemzügen hindurch.
    Als du deine Hoffnung schon beinahe aufgegeben hast, strafft sie plötzlich die Schultern und überstreckt ihren Hals. Einmal nach rechts und dann genauso noch einmal nach links. Gleich darauf rollt sie mit dem Kopf vor und zurück. Schon nimmt sie eine abschließende, disziplinverkündende Pose ein und ehe du dein Glück fassen kannst, beginnt der Bogen auch schon gefühlvoll über die Saiten zu gleiten. Verdutzt über den überraschenden Umschwung beginnst du zu lauschen.
    Die ersten Töne erklingen zaghaft und machen den Eindruck, als wäre die Geige ziemlich verstimmt oder als würden die Noten vollkommen willkürlich und disharmonisch daherkommen. Doch als die Rosshaare des Bogens wieder und wieder auf- und abstreichen, erschließt sich dir zunehmend das Konzept der Melodie. Du kennst das Lied. Die Radiosender haben es so oft gespielt, dass du es schon vor Wochen nicht mehr hören konntest ohne mit den Augen zu rollen. Es ist von Lana Del Rey und heißt Summertime Sadness.
    Ja, eigentlich magst du das Lied gar nicht, wirklich nicht. Aber etwas an der Art und Weise, wie die Violine die Töne formt, sie entlässt und in der Fußgängerzone vor der betongrauen, von Fenstern durchbrochenen Kulisse preisgibt, raubt dir mit jeder Note mehr den Atem.
    Genauso wie dich der Klang bezaubert, schlägt dich aber auch seine Schöpferin in ihren Bann. Noch immer hat sie die Lider nicht geöffnet, aber sie wird mit jedem erzeugten Ton sicherer und lässt sich mit jedem Herzschlag mehr in die Musik hineinfallen. Als die Magie der Noten sich zu entfalten beginnt, kriecht der Violinistin langsam ein Hauch von Gelassenheit über die Züge und sickert ebenso in ihre Bewegungen. Die ganze Darbietung wird auf unvorstellbar vielen Ebenen geschmeidiger. Freier. Natürlicher. Wie ein durchfrorener Fluss der langsam auftaut und dessen Strom sich nach einem langen Winter wieder hinab ins Tal ergießt.
    Ihre Brauen beginnen, von den vereinnahmenden Klängen an die Hand genommen, mit den Tönen zu tanzen. Ihr frecher blonder Pferdeschwanz wippt ebenso mit ihren auftauenden Bewegungen mit, wie es die einzelne Strähne tut, die seitlich bis auf ihre Wange fällt. Die Musik fängt an ihre Unsicherheit wegzuspülen wie ein langersehnter Regen und legt etwas Tieferes, etwas weitaus Ursprünglicheres frei. Beine und Füße ergeben sich der Melodie und wirken so, als hätte man sie endlich aus tonnenschweren Zementblöcken befreit. Unbeholfen, ein wenig unsicher und doch begierig darauf, sich endlich wieder bewegen zu dürfen.
    Obwohl die Melancholie des Liedes aus jeder einzelnen schwungvollen und dennoch dosierten Geste ihrer Finger in die Geige hineingleitet und davon zurückgeworfen wird, stiehlt sich ein scheues glückliches Lächeln in ihre Mundwinkel.
    Die Frau spürt jeder der Noten nach und fühlt sie mit jeder Faser ihres Körpers, das kann ihr selbst ein Blinder ansehen.
    Du bekommst einen Tropfen ab, hörst und bemerkst das dumpfe Ploppen auf deiner Kapuze aber nicht, weil du gerade von etwas Anderem völlig vereinnahmt wirst. Du ertrinkst geradezu in dem von ihr erschaffenen Moment.
    Auch der Musikerin kann der einsetzende Regen nicht entgangen sein, doch sie stört sich nicht daran. Nein, sie stört sich wahrhaftig nicht daran, vielmehr scheint sie das kalte Nass sogar willkommen zu heißen. Und mit jedem Regentropfen, der nun, als der Schauer allmählich stärker wird, an ihrer Wange abperlt und ihr kalt in den Kragen hineinrinnt, scheint sie die Freiheit des Augenblicks noch mehr zu genießen. Sie ist nur noch wenige Töne vom Refrain entfernt, als es plötzlich passiert. In einer Explosion die den ganzen Ballast von ihren Schultern zu reißen scheint, sprengt sie alle Fesseln von sich und gibt sich der Musik vollkommen hin. Es wirkt so, als wäre sie auf eine wunderbare Weise von einer Muse besessen und von einem Augenblick zum nächsten Wiedergeboren worden, während sie den Bogen führt und mit dem Oberkörper den Klängen hinterhertaucht, die sie erschafft. Das anfangs zarte Lächeln weicht einem genießerisch befreiten Grinsen. Ihre Beine schaffen es nun nicht mehr, nur noch auf einem einzigen Flecken still zu stehen und bloß schlicht zu wippen, als die gespielten Noten sie packen und über das nasse, unkrautübersäte Pflaster ziehen.
    Völlig selbstvergessen lässt sie sich von der Musik tragen, gänzlich unbekümmert davon, dass die ganze Welt gerade die Luft anhält, nur um ihrem Spiel zu lauschen. Die Harmonie, die mit jeder angeschlagenen Saite aus der Violine fließt und mit den geschmeidigen Bewegungen der Violinistin die Gasse schneller flutet, als es der Regen je könnte, ist unglaublich ansteckend.
    Ohne, dass du es beeinflussen kannst heben sich nun auch deine Mundwinkel zu einem fröhlichen Schmunzeln, als du die ergreifende Leidenschaft siehst, die von der jungen Frau ausgeht. Dein Fuß beginnt ohne dein Zutun zu zucken und du spürst am Rande deines Bewusstseins, dass dir das Wippen langsam in alle Glieder kriecht.
    Nun ist die Musikerin am zweiten Refrain angelangt und es gibt keine Grenze mehr für sie, die sie noch aufhalten kann. Einem Herbststurm gleich, der die bunten Blätter des Waldes zwischen den Baumstämmen umherjagt, fegt sie zwischen den Leuten hindurch, ohne auch nur einen der Menschen mit Instrument oder Körper zu berühren.
    Stattdessen berührt sie etwas Anderes in den Zuhörern, etwas viel tiefer Liegenderes, als Haut oder Knochen und lässt es durch die Töne des Liedes in jedem von ihnen widerschwingen.
    Keine Hand könnte diese Menschen jemals so berühren, wie es die Melodie der jungen Frau gerade tut. Ihre Bewegungen werden so zuverlässig von der Musik geführt, dass sie selbst blind mit niemandem zusammenstößt, während sie alles und jeden in völlige Ergebenheit einhüllt.
    Du weißt nicht, wie lange du ihr fasziniert und scheinbar ohne zu atmen mit den Augen folgst, bis das Lied sich schließlich langsam seinem Schluss entgegen neigt.
    Die Frau endet mit ihren Sprüngen, Pirouetten und Ausfallschritten auf der Bank neben ihrem Koffer und malt die letzten Töne in die regenklare Luft. Eine langgezogene Note zittert noch einmal klagend und dennoch wunderschön die breite Gasse entlang, dann ist es still. Nur das seichte Geräusch von einzelnen, hier und da abstürzenden Tropfen, unterbricht die Ruhe. Der Regen hat aufgehört. Angestrengt, schwer atmend und mit durchnässten Strähnen vor den Augen, die sich während der Jagd nach den Klängen aus ihrer Frisur gelöst haben, hebt sie behutsam die Lider.
    Ihr Blick huscht unsicher umher. Von einem Gesicht der fassungslosen Passanten zum Nächsten und zum Nächsten und zum Nächsten. Alles wirkt reglos, wie eingefroren. Nichts und niemand bewegt sich. Für einen Herzschlag kehrt die Unsicherheit mit aller Macht zurück, während jedes Augenpaar in Totenstille auf sie gerichtet ist. Ihr Lächeln verschwindet zusehends und wird von einem schweren Schlucken abgelöst, als sich etwas anderes ihrer Züge bemächtigt. Angst. Angst etwas falsch gemacht zu haben. Die aufkeimende Erkenntnis, dass es vielleicht nicht klug war, sich vor so vielen Leuten derart gehen zu lassen. Die Furcht vor Zurückweisung und Ablehnung. Ein Anflug von Panik zeichnet sich in ihrem Gesicht ab und ihre Freude verblasst dabei immer stärker.
    Doch ehe es soweit kommen kann, dass dieser magische Funke in ihr vollends erlischt, stehst du auf und klatscht. Erst langsam, dann immer ergriffener, schneller, lauter. Du legst die Finger in die Mundwinkel und pfeifst. Einmal und noch einmal und klatscht dann genauso eifrig weiter.
    Ihr Blick fällt verblüfft auf dich. Einen Augenblick lang weiß sie mit dem Geräusch und der Reaktion selbst nichts anzufangen, dann siehst du ein Blitzen in ihren grünen Augen und ihr Lächeln kehrt zurück. Dankbar, erleichtert und hundertfach glücklicher als zuvor. Doch nicht nur das. Andere Fußgänger erwachen durch die Unterbrechung aus dem Bann der Geigenspielerin und beginnen nun ebenfalls zu applaudieren. Sie pfeifen, sie jubeln und rufen, dass sie eine Zugabe wollen. Die Geräusche verschwimmen ineinander, überlagern sich und tosen gegen die grauen Fassaden der umstehenden Häuser, tauchen sie in Farben, die gar nicht existieren. Sturmflutartig brandet losgelöster Applaus der jungen Frau entgegen.
    Sie genießt es sichtlich, darin zu baden und sie hat es sich auch allemal verdient, davon umhüllt zu werden.
    Als sie sich schließlich in bester Musikantenmanier verbeugt und dann befreit aufatmend nach oben sieht, bricht die Wolkendecke über ihr auf, als hätte der Himmel seit Anbeginn der Zeit nur auf diesen einen Augenblick gewartet. Wie ein Scheinwerferlichtkegel wirft die Sonne beifallbekundend einen Strahl auf sie hinab.
    Der untere Teil einer nassen, zerbrochenen, facettierten Glasflasche, der ihr zu Füßen liegt, streut das Licht in allen Farben des Regenbogens und überzieht die Kulisse mit tausenden bunten Sprenkeln. Die Szene ist atemberaubender als alles, was dir jemals untergekommen ist und du würdest alles dafür tun, sie nicht enden zu lassen.
    Unvermittelt spürst du eine Hand auf deiner Schulter. Es ist dein Freund und er fragt, nein, er drängt dich regelrecht dazu, aufzustehen, sodass ihr euch endlich zu eurem verabredeten Termin aufmachen könnt. Die Zeit ist knapp.
    Du siehst ihn mehrere Augenblicke lang fragend an, bis dein in wunderbar weiche Watte gehüllter Verstand wieder im Hier und Jetzt ankommt und dir siedend heiß einfällt, weshalb du überhaupt hier gewartet hast. Ein kurzes Spitzeln auf deine Uhr verrät, dass ihr wirklich sehr spät dran seid. Ihr kommt vermutlich selbst dann nicht rechtzeitig, wenn ihr nun auf der Stelle loshetzt.
    Erneut fordert dich dein Freund zur Eile auf.
    Du bist schon im Begriff aufzustehen und gedanklich dazu bereit, in einen dynamischen Spurt zu verfallen, um die verlorene Zeit wieder aufzuholen, da huscht dein Blick wieder zurück auf die umjubelte Violinistin. Du siehst sie glücklich in die Menge strahlen, in ihr eigenes Publikum, dass sich gerade neugierig um sie scharrt. Wie ein Honigkuchenpferd grinsend wischt sie sich eine tropfnasse blonde Strähne aus dem Gesicht und nimmt verlegen Komplimente entgegen. Dabei hält noch immer ihren Geigenbogen gefühlvoll in den Fingern - und du hältst plötzlich inne.
    Dir wird klar, dass du nun eine Entscheidung treffen musst. Und, dir fällt allerdings auf, dass du das gar nicht kannst. Die Entscheidung ist schon längst gefallen oder besser noch: getroffen worden – aber nicht von dir allein.
    Sachte streifst du die Hand deines Freundes von deiner durchnässten Schulter, mit der anderen tastest du nach den Holzbalken während du deine Violinisten nicht aus den Augen lässt. Wie in Zeitlupe setzt du dich wieder auf die nasse Bank. Ein Luftzug streift dich und Gänsehaut macht sich bemerkbar. Doch diese Gänsehaut rührt nicht allein von der Kälte, die dir in leichten Schauern über den Rücken rinnt.
    „Tut mir leid. Aber das muss heute ohne mich klappen“, antwortest du ohne aufzusehen.
    Dein Freund sieht dich verdutzt an, seine Stirn beginnt sich vor Unglaube zu runzeln, doch deine Rechtfertigung wird von einem freundlichen und ehrlichen Lächeln begleitet, als du ihn dann doch noch mit einem entschlossenen Blick verabschiedest.
    „Ich bleibe lieber noch ein bisschen hier.“

  • Ich habe sobeben, diese Geschichte aufmerksam gelesen und hatte das Gefühl mitten drin zu sitzen.

    Es können wenige von sich behaubten, eine Kompination aus Altagsgeschehen mit so klaren Beschreibungen, Witz und Spannung zu erzeugen, wie du es geschaft hast. Lysanna hat mir auf anhieb gefallen und hab zum schluß schon mitgefiebert.

    Danke für diese hervorragende Geschichte. Sie gefällt mir sehr sehr gut.

  • Nach gefühlt über einem ganzen Jahr, in dem ich nichts vorzeigbares Zustande gebracht habe und mir ansonsten auch irgendwie die Leselust abhanden gekommen war, hab ich nun endlich mal eine Kurzgeschichte fertigbekommen. War streckenweise echt ein Krampf, um ehrlich zu sein, aber das Ergebnis zeigt zumindest mir persönlich, dass ich's doch noch nicht ganz verlernt habe und ist Schlussendlich doch irgendwie in eine recht lesbare Form geflossen.

    Zum Inhalt der folgenden Geschichte:

    Das Ableben wird ja oft stigmatisiert und geradezu verteufelt. Wer stirbt, geht in eine ewige Dunkelheit über oder wird vom Gevatter selbst aus dem Leben gerissen. Nicht grundlos fürchtet sich jedes Wesen vor dem Tod und dem Sensenmann, der eines Tages bleich im schwarzen Mantel vor einem steht. Sterben geht mit Leid und Trauer einher, sterben ist etwas grausames, etwas schlechtes. Sterben tut man, weil man es muss. Man muss alles weltliche und jeden sterblichen Begleiter hinter sich lassen.
    Doch was ist, wenn all das gar nicht der Wahrheit entspricht?
    Was, wenn die eigentliche Wahrheit und den Kern des Dahinscheidens fehlinterpretieren? Was, wenn es jemanden gibt, der sich besser damit auskennt?

    Nun, ich habe da jemanden oder besser etwas begleitet, das die Dinge aus einer anderen Perspektive kennt. Etwas, das die Dinge klarer sieht, als die Menschen in ihren niederdrückenden Vorstellung. Ein Wesen Namens...


    ~Nodon~ [1/2]

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    Es gab Dinge, die im Verborgenen und weit abseits jeden offenen Auges geschahen, obwohl sie selbst nie einen Anspruch darauf erhoben, um jeden Preis ungesehen zu bleiben.

    Doch ungeachtet der Anzahl ihrer Zuschauer… sie geschahen.

    Einmalig – und danach nie wieder.

    Hunderttausendfach – in einem einzigen Wimpernschlag.

    Einige dieser Wunder lebten nur für den Bruchteil eines Herzschlages auf und vergingen sofort darauf wieder. Andere hingegen betraten das Antlitz der Welt mit einer gewissen Regelmäßigkeit und ihr Besuch währte länger als nur einzelne Momente…

    Eines dieser Phänomene trug den Namen Nodon, und selbst unter all den unerklärlichen, geheimnisumwitterten Rätseln der Natur, denen nichts als die pure Unergründlichkeit anhaftete, nahm Nodon noch einen besonderen Platz ein.

    Denn anders als seine Gegenwart, der man nach einer gewissen Zeit auf die eine oder andere Weise gewahr wurde – durch einen kalten Schauer im Nacken oder eine eigenartig drückende Stille etwa – bemerkte nie jemand, was sich im Schatten der Bäume tat, nachdem der letzte Sonnenstrahl in den Wipfeln versiegt war...

    Nodons Erscheinen blieb unbemerkt, so, wie es schon immer unbemerkt geblieben war. Seit Anbeginn der Zeiten hatte ihn nie jemand zu Gesicht bekommen. Auch an jenem Abend, als sich die mondumrandeten Umrisse des Waldes ineinander verwoben, um die kaum erkennbare Silhouette eines Wolfes aus ihrer Mitte zu erschaffen wie einen geübten Assassinen, erblickte ihn nichts und niemand. Sein schlichtes Auftauchen veränderte rein gar nichts in der Welt. Die Folgen seines Besuchs dagegen waren immer schmerzlich wahrnehmbar.

    Nodons Körper, wenn man die Gestalt so nennen mochte, unterschied sich von den anderen Nuancen des Zwielichts einzig dadurch, dass er noch schwärzer, noch tiefer und bodenloser wirkte als die ohnehin schon finsteren Schatten der Nacht. Das Mondlicht schien die unmittelbare Nähe der Erscheinung um jeden Preis zu meiden und verlieh Nodon eine Aura, an deren Rand der auferstandene Schatten die Sicht auf die Welt verschleierte. Kleine Schlieren stiegen als dicker, sich träge windender Rauch von den Konturen auf und vergingen bereits nach weniger als einer Handbreite wieder zu Nichts.

    Es war ein nimmer endender Schlagabtausch mit dem Schein des Mondes.

    Beinahe schien es als würde das Nachtgestirn selbst auf seine unvorstellbare Entfernung versuchen, Nodon einfach zu verdampfen. Ihn zu vernichten, weil er nicht von dieser Welt war. Sein Werk zu vereiteln. Doch es gelang dem Mond nicht. Seit Äonen scheiterte er daran, das Fell aus Schatten mit seinem Glanz zu durchdringen, wenn Nodon erschien. Es zu läutern. In silbernen Flammen aufgehen und zu Asche verbrennen zu lassen. Der Mond schien machtlos gegen das Wesen aus Dunkelheit zu sein…

    Auf diese Weise trotzte der Wolfsschatten dem Gestirn mit seiner bloßen Existenz zum Beginn einer weiteren Nacht, um seiner Aufgabe nachzukommen. Es war eine vollkommen einzigartige, eine sagenhafte Gabe. Eine, die es ihm erlaubte sich auf jene elegante Weise durch die Welt zu bewegen und ebenso eine, die ihm zeitgleich eine Pflicht aufbürdete, die untrennbar mit seiner Macht verbunden war. Der Gedanke eines Gedankens genügte, um sein Bewusstsein an jedem Ort, zu jeder Zeit und in jeder erdenklichen Form erwachen zu lassen. Und Nodons Anwesenheit war immer an irgendeinem Platz in der Welt erforderlich.

    So geschah es, dass sich nun zwei Augen aus fahlem Sternenlicht inmitten eines schwarzen Loches am Fuße einer gewaltigen knorrigen Eiche öffneten. Der Baum hielt seine Äste schützend über ein gedrungenes Bauernhaus und bot ansonsten auch allerlei kleinen Lebewesen Deckung, die direkt um Nodon ihrem nächtlichen Alltag nachgingen, ohne ihn zu bemerken. Weder Eule noch Feldmaus noch Käfer ahnten, wer sich in ihrer Mitte befand.

    Nodon kannte diesen Ort mit seinen Bewohnern. Er hatte ihn schon oft besucht. Wieder und wieder und wieder…

    Der Anlass seiner Ankunft war immer der gleiche, seine Begleiter dagegen, wenn er dem Haus wieder den Rücken kehrte, waren jedes Mal andere.

    Kurz betrachtete der Wolfsschatten das niedrige Häuschen, das auf einem Sockel aus Sandstein ruhte und sich in Balken und Lehm kleidete, mit einem Hut aus Schilf gegen das Wetter bedeckt und von den Furchen eines bestellten Feldes schützend umreiht, als hätten die Bewohner versucht etliche kleine Burggräben darum zu ziehen, um vermeintliches Unheil fernzuhalten. Wände aus Lehm, Furchen aus Erde und Zäune aus Weide. Sie alle waren ihm kein Hindernis. Auch nicht, wenn die Mauern aus Stein errichtet, die Furchen tiefer gezogen und voll Wasser gelassen oder die Zäune aus kräftigen Pfählen erbaut worden wären.

    Nodons Blick richtete sich auf ein kleines Licht, das einsam, ruhig und mit stoischer Gelassenheit hinter einem Butzenglasfenster im Erdgeschoss seinen Lichtschein in die Nacht hinauswarf. Er wusste bereits, wer diesmal auf ihn wartete. Ebenso, wie er wusste, warum er diesem Ort und dieser Seele seine Aufwartung machte.

    Langsam setzte sich sein Umriss in Bewegung, hinterließ weder Spuren im Gras oder den Blättern des Waldrandes, noch trug die frischgeackerte Frühlingserde Zeuge von seiner Ankunft.

    Geschmeidig glitt Nodon über jeden Untergrund hinweg, so unterschiedlich er auch sein mochte und tauchte durch die von der erschöpften Abendsonne noch warme Außenwand des Bauernhauses hindurch.

    Ein kleines, niedriges Zimmer nahm ihn in Empfang, dessen Einrichtung in Zahl und Aufmachung der Gegenstände nur das aller nötigste zur Schau stellte; einen einfachen dunklen Schrank, der klotzig und kantig an der Wand hockte, einen staubigen alten Teppich, dessen Muster durch jahrlanges Begängnis jede Erkennbarkeit verloren hatte und auf einem ebenso beanspruchten Bretterboden lag, einen schmucklosen Nachttisch, einen Schaukelstuhl und ein Bett, wie es in jedem solcher Bauernhäuser gleich mehrfach für alle Bewohner zu finden war. Es gab ähnliche Häuser zu dutzenden in der Gegend und doch hatte jedes davon seine Einzigartigkeit, ebenso wie keiner der Räume in jenen Häusern dem anderen bis ins letzte Detail glich.

    Oft waren diese Zimmer mit mehr Menschen gefüllt als an diesem Abend, oft genug auch mit wenigeren. So überraschte es Nodon nicht, dass auch diesmal ein kleines Publikum an seiner Tat teilhaben würde – auch wenn es nicht bewusst oder gewollt geschah.

    Es machte die Erfüllung seiner Arbeit nicht schwieriger oder leichter, noch würde es gelingen, ihn daran zu hindern – wie es viele versuchten, wenn sie sich seiner Gegenwart nach einiger Zeit unterschwellig gewahr wurden.

    Nodon glitt näher an das niedrige Bett heran, aus dessen schmaler Liegefläche Stroh und Federkiele unter einem groben Leinenlaken herauslugten. Auf dem Kissen darüber ruhte das Gesicht eines kleinen Mädchens und begrüßte ihn im schummrigen Licht ausdruckslos mit rosigen Wangen, eingemummelt in eine wollene Strickdecke. Es schien tief und selig zu schlafen. Ein Eindruck, der im ersten Moment trügen mochte.

    Schweißperlen standen bei näherer Betrachtung dort auf Stirn und Wangen, wo die schiere Anstrengung gegen das Unabwendbare noch keine salzigen Ströme aus den winzigen Poren drückte. Blonde Haare klebten am Kopf und lenkten die Tropfen stetig über die Haut und dem Kissen entgegen.

    Dem Mädchen sah man die Essenz der Jugend an, sie hatte ihren achten Sommer wohl noch nicht erlebt.

    Am Ende seines tiefen Fieberdeliriums würde das Kind zwar Erwachen, jedoch würde kein weiteres Leid mehr an der Pforte seiner verblassenden Träume lauern. Dafür Sorge zu tragen war Nodons einzige Aufgabe.

    Ein entspanntes Seufzen erklang zu seiner Linken aus der nicht allzu weit entfernten Ecke des niedrigen Raumen, gleich neben der Tür. Der Schatten wandte sich der Quelle des neuen Geräusches zu. Ein schläfriges Schmatzen folgte aus der schummrigen Dunkelheit. Dort neben den Angeln der schlechtsitzenden Tür, so schien es, würden sich am heutigen Abend die Zuschauerränge befinden.

    In einem abgenutzten Schaukelstuhl ruhte ein schlafender alter Mann. Hager, barfuß, ergrautes lichtes Haar, mit den Flecken des Alters übersät, gekleidet in ein schmutziges Hemd, über das sich ausgeleierte Hosenträger spannten. Einer, dessen Leben schon mehr Jahre andauerte, als es den meisten anderen vergönnt war. Tiefe Gräben, noch tiefer wirkend als die Furchen in der Erde vor dem Fenster, zerschnitten überall das ledrige Gesicht und erzählten dem aufmerksamen Beobachter von unzähligen schweren Entscheidungen, Erfolgen und Misserfolgen, von Tagen die längst vergessen waren und Nächten, die bis zum letzten Atemzug des Mannes in seinem Gedächtnis ein Zuhause gefunden haben würden.

    All jene Erinnerungen die sich zu einem Kompendium seines ganzen Lebens zusammenfügten – welches mit dem Verstreichen der heutigen Nacht um eine Seite reicher werden sollte.

    Am Ende der Seite – vermutlich eingeleitet durch sein träges Erwachen nach einem unruhigen Traum aufgrund der ersten Sonnenstrahlen – würde wahrscheinlich niedergeschrieben stehen, wie der Alte zermartert die Augen öffnete, wie sich der Blick schlaftrunken an der geleerten Obstbrandflasche des Vorabends auf dem Boden entlanghangelte und dann direkt zum Bett des Mädchens springen würde. Die Hände würden sich für einen Moment um Griff und Lauf seiner Flinte krampfen, die er schützend auf dem Schoß gebettet hielt und sich dann kraftlos wieder entspannen, sobald ihn die Erkenntnis selbst aus der Ferne schon traf. Der zaghafte Versuch eines Aufspringens würde von einer Schockstarre unterbunden werden. So mochte es kommen, auch wenn Nodon es nicht bis ins Detail erahnen konnte. Jedoch… die letzte Zeile war gewiss Trauer und Verzweiflung vorbehalten. So war es sehr oft am Ende seiner Besuche. Nodon selbst würde kein Wort auf dieser Seite gewidmet werden. Nicht ein Buchstabe sollte Zeuge seines Besuchs werden. Wie auch noch nie zuvor.

    Ob am Schluss seiner Darbietung in dieser Nacht Applaus oder Ablehnung stehen sollten, oder ob er überhaupt bemerkt wurde, war ohnehin nicht von Belang. Es würde so sein, wie es sein würde. Die Bühne des Lebens führte mehr Stücke auf, als ein Mensch in tausend Jahren ersinnen könnte. Alles war möglich, vieles blieb unwahrscheinlich.

    Nichtsdestotrotz verabschiedete sich Nodon immer mit dem Respekt, der den Lebenden ebenso wie den Geschiedenen gebührte. Höchstselten ging er als bejubelt - weitaus häufiger bis in alle Ewigkeit verflucht.

    Er sah wieder zum Bett zurück, wo sich in den tiefen, gleichmäßig schnarrenden Rhythmus des Alten die flachen, immer angestrengteren Atemzüge des Mädchens einflochten. Es war auf seine eigene Weise eine zermürbende Melodie, eine, deren Verstummen im letzten Akt dieser Nacht etwas Tröstendes haben sollte.

    Bei der Ausführung seiner Pflicht spürte Nodon nie Bedauern, selbst dann nicht, wenn er ein derart junges Leben mit auf die Reise nahm, während ein anderes, so angefülltes Leben wie das des Alten sein Ende auch in naher Zukunft nicht aufziehen sehen würde.

    Wer blieb und wer ging, das entschied nicht Nodon. Nodon sorgte einzig und allein dafür, dass jeder seinen angedachten Platz zur rechten Zeit einnahm.

    Er macht einen weiteren Schritt auf das Bett zu, kam mit der Nase ganz nah heran und roch.

    Nodon erschien das Leben, dass in dem kleinen Körper bisher stattgefunden hatte. Und er spürte eine Seele, die unendlich erschöpft und geschunden war, trotzdessen, dass sie so junges zartes Fleisch bewohnte. Die selbstgeschusterten Krücken unter dem Bett konnten zwar den Körper mehr schlecht als recht stützen, doch sie vermochten nicht eine kraftlose Seele zu tragen, wenn das Leben selbst sich dem erbitternden Widerstand gegen jedes Glück verschrieben hatte.

    Die Menschen sahen den Verwundeten diesen inneren Kampf und die ungnädige Folter beinahe nie an. Nodon jedoch, sah sehr wohl. Er sah, wenn das Fleisch den Geist bannte und einsperrte, anstatt ihn zu beflügeln und frei durch die Welt und ihre Wunder ziehen zu lassen.

    Dies war einer der Gründe, warum die Menschen Nodon mit einem so mannigfaltigen Hass erwarteten und auch verabschiedeten. Sie verstanden nicht. Erblickten nicht das, was er immer und immer wieder zu Gesicht bekam. Ein Umstand, den er als schade befand. Doch letztendlich war es ihm gleichgültig. Die Schuld lag nicht bei ihnen. Dass ihnen der Blick hinter die Kulissen verwehrt blieb hatten sie sich ebenso wenig ausgesucht, wie Nodon, dass seine Sicht klarer und weiter war, als die jedes anderen Wesens. Die Menschheit kannten das große Ganze nicht, auch wenn die Menschen auf der Suche nach Antworten manchmal in die entfernte Nähe der Wahrheit kamen. Etwas trübte kurz vor der Erkenntnis ihre Sinne auf ihrem weiteren Weg. Jedes einzelne Mal. Als wäre es ein Gesetz der Natur.

    Allem voran brüstete sich die Angst um den bevorstehenden Verlust damit, ihre Herzen und ihren Blick mit einem dicken Nebel zu verschleiern. Und diese Angst konnte sich in nur wenigen Herzschlägen in vieles, am ehesten jedoch in Hass wandeln. Zu Hass, der hell – blendend hell - loderte und einzig und allein Nodon galt. Nur ihm allein. Dabei konnte sich jene Furcht vor dem Unbekannten in allen möglichen Regungen niederschlagen. In jeder erdenklichen Reaktion. Nodon kannte sie alle, in allen Nuancen, in allen Facetten, Farben und Formen.

    Letzten Endes machte es für ihn keinen Unterschied. Was er tat, tat er nicht um Leid zuzufügen. Auch nicht um sich im Glanze seiner Macht zu sonnen. Nodon verhalf den flehenden Seelen lediglich zu einem Recht, dass ihnen mit ihrer Geburt gegeben war. Dem unverwehrbaren Recht auf ein Weiterziehen. Auf ein Voranschreiten. Und Kein Naturgesetz wagte es an dieser Unantastbarkeit zu rühren. Denn dies war ein Recht, welches jede Seele einfordern konnte, wann immer sie es für richtig befand

    Manche Seelen verharrten in ihren Körpern über ein ganzes Jahrhundert, andere sehnten sich weit früher nach Ruhe. Manche Seelen mussten heilen, befreit werden und andere wiederum genossen ihren Aufenthalt in jedem einzelnen Augenblick. Manche Seelen waren zerbrochen, verdreht und geschunden. Manche Seelen waren schlicht bereit, aber manche auch erpicht und neugierig darauf, den nächsten Abzweig ihres Weges zu begehen.

    Wie er das Mädchen so ansah, wurde der flehende Ruf nach seiner Gabe lauter, als hätte auch sie genau dieses Anrecht auf ihren neuen Platz nun verstanden. Ein sanftes silbernes Schimmern legte sich um die Konturen des kleinen Gesichts, obwohl das Mondlicht gar nicht bis in den Raum gelangte.

    Es war soweit.

    Nodon war bereits im Begriff, das Mädchen zu erlösen, da störte der knarrende Schaukelstuhl plötzlich die Stille und ließ den Schatten innehalten. Normalerweise lenkten ihn die Geräusche der sterblichen Welt nicht ab, doch dieses Geräusch war anders. Es passierte nicht einfach, sondern hatte einen Adressaten. Es galt einzig und allein ihm.

    Ebenso wie das metallische Klicken, das zu seiner Linken ertönte.

    „Weg von dem kleinen Scheißerchen.“

    Nodon sah den erwachten Greis zunächst reglos an, legte dann den Kopf leicht schräg und bewegte sich ansonsten nicht weiter.

    Das war neu.

    Das war eine der so unfassbar selten gewordenen Prämieren während seiner Auftritte.

    Tatsächlich hallte gerade ein entferntes Echo von Neugier in ihm wider. Auch ein Umstand, der einer äußerst seltenen Rarität glich.

    Und dennoch würde sich am Ausgang dieser Nacht nichts ändern.

    „Ich hab‘ gesagt, du sollst Land gewinnen“, knurrte der Alte, das doppelläufige Gewehr drohend auf den Schatten gerichtet. Mit einem weisenden kleinen Ruck der Büchse deutete er durch das Fenster nach draußen.

    Du siehts mich.
    Nodons Stimme erklang wohl- und volltönend wie warme Lehmerde, aber auch mit der umschmeichelnden Sanftheit einer duftenden milden Sommerbriese in den Gedanken des Großvaters.Ein lautloses Nicken folgte zur Bestätigung. Unbeeindruckt, widerspenstig, angespannt. Die verlebten Muskeln und Sehnen im Leib des Alten widmeten sich allein der Aufgabe, den Lauf der Flinte auf sein Ziel auszurichten. Jede andere Bewegung musste er seinem Körper erst mühevoll abringen. In seinen Augen zeigte sich nur ein einziges Gefühl, das keine Nebenbuhler duldete.

    Da war er wieder und brandete Nodon entgegen wie eine tobende Flutwelle: Überbordender Hass.

    Du hast auf mich gewartet.
    Auch wenn diesmal keine Erwiderung erfolgte, war diese Feststellung so unwahrscheinlich, wie sie doch zutreffend war. Vermutlich war der Greis sich der Besonderheit dieser Situation in keinster Weise bewusst und das machte die Begegnung so einzigartig wie keine zuvor.
    Was ist dein Begehr?

    „Dass du verschwindest! SOFORT verschwindest und nie wiederkommst!“, grollte der Alte nun lauter und entschlossener. Dabei korrigierte er den Sitz seiner Flinte an der Schulter. Die lederumwickelten Griffpartien knarzten leise unter der mäßig gezügelten Gewalt, mit der sich seine Finger um die Waffe klammerten. Hier hielt jemand nicht nur eine unverhohlene Drohung in den Händen, sondern präsentierte auch die unerschütterliche Gewissheit nichts unversucht zu lassen, um seinen Willen zu durchzusetzen.

    Und wenn ich das nicht tue?
    „Dann knall ich dich ab, du dämonisches Mistvieh! Und schicke dich in die Anderswelt zurück, aus der du immer wieder gekrochen kommst“, lautete die Antwort aufbrausend giftig und doch zu allem bereit. Um Mund und Nase grub sich der Hass immer tiefer in sein Gesicht. Seine Brust hatte alle Mühe vor zornschwangerer Luft und alkoholdurchsetztem Atem nicht zu bersten, welche er abwechselnd einsaugte und ausstieß wie ein gereizter Bulle.
    Du würdest mich nicht treffen. Wohl aber das Kind.

    Der Alte leckte sich nervös über die Lippen. Nodon sah ihm an, dass er sich der Tragweite eines Fehlschusses durchaus bewusst war und den Schuss dennoch in Betracht zog. Unbeeindruckt setzte sich der Wolfsschatten in aller Seelenruhe vor das Bett. Nichts aus der sterblichen Welt war in der Lage, ihm zu schaden, geschweige denn ihn zu berühren – auch Schrotkugeln aus wenigen Schritt Entfernung nicht. Soetwas blieb einzig und allein seinen Herren vorbehalten.

    Würdest du ihr das antun wollen? Sie wird nicht scheiden, wenn ich sie zurücklasse. Selbst nicht mit solch einer furchtbaren Wunde. Aber sie wird weiter leiden, tausende Mal schlimmer als sie es ohnehin schon tut.
    Erste Regungen spielten um die Mundwinkel des Mannes, die nicht Ekel und Zorn zum Fürsten hatten. Ein Zittern der Unsicherheit kroch seine Arme hinunter und ließ die Überzeugung, sein Ziel todsicher zu treffen, zum ersten Mal seit Beginn der Unterhaltung wanken.
  • ~Nodon~ [2/2]

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    Erste Regungen spielten um die Mundwinkel des Mannes, die nicht Ekel und Zorn zum Fürsten hatten. Ein Zittern der Unsicherheit kroch seine Arme hinunter und ließ die Überzeugung, sein Ziel todsicher zu treffen, zum ersten Mal seit Beginn der Unterhaltung wanken. Du kannst es nicht verhindern. Mach es nicht unnötig schwer. Trotzig zwang er die Flinte wieder in den Anschlag und gegen die rechte Schulter. Nahm über Korn und Kimme schnaubend Maß. „Ich sagte, verschwinde!“, rief er nun bebend. „Das war die letzte Warnung.“

    Unruhig biss er sich auf die Lippen. Den Ausdruck vollends zu einer hässlichen Fratze verzogen.

    Nimm Abschied, wenn du möchtest. Es ist gleich vorbei.

    Mit diesen Worten wandte er sich von dem Alten ab und wieder dem Mädchen zu, dessen silberne Aura allmählich kräftiger wurde, je Länger Nodon in ihrer Nähe verharrte. Erschrocken, dass seiner Warnung keine weitere Beachtung geschenkt wurde, korrigierte der Alten den Lauf mehrfach, mal nervös auf Nodons Kopf, mal wenig zielsicher auf seine Brust schwenkend. Dann lösten sich seine Hände plötzlich und ließen das Schießeisen los. Im nächsten Augenblick sprang der Greis mit einem schweren, stolpernden Satz aus dem Stuhl auf. Die Flinte fiel zu Boden. Der Alte tat es ihr gleich, indem er sich auf Nodon stürzen ließ. Polternd schlug der dürre Mann hin und heischte nach dem Schattenwolf, griff jedoch prompt ins Leere. Sein trauriger Versuch, den Eindringling zu ergreifen, endete in einer Kollision mit dem Nachtschränkchen neben dem Bett. Als er sich verwirrt umsah erkannte er den Schatten nun im noch wippenden Schaukelstuhl sitzen. Ungelenk rappelte er sich auf und stolperte erneut auf Nodon zu, warf sich diesmal ohne Rücksicht auf seine gebrechlichen Knochen dem Stuhl entgegen. Doch wie schon beim ersten Mal bekam er nichts als Luft zu packen. Stattdessen kippte das Sitzmöbel und fiel polternd samt dem Alten zu Boden. Wieder versuchte er den Schatten auszumachen, dabei lodernde Wut in seinem Blick. Nodon war nun auf dem Bett erschienen, saß schwerelos auf der Decke, unter welcher das Mädchen in ihren tiefen Fieberträumen lag. Diesmal wagte der Alte keinen neuerlichen Ansturm. Zu groß war die Angst sich auf das zierliche Kind zu werfen und ihm wehzutun.
    „Warum tust du das? Warum quälst du uns Menschen nur so?“, rief er. Ein Zittern schlug seine Stimme an wie eine viel bespielte Saite. Die Erkenntnis darüber, dass er dem Feind gegenüber machtlos zu sein schien, schnürte ihm die Kehle enger und seine Fassade aus Hass und blinder Entschlossenheit gegen das Unabwendbare zu bestehen, bekam deutliche Risse.
    „Du nahmst mir bereits meine Frau, und du nahmst mir meinen Sohn und dessen Frau. So lass mir doch wenigstens meine Enkelin. Ich habe sonst niemanden mehr, du elender Unheilsbringer.“
    Tränen stiegen ihm in die Augen und wuschen die Kraft, die ihm der Hass verliehen hatte, einfach davon.
    „Warum nur suchst du mich mit aller Grausamkeit heim?

    Komm zu uns.

    Der Alte sah ihn zunächst ungläubig an, presste dann die Lider aufeinander und schüttelte den Kopf. Nodon war sich bewusst, dass sein Aussehen und sein unangekündigter Besuch durchaus einen eher abstoßenden und furchteinflößenden Eindruck hinterließen. Dennoch wahrte er eine freundliche Neutralität.
    „Nein, halt. Lass uns verhandeln!“, flehte er nun mit einem aufkeimenden Gedanken im Sinn.
    „Wenn du das Scheißerchen in Ruhe lässt, kannst du mit mir machen was du willst. Dann kannst du mich als Diener mit in die ewige Dunkelheit schleppen oder mich in der Anderswelt foltern. Nimm mich. Mit einem Kind kannst du doch gar nichts anfangen. Aber mit einem erfahrenen, nicht auf den Kopf gefallenen Kerl schon eher."
    Ich kann dir deinen Wunsch nicht erfüllen. Er steht einem anderen Wunsch entgegen.
    Doch vielleicht erfährst du Linderung, wenn du verstehst.
    Komm.
    Hab keine Scheu.
    In den alten Augen stand offen geschrieben, dass er diese Aufforderung für eine Falle hielt und man konnte in ihnen lesen, wie er im selben Moment darüber nachdachte, allen Umständen zum Trotz Nodon verscheuchen zu können, sobald er in seine Nähe gelangte. Die rasenden Gedanken hinter den trüben Pupillen waren selbst für Laien der Körpersprache mehr als offensichtlich.
    Tu es für sie.
    Du machst es auch ihr damit leichter.
    Dies ist ein Dienst, den du ihr noch erweisen kannst.

    Vielleicht mochte es die Unabwendbarkeit des Bevorstehenden gewesen sein, die langsam aber unweigerlich zu dem Alten durchdrang. Vielleicht war es die Erkenntnis darüber, dass alle seine Möglichkeiten in einer Sackgasse endeten. Vielleicht war es auch noch immer seine Absicht, Nodon von seinem Vorhaben abzuhalten. Egal was es letzten Endes gewesen war - der Alte rappelte sich auf und tastete sich langsam, achtsam, in die Nähe des lebendigen Schattens und an das Bett seiner todkranken Enkelin heran. Nodon beobachtete ihn dabei die ganze Zeit mit stoischer Gelassenheit, saß wie eine grobkonturige Wolke auf dem Mädchen und hielt die sternenlichtbefeuerten Augen auf den Greis gerichtet. Dieser, nicht weniger starrend, schob sich Schritt um Schritt dem Bett entgegen, ohne den nachtschwarzen Wolfsschatten für den Bruchteil eines Herzschlages aus den Augen zu lassen. Es fehlte nicht mehr viel, der Alte war fast am Fenster vorbei und stand unmittelbar vor dem Bett, als er hinter sich Griff, das Öllämpchen vom Fenstersims riss und es Nodon plötzlich entgegenschleuderte. Ohne jede Regung erwartete Nodon den Anflug des Wurfgeschosses, spürte einen Hauch als es auf seine Silhouette traf und wusste bereits vor dem Aufschlag, dass die Flamme gelöscht und das Öl durch die Berührung mit ihm so zäh erkaltet sein würde, dass das Glas nicht einmal zerbrechen konnte. Der dumpfe Aufprall erklang sogleich hinter ihm. Keine Scherbe bedeckte den Boden. „Warum lässt du uns nicht einfach leben bis war alle alt und grau sind? Warum verwehrst du so vielen von uns den Lebensabend? Gerade denen, die noch so viel vor sich haben?“, forderte der Alte wimmernd unter verzweifelten Tränen zu wissen.
    Nicht ich entscheide, wann eure Zeit gekommen ist.
    Ihr seid es.
    Ihr allein.
    Niemand sonst.
    Ihr ruft mich, wenn ihr bereit seid. Ich diene nur. Folge euren Rufen wie ein Hund seinem Herrn.
    Mein Dasein hat keinen anderen Zweck, als euch diesen letzten Wunsch zu erfüllen. Den Wunsch nach Freiheit und nach einem Begleiter auf dem kommenden Weg.

    Unverständnis zeichnete sich im Gesicht von Nodons Gegenüber ab. Mit einer solchen Antwort hatte er nicht gerechnet. Diese Wahrheit war seiner vorurteilssteifen Ansicht so fern, dass sie einer offensichtlichen Lüge gleichkam. Wieder schien ihm der Versuch zu Feilschen erfolgsversprechender, als sich einen Moment des Verstehens zu erlauben.
    „Es hätte also keinen Sinn, mich an ihrer Stelle mitzunehmen? Sie gesund zu machen, ihr meine verbleibenden Jahre zu schenken?“, flehte er erneut mit tränenverhangenem Blick.
    Nein. So etwas liegt nicht in meiner Macht.
    Deine Seele ruft mich noch nicht, auch wenn dein Verstand dir etwas anderes einflüstert.
    Ich bin nur ein Weggefährte für diejenigen, die sich alleine vor den vorausliegenden Pfaden fürchten.
    Alles was ich dir zugestehen kann, ist ein Versprechen: Sie wird heilen. Und ihr wird nichts geschehen, solange ich auf sie Acht gebe. Ich bringe sie sicher hinüber.
    So tat ich es bereits mit deinen Lieben und deinen Vorfahren. So werde ich es mit jedem tun, der nach dir kommen wird. Mit Bekannten, Unbekannten… und so werde ich auch eines Tages dir erscheinen, wenn du nach mir verlangst.

    Immer noch dominierten Verunsicherung und Vorsicht, doch ein winziger Funke des Begreifens verzehrte das letzte Quäntchen jenen Hasses, dass den Alten davon abhielt, sich zu fügen. Nodon erkannte in den Augen des Mannes, dass er endlich verstanden hatte. Eine weitere Prämiere an diesem anfänglich so unscheinbaren Abend.
    Sei bei ihr. Halte sie.
    Das macht es ihnen für gewöhnlich angenehmer.

    Nodon kletterte herunter auf die Strohmatratze und sprang von dort lautlos auf den Boden, um dem Alten Platz zu machen, setzte sich wieder geduldig wartend vor die Schlafstätte. Behutsam nahm der Großvater auf der Bettkante Platz, die merklich nachgab und das Gewicht mit leisem Knistern quittierte. Liebevoll strich er seiner Enkelin eine schweißnasse Haarsträhne hinter das Ohr ohne sie zu wecken. Er streichelte sanft ihre Wange, legte dann für eine Weile Stirn an Stirn, während er das tränenreiche Beben in seiner Brust zu unterdrücken versuchte. Nachdem etwas Zeit vergangen war sah er auf Nodon herunter und nickte, jedoch nicht, ohne eine seiner schwieligen Hände beschützend auf der Schulter seiner Enkelin ruhen zu lassen.
    Es wird schnell gehen.
    Und es wird kein Leid mehr geben.

    Als Nodon sich wieder ihrem Gesicht näherte, glomm die silberne Aura des Mädchens erneut auf. Diesmal noch heller als zuvor. Ihre Seele reagierte auf ihn und wartete. Sehnsüchtig. Die Aura unterdessen zog die Konturen in ihrem kindlichen Gesicht immer deutlicher nach, drang auch unter der Decke hervor und schien aus dem kleinen Körper geradezu herauszutreten.
    Vor Einschüchterung gebannt beobachtete der Großvater währenddessen, was geschah.
    Nodon stupste ihre Nase mit seiner an. Begann ihr mit der Zunge sachte über Wangen und Mund zu lecken. Zunächst gab es keine Reaktion, doch dann bewegten sich die silbernen Gesichtszüge. Die rosige Nase verharrte regungslos – die silberschimmernde jedoch rümpfte sich, ebenso zuckten die Lider sanft, erwachend, wohingegen ihre leiblichen Augen keine Notiz von der schwarzen Wolfszunge nahmen und an dem niederdrückenden Fiebertraum festhielten. Ihr durchscheinender Mund öffnete sich zu einem stummen gähnen, die rostroten Lippen dahinter blieben geschlossen.
    Verschlafen öffneten sich ihre silber-gläsernen Augen. Sie blinzelten ein paar Mal und schlossen sich grinsend wieder, als Nodon dem Mädchen erneut über das Gesicht schleckte und ihr ein entfernt klingendes Kichern entlockte.
    Nodon rückte ein Stück von der Bettstadt fort. Die Aura löste sich immer weiter von ihrem sterblichen Anker, stemmte sich auf einen Ellenbogen und dann aus dem schweren Leib heraus, ohne dass ihr Körper sich durch ihre schleierhaften Bewegungen regte.
    Neugierig sah sie sich um, sah auch kurz zu ihrem Großvater, der sprachlos, erschüttert, verstört und lautlos weinend neben ihr saß. Sie schenkte ihm ein kurzes, aber umso freundlicheres Lächeln, dann wandte sie sich wieder zu Nodon um.
    Für ein paar Herzschläge blickten sie sich in die Augen, bis das Mädchen schließlich ein paarmal eifrig nickte. Ohne weitere Zeit zu verlieren trennte sie sich ganz von ihrem Körper. Sie stieg einfach aus ihm hinaus – elegant, geschmeidig, schwerelos tanzend wie ein Schmetterling, der schon viel zu lange in seinem Kokon eingesperrt war. Einen Lidschlag später stand sie in ihrem ebenso schimmernden Nachthemdchen vor der dem Bett und schunkelte mit den Armen, darauf wartend, dass Nodon die Führung übernahm.
    Nodon sah zu ihr hinauf. Ein letztes Mal drehte sie sich um, schweifte mit dem Blick durch den Raum und ließ ihn dann für einen Atemzug an ihrem Großvater verharren, bevor sie ihm winkend ein allerletztes Lächeln schenkte. Der Wolfsschatten setzte sich in Bewegung und ging geradewegs durch die Wand unter dem Fenster hindurch, so wie er zuvor auch eingetreten war. Das Mädchen folgte ihm und wurde von dem alten Fachwerkt verschluckt, nur um hinter dem Fenster von Mondlicht durchschienen wieder aufzutauchen. Kindhaft hüpfte das kleine Mädchen dem finsteren Schatten hinterher, als würde es an einem warmen Sommertag über die Steine eines kühlen gluckernden Baches tollen, während es Libellen nachstellte. Sie wirkte fast grenzenlos heiter dafür, dass sie soeben gerade gestorben war.
    Am Rande des Waldes angekommen hörte Nodon das Zuschlagen einer knarrenden Tür. Zurücksehen war unnötig. Er wusste, dass der Alte schon auf dem Weg zu ihnen war.
    Angekommen in den tiefsten Schatten der alten Eiche blieb das Gespann vor einem ungewöhnlich hellen Mondlichtstrahl stehen. Erhaben sickerte das silberweiße Licht durch ein Loch in der Baumkrone gen Boden, ähnlich einladend wie das Rampenlicht, dass die letzte Bewegung des Hauptdarstellers auf der großen Bühne beleuchtete, bevor der fallende Vorhang das Stück endgültig abschloss.
    Nodon und das Mädchen, das nun einerseits stumm und ehrfürchtig staunend, andererseits zögerlich unentschlossen vor dem Strahl stand, tauschten einen langen Blick. Dann trat Nodon als erster in den Kegel aus Mondschein. Zunächst schien das Licht von seinem Umriss abzuprallen, dann jedoch duckte sich das schwarzwabernde Fell langsam unter der Helligkeit weg. Die Schlieren und Fangärmchen wurden kleiner und begannen an ihren Spitzen zu schimmern, wie entzündet züngelte das Licht über Nodon hinweg und verdrängte jeden noch so kleinen Rest von Finsternis.
    Nun war die Maskerade gefallen. Es gab keinen Grund mehr unauffällig zu sein. Es war der Zeitpunkt gekommen, zu führen, für alles und jeden unverfehlbar erkennbar zu sein. Die Verbeugung des Hauptdarstellers nahte.
    Nie wagte es der Mond, ihn während seines Erscheinens zu verwandeln. Sobald Nodon jedoch den Rückweg antrat, segnete ihn der große runde Beschützer mit allem Glanz, den er aufzubringen vermochte. Wie ein Leuchtfeuer erstrahlte Nodon jetzt ohne jeden Hauch von Dunkelheit, einzig seine Augen bargen dem letzten Schatten Zuflucht und verwandelten sich in das Abbild des dunklen, schlafenden Nachthimmels, während er einer Lichtgestalt gleich reine und besänftigende Hoffnung verströmte. Lautlos klatschend jauchzte die Mädchenseele auf und sprang ohne weiteres Zögern zu Nodon ins Mondlicht. Ihr Nachtkleidchen begann zu funkeln und zu glitzern, was das Mädchen noch weiter über alle Maßen entzückte. Nodon gewährte ihr einen Moment der schwerelosen Freude, sah währenddessen im Hintergrund den fassungslosen, atemlosen Großvater heraneilen und immer langsamer werden, je näher er der Szene kam, die noch nie ein sterbliches Paar Augen hatte mitansehen dürfen. Nodon leckte das Mädchen an der Hand und stupste sie mit dem Kopf an. Sie streichelte ihm im Gegenzug über das Haupt, dass von weichen, brennenden Flammenzünglein gesäumt war und schwang sich flink auf seinen Rücken.
    Nodon bedachte den Großvater mit einem Blick. Knieend, mit tränenspuren im Gesicht war er vor dem Mondstrahl zusammengesackt und bewunderte die überwältigende Schönheit des Augenblicks.
    Der Wolf zog die Lefzen ein wenig nach oben, was man durchaus als ein Lächeln interpretieren konnte, dann setzte er zum Sprung an und stieß sich in die Höhe. Er landete auf einer benachbarten Mondlichtlanze, setzte auf eine weitere über, nutzte hier einen Schwarm Glühwürmchen als Tritt und das Licht des Mondes, das sich in einem kleinen Bassisn auf der Baumrinde sammelte als einen weiteren. So schraubte er sich mit seiner Reiterin immer schneller in die Höhe, bis beide durch das Blätterdach der Eiche brachen. Nun hatte Nodon so viel Schwung erlangt, dass seine und die Konturen des Mädchens immer stärker ineinander verschwammen – zu einem dichter werdenden Schweif verschmolzen - bis sie wie eine Sternschnuppe über den Himmel jagten, die im Zick-Zack von Stern zu Stern flitzte. Die Hatz dauerte einige Herzschläge und zog sich über den gesamten Sternenteppich, dann wurde sie allmählich langsamer. Als sich die Sternschnuppe dann einem noch freien Flecken Firmament näherte, gleißte sie plötzlich strahlend hell auf – und war anschließend verschwunden. Nichts war mehr von ihr zu erkennen und zeugte von dem wilden Ritt am Nachthimmel. Nichts, bis auf den neugeborenen kleinen Stern.
    Nodon zog eine letzte Bahn um den Mond, als es bereits dämmerte und betrachtete dabei den neuaufgegangenen Punkt inmitten der Millionen und Abermillionen anderen kleinen Lichter, die allmählich im Morgenschein verblassten. Es war jedes Mal so, dass die Neuzugänge in ihrer ersten Nacht am längsten hinabschauten. Dann spähte der Seelenführer ein vorerst letztes Mal auf die Welt hinab, dorthin, wo der Greis noch immer gen Himmel sah und vermutlich bis zum Aufgang der Sonne sein würde.
    Auch seine Zeit sollte noch kommen – und auch er würde irgendwann Teil der Karte werden, die all jenen den Weg wies, die ihre Reise noch vor sich hatten. Doch bis es soweit war, erinnerte ihn seine Enkelin daran, dass es keinen Anlass zur Furcht gab, wenn er den ersten Schritt auf den nächsten Pfad setzte. Denn er wusste nun. Ihm war der Blick durch den Nebel hindurch und hinter den Vorhang gelungen. Nodon war nun nicht mehr allein. Es gab nun noch jemanden, der sehen konnte, wirklich und wahrhaftig sehen konnte – genauso klar wie der Wolfsschatten. Genauso deutlich, wie Nodon.

  • Hey Ralath,

    cool, dass du mal wieder was geschrieben hast. Ich habe erst mal nur den ersten Teil geschafft. Den zweiten schaue ich mir später an. :)

    Eine Frage vorweg: Warum packst du deine Geschichte in einen Spoiler? :hmm:

    Und nun zum Inhaltlichen: Die Geschichte rund um Nodon kommt mir nicht gänzlich neu vor. Aber das Thema "Tod und Sterben" ist und bleibt geheimnisvoll, unheimlich und dennoch faszinierend, weshalb es eine hervorragende Grundlage für fantastische Geschichten oder Legenden in sich birgt.

    Dein Schreibstil passt hier sehr gut. Du hast es voll drauf, beinahe poetische Formulierungen und Beschreibungen aneinanderzureihen, ohne, dass es zu viel wird oder übertrieben klingt. Wirklich sehr schön! :thumbup:

    Wenn ich einen Kritikpunkt anbringen müsste, würde ich höchstens bemängeln, dass Nodan seeeehhhhr ausführlich darauf eingeht, wie sich sein Besuch üblicherweise gestaltet, dass man ihn nicht Willkommen heißt, dass die Menschen blind sind, dass er Leid verursacht...ihm das aber alles eigentlich egal ist...aber dennoch erzählt er immer weiter und beschreibt es noch einmal und noch einmal, sodass ich es zum Ende hin fast ein wenig ermüdend fand. Um es prägnanter zu machen, könnte man hier an der Stelle vielleicht schauen, ob sich was kürzen lässt. (das ist aber vielleicht auch Geschmacksache :pardon: )

    Dass sich der Alte nachher mit seiner Schrotflinte gegen ihn zu behaupten versucht, fand ich eine gute Idee, die ich Depp nicht mal habe kommen sehen :patsch: Ich dachte, der hat die Flinte auf dem Schoß, weil ... keine Ahnung.... das Dorf schon mal von Baditen überfallen wird, oder sowas :rofl:

    Okay, hier noch sonstige Anregungen/Gedanken:

    Kurz betrachtete der Wolfsschatten das niedrige Häuschen, das auf einem Sockel aus Sandstein ruhte und sich in Balken und Lehm kleidete, mit einem Hut aus Schilf gegen das Wetter bedeckt und von den Furchen eines bestellten Feldes schützend umreiht, als hätten die Bewohner versucht etliche kleine Burggräben darum zu ziehen, um vermeintliches Unheil fernzuhalten.

    Das ist nur ein einziger Satz! Ich neige ja auch zu Schachtelsätzen, aber hier würde ich versuchen, nochmal drüberzugehen ^^

    einen einfachen dunklen Schrank, der klotzig und kantig an der Wand hockte, einen staubigen alten Teppich, dessen Muster durch jahrlanges Begängnis jede Erkennbarkeit verloren hatte und auf einem ebenso beanspruchten Bretterboden lag, einen schmucklosen Nachttisch, einen Schaukelstuhl und ein Bett, wie es in jedem solcher Bauernhäuser gleich mehrfach für alle Bewohner zu finden war.

    Der Satz hat mich verwirrt...er ist ziemlich verschachtelt und enthält Unmengen an Kommata...ich musste ihn dreimal lesen, um zu kapieren, was du meintest :rofl: Kann aber auch sein, dass das jetzt an mir liegt :blush:

    Tiefe Gräben, noch tiefer wirkend als die Furchen in der Erde vor dem Fenster, zerschnitten überall das ledrige Gesicht und erzählten dem aufmerksamen Beobachter von unzähligen schweren Entscheidungen, Erfolgen und Misserfolgen, von Tagen die längst vergessen waren und Nächten, die bis zum letzten Atemzug des Mannes in seinem Gedächtnis ein Zuhause gefunden haben würden.

    Sehr geil geschrieben! :thumbup:

    Die selbstgeschusterten Krücken unter dem Bett konnten zwar den Körper mehr schlecht als recht stützen, doch sie vermochten nicht eine kraftlose Seele zu tragen, wenn das Leben selbst sich dem erbitternden Widerstand gegen jedes Glück verschrieben hatte.

    Das gefällt mir auch sehr gut! :love: (neben diversen anderen Sätzen, die ich hier jetzt nicht alle zitieren kann)

    Bin gespannt, wie es weitergeht :gamer:

    LG,

    Rainbow

  • Sehr cool, Ralath! :thumbup:

    Hat Spaß gemacht zu lesen. Sehr bildgewaltig, einfühlsam und mit einem tollen Ende!

    Hier kommt nur ein bisschen Kleinkram, über den ich beim Lesen gestolpert bin:

    Spoiler anzeigen

    Unruhig biss er sich auf die Lippen. Den Ausdruck vollends zu einer hässlichen Fratze verzogen.

    Nimm Abschied, wenn du möchtest. Es ist gleich vorbei.

    Mit diesen Worten wandte er sich von dem Alten ab

    Hier ist der Bezug nicht ganz klar. Das zweite "er" liest sich so, als sei der Mann gemeint, was aber ja nicht der Fall ist.

    Wenn du das Scheißerchen in Ruhe lässt,

    Das war mir schon im ersten Part aufegallen...Kleines Scheißerchen klingt für mich irgendwie abwertend und passt für mich nicht ganz :hmm: Würde ein liebender Großvater seine Enkelin nicht anders betiteln? Vor allem, wenn er mit dem Tod verhandelt? Keine Ahnung, ist vielleicht auch Geschmacksache :pardon:

    „Warum lässt du uns nicht einfach leben bis war alle alt und grau sind?

    wir

    Immer noch dominierten Verunsicherung und Vorsicht, doch ein winziger Funke des Begreifens verzehrte das letzte Quäntchen jenen Hasses, dass den Alten davon abhielt, sich zu fügen.

    das

    Ihr durchscheinender Mund öffnete sich zu einem stummen gähnen,

    Gähnen

    Sie blinzelten ein paar Mal und schlossen sich grinsend wieder, als Nodon dem Mädchen erneut über das Gesicht schleckte und ihr ein entfernt klingendes Kichern entlockte.

    Wie können sich Augen grinsend wieder schließen? :hmm:

    stand sie in ihrem ebenso schimmernden Nachthemdchen vor der dem Bett

    da ist was reingerutscht

    ähnlich einladend wie das Rampenlicht, dass die letzte Bewegung des Hauptdarstellers auf der großen Bühne beleuchtete

    das

    das sich in einem kleinen Bassisn auf der Baumrinde sammelte

    meintest du "Bassin"?

    LG,

    Rainbow