Brain War - Der Krieg der Hirne

Es gibt 45 Antworten in diesem Thema, welches 10.422 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (15. Februar 2020 um 22:09) ist von Stadtnymphe.

  • Ein Junge steht von den Toten wieder auf, ein Müllwerker entdeckt Körper mit abgeschnittenen Köpfen, ein Mann stürzt in einen Schacht und entdeckt einen Schatz, ein grünes Ei fährt in den Himmel auf – es geschehen seltsame Dinge in und um das beschauliche Städtchen Lunenborg. Und dann gibt es auch noch einen Kampf, einen Kampf mit unerhörten, auf der Erde noch nie da gewesenen Mitteln...


    Brain War – Der Krieg der Hirne
    Ein Fortsetzungsroman

    Erster Teil: Hasetépeté

    1

    Der Jogger bog das Gebüsch auseinander, um besser sehen zu können. Deutlich erkannte er zwei Füße, die aus dem Schilf ragten. Er zog sein Handy hervor und alarmierte den Rettungsdienst und die Polizei.
    Man schrieb Mittwoch, den 6. April. Über dem Kalkbergsee lag eine bleigraue Wolkendecke. Zeit: 8 Uhr 27. Temperatur: Luft 12, Wasser: 6 Grad Celsius.
    Der Rettungsdienst traf noch vor der Kriminalpolizei ein und holte den leblosen Körper aus dem Röhricht. Sofort begannen zwei Sanitäter mit Wiederbelebungsmaßnahmen. Doch ihre Bemühungen waren vergeblich; der Patient zeigte auch nach Gabe fließenden Sauerstoffs und intensiver Herzdruckmassage weder Atmung noch Puls, und da er völlig unterkühlt war, ging der Notarzt davon aus, dass bei dem Knaben, den er trotz seiner außergewöhnlichen Größe auf etwa zwölf Jahre schätzte, jede Hilfe zu spät kam.
    Der Junge wurde in den Rettungswagen gelegt und sicherheitshalber zwecks weiterer Untersuchungen ins städtische Klinikum gebracht, das bereits verständigt worden war.
    Der Wagen fuhr an die Rampe, Türen öffneten sich, die Arzthelfer stiegen ein –
    „Ich denk´ der is daut“, sagte der eine, über die Bahre gebeugt. Er kratzte sich am Kopf. „Issa dat?“, fragte er den Sanitäter, der gerade hinter dem Wagen erschien. Der warf einen Blick hinein und sagte: „Ja, dat issa.“
    Der angeblich tote Junge blickte die beiden Männer mit großen, verängstigten Augen an.
    Einen Augenblick geschah nichts; zu groß war das Erstaunen. Dann zogen die Helfer die Bahre mit dem Jungen eilig aus dem Wagen und schoben sie und in die Notaufnahme.

    Die Nachricht von dem Wiederauferstehungswunder verbreitete sich mit Windeseile unter dem Klinikpersonal. Sofort waren Ärzte und Krankenschwestern zur Stelle - soweit sie gerade abkömmlich waren -, die den Knaben anstaunten und versuchten, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Doch der reagierte weder auf Ansprache noch auf Gesten. Er lag stumm da, sein Blick war auf einen imaginären Punkt in weiter Ferne gerichtet. Schließlich gelang es einer Ärztin, beruhigende Worte murmelnd, ihn vorsichtig zu untersuchen. Zu ihrer großen Überraschung stellte sie fest, dass der Patient weder Puls noch Atmung zeigte. Trotzdem schien sein Zustand stabil, und jetzt nahm der Knabe sogar den Blick zurück und schaute die Ärztin mit großen, staunenden Augen an.
    Die Ärztin wandte sich zu ihrem Kollegen um und schüttelte leicht den Kopf. „Das verstehe ich nicht“, murmelte sie.
    In der Annahme, er müsse hungrig sein, setzte man dem Knaben den Mittagstisch vor. Doch er machte keinerlei Anstalten, zu Messer und Gabel zu greifen, es hatte sogar den Anschein, als rümpfe er angeekelt die Nase. Auch die Essenspantomime, die Schwester Maria zum Gaudi der Anwesenden aufführte, blieb ohne Erfolg. Der Teller wurde wieder weggestellt, und da der Zustand des Knaben weiterhin stabil schien, brachte man ihn zur weiteren Untersuchung in die Orthopädie.
    2

    Im Untersuchungszimmer des Dr. Bernhard waren, von der seltsamen Nachricht angelockt, auch einige fachfremde Kollegen anwesend. Als der Patient hereingeschoben wurde, verstummte das Geraune, und alle Augen richteten sich auf den Ankömmling. Eine Krankenschwester entblößte seinen Oberkörper. Zum Vorschein kamen eine schmale, weiße Brust ohne Grube, und auffällig runde Schultern. Sofort fiel das Fehlen von Rippen und Brustwarzen auf, das einige der anwesenden Mediziner zunächst als klassische Athelie, eine seltene Fehlbildung beim Mann, deuteten. Dr. Bernhard sah sofort, dass er nicht den Oberkörper eines normalen zwölfjährigen Jungen vor sich hatte. Er drückte die Haut an mehreren Stellen leicht ein. Dann umfasste er einen Ellenbogen und bewegte den Unterarm mehrmals hin und her. Je länger Dr. Bernhard untersuchte, desto öfter schüttelte er den Kopf. Schließlich gab er der Schwester das Zeichen, den Knaben wieder anzuziehen. Als er sich zu den Kollegen umdrehte, lag auf seinem Gesicht der Ausdruck allerhöchsten Erstaunens.
    „Meine Damen und Herren“, sagte er, „der Patient besitzt anscheinend keine Knochen. Ich frage mich, ob er bei seiner Größe überhaupt gehen kann.“
    Der Knabe hatte die Untersuchung stillschweigend über sich ergehen lassen. In seinem Blick lag das Erstaunen eines Menschen, der zum ersten Mal die Sonne erblickt. Doch jetzt zeigte er Anzeichen totaler Erschöpfung, und er wurde wieder zurück in die Notaufnahme gebracht. Dort hielt man ihm sämtliche Nahrungsmittel unter die Nase, welche die Klinikküche zu bieten hatte, doch er reagierte nicht. Allerdings gelang es einer Schwester, ihm etwas Wasser einzuflößen, woraufhin er sich leicht erholte.
    Man war ratlos. Wovon ernährte sich das seltsame Wesen? Höchste Eile war geboten, denn der Junge verfiel immer mehr. Er lag mit geschlossenen Augen auf der Liege, völlig leblos, ohne das geringste Lebenszeichen. Es war nicht festzustellen, ob er überhaupt noch lebte oder schon tot war, denn Puls und Atmung hatte er bisher ohnehin nicht gezeigt.

    In aller Eile wurde eine Infusion vorbereitet, doch es zeigte sich, dass der Patient keinen Blutkreislauf besaß.

    Dr. Bernhard starrte auf dem reglos Daliegenden. Es war unfassbar. Der Körperbau des Jungen widersprach so gründlich den Regeln der menschlichen Anatomie, dass er auf die Idee kam, ein Wesen von einem anderen Stern vor sich zu haben.
    Diese Erkenntnis, laut gedacht, stachelte die Suche nach einem geeigneten Nahrungsmittel weiter an und erhitzte die Gemüter. Allen war klar: Das seltsame Wesen durfte auf keinen Fall sterben, denn der Menschheit bot sich jetzt, wenn die Vermutung des Kollegen stimmte – und dafür sprach einiges – die Möglichkeit, zum ersten Mal mit einem Außerirdischen zu kommunizieren. Zu groß war der Erkenntnisgewinn, den sich die Wissenschaften davon erhoffen durften – abgesehen von den Doktorhüten, die dabei zu gewinnen waren.
    Aber auch der hinzugezogene Ernährungsexperte wusste keinen Rat. Er zuckte mit den Schultern. Einen solchen Fall von Nahrungsverweigerung habe er, abgesehen bei einigen Hungerstreikenden, noch nicht erlebt. Er schlug eine Zwangsernährung vor, doch die Frage nach dem Womit und Wie ließ er unbeantwortet.
    Der Knabe lag nach wie vor unverändert mit halb geschlossenen Augen auf der Liege. Er sah nicht schlechter, aber auch nicht besser aus als vor zwei Stunden, als man ihn aus dem Schilf gezogen hatte. Ja, jemand äußerte sogar die Vermutung, er sehe aus, als könne er noch stunden-, wenn nicht sogar noch tagelang in diesen Zustand verharren, ohne zu verhungern.
    „Ich würde noch einen Schritt weitergehen“, meinte jemand. „Er sieht aus, als könne er noch nicht einmal sterben.“
    Doch man wollte es nicht darauf ankommen lassen und suchte händeringend nach eine geeigneten Nahrung. Einer der Anwesenden, die um die Liegestatt herumstanden, ein angesehener Physiologe, bemerkte, wenn der Knabe keine Atembewegungen zeige hieße das nicht automatisch, dass er keinen Stoffumsatz habe, denn irgendwoher müsse ja allein seine Bewegungsenergie kommen.
    „Herr Kollege, Sie denken da an eine anaerobe Verdauung“, fragte jemand, „an eine Art alkoholische Gärung?“
    „Nicht unbedingt. Dann müssten Gärgeräusche zu hören sein.“
    Sofort horchte die Ärztin, die den Knaben untersucht hatte, seinen Leib ab. Dann drehte sie sich um und verkündete: „Nichts. Absolut ruhig!“
    Doch jetzt geschah etwas Überraschendes. Schwester Maria war an die Liege getreten und tätschelte dem Knaben die Wange. Plötzlich drehte der den Kopf und begann, an Marias Hand zu lecken.
    In das erstaunte Schweigen hinein rief die Schwester: „Das ist es! Er leckt Salz!“
    Sofort wurde ein Pfleger zu Klinikapotheke geschickt, der nach wenigen Minuten mit mehreren Päckchen reinstem Steinsalzes zurück kam. Man löste etwas davon in warmem Wasser auf und benetzte mit der Salzlösung die Lippen des Knaben.
    Im Saal herrschte knisternde Stille. Alle blickten erwartungsvoll auf das Gesicht des Jungen.
    Zunächst erfolgte keine Reaktion.
    Doch dann –
    „Da! Das Jungche leckt sich die Lippen“, flüsterte Schwester Maria andächtig.
    „Das heißt, er will mehr haben“, raunte eine andere.
    Schwester Maria griff beherzt zu und richtete den Knaben auf, ihre Kollegin hielt ihm das Glas an die Lippen: Er trank, erst zögerlich, dann in vollen Zügen.
    Ein hörbares Aufatmen ging durch den Saal. Jemand machte den Anfang, und schließlich klatschten alle.
    Der berühmte Physiologe blickte betreten zur Seite. An alles hatte er gedacht, nur nicht an schnödes Salz.

    *
    Nachdem sich der Knabe wieder erholt hatte, versuchte man behutsam, ihn auszufragen, wie er hieße, wo er wohne, wie es zu dem Unfall auf dem Teich gekommen sei. Doch es erwies sich, dass er weder die Landessprache noch eine andere der geläufigen Verkehrssprachen verstand. Ein zufällig in der Klinik als Patient anwesender Sprachwissenschaftler versuchte es in weiteren, zum Teil exotischen Idiomen – vergeblich, aus dem Jungen war kein Wort herauszubringen.
    Da trat eine Krankenschwester hervor, stellte sich vor die Liege, wies mit dem Zeigefinger auf ihren üppigen Busen und sagte mehrmals laut und deutlich: „Ich – Maria – ich – Maria.“
    Der Knabe lächelte, wies seinerseits mit dem Finger auf sich und sagte mit hoher, gläserner Stimme: „Hasetépeté – Hasetépeté.“
    3

    Die Meldung von dem außerirdischen Jungen, der sich von Steinsalz ernährt, verbreitete sich mit Windeseile über den gesamten Globus. Da die Öffentlichkeit schon zu häufig auf Fake-News hereingefallen war, hielten sich die Reaktionen zunächst in Grenzen. Als dann jedoch die Klinik die Existenz eines jungen Patienten bestätigte, dessen Körperbau von dem eines Menschen stark abwiche, brach ein regelrechtes Twitter-Gewitter los. Die sozialen Medien überschlugen sich mit Meldungen von unbekannten Flugobjekten, die man hier und da in dieser Mittwochnacht gesehen haben wollte. Einige Bewohner der Gegend um den Kalkbergsee schworen, kurz nach Mitternacht ein Ufo gesehen zu haben, das einige Zeit über dem See schwebte. Doch eine Auskunft, welche der 'Landesbote' in gewohnt gründlicher Recherche beim Wetteramt einholte ergab, dass es sich dabei um ein rundes Wolkengebilde gehandelt habe, das sich wenig später auflöste, ein für diese Jahreszeit und Wetterlage zwar ungewöhnliches, aber doch keineswegs übernatürliches Phänomen. Gleichwohl, die Leute blieben dabei: Ein Ufo habe den Knaben verloren, und der sei glücklicherweise in den Kalkbergsee gefallen, ohne Schaden zu nehmen.

    *
    Hasi, wie Hasetépeté jetzt liebevoll genannt wurde, erholte sich zusehends, und nach drei Tagen war er soweit, dass man an seine Entlassung denken konnte. Doch wohin? Und: Wer würde die Kosten übernehmen? Konnte er Gasteltern zugemutet werden, jetzt, wo er noch kein Wort verstand? Wie würde er sich entwickeln? Vielleicht zu einem Cyber-Monster? Da hatte man schon die erstaunlichsten Dinge erlebt!
    Da kam jemand auf die nützliche Idee, doch erst einmal, bevor man sich weiter den Kopf zerbreche, Hasis ausländerrechtlichen Status feststellen zu lassen. Schwester Maria rief in ihrer Mittagspause in der Bundesanstalt für Ausländer und Migration, kurz BaMf, an und schilderte den Fall.
    Die Sachbearbeiterin, nachdem sie eine Weile still nachgedacht hatte, meinte, bei der Person handele es sich ihrer Einschätzung nach um einen umF, der unter dem –
    „Um einen was?“, unterbrach Schwerster Maria verdutzt.
    „– um einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling aus einem Nicht-EU-Staat“, fuhr die Dame, offenbar über so viel Unwissenheit verärgert, mit spitzer Stimme fort. Damit stehe er unter dem Schutz der UN-Kinderrechts-Konvention von 1989, so die Dame weiter, und habe Anspruch auf angemessene Unterbringung und, da er schulpflichtig sei, auf geeignete Beschulung. Sie empfahl, als nächsten Schritt die LSB, die Landesschulbehörde, zu informieren zwecks Erstellung eines Förderbedarfsgutachtens. Ob es sich um den Jungen handele, von dem alle Welt rede, fragte sie noch. Schwester Maria bejahte. Dann sei ja wohl eine Familienzusammenführung schlecht möglich, ließ sich die Dame vernehmen, und es müsse schleunigst ein amtlicher Betreuer bestellt werden.
    Die Landesschulbehörde wurde in Kenntnis gesetzt, und einige Tage später erschienen eine Dame und ein Herr, die sich als Mitglieder der Förderkommission auswiesen. Sie legten dem umF vom Ufo, wie Hasetépeté von der Boulevardpresse jetzt genannt wurde, mehrere Intelligenztests vor und schieden mit dem Eindruck, einen vollständigen Idioten vor sich zu haben. Deshalb regten sie seine Unterbringung in einer speziellen Einrichtung des Roten Kreuzes für betreutes Wohnen an.
    Als Schwester Maria dies erfuhr, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und rief: „Nur über meine Leiche! Ich lasse das Jungche doch nicht mit Drogensüchtigen und Essgestörten zusammen in einen Raum! Ach, das arme Jungche!“
    Nun, soweit war es noch nicht, die Verfahren benötigten Zeit und zogen sich hin. Hasi logierte weiterhin in seinem Zimmer im Klinikum, von Schwester Maria, die ihn mittlerweile in ihr weites Herz geschlossen hatte, treu umsorgt. Sie war auch die einzige Person, die er näher an sich heran ließ. Ansonsten wirkte er scheu und in sich gekehrt. Seine Zeit verbrachte er mit wenigen Unterbrechungen auf der Liege, Tag und Nacht mit halb geschlossenen Augen vor sich hindösend. Den üblichen Zeitvertreib von Knaben seines Alters verschmähte er. Auch die Bilderbücher und Comics aus den Wartezimmern, die ihm die Schwester ab und zu brachte, ließ er verächtlich links liegen.

    Es schien tatsächlich, als habe er keinerlei geistige Interessen.
    Da kam dem Sprachwissenschaftler, dessen Genesung nur sehr langsam voranschritt, nach durchwachter Nacht eine bizarre Idee. Wenn Hasis Herkunft außerirdischer Natur ist – und daran besteht nach den Röntgenbildern kein Zweifel –, grübelte er morgens um vier, dann besitzt er möglicherweise auch eine Intelligenz, die sich nicht nach irdischen Maßstäben beurteilen lässt. Vielleicht sei dieser angebliche Idiot ja gar kein Idiot, sondern ein Wesen mit uraltem, unbekanntem Wissen.

    Wie elektrisiert fuhr er hoch.

    Die Idee war zwar fantastisch, aber auch zu verlockend, um nicht sofort in die Tat umgesetzt zu werden. Er schrieb seiner Frau eine Mail, sie möge ihm doch noch heute das Heft mit dem Stein von Trouette vorbeibringen.
    Hoffnungsvoll, fast beglückt, ließ er sich wieder zurück in die Kissen sinken. Vergeblich versuchte er, die Siegesfantasien, die jetzt auf ihn einstürmten, als verfrüht zurückzuweisen. Schließlich erlag er und gab sich ihnen genüsslich hin. Wie oft hatte er davon geträumt, die geheimnisvollen Schriftzeichen entziffert zu haben und unsterblichen Ruhm zu ernten. Wie viele seiner Kolleginnen und Kollegen im In- und Ausland hatten es versucht und sich daran erfolglos die Zähne ausgebissen... Schon sah er sich mit bescheidenem Lächeln die Glückwünsche der Kolleginnen und Kollegen entgegennehmen, sah seine Frau, wie sie ihn vor allen Leuten umarmte und einen Kuss auf die hohe Denkerstirn drückte, sah andere, auch neidische Blicke, sah das Blitzlichtgewitter der Fotografen... Vor seinem inneren Auge tauchten die dicken schwarzen Headlines der Boulevardpresse auf... Vor allem aber sah er die Überschrift in 'Science of Europe': „Rätsel um Stein von Trouette endlich gelöst!“ Darunter ein Bild des Steins, daneben SEIN Foto, und dann ein langer Artikel... Es wäre die Krönung seiner Karriere gewesen.
    Schließlich schlief er ein, ermüdet von so viel berauschender Perspektive.

    *
    Nachdem seine Frau wieder gegangen war, ließ der Professor Schwester Maria kommen und bat sie, das Heft mit der Abbildung des Steins offen auf Hasis Tisch zu legen und, wenn möglich, unauffällig seine Reaktion zu beobachten. Schon nach wenigen Minuten kehrte sie aufgeregt zurück und berichtete, Hasi sei, kaum dass er das Foto gesehen habe, in helles Entzücken ausgebrochen und habe in seiner Sprache geredet. Dabei habe er das Heft interessiert durchgeblättert, sei aber immer wieder zur Seite mit dem Stein zurückgekehrt. Dann sei er auf einmal aufgesprungen, habe in der Kiste mit den Spielsachen gewühlt, einen Esel und eine Barbiepuppe herausgenommen und neben das Heft auf den Tisch gestellt. Dabei habe er aufgeregt auf zwei Zeichen auf dem Stein gedeutet. „Er hat die Zeichen für Pferd und Jungfrau erkannt“, rief sie überglücklich, „also ist er alles andere als ein Idiot, der Gutste!“
    Der Professor lächelte süß-sauer. Diese Erkenntnis hätte er gerne selber verkündet. „Ob er geistig normal ist, dazu erlaube ich mir noch kein Urteil“, sagte er schmallippig. „Wir müssen erst sein kognitives Potential erkunden. Sagen Sie“ – er blickte die Schwester ernst an – „haben Sie sonst noch jemanden von dieser... ähem... Entdeckung erzählt?“
    „I woher denn! Ich bin doch sofort zu Ihnen gerannt!“
    „Das ist gut so. Das Beste wird sein, es bleibt unter uns. Sowie die Presse davon erfährt, ist hier der Teufel los, und ich glaube nicht, dass Hasi dem Ansturm gewachsen sein wird, von der Klinik mal ganz abgesehen. Also, Schwester, kein Wort zu irgendjemanden! Alles andere überlassen Sie bitte mir.“
    „Was haben Sie denn mit Hasi vor?“
    „Ich weiß er noch nicht, denke aber –“
    „Schwester Maria bitte sofort ins Schwesternzimmer!“ Die Stimme im Lautsprecher klang nicht sehr freundlich.

    Forts. folgt

    Einmal editiert, zuletzt von McFee (23. Juli 2019 um 21:07)

  • Ich finde das mit dem Salz am Ende sehr interessant. Aber die medizinischen Vorgänge um den Jungen herum lesen sich seltsam. Ich denke du solltest dich vielleicht mehr damit auseinandersetzen was in einer Notaufnahmen passiert und welche Prioritäten behandelnde Ärzte haben.

    Meiner Erfahrung nach findet man bei Nachforschungen noch etliche interessante Details zum Thema an die man vorher nicht gedacht hat.

    Ich würde auch einen leblosen Körper nicht als „Leiche“ bezeichnen wenn noch versucht wird ihn wieder zu beleben. Sonst gibst du doch gleich preis dass es nicht klappt. Dasselbe mit „vermeintlicher“ Tod. Wenn man das liest ist doch sofort klar dass er später wieder auf steht.

    Akzente würde ich nicht ausschreiben. Meiner unbedeutenden Meinung nach ist das leicht beleidigend für die Leute die so reden, weil`s wirkt als würdest du deren Dialog nicht wie eine echte Sprache behandeln. Schreib vielleicht lieber „…sagte er mit dickem Plattdeutschen Akzent.“

  • Spoiler anzeigen

    Ein Junge steht von den Toten wieder auf, ein Müllwerker entdeckt Körper mit abgeschnittenen Köpfen, ein Mann stürzt in einen Schacht und entdeckt einen Schatz, ein grünes Ei fährt in den Himmel auf – es geschehen seltsame Dinge in und um das beschauliche Städtchen Lunenborg. Und dann gibt es auch noch einen Kampf, einen Kampf mit unerhörten, auf der Erde noch nie da gewesenen Mitteln...

    Wird das sowas wie "Torchwood" oder "Akte X"? Ich weiß auch nicht, ob man bereits als Einleitung die Fälle und (voraussichtlich) wichtigen Ereignisse aufzählen sollte. Das könnte eventuell die Erwartungen unerwünscht höherdrücken. :hmm:

    Der Jogger bog das Gebüsch auseinander, um besser sehen zu können. Deutlich erkannte er zwei Füße, die aus dem Schilf ragten. Er zog sein Handy hervor und alarmierte den Rettungsdienst und die Polizei.
    Man schrieb Mittwoch, den 6. April. Über dem Kalkbergsee lag eine bleigraue Wolkendecke. Zeit: 8 Uhr 27. Temperatur: Luft 12, Wasser: 6 Grad Celsius.

    Ich persönlich hätte die Daten als kleine Schlagzeile an den Textanfang gesetzt. Quasi wie in einem Bericht. Dann fände ich es nicht so störend und deplaziert.

    Der Rettungsdienst traf noch vor der Kriminalpolizei ein und holte die Leiche aus dem Röhricht. Sofort begannen zwei Sanitäter mit Wiederbelebungsmaßnahmen.

    Was @Feron schon angesprochen hat. Für mich bedeutet Leiche auch, dass man keine großartigen Wiederbelebungsmaßnahmen mehr durchführt. Denn so wie du es hier schreibst, wäre entweder jede bewusstlose Person sofort eine Leiche oder man würde bei jeder Leiche Wiederbelebungsmaßnahmen durchführen, auch wenn man weiß, dass die Person tatsächlich tot ist. Man könnte ja schreiben "vermutlich Tote" oder so ähnlich. :hmm:

    Doch ihre Bemühungen waren vergeblich; der Patient zeigte auch nach Gabe fließenden Sauerstoffs und intensiver Herzdruckmassage weder Atmung noch Puls, und da er völlig unterkühlt war, ging der Notarzt davon aus, dass bei dem Knaben, den er trotz seiner außergewöhnlichen Größe auf etwa zwölf Jahre schätzte, jede Hilfe zu spät kam.

    Wenn das "Leiche" drin bleibt, finde ich diesen Abschnitt quasi überflüssig, da man eigentlich davon ausgeht, dass die Leiche tot bleiben wird.

    Der vermeintlich Tote wurde in den Rettungswagen gelegt und sicherheitshalber zwecks weiterer Untersuchungen ins städtische Klinikum gebracht, das bereits verständigt worden war.

    Hat @Feron auch schon angemerkt. Unter "vermeintlich" verstehe ich, dass man es annimmt oder meint, aber es nicht unbedingt so sein muss. Und dies dort anzuwenden, deutet ja schon daraufhin, dass der Tote gar nicht tot ist, sondern bald wieder leben könnte. Nur "Tote" reicht denke ich hier vollkommen aus. Vielleicht könnte man noch eine "falsche Fährte" legen, um dem Leser Spielraum für weitere/eigene Vermutungen zu geben. Vielleicht hat er Schnittverletzungen oder Prellungen?

    „Ich denk´ der is daut“, sagte der eine, über die Bahre gebeugt. Er kratzte sich am Kopf. „Issa dat?“, fragte er den Sanitäter, der gerade hinter dem Wagen erschien. Der warf einen Blick hinein und sagte: „Jau, dat issa.“
    Der angeblich tote Junge blickte die beiden Männer mit großen, verängstigten Augen an.
    Einen Augenblick geschah nichts; zu groß war das Erstaunen. Dann zogen die Helfer die Bahre mit dem Jungen eilig aus dem Wagen und schoben sie und in die Notaufnahme.

    1. finde ich das mit dem Dialekt an sich nicht sonderlich schlimm, aber da es direkt in der ersten Wörtlichen Rede auftaucht, ging ich davon aus, dass nun der Großteil (und das auch konsequent durch den Text) in diesem Dialekt sprechen wird. Aber das tritt nicht ein. Mal sprechen sie hochdeutsch, mal so.
    2. war ich etwas irritiert, ob der eine (Bahrenträger)(Der den Sanitäter fragt), mit dem "Issa dat?" meinte, ob er tot sei oder ob es diese gewisse Person sei.

    Da es Essenszeit war, setzte man dem Knaben in der Annahme, er müsse hungrig sein, den Mittagstisch vor.

    Ich glaube nicht, dass man in solch einem Fall auf die Essenszeiten achten würde. Es gäbe bestimmt auch außerhalb der geregelten Essenszeiten etwas zu essen. Für mich liest sich das halt so, als hätte man ihm nichts zu essen gegeben, wenn es keine Essenszeit gewesen wäre. Und das glaube ich nicht. :hmm:

    Doch jetzt geschah etwas Überraschendes. Schwester Maria war an die Liege getreten und tätschelte dem Knaben die Wange. Plötzlich drehte der den Kopf und begann, an Marias Hand zu lecken.
    In das erstaunte Schweigen hinein rief die Schwester: „Das ist es! Er leckt Salz!“

    Das mit dem Salz verstehe ich nicht ganz. Ich meine, gibt man den Patienten nicht erstmal prohylaktisch eine Kochsalzlösung? :hmm: (Oder ist das wieder nur dieses serientypische Vorgehen? :pardon: )

    Wie würde er sich entwickeln? Vielleicht zu einem Cyber-Monster? Da hatte man schon die erstaunlichsten Dinge erlebt!

    Ist das jetzt ein Spoiler? :huh:

    Schwester Maria rief in ihrer Mittagspause in der Bundesanstalt für Ausländer und Migration, kurz BaMf, an und schilderte den Fall.
    Die Sachbearbeiterin, nachdem sie eine Weile still nachgedacht hatte, meinte, bei der Person handele es sich ihrer Einschätzung nach um einen umF, der unter dem –
    „Um einen was?“, unterbrach Schwerster Maria verdutzt.
    „– um einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling aus einem Nicht-EU-Staat“, fuhr die Dame, offenbar über so viel Unwissenheit verärgert, mit spitzer Stimme fort. Damit stehe er unter dem Schutz der UN-Kinderrechts-Konvention von 1989, so die Dame weiter, und habe Anspruch auf angemessene Unterbringung und, da er schulpflichtig sei, auf geeignete Beschulung. Sie empfahl, als nächsten Schritt die LSB, die Landesschulbehörde, zu informieren zwecks Erstellung eines Förderbedarfsgutachtens.

    Ganz ehrlich? Mich stört dieses Fachgesimpel unheimlich! Ich selbst habe es in meiner Geschichte schon recht häufig eingebaut und da wurde es mir auch immer angekreidet. Gesetze und Beschlüsse interessieren den Leser in den meisten Fällen recht wenig.

    Sie legten dem umF vom Ufo, wie Hasetépeté von der Boulevardpresse jetzt genannt wurde, mehrere Intelligenztests vor und schieden mit dem Eindruck, einen vollständigen Idioten vor sich zu haben.

    Wird man dann wirklich amtlich als "vollständiger Idiot" bezeichnet? :huh: Ich hätte jetzt eher an "geistig stark unterentwickelt" oder "zurückgeblieben" gedacht.

    Stein von Trouette

    Nicht zu verwechseln mit Tourette! :pleasantry:


    Mich haute dieses distanzierte Erzählerische kombiniert mit der direkten personenbezogenen Sicht stellenweise etwas raus und ließ mich stutzen. Das ist für mich ein sehr starker Bruch, dem ich nicht sehr lange folgen wollen würde. Es verwirrt manchmal extrem, ob es nun doch zur wörtlichen Rede danach gehörte, oder doch eher aus dritter Sicht gezeigt war. Es ist ja nicht mal so, dass man es als indirekte Rede ansehen könnte, weil ja nie erwähnt wird, dass es einer gesagt hat. Vielmehr wird erst in der direkten Rede hinzugefügt, dass das davor aufgeführte auch zu den Gedanken und Äußerungen der entsprechenden Personen gehörte.
    Vielleicht da nochmal etwas mehr drauf achten, dass du die Sichten nicht zu sehr mixt. Und ein paar mehr Beschreibungen könnten auch nicht schaden, aber bisher war es noch ausreichend, da es noch kein komplexes Setting war.
    Aber an sich finde ich die Geschichte echt gut von der Idee her. Und wenn es wirklich mehrere kleine Ereignisse werden, dann kann das noch richtig interessant werden! Ich glaube nicht, dass der Junge ein Außerirdischer ist, denn das wäre ja irgendwie zu einfach. Mal sehen, ob meine Erwartungen erfüllt werden oder vielleicht sogar übertroffen.

    Ich bleibe auf jeden Fall dran! :alien:

  • Ich habe gerade ausführlich geantwortet. Jetzt ist es weg. Hab keine Lust, das allen nochmal einzutippen, versichere aber, allen Verbesserungsvorschlägen sorgfältig nachzugehen.
    Außerdem habe ich bei der Fortsetzung den falschen Button gedrückt. Sorry!


    4
    Der Professor, von einem auf den anderen Tag fast vollständig gesund, setzte noch vor seiner Entlassung alle Hebel in Bewegung, um sein Ziel zu erreichen. Er rief in seinem Institut an und ließ ein Zimmer für Hasi herrichten. Dann beauftragte er eine seiner Assistentinnen, sich nach einer geeigneten Sprachheilpädagogin umzusehen, die Kosten werde er übernehmen. Als er bei der Klinikleitung zwecks Umsiedlung des Patienten Hasetépeté vorstellig wurde, rannte er offene Türen ein. Er habe gerade mit einer spezialisierten Einrichtung des Roten Kreuzes in dieser Angelegenheit telefoniert, sagte der zuständige Manager, doch dort sei gerade kein Platz frei, und man benötige den Raum dringendst für andere Zwecke.
    Schwester Maria brachte Hasi, der das Heft mit dem Stein nicht aus der Hand gab, mit Tränen in den Augen in das Institut des Professors, und schon zwei Tage später, um fünf Uhr nachmittags, begann eine Lehrerin der Förderschule für Sprachbehinderte Am roten Turm mit dem Unterricht.
    Der Pädagogin, eine rundliche, freundliche Frau, versuchte in mühevoller Kleinarbeit, dem Knaben die Silben und Worte der Landessprache mit den entsprechenden Gegenständen zu verinnerlichen. Mithilfe verschiedener Medien zur Darstellung von Bildern und Bewegungsabläufen bemühte sie sie sich, ihrem Schüler eine Ahnung von die Ideen, die sich hinter den Dingen verbergen, zu vermitteln.
    Zunächst waren ihre Bemühungen jedoch nicht sonderlich von Erfolg gekrönt. So scheiterte ihr Versuch, eine Verbindung mit dem Wort 'Hase' und Hasis Person herzustellen. Schließlich wurde ein anerkannter Semantiker hinzugezogen, ein würdiger, eisgrauer Herr, dessen Aufgabe darin bestand, eine gehirnmäßige Verknüpfung zwischen den Tätigkeiten des Alltags und der grammatikalischen Satzlehre zu erreichen. Dabei nun erwies sich Hasi als erstaunlich gelehrig. Schon nach vierzehn Tagen konnten die Pädagogen mit ihrem Schüler einfache Gespräche führen, und weitere acht Tage später war er schon in der Lage, den Inhalt eines Zeitungsartikels wiederzugeben.
    Zwei Tage später sprach er fließend.
    Die freundliche Lehrerin umarmte ihren Schüler und begann, sich mit ihm zu unterhalten.

    Was für ein hübscher Junge er doch sei.
    Hasi schwieg.
    Wie alt er denn sei.
    „Was heißt alt?“, fragte Nasi mit seiner gläsernen Stimme.
    Die Frau rang nach Worten. Sie hatte schon vor vielen Problemen gestanden, aber noch nie vor dem, jemanden zu erklären, was 'alt' bedeutete. Sie sagte: „Ich bin alt, du bist jung.“
    Hasi schüttelte den Kopf. „Was heißt jung?“
    Frau Michaelis ging zur nächsten Frage über. Wo sich seine Eltern aufhielten.
    Der Junge blickte sie mit großen Augen an. „Eltern?“
    Frau Michaelis erklärte: „Ich bin eine Mutter, Herr Hutschenreiter“ – der eisgraue Semantiker – „ist ein Vater, und du bist ein Kind.“
    Wieder schüttelte Hasi verständnislos den Kopf. „Ich bin Hasetépeté, kein Kind.“
    Die Pädagogin nahm ihre gesamten mentalen Kräfte zusammen, um nicht auszurasten. Mutig versuchte sie einen neuen Anlauf. „Kind ist kein Name, sondern das Ergebnis, wenn sich ein Mann und eine Frau, die sich lieben... äh... zusammentun... und... äh...“
    Hasetépeté ließ den Kopf hängen und verlangte nach einem Glas Salzwasser.
    Jetzt sprang Herr Hutschenreiter ein. Ob sich Hasetépeté wenigstens daran erinnern könne, wie er in den Kalkbergsee geraten sei, fragte er.
    Nein, konnte er nicht. Er konnte sich auch nicht erinnern, was vorher gewesen sei. Seine früheste Wahrnehmung waren die beiden weißen Männer.
    Die Pädagogen schwiegen. Es war sinnlos.
    Der Professor hatte im Hintergrund gesessen und die Befragung aufmerksam verfolgt. Jetzt räusperte er sich und sagte: „Hasi, mein Sohn, eine letzte Frage noch, bitte. Woher kennst du denn die Schriftzeichen auf dem Stein so genau, wenn du dich an nichts erinnern kannst, was vorher war?“
    „Ich kennen sie eben“, antwortete Hasi ohne nachzudenken, „aber ich weiß nicht, warum.“
    Der Professor rieb sich zufrieden die Hände. Wie begriffsstutzig sich dieses seltsame Wesen sonst auch anstellen mochte, endlich konnte mit der Entzifferung des Steins von Trouette begonnen werden.
    5

    Die Entschleierung des Rätsels vom Trouette-Stein löste nicht nur in Fachkreisen weltweites Aufsehen aus. Eines der sieben Welträtsel war endlich gelöst! Der Professor wurde mit Ehrungen überhäuft – nun ja, ganz wohl war ihm dabei nicht, denn schließlich war die Weisheit nicht auf seinem Mist gewachsen. Zunächst musste er aber nicht damit rechnen, dass seine Schummelei entdeckt wurde, zu groß war das Erstaunen über den Inhalt des Textes. Doch sicherheitshalber ließ er verbreiten, er habe aus einer Quelle, deren Identität er nicht preisgeben könne, nützliche Hinweise erhalten.
    Die Experten rieben sich verwundert die Augen. Was stand da?
    Vor hunderttausend terrestrischen Jahren hatten Vertreter eines Sterns namens Hasetépe die Erde besucht, sie aber, weil sie keine intelligenten Lebewesen vorfanden, sondern nur zottide Zweibeiner, die mit primitiven Wurfspeeren hinter Beutetieren her rannten und sich Grunzlaute zuriefen, enttäuscht wieder verlassen. Zum Beweis ihres Besuchs hatten sie auf einer Insel im Meer am Doppelten Land Steinfiguren errichtet, deren Nasen genau in die Richtung ihres Heimatplaneten wiesen.
    Mit Esel und Barbiepuppe waren also Beutetier und Jäger gemeint.
    Und dann stand da noch die Ankündigung ihrer Wiederkehr im – hier war der Stein stark beschädigt – des Großen Unglücks – mehr war nicht zu erkennen
    Alte Rätsel waren gelöst, doch schon türmten sich auf neue auf.
    Gelöst war zunächst das Rätsel um Hasetépetés Namen. Er bedeutete also, frei übersetzt, so etwas wie Erdling.
    Dann war das Geheimnis der Moai, der Kollossalstatuen der Osterinsel, deren Alter man offenbar total falsch eingeschätzt hatte, endlich gelüftet. Man richtete das größte bewegliche Radioteleskop der Welt in Virginia, USA, nach den Nasen der Moai aus und erkannte eine Radioquelle in fünfzig Lichtjahren Entfernung, die in unregelmäßigen Abständen SOS-artige Signale sendete, in denen man schon lange eine Botschaft vermutete.
    Doch was war mit dem Großen Unglück gemeint? Große Unglücke hatte es auf der Welt genug gegeben, Kriege, Kernschmelzen in Atomkraftwerken, Hungersnöte, Epidemien, verheerende Überschwemmungen... Doch noch nie waren Außerirdische erschienen... Stand möglicherweise wieder eine weltweite Katastrophe bevor?
    Die Medien überschlugen sich in der Verbreitung von Weltuntergangs-Szenarien. Für einige sollte die Welt schon am ersten Mai, für andere erst an Silvester untergehen. Die Börsenkurse rutschten in den Keller, Gold haussierte, Immobilien konnten zu Schleuderpreisen erworben werden. Der US-amerikanische Präsident twitterte, er halte die ganze Angelegenheit für eine verbrecherischen Akt einer feindlichen Macht – hier nannte er auch einen Namen – um seinem Land zu schaden und kündigte umgehend entschiedene Gegenmaßnahmen an. Diesen so genannten Stein, twitterte er weiter, habe es nie gegeben, die Berichterstattung darüber sei Fake News und zeige das ganze Ausmaß der Verlogenheit der so genannten freien Presse.
    Daraufhin haussierte die Börse, Gold fallierte, die Immobilienpreise gingen durch die Decke. Diejenigen, die das Gequatsche um den Weltuntergang nicht gekümmert hatten, lehnten sich zufrieden zurück. Sie hatten an dem Trubel kräftig verdient.

    *
    Der Verursacher des Wirbels jedoch bekam davon nichts mit. Er saß in seinem stillen Kämmerlein und versuchte, die Signale zu entschlüsseln, die schon seit etwas fünfzig Jahren vor der Radioquelle Sagittarius Beta III, seines vermutlichen Heimatplaneten Hasetépe, ausgesendet wurden. Immer wieder hörte er das Tondokument ab, das der Leiter des Radioteleskops Effelsberg, Eifel, dem Professor zugeschickt hatte. Mehrmals schüttelte er den Kopf, er strich durch und schrieb erneut. Schließlich stellte er das Gerät ab und versank in grüblerisches Nachdenken.

    Die Nachricht bestand im Großen und Ganzen aus Folgendem: Das Große Unglück sei nun eingetreten, der König sei in höchster Gefahr. Man werde jetzt wiederkommen und für den König um Asyl bitten. Man hoffe, eine verständige Zivilisation vorzufinden, die sich dieser Bitte nicht widersetze.
    Hasetépeté war er sich nicht sicher, ob 'König' das richtige Wort war, aber er fand kein besseres. Jedenfalls war eine bedeutende, staatstragende Persönlichkeit mit integrativer Kraft gemeint.
    Man fragte ihn, ob er wisse, wer diese staatstragende Persönlichkeit sei. Im übrigen habe man von einem königlichen Asylantrag noch nichts gehört.
    Der Knabe schwieg. Auch auf mehrmaliges Nachfragen verweigerte er die Antwort.
    Die Weltgemeinschaft atmete auf. Also handelte es sich bei dem Großen Unglück nicht um ein irdisches, sondern um ein außerirdisches Ereignis. Alles weitere werde sich schon finden.

    6

    Inzwischen hatte das Jugendamt in der Universität angerufen und die Unterbringung des 'umF Hasetepeete' in einer spezialisierten Einrichtung der Stadt, in der überraschend ein Platz frei geworden war, angekündigt. Sofort wurden die beiden Pädagogen bei dieser Behörde vorstellig und trugen vor, dass es sich bei diesem Jungen um eine Person mit außerordentlich hoher Intelligenz handele. Dies und sein zerbrechlich wirkendes Wesen verböten es, ihn mit sozial auffälligen Jugendlichen zusammenzubringen.
    Der Beamte hörte diese Rede interessiert und nicht ohne Wohlwollen an. Die Warteliste für die städtische Einrichtung war lang.
    „Na gut“, sagte er, „kommen Sie mit dem Jungen vorbei, damit ich mir ein Bild machen kann. Nötigenfalls werden wir einen Gutachter einschalten. Aber die Hürden sind hoch.“
    „Das wird nicht gehen“, sagte der Semantiker.
    „Was wird nicht gehen?“
    „Wir können mit dem Jungen nicht vorbeikommen.“
    Der Beamte zog die Augenbrauen hoch. „Und warum nicht, wenn ich fragen darf?“
    „Der Junge weigert sich, auch nur einen Schritt aus seinem Zimmer zu tun. Es sei denn, ein dringendes Bedürfnis zwingt ihn dazu. Und Gewalt anwenden wollen wir ihn nicht.“
    Der Beamte blätterte in seinem Terminkalender. Es war ihm anzusehen, dass er eine Unregelmäßigkeit witterte. Schließlich sagte er: „Schön. Ich komme selbst und sehe mir den Jungen an. Wie heißt er? Hasetépeté... hmm... Mit Doppel-E oder Akzent? Also mit Akzent. Wann wäre es Ihnen recht? Gut, also Donnerstag, elf Uhr.“
    Dank Schwester Marias mütterlicher Überredungskunst fand die Überprüfung nicht in Hasetépetés engem Zimmer, sondern in einem Seminarraum statt.
    Der Vertreter des Jugendamtes hatte offenbar einen schlechten Tag erwischt, denn Hasetépeté erwies sich als ausgesprochen maulfaul. Auf die Fragen des Beamten antwortete er nur widerwillig oder gar nicht. Auch Schwester Maria, die neben ihm saß und ihm mehrmals zuzischte: „Nun rede doch endlich!“ erreichte nichts. Es war offensichtlich: Er mauerte. Schließlich kroch er auf seinem Stuhl in sich zusammen und starrte unter halb geschlossenen Lidern auf eine Stelle neben der Tür.
    Der Vertreter des Jugendamtes versuchte noch eine Weile geduldig, mit Hasetépeté ins Gespräch zu kommen, dann klappte er missmutig seine Mappe zu. „Tja“, sagte er und blickte in die Runde, „es bleibt also bei der geplanten Unterbringung in der von mir vorgeschlagenen Einrichtung. Hier kann der junge Mann auf keinen Fall bleiben, ich käme sonst in Teufels Küche. Tut mir aufrichtig Leid. Nach diesem enttäuschenden –“
    Plötzlich richtete sich Hasetépeté auf und rief: „Zweihundertneunundachtzig gleich siebzehn hoch zwei minus sechs hoch zwei!“
    Alle Blicke richteten sich verblüfft auf den Jungen. Der war wie verwandelt, in seinen Augen lag ein eigenartiger grüner Glanz. Er verlangte nach Papier, Bleistift, Lineal und begann aufgeregt das Blatt, das ihm Frau Michaelis in die Hand drückte, mit mit Linien und Zahlen zu bedecken. Als er damit fertig war, hielt er dem Vertreter des Jugendamtes das Blatt hin und sagte: „Reicht das?“
    Der Mann blickte die beiden Pädagogen hilflos an. „Ich verstehe nicht“, sagte er, „was soll das?“ Er machte Anstalten, sich zu erheben.
    „Herr Holznagel, bitte blieben Sie“, bat Schwester Maria. Ihre Augen strahlten. „Hasi hat gerade ein Beispiel seines Könnens abgeliefert.“
    Diese Bemerkung machte die Verwirrung noch größer.
    „Ich habe“, fuhr sie fort, „in den letzten Minuten seinen Blick verfolgt. Hasi starrte nicht ins Leere, sondern auf den Flurplan mit den Fluchtwegen, der da deutlich sichtbar neben der Tür hängt. Seien Sie doch so nett, Herr Holznagel, und vergleichen Sie!“
    Doch der Semantiker stand schon mit dem Zettel in der Hand neben der Tür. „Unglaublich!“ rief er nach einer Weile, „da fehlt nicht die geringste Kleinigkeit! Auch die Zahlen stimmen!“ Er setzte sich wieder und blickte den Jungen bewundernd an. „So etwas habe ich noch nicht erlebt. Bravo!“
    Auch in Herrn Holznagel kam Bewegung. „Hasetépeté, du erwähntest vorhin eine Reihe von Zahlen“, sagte er freundlich, „hat das einen bestimmten Grund?“
    „Die Quadratmeter der Zimmer ergeben zusammen die Zahl 289“, erklärte Hasi, „diese wiederum setzt sich aus den Quadratzahlen 17 hoch 2 minus 6 hoch 2 zusammen.“
    Als erster fasste sich Herr Hutschenreiter, der Semantiker. „Hast du den Plan vorher schon einmal gesehen?“, fragte er.
    „Ja, vor vierzehn Tagen, als ich hergebracht wurde. Und eben, als ich ihn wieder sah, habe ich mich wieder an ihn erinnert.“
    „Das machen Sie ihm mal nach, mein Gutster, so aus dem Gopf diesen gomplizierten Plan zu zeichnen!“, rief Schwester Maria. Sie sah Hutschenreiter siegessicher an.
    „Gut, gut“, ließ sich der Vertreter des Jugendamtes jetzt vernehmen, „ich denke, das reicht tatsächlich. Anscheinend hat Hasetépeté ein eidetisches Gedächtnis verbunden mit besonderer mathematischer Begabung. Dann wäre die Solomon-Sherensky-Schule für ihn das Richtige. Ich kümmere mich darum.“
    7

    Nur auf Schwester Marias mehrfache Versicherungen hin, ihn jeden Tag zu besuchen, ließ sich Hasetépeté zum Besuch der Solomon-Sherensky-Schule überreden. Um ihn vor sensationslüsternen Reportern zu schützen, geschah dies in aller Heimlichkeit und mit falschem Namen. Von nun an nannte er sich Sören.
    Es war eigenartig: Am liebsten hätte Sören, wie er dem Professor gestand, weiter in seiner Kammer gesessen und an dem Projekt gearbeitet. Der Drang anderer Hochbegabter nach Förderung und Vergleich schien ihm völlig fremd. Ehrgeiz kannte er offensichtlich nicht. Es blieb auch rätselhaft, woher er sein Wissen bezog. Nie sah man ihn über irgendwelchen Büchern brüten oder im Internet surfen. Er wusste es einfach. So verblüffte er seinen Mathematiklehrer mit der Feststellung, dass die Laroche-Primzahl nicht am 17, wie der behauptete, sondern am 7. Dezember 2018 entdeckt wurde.
    Wenn ihn jemand fragte, woher er das alles wisse, wo man ihn doch nie studieren sähe, antwortete er, das wisse er nicht, er wisse es eben.

    Zwei Schülerinnen unterhielten sich.
    „Wie? Wovon ernährte sich dieser Knabe? Von fünfzig Gramm Steinsalz am Tag? Brrr! Wenn ich nur daran denke, wird mir schon schlecht. Kann man denn davon überhaupt leben?“
    „ Anscheinend ja. Aber schau ihn dir doch mal genau an. Schlank und durchsichtig wie eine Teichjungfer! Das reinste Luftkotelett!“
    „Nun ja, er bewegt sich ja kaum, der Gute. Sitzt nur da und arbeitet an seinem Projekt. Und von Sportunterricht ist er aus irgendeinem Grund ständig befreit.“
    „Und dann diese komische Stimme! Klingt, als hätte er Lachgas eingeatmet.“
    „Sieht aus, als käme er vom Mars. Apropos Projekt... weißt du zufällig, worum es sich dabei handelt? Scheint ne große Nummer zu sein, nach dem Wirbel, den sie darum machen.“
    „Hab sowas läuten hören... soll sich angeblich um ein Wörterbuch einer außerirdischen Sprache handeln.“
    „Außerirdische Sprache! Son Onk! Glaubst du das?“
    „Hmm... Zutrauen würd ichs ihm. Angeblich kennt er den Duden Seite für Seite auswendig und spricht mehrere tote Sprachen.“

    Ist es da ein Wunder, dass ihm seine Mitschüler mit einer gewissen Scheu begegneten?
    Was allerdings keinem auffiel, weil niemand einen Vergleich anstellen konnte: Seit ihn der Rettungsdienst aus dem Kalkbergsee gefischt hatte, hatte sich Hasetépeté – pardon: Sören nicht ein bisschen verändert, und das war nun schon ein knappes halbes Jahr her.
    *
    „Ich habe ja schon einiges an mathematischen Wunderkindern erlebt“, sagte Herr Hauschild, Sörens Mathelehrer, „aber dieser Knabe toppt sie alle. Im virtuellen Zahlenraum bewegt er sich besser als ich, das gebe ich zu, ohne mir einen Zacken aus der Krone zu brechen. Gestern kam er aufgeregt zu mir und verkündete stolz, die Berechnung der bisher höchsten Primzahl sei falsch.“
    „Und, ist sie es?“
    „Er tüftelt noch an seinem Beweis herum. Wenn er so weitermacht, dürfte Einstein bald Schweißperlen auf seinem Totenschädel bekommen. Was ich sagen will, ist dies: Dem Futter, das ich ihm hier laut Anstaltslehrplan vorsetzten darf, ist er haushoch überlegen. Sören benötigt entschieden kräftigere Kost.“
    „Dann erhöhen wir ihm doch die Salzkonzentration.“
    „Nein, das meine ich nicht.“
    „Woran denken Sie dann?“
    „Ein amerikanischer Milliardär hat gerade eine Million Dollar als Preisgeld für die Lösung des Riemannschen Problems ausgelobt. Sie wissen, worum es sich handelt, Herr Dr. Nissen?“
    „Hmm... nun ja... wenn ich ehrlich bin: Nicht wirklich.“
    „Die Riemannsche Vermutungbesagt, dass alle nichttrivialen Nullstellen der Zetafunktion auf einer Geraden in derZahlenebene parallel zur imaginären Achse liegen. Ob die Vermutung zutrifft oder nicht, ist eines der bedeutendsten ungelösten Probleme der Mathematik. Das Problem wird schon seit mehr als hundertfünfzig Jahren vergeblich beackert, sogar von Hobbymathematikern wie diesem Milliardär. Der Letzte, der von sich behauptete, er habe einen Beweis gefunden, war ein siebenundachtzig Jahre alter Engländer. Aber dieser Beweis gilt nicht als eindeutig. Sollte Sören einen wirklich eindeutigen Beweis liefern, könnte unsere Schule unsterblichen Ruhm erwerben, von dem Geld mal ganz abgesehen.“
    Der Schulleiter faltete die Hände zur Raute. „Klingt ausgesprochen verlockend, wie Sie das so sagen, Herr Hauschild. Und das trauen sie ihm zu? Ist das nicht eine Nummer zu groß für einen Zwölfjährigen?“
    Hauschild sprang auf. „Aber überhaupt nicht! Genie kennt kein Alter! Wenn nicht der Sören, dann schafft es keiner! Da gehe ich jede Wette ein!“
    Dr. Nissen, der Schulleiter, mit einem Schädel wie ein Ei, bestrich sich mit der Zunge die blutvollen Lippen. „Na was zögern Sie noch, mein lieber Kollege? Setzten Sie den Sören auf das Problem an!“
    „So ganz ohne Fachkonferenzbeschluss?“
    Herr Dr. Nissen stand auf und klopfte seinem 'lieben Kollegen' auf die Schulter. „Wird nachgeholt! Er wird das Problem ja nicht schon morgen früh gelöst haben. Oder?“
    *
    Es war ein nasskalter Novembermorgen. Dicker Nebel hüllte das Schulgelände ein, die Sicht betrug kaum zwanzig Meter. Die mächtigen Stämme der Kastanien rechts und links des Eingangs trieften vor Nässe.
    Sören saß in einer Bank des Klassenraumes, Notizblock und Bleistift vor sich. Herr Hauschild an der Tafel bemühte sich schon seit einiger Zeit, ihn in das Riemannsche Problem einzuführen. Dabei machte er den Fehler, es so zu erklären, wie er es Studenten erklärt haben würde: Mit allerlei Umwegen und kleinen Scherzen. Weiter hinten saßen einige Schüler und schauten zu.
    Nach einiger Zeit sagte Sören: „Herr Hauschild, bemühen Sie sich nicht mehr. Es reicht.“ Ein paar Sekunden kritzelte er in seinem Notizblock herum, dann stand er auf und verließ mit Notizblock und Bleistift den Raum, weil er, wie er sagte, im Freien besser nachdenken könne.
    Hauschild ging mit saurer Miene ins Lehrerzimmer. Das „Es reicht“ hatte ihn verärgert.
    Die Kollegen diskutierten die Chancen eines Erfolgs. Die Meinungen waren geteilt. Was Dutzenden der größten Mathematikern nicht gelungen sei, meinten die einen, könne ein Zwölfjähriger, so begabt er auch sei, nicht so einfach im Handumdrehen lösen.
    „Warum eigentlich nicht“, fragte ein anderer und setzte hinzu: „Wer die weltweit anerkannte Berechnung eines mathematischen Problems als falsch erkennt, der ist auch in der Lage, die noch unbekannte Lösung für ein anderes Problem zu finden.“
    In diesem Moment quietschten draußen auf der Straße Reifen, unmittelbar darauf erfolgte ein dumpfer Aufprall.
    Eine Sekunde herrschte unter den anwesenden Kollegen helles Entsetzen, dann liefen schon die ersten los.
    Der Schüler Sören alias Hasetépeté lag, von dem Aufprall mehrere Meter weit weg geschleudert, regungslos auf der Straße, den Zettel mit den Notizen in der Hand. Es war kein Blut zu sehen, nur eine glasklare Flüssigkeit, die aus seiner Seite sickerte. Wiederbelebungsversuche scheiterten, schon, weil man nicht wusste, welche Maßnahmen man anwenden sollte.
    Der Nebel war jetzt so dicht, dass sogar die hell erleuchteten Fenster der Schule kaum hindurchdrangen.
    Am selben Nachmittag erhielt Schwester Maria den Bescheid, ihr sei die Vormundschaft über den umF Hasetépeté zuerkannt worden.

    Wird fortgesetzt

    2 Mal editiert, zuletzt von McFee (9. August 2019 um 13:03)

  • @McFee vielleicht beim nächsten Mal etetetetetwas weniger Text hochladen. :alien:
    Bisher finde ich die Geschichte rein von der Idee und von den Inhaltsinformationen (Informationsinhalt) sehr spannend und interessant. Obgleich ich von der Umsetzung weniger "erfreut" bin. :/ Es liest sich immer noch sehr plump und holprig. Vielleicht würde es schon helfen, wenn du die wörtliche Rede deutlicher ausarbeiten würdest und nicht stellenweise in indirekte wörtliche Rede umwandeln würdest. Du hast recht viele Flüchtigkeitsfehler drin, die man beim nochmaligen Lesen des Textes zum Großteil ausmerzen könnte. Und wieder hast du diesen Dialekt eingebaut, der wirklich nicht sein muss. :/
    Vielleicht hilft es ja, wenn du die einzelnen Szenen mehr aus- und viel mehr Beschreibungen und Gefühle in den Text einbaust. Ich würde ja zu gerne für Hasis Schicksal mitfühlen, aber bisher berührt es mich nur, weil ich mich gut in seine Situation hineinversetzen kann. Manch anderer wünscht sich aber bestimmt mehr Emotionen von den anderen (menschlichen) Charakteren und Personen. Nicht unbedingt mit ihm, sondern mehr untereinander.

    Und dann stand da noch die Ankündigung ihrer Wiederkehr im – hier war der Stein stark beschädigt – des Großen Unglücks – mehr war nicht zu erkennen

    Doch was war mit dem Großen Unglück gemeint? Große Unglücke hatte es auf der Welt genug gegeben, Kriege, Kernschmelzen in Atomkraftwerken, Hungersnöte, Epidemien, verheerende Überschwemmungen... Doch noch nie waren Außerirdische erschienen... Stand möglicherweise wieder eine weltweite Katastrophe bevor?

    Da mit dem Eintreffen eines großen Unglücks auch die Wiederkehr der Außerirdischen angekündigt wurde, ist es für mein Verständnis nur logisch, dass es sich dabei um KEIN irdisches oder geschichtliches Unglück handeln kann, denn diese Information wird ja frühestens in 50 Jahren von den Außerirdischen empfangen werden. Somit wäre die Wiederkehr sehr ungenau angegeben. An sich wäre für mein Verständnis ein kosmisches Ereignis in Form von einem Asteroideneinschlag oder Ähnlichem viel besser dafür geeignet, denn diese kann man ganz gut berechnen. Anderseits weiß ich natürlich (noch) nicht, wie genau diese Information an deren Planeten weitergegeben wird, oder wie genau sie das mit der Wiederkehr nach einem großen Unglück nehmen. Vielleicht könnten sie auch einfach nur auf gut Glück zur Erde reisen und in unserem Sonnensystem auf die nächste größere Katastrophe warten.
    Jedoch...

    Die Nachricht bestand im Großen und Ganzen aus dem, was schon auf dem Stein stand. Allerdings mit dem Zusatz: Das Große Unglück sei nun eingetreten, der König sei verschwunden. Man werde jetzt wiederkommen und hoffe, eine verständige Zivilisation vorzufinden, die bei der Suche nach dem König behilflich sein könne.

    Angenommen, bei diesem König handele es sich um ein lebendiges Wesen ähnlich Hasis, dann müsste der König ja noch mindestens 50+ Jahre alt werden können, vorrausgesetzt die Information gelangt NUR mit Lichtgeschwindigkeit zu deren Planeten. Was für Raumfahrttechnik die besitzen, weiß ich natürlich (noch) nicht. Vielleicht haben die ja auch bessere/schnellere Wege, solche langen Strecken binnen kürzerer Zeit zu überwinden.

    Bitte nicht falsch verstehen, @McFee! Das, was ich hier jetzt geschrieben habe, ist kein Ankreiden, sondern eher ein Denkanstoß. Was du am Ende daraus machst, ist vollkommen dir überlassen. Vielleicht ist das Setting ja auch mit höherer Fiction versehen, wie zum Beispiel Hyperantrieb, Slipstream und noch schneller. Der Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt. :alien:

    „Die Riemannsche Vermutungbesagt, dass alle nichttrivialen Nullstellen der Zetafunktion auf einer Geraden in derZahlenebene parallel zur imaginären Achse liegen. Ob die Vermutung zutrifft oder nicht, ist eines der bedeutendsten ungelösten Probleme der Mathematik. Das Problem wird schon seit mehr als hundertfünfzig Jahren vergeblich beackert, sogar von Hobbymathematikern

    Leider hat es genau das nicht zitiert, was ich eigentlich wollte. Die Wikipedia-Links! Ich finde, man sollte keine Links in den Fließtext einer Geschichte packen. Auch nicht, wenn sie von Mathematik oder generell von Wissenschaft handelt. Denn ich will ja, dass DU mir die Thematik erklärst und nicht irgendeine Wikipediaseite. Natürlich sollte die Thematik, die du erwähnst/erklären möchtest, auch wichtig für das Verstehen des Textes sein. In diesem Fall finde ich die Thematik an sich schon viel zu kompliziert für einen Laien auf diesem Gebiet. Es wirkt mir auch etwas unpassend eingebaut. Sicherlich, du wolltest damit die einzigartige Intelligenz Sörens (Hasis) verdeutlichen. Aber muss man das überhaupt nochmal, wenn man es schon ausreichend oft getan hat?
    Also wie gesagt: Von mir aus kann diese Textstelle so bleiben, aber die Links würde ich rausnehmen. Es ist schließlich keine Fachlektüre.


    Die Idee ist wirklich gut! Ich habe schon weitaus schlechtere Geschichten gelesen. Sowohl schreibtechnisch als auch inhaltlich. Aber ich finde, du schöpfst dein Potential absolut nicht aus! Traue dich mehr zum Detail!

    LG: Das blaue Alien! :alien:

  • Hey, bin wieder da, war mal ein paar Tage offline...

    Zunächst:

    Bitte nicht falsch verstehen, McFee! Das, was ich hier jetzt geschrieben habe, ist kein Ankreiden, sondern eher ein Denkanstoß. Was du am Ende daraus machst, ist vollkommen dir überlassen. Vielleicht ist das Setting ja auch mit höherer Fiction versehen, wie zum Beispiel Hyperantrieb, Slipstream und noch schneller. Der Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt.

    Das würde ja bedeuten, ich könne keine Kritik ertragen. Dann sollte ich lieber Brötchen backen als Sätze schmieden, zumal sie so behutsam und mit viel Überlegung vorgetragen wird wie deine. Ich freue mich, dass es überhaupt jemand wagt, sich auf diesen langen Text einzulassen.
    Höhere Fiktion: Ja. Diese Aliens können zB. mit Überlichtgeschwindigkeit reisen und damit in die Vergangenheit. Daraus ergeben sich einige überraschende Effekte. Allerdings: Ich vermeide alles aus der Mottenkiste der üblichen SF-Filmindustrie, wie Kometeneinschläge, Aliens, die wie Urinsekten aussehen, menschenähnliche Roboter, roboterähnliche Menschen, Space War mit bizarren Waffen... Nichts neues unter der Sonne, alles schon mal dagewesen, aber ich möchte was Neues machen. Mach einen Handstand, und schau, wie einer geht: sieht aus, als käme er von einem anderen Stern. Will sagen: meine Fiktion ist die Wirklichkeit, auf den Kopf gestellt. Obs gefällt, wird sich zeigen.


    McFee vielleicht beim nächsten Mal etetetetetwas weniger Text hochladen.

    Gerne.


    Es liest sich immer noch sehr plump und holprig.

    Finde ich überhaupt nicht, weder beim zweiten noch deim dritten Überlesen.


    viel mehr Beschreibungen und Gefühle in den Text einbaust.

    Nehme diese Anregung gerne auf, zumal der Text ja noch nicht zuende gedichtet ist.

    nicht stellenweise in indirekte wörtliche Rede umwandeln


    "Woher kommst du?" statt: Woher er denn käme. Nein. Damit will ich die Entfremdung zwischen den beiden andeuten. Oder: Ihre Augen finden sich nicht...


    Leider hat es genau das nicht zitiert, was ich eigentlich wollte. Die Wikipedia-Links!


    Das Zitat ist hier ein Mittel der Ironie. Er ist bestes Fach-Geschwafel, das ich sebst nicht besser erfinden könnte. Der Schulleiter versteht es nicht (ich auch nicht), aber er tut so, als verstünde er´s (ich und der Leser nicht). Die Info ist unwichtig, wichtig ist der Sl in seinem Glanze, der nicht zugeben kann, dass er etwas nicht versteht.
    Grundsätzlich gehe ich auf die physikalischen Hintergründe meiner Fiktion nur andeutungsweise ein. So erläutere ich nicht, warum sich ein Raumschiff - rein denktechnisch - mit Überlichtgeschw. fortbewegen kann. Wer das wissen will, soll Papa Google fragen.
    Beim Riemann geht es nicht um das mathem. Problem, sondern um das Preisgeld, das für seine Lösung ausgelobt ist, und das später noch eine Rolle spielt.
    Ps. Ich sehe gerade diese idiotischen Links in Hauschilds Erklärung. Jetzt verstehe ich, was du meinst! Die sollten natürlich nicht da mit hinein.

    Ich habe schon weitaus schlechtere Geschichten gelesen

    Sollte ich vielleicht doch lieber Bäckerbursche werden?

    Wenn ich nicht auf alles eingehe, heißt das nicht, dass ich alles nicht beachte.

    LG, Mc Fee

    Einmal editiert, zuletzt von McFee (23. Juli 2019 um 21:20)

  • Ich finde, die sehr distanziert wirkende Erzählweise passt super zu den ganzen ironischen Seitenhieben auf unsere Gesellschaft. "Hasi" ist hier nur Mittel zum Zweck, das Karussell der menschlichen Eitelkeiten in Gang zu setzen. Das hast du sehr schön umgesetzt. Die Sucht der Wissenschaftler, sich selbst zu profilieren und in ihrer eigenen Bedeutung zu schwelgen, ist wunderbar herausgearbeitet. Das Entsetzen über den Unfall hat nichts mit Sorge um Hasi zu tun. Aber ich als Leser sorge mich jetzt. Wie geht es weiter?

    Die Phantasie tröstet die Menschen über das hinweg, was sie nicht sein können, und der Humor über das, was sie tatsächlich sind.
    Albert Camus (1913-1960), frz. Erzähler u. Dramatiker

  • Eitelkeiten

    Nicht nur. Auch Bürokratismus, Sensationslust und dergl.

    ---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

    Wer den Weg ahnt, hat das Ziel schon fast erreicht.
    Mc Fee, Sprüche


  • Die Invasion

    1

    Die Nacht war mondlos und schwarz.
    Über Stadt und Land hing wie ein Sargdeckel eine dicke, undurchdringliche Wolkendecke, die jede Hoffnung auf Helligkeit vereitelte. Sogar das Rattern der Güterzüge, deren eiserne Kakophonie alle zehn Minuten die Luft erfüllte, klang seltsam gedämpft.
    Zwei junge Männer kamen gerade ziemlich schwankend aus der Szenekneipe 'Beim Stint' heraus. Nach wenigen Schritten blieben sie verwundert stehen. Ein eigenartiges Sirren lag in der Luft. Es schien aus einer Wolke genau über ihren Köpfen zu kommen. Aber da sie nicht mehr ganz nüchtern waren, hielten sie das Geräusch für Ohrensausen und gingen lachend weiter.
    Der Kalender zeigte den dreiundzwanzigsten Dezember, die Uhr auf die Minuten kurz vor Mitternacht.
    Etwa um die gleiche Zeit, einige Kilometer weiter östlich im Industriegebiet 'Am Hafen', spielte sich folgendes ab.
    Dr. Mueller, Besitzer der gleichnamigen Keksfabrik Dr. Mueller & Co, verließ sein Büro, stellte die Alarmanlage scharf, schloss die Tür ab und ging in Richtung Parkplatz. Nach wenigen Metern kehrte er wieder um und vergewisserte sich, dass sämtliche Außentüren des Gebäudes abgeschlossen waren. Es war ihm ein albtraumhafter Gedanke, eine der Türen könnte unverschlossen sein, verbrecherische Elemente könnten in die Bäckerei eindringen und seine Kekse vergiften. War ja in ähnlicher Weise alles schon vorgekommen. Es wäre einem Mordanschlag aus seine Person gleichgekommen, denn Kekse waren sein Leben. Mal ganz abgesehen von der Gefahr für seinen guten Ruf als Keksfabrikant und den damit verbundenen Umsatzeinbruch.
    Früher, als er sich noch nicht so gut kannte, hatte ihm diese apokalyptische Angst vor einer unverschlossenen Tür sehr zugesetzt. Sie hatte ihn regelrecht überfallen - zuhause nach Feierabend, manchmal sogar, wenn er schon im Bett lag; auf Reisen. Er erinnerte sich genau, sämtliche Klinken gedrückt zu haben – oder doch nicht? Die Vision eines dunklen Kapuzenmannes, der mit widerlichem Grinsen irgendetwas in die Teiglinge spritzte, ließ sich nicht vertreiben. Er war dann aufgestanden und die zehn Kilometer zurück in die Firma gefahren. Einmal hatte er sogar seinen Urlaub vorzeitig abgebrochen. Natürlich waren alle Türen verschlossen, aber die Stimmung war versaut: Seine Freundin, die er deshalb zweimal aus dem Bett warf, hatte ihm den Laufpass gegeben.
    Es hatte auch nichts genutzt, dass er eine elektronische Zentralverriegelung einbauen ließ; die hatte nur ein Schweinegeld gekostet aber nichts gebracht – gut, für kurze Zeit schon, aber dann waren die alten Nachtmahre wieder auferstanden, denn was gibt es Unzuverlässigeres als Elektronik.
    Seitdem hatte er sich angewöhnt, wenn er die Firma verließ, nach genau zwanzig Schritten wieder umzukehren, ehe es zu spät war und er den Zündschlüssel herumdrehte; schließlich war es ihm zum Automatismus geworden, der ablief, ohne dass er sich dessen bewusst war. Manchmal fiel ihm erst ein, was das sollte, wenn er schon Klinke oder Knauf berührte.
    Doch nun saß er im Auto. Eine Weile noch blieb er sitzen. Sein rundes, fettiges Mondgesicht strahlte Zufriedenheit aus. Er dachte an die Zahlen, die er gerade gelesen hatte. Zahlen! Das Weihnachtsgeschäft war hervorragend gewesen und gab Anlass zu den kühnsten Spekulationen. Eine Umsatzsteigerung von dreikommavier Prozent gegenüber dem Vorjahr! Er schnippte mit den Fingern. Fantastisch! Hätte nie gedacht, dass es so gut läuft, wo alle stöhnen! Endlich kann die Halle gebaut werden! Er grinste. Einen Teil der Baukosten drücken wir dem Finanzamt als Verlustvortrag aufs Auge, den anderen zahlt der Kunde. Ha, ich bin doch nicht blöd! Wir preisen hoch aus und bieten als Sonderangebot billiger an. Wär doch gelacht!
    Mueller rieb sich die Hände. Ein leckeres Geschäft, dieses Weihnachtsgeschäft. Süßer die Kassenglocken nie klingen als zu der Weihei – eine kleine Unmutsfalte erschien auf seiner Stirn. „Leute gibts, die gibts gar nicht“, murmelte er. Komischer Kunde, der. Dünn wie eine Bohnenstange und stumm wie ein Fisch. Und diese Augen... Sah aus wie ein an die Wand geschissenenes Karnickel. Werden immer dreister, diese Junkies. Wie war der bloß hereingekommen? Schaut sich die Auslagen an, kauft nichts und ist plötzlich verschwunden, obwohl Gisela schwor, ihn nicht aus den Augen gelassen zu haben. Ist plötzlich weg, einfach weg, wie vom Erdboden verschluckt. Mir Sicherheit hat der unbemerkt etwas mitgehen lassen. Na ja, macht mich nicht ärmer, aber es verdirbt einem die Weihnachtsstimmung...
    Dr. Mueller drehte den Zündschlüssel um und fuhr los.
    Vor sich, auf der Straße, gewahrte er im aufgeblendeten Licht der Scheinwerfer eine Gruppe von Gestalten, die sich in Richtung Stadt bewegten. Er gab Lichtsignale und hupte, doch die Leute marschierten unbeirrt weiter. Er fuhr langsam an die Gruppe heran und sah lange dünne Gestalten in hellen Uniformen, die mit unheimlicher Präzision im Gleichschritt marschierten. Auch auf erneutes Hupen reagierten sie nicht. Da er keine Möglichkeit sah, an der Kolonne vorbei zu kommen, murmelte er „Scheißkerle“ und bog nach links in Richtung Sportflugplatz ab.
    Über dem Flugplatzes hing ein heller Schein. Jetzt zerteilte sich die Wolkendecke, zum Vorschein kam eine silbrig schimmernde, rundliche Scheibe, die ihn an ein Fladenbrot erinnerte.

    Der Keksfabrikant fuhr auf einen Parkstreifen und blieb stehen. Er ließ die Seitenscheibe herunter, um besser sehen zu können, denn die Frontscheibe war immer noch beschlagen, außerdem begann es zu Nieseln. In der Luft lag ein eigenartig sirrender Ton.
    Mueller bildete sich ein, ein rationaler Mensch zu sein und esoterischem Spintuskram abhold.
    Wie sonst auch hätte er die kleine Bäckerbutze, die er von seinem Vater übernommen hatte, zu einem Betrieb mit hundert Angestellten hochziehen und seine Kekse zum Exportschlager machen können. Fliegende Untertassen hielt er für die krankhaften Ausblühungen unterbeschäftigter Rentnerhirne, und diesen angeblich außerirdischen Jungen, der vor acht Tagen angeblich in Gedanken versunken vor ein Auto gelaufen und dabei ums Leben gekommen war, für die Erfindung einer sensationslüsternen Presse. Und Spekulationen interessierten ihn erst recht nicht, es sei denn, sie geschahen an der Börse. Er lebte im Hier und Jetzt. Das Wenige, was ihn an überhaupt an der Welt interessierte, waren die Weiterentwicklung seiner Firma, die Börsenkurse und der Ölpreis.
    Der Keksfabrikant fuhr die Scheibe wieder hoch, denn es regnete jetzt stärker.
    Der Lichtschein war intensiver geworden. Ein rundes Gebilde in der Form eines überdimensionalen Tennisballs stieg hinter dem Gebüsch, das den Platz umgab und die Sicht verstellte, auf. Der Ball schwebte auf die Scheibe zu und verschwand plötzlich, als habe er sich in Luft aufgelöst. Das Sirren wurde jetzt lauter, das Licht wurde schwächer, die Wolkendecke schloss sich wieder, und dann waren da wieder Stille und Dunkelheit des mitternächtlichen Industriegebietes.
    Dr. Mueller wusste, dass er nicht träumte. Er träumte selten bis nie, und wenn, dann nur von seiner Firma, und dann auch nur in seinem Bett kurz vor dem Aufwachen, und dann war eine Tür nicht abgeschlossen. Aber nie im Auto. Doch diese Erscheinung war einfach zu unwirklich. Wie aber, grübelte er, war sie dann zu erklären, wenn er nicht träumte?
    Er ließ eilig den Wagen an, wendete und fuhr die Strecke ab, auf der vorhin die langen Leute marschiert sein mussten. Schon war er kurz vor der Innenstadt, doch der Trupp war und blieb verschwunden. Das gibt es nicht, dachte er verblüfft, so schnell können sie doch gar nicht marschiert sein!
    Mueller tat jetzt etwas, das er in solchen unklaren Situationen immer tat: Er entschied sich für das Hier und Jetzt. Die Straßen waren leer, der Himmel schwarz, und wegen des Regens und der beschlagenen Scheiben hatte er auch nichts Genaues erkennen können. Also was solls, dachte er, vielleicht habe ich ja auch nur den Mond gesehen. Er blickte zur Uhr. Was? Halb zwölf?
    Da war er doch gerade losgefahren.
    Der Keksfabrikant fixierte den Sekundenzeiger. Die Uhr lief.
    Genervt schüttelte er den Kopf. Bleibt jetzt auch noch die Zeit stehen?
    Er wendete gähnend und gab Gas mit der Gewissheit, dass es für alles auf dieser Welt eine natürliche Erklärung gibt.

    2
    In einem Arbeitsraum des Radioteleskops Effelsberg, Eifel. Zwei Radioastronomen starrten gebannt auf einen der vielen Monitore.
    Die Digitalanzeige der Atomuhr zeigt Do, 1 Uhr 24.
    „Wann hast du es bemerkt?“, fragte der Ältere von beiden. Er war ein grauhaariger und asketisch wirkender Mann mit hohem Haaransatz.
    „Vor drei Stunden, bei einer Routinedurchsuchung.“
    „Kannst du es noch genauer einstellen?“
    „Ich glaube nicht.“ Der Jüngere drehte an zwei Knöpfen, ein knackend-knisterndes Rauschen, dann waren die Signale wieder da, allerdings nicht wesentlich deutlicher als zuvor.
    „Hmm... eine schnell rotierende Strahlenquelle“, meinte der Grauhaarige.
    „Dachte ich auch erst. Aber schau dir die Signale mal genauer an. Für einen rotierenden Stern sind sie zu unregelmäßig. Sieht aus, als würde da jemand ununterbrochen SOS senden, denn nach einiger Zeit wiederholt sich die Signalfolge wieder. Ich rief in Virginia an, Doc Snider hat den gleichen Eindruck. Seltsam.“ Der Sprecher fuhr sich mit den Fingern durch seinen blonden Lockenkopf.
    „Du meinst, ein außerirdischer Hilferuf?“
    „Ja. Als ob sie sich vor etwas fürchten. Oder es hat gerade irgendeine Katastrophe gegebenen. Was mag da bloß passiert sein?“
    „Frag´ mich was Leichteres. Und 'gerade' ist gut! Du meinst vor fünfzig Jahren! Schließlich ist die Radioquelle fünfzig Lichtjahre von uns entfernt.“
    „Das schon. Aber wenn die Bewohner – im Gegensatz zu uns – den Tunneleffekt beherrschen, könnten sie quasi mit Überlichtgeschwindigkeit senden. Dann kämen die Signale zeitgleich bei uns an.“
    „Mit Überlichtgeschwindigkeit? Dann könnten sie es rein theoretisch auch aus der Zukunft in fünfzig Jahren gesendet haben! Bizarre Vorstellung!“
    „Zu viele Wenns und Abers. Außerdem frage ich dich: Wenn sie den Tunneleffekt beherrschen, dann müssen sie außergewöhnliche naturwissenschaftliche Erkenntnisse besitzen. Wovor sollte sich solch eine Zivilisation fürchten?“
    „Du bist gut! Fortschritt in der Technik bedeutet auch größeres Vernichtungspotential. Da musst du nicht weit blicken, um das zu erkennen. Vielleicht ein Atomkrieg oder sogar ein interplanetarer Krieg oder weiß der Teufel, was eine technische Zivilisation von heute auf morgen auslöschen kann.“
    „Vielleicht ist ihnen ja nur der Strom ausgefallen –“
    „Scherzkeks!“
    „– ein Schwarzes Loch hat sie verschlungen oder eine Supernova ist explodiert. Was meint denn Snider?“
    „Ich hab ihn noch nicht gefragt.“
    „Na schön. Ich werde gleich bei McFee auf der Raumstation anrufen. Sie sollen sich die Gegend im Schwan mal genauer ansehen. Vielleicht entdecken sie ja was Interessantes.“
    „Tu das! Trotzdem... Ich würde viel dafür geben, wenn ich persönlich vorbeischauen könnte. Aber da muss ich wohl noch zwanzig Jahre warten, bis der Photonenstrahlantrieb wirklich funktioniert, an dem sie schon seit Jahren herumdoktern. Mit dem, was sie bis jetzt erreicht haben, können sie gerade mal ein Riesenrad antreiben.“
    „Und mit welchem Aufwand!“
    „Ein großer Aufwand schmählich ist –“
    „Bist du sicher, dass sich nach deiner Rückkehr auf diesen Planeten überhaupt noch jemand für das Ergebnis interessiert? Ich bin es jedenfalls nicht.“
    „Alte Unke! Und wenn schon! Dann wäre ich jedenfalls um eine Erfahrung reicher!“

    2 Mal editiert, zuletzt von McFee (4. August 2019 um 15:09)


  • 3
    „Bisher war ich fest davon überzeugt, flying saucers seien verdammter Quatsch.“ Sir Jonathan Smith, einer der Leiter des Raumfahrt-Kontrollzentrums in Darmstadt und General a.D der British Airforces, schüttelte seinen kurzgeschorenen Graukopf mit den blauen Augen. „Da muss ich mich wohl wieder einmal von einem liebgewonnenen Vorurteil trennen.“
    Sein Gegenüber grinste. „Musst du nicht, Jon, musst du nicht! Behalt´ es doch, wenn es dir Halt gibt, denn wenig im Leben gibt mehr Halt als ein standfestes Vorurteil!“ Der Sprecher, Walter Böhmer, ein nicht mehr ganz junger Mann mit einem Hirnschädel wie ein Rathaus und dicker Brille, rührte lachend seinen Kaffee um. Er war Leiter der Abteilung Luftraumüberwachung und Flugsicherheit.
    „Und womit, zum Teufel, ist McFee gestern Nacht fast zusammengestoßen?“
    „Es war mit Sicherheit keine fliegende Untertasse.“
    Sir Jon richtete seinen blauen Blick auf Böhmer. „Nein? Was hat dann gesehen?“
    „Ein fliegendes Fladenbrot. Eine flache Scheibe mit gewölbten Rändern. So jedenfalls hat es unser lunarer Freund beschrieben.“
    „Und wo ist da der große Unterschied?“
    „Flying flatbreads gibt es wirklich, wie wir jetzt wissen, hahaha! Kleiner Scherz. Nun mal im Ernst. Das Objekt scheint aus einem unbekannten Material zu bestehen, anders kann ich mir die Tatsache, dass es weder der MAD noch meine Leute auf den Radarschirmen entdeckt haben, nicht erklären. Wenn es nicht in kurzer Entfernung an ESA IV vorbeigeflogen wäre, wüssten wir jetzt noch nicht einmal, dass es existiert.“
    „Also benutzen sie eine neuartige Tarnkappentechnik. Hmm... Gibt es Hinweise aus der Bevölkerung?“
    „Nein, bisher noch nicht. Ich denke, da tut sich auch so bald nichts. Seit die Leute beim letzten angeblichen UFO-Besuch von der Presse mit Hohn und Spott überschüttet wurden, werden sie sich nicht nochmal das Maul verbrennen wollen. Außerdem hat die Presseabteilung noch keine Meldung lanciert.“
    „Weiß man, wo es heruntergegangen ist?“
    Böhmer schüttelte den Kopf. „Aufgrund der Flugbahn vermutet McFee irgendwo in Norddeutschland. Aber wo da genau, konnte er nicht sagen, und er konnte das Objekt auch nur kurze Zeit beobachten. Außerdem war die Nordhalbkugel unter einer dicken Wolkendecke vergraben. Da alle unsere Ortungssysteme versagt haben, könnte ich nur spekulieren, und das liegt mir nicht. Irgendeinen Hinweis wird es schon geben.“
    Sir Jon massierte sich sein kantiges Kinn. „Fragt sich nur, wann.“
    „Tja, da können wir nur abwarten und Tee trinken.“
    Schweigen.
    „Ich habe da eine Vermutung.“ Böhmer gab seinem Drehstuhl einen kleinen Stoß und segelte auf Smith zu.
    „Nur heraus damit, Walter, nur heraus damit.“
    „Da war doch vor ein paar Wochen dieser Junge, der angeblich vom Himmel gefallen ist, und der später bei einem Autounfall ums Leben kam. Die Boulevardpresse behauptete damals steif und fest, es sei ein Außerirdischer gewesen, weil gewisse anatomische Besonderheiten darauf hindeuteten. Pa! Anatomische Besonderheiten! Die Patienten, die aus der Privatklinik dieses Knochenverrenkers, dieses... dieses... mein Gott, wie heißt er denn doch gleich –“
    „Was willst du sagen?“
    „Ähem... Ich will sagen: Mich stieß das Reißerische an dieser Berichterstattung ab, und so habe ich sie nicht weiter beachtet. Und wenn es nun aber doch stimmt? Wenn es doch keine fake news waren? Nehmen wir mal an, der Junge war wirklich ein Alien, und seine Leute kommen nun, um ihn zu holen.“
    Sir Jon schüttelte den Kopf. „Dann müssten sie schon einmal unbemerkt hier gewesen sein, und sie sind dann aus Versehen ohne den Kleinen abgefahren. Hältst du das wirklich für wahrscheinlich? Außerdem gibt es dafür nicht den kleinsten Hinweis.“
    Bühmer lächelte dünn. „Alles ist möglich, solange nicht das Gegenteil bewiesen ist, sagt -"
    "Lenk jetzt nicht ab."
    "Nun ja, ich gebe allerdings zu, diese Hypothese klingt ziemlich abenteuerlich. Wie dem auch sei... jetzt ist erhöhte Wachsamkeit geboten. Sollten sie wirklich gelandet sein, werden sie bald hier und da auftauchen, und wir wissen nicht, was sie vorhaben.“
    Sir Jon nickte. „Denke ich auch, denn ich glaube nicht an Zufälle. Wenn es da einen Zusammenhang gibt, wirst du es herausfinden. Als erstes machst du die Angelegenheit zur Chefsache. Leider können wir uns auf die Amerikaner nicht mehr verlassen, die Russen lachen uns aus, und die Inder und Chinesen sind mit ihren eigenen Raumfahrtproblemen mehr als beschäftigt. Von außerhalb ist also keine Hilfe zu erwarten, wie so oft, wenn´s brenzlich wird.“
    Böhmer seufzte herzhaft. „Wem erzählst du das.“
    „Ich denke, wenn du die Sache unter deine Fittiche nimmst, kommt wahrscheinlich am meisten dabei heraus.“
    „Wahrscheinlich. Trotzdem... Ich werde ein mulmiges Gefühl nicht los, wenn ich daran denke, hmm... dass er Junge nicht mehr lebt. Wenn sie tatsächlich gekommen sind, ihn zu holen, und sie müssen feststellen, dass ihr Liebling vor seiner Schule überfahren wurde, und sie beschließen nun, sich zu rächen, he? Weißt du, über welche Vernichtungstechnologien sie verfügen? Weißt du nicht! Wenn sie in der Lage sind, mit einem unsichtbaren Fladenbrot herzukommen, können sie vielleicht auch die Erde in ein unsichtbares Fladenbrot verwandeln. Da braut sich möglicherweise etwas zusammen, von dem wir –“
    „Herrje, Walter! Hat dir jemand Salz in den Kaffee gestreut?“ Sir Jons Faust knallte auf den Tisch, dass es ein kleines Erdbeben gab. „So kenne ich dich ja gar nicht! Es war ein Unfall! Und ich nehme mal an, sie wissen, was ein Unfall ist! Vielleicht sind sie ja nur an den sterblichen Überresten dieses Jungen interessiert!“
    „Na gut, Jon, dein Wort in Gottes Ohr! Auf jeden Fall sollten wir uns schleunigst mit den Leuten in Verbindung setzte, die diesen Ha... Ha –“
    „Hasetépeté.“
    „– die diesen Hasetépeté aufgenommen und versorgt haben. Vielleicht kann uns ja jemand einen Tipp geben, wie man mit seinen Leuten am besten umgeht.“
    „Jeff wird sich darum kümmern.“
    "Okay."
    „Gut. Dann würde mich brennend interessieren, ob es wirklich ein Unfall war oder ein Attentat. Die Berichterstattung darüber war merkwürdig nichtssagend.“
    „Ein Attentat? Auf einen Zwölfjährigen? Ich bitte dich!“
    Smith schüttelte den Kopf. „Erstens: Wer sagt dir, dass er tatsächlich zwölf Jahre alt war? Und wenn ja, welche Jahre sind da gemeint? Erdenjahre wohl nicht, und Marsjahre, denke ich auch nicht, denn vom Mars stammt er nicht, wenn man der Presse Glauben schenkt. Der Pluto benötigt für eine Umkreisung der Sonne 248 Erdenjahre, und wie es damit auf seinem Heimatplaneten aussieht, weiß keiner. Zweitens, und jetzt spinne ich mal... Sie haben den Knaben hier in Sicherheit gebracht, weil ihn eine ihnen feindliche gesonnene Macht entführen wollte. Diese Macht hat sein Versteck spitz bekommen, ist auf der Erde gelandet, hat ihn getötet, weil eine Entführung aus irgendeinem Grunde nicht möglich war. Dann war es ein Attentat. Jetzt bist du dran!“
    „Aber verdammt noch mal, was sollte den an dem Milchgesicht so wichtig gewesen sein, dass sie jahrelang bis zur Erde fliegen, um ihn zu verstecken? Und warum gerade auf der Erde?“
    „Nun ja, da gibt es mehrere Antworten. So weit ich weiß, ist die Erde in einem Umkreis von mindestens hundertfünfzig Lichtjahren der einzige frei bewohnbare Planet, und die Erde bietet viele Verstecke. Die Kolonien auf Mond und Mars sind für ein sicheres Versteck zu klein. Da wäre er sofort aufgefallen.“
    „Und auf Merkur und Venus wäre er geschmolzen.“
    „Richtig.“
    „Okay. Nun zur Frage, was hat ihn so wertvoll gemacht?“
    „Ich denke, er war so etwas Ähnliches wie ein Kind-Kaiser oder Gott-Kaiser, wie sie bei den alten Ägyptern üblich waren. Wer solch ein Kind besaß, der besaß die Macht, über die gesamte damals bekannte Welt zu herrschen. Und da kam es nicht auf Lebensalter an, sondern auf seine Herkunft.“
    „Hmm, nicht uninteressant, was du dir da zusammenfabulierst, mein Lieber. Nur was nutzt ein totes Gott-Kind?“
    „Ist doch nur eine Hypothese...Wie meinte schon Platon –“
    „Das sagtest du schon.“
    Sir Jon schwieg beleidigt. Schließlich sagte er: „Während ich das zusammenfabuliere, sehe ich da eine andere Gefahr heraufziehen... Ich sehe unsere gute alte Mutter Erde schon als Austragungsort von Kämpfen außerirdischer Mächte.“
    „So weit kommt´s noch! Ich schlage vor, wir warten erst Jeffs Bericht ab, und dann kommen wir wieder zusammen. Bis dahin halten wir die Sache unter dem Teppich. Soll ich dir einen Kaffee mitbringen?“
    „O ja, das wäre nett! Sag mal, habt ihr über die Festtage etwas vor?“
    Böhmer kam mit dem Kaffee zurück und setzte sich. „Wir fliegen nach Chicago, unsere Tochter heiratet dort. Am zweiten Weihnachtstag.“
    „Wie, sie heiratet? Ist sie denn schon – “
    „Leona ist zweiundzwanzig!“
    „Mensch, wie die Zeit doch vergeht! Sie war doch gestern noch so klein!“
    „Kleine Mädchen wachsen schneller als Gartenzwerge.“
    „Das wird´s wohl sein! Und wer ist der Glückliche?“
    „Robert Shorn, ein erfolgreicher Geschäftsmann. Er hat eine Bionik-Firma und verdient sich mit künstlichen Nasen eine goldene.“
    „Nett gesagt... Nehmt ihr eine Linienmaschine?“
    „Wo denkst du hin! Nein, wir nehmen die X333 von Venture Star. Da weiß man wenigstens, dass man pünktlich ankommt.“
    „Na dann bestell mal meine besten Glückwünsche!“

    4
    Zwei Tage später, sechshundert Kilometer weiter nördlich.
    Der atlantische Tiefausläufer lag bereits sein einer Woche über Südschweden. Die See im Skagerrak war so schwer, dass der Fährbetrieb Oslo-Kiel eingestellt werden musste.
    Brant Nielsson öffnete vorsichtig die Tür seiner Kate. Sofort riss ihm eine Bö die Klinke aus der Hand, und die Tür krachte gegen die Wand. Nielsson verließ das Haus und zog die Tür wieder zu.
    Irgendetwas mit den Pferden stimmte nicht. Seine beiden Pferde waren keine Freizeit-Ponys, sondern kräftige Ackergäule, die sich um ein Wetter nicht scherten. Doch schon seit einiger Zeit vernahm er durch das Getöse hindurch ihr aufgeregtes Wiehern und heftiges Stoßen.
    Nielsson betrat den Stall. Die Stute warf den Kopf hoch und wieherte laut, der Hengst klopfte nervös gegen die Bretterwand. Er ging auf die Tiere zu und tätschelte ihnen, beruhigende Worte murmelnd, den Hals. Allmählich wurden die Tiere ruhiger.
    Nielsson blickte sich um. Das Licht reichte gerade noch, um grobe Einzelheiten zu erkennen. Alles sah aus wie immer. Er legte noch etwas Futter vor und verließ den Stall.
    Der Sturm hatte jetzt nachgelassen, es war fast windstill. Es war der Moment, wo die Naturgewalten eine Verschnaufpause einlegen, um demnächst umso härter losschlagen zu können. Durch das leise Rauschen der Blätter hindurch hörte Nielsson jetzt ein kraftvolles, rhythmisches Klappern, dass von der Landstraße kam. Sofort wurden alte Erinnerungen in ihm wach. Das Geräusch erinnerte ihn an etwas, das sehr lange zurück lag. Es war das Geräusch, das trockene Erbsen machen, wenn sie in ein Sieb zurückfallen. So hatte seine Großmutter die Erbsen von kleinen Steinen getrennt.
    Das Geräusch war jetzt verstummt, dafür wurden die Pferde wieder unruhig. Nielsson wollte gerade zurück in den Stall gehen, da sah er zwei Gestalten auf sich zukommen. Die Gestalten waren seltsam klein und breit. Er hielt sie für dicke Kinder in grünen Schuluniformen.
    „Na, wo soll´s denn hingehen?“, fragte er, als die beiden stehen blieben und ihn ansahen.
    „Lunenborch“, kam es mit dünner Stimme zurück.
    An ihren Augen erkannte er, dass es unmöglich Kinder sein konnten. Ihr Blick war stumpf und nichtssagend und bar jeder Fröhlichkeit. Die Gesichter waren zwar faltenlos, doch er fand, dass sie trotzdem uralt aussahen.
    „Zu Fuß und bei diesem Wetter?“
    Die beiden schwiegen.
    „Lunenborch? Nie gehört. Wo soll das denn liegen?“
    Wieder Schweigen.
    Nielsson wiederholte seine Frage erst auf Norwegisch, dann auf Englisch. Keine Reaktion. Es schien ihm allerdings, als ob die beiden auf etwas warteten. Er machte eine einladende Geste und sagte, auch auf die Gefahr hin, dass sie ihn nicht ganz verstanden: „Kommt doch ins Haus! Für einen heißen Specktee ist immer Zeit! Meine Frau würde sich freuen!“
    „Lunenborch.“
    Nielsson sah die beiden genauer an. Jetzt erschienen sie ihm eigenartig geschlechts- und alterslos. Es könnten ebenso junge Frauen sein, dachte er, oder Zwillinge. Von ihrer Sturheit genervt rief er: „Marte, kannst du bitte mal kommen?“
    In der Tür erschien eine rundliche Frau mit einer bunten Schürze.
    „Diese jungen Männer hier wollen nach Lunenborch“, sagte Nielsson, „hast du eine Ahnung, wo das liegt?“
    „Hast du ihnen schon etwas angeboten?“
    „Natürlich, aber sie wollen nicht.“
    Die Frau betrachtete die Fremden nachdenklich. „Hmm... Lunenborch... Lunenborch... Vielleicht meinen sie ja das Lunenborg bei Hamburg.“
    In die Männer kam jetzt Bewegung. Sie nickten aufgeregt und riefen: „Lunenborg!“
    „Das ist aber weit“, sagte Frau Nielsson, „da kommt ihr unmöglich zu Fuß hin.“ Sie trat einen Schritt vor. „Am besten, ihr steigt in den Bus bis Frederikshavn, und dann weiter mit der Bahn.“
    „Sie verstehen dich nicht“, sagte Nielsson.
    Doch plötzlich fing der eine Zwilling an, in einer eigenartigen Sprache zu plappern. Wenn Nielssen später von diesen seltsamen Gestalten erzählte, meinte er, es sei ihm wie ein Gemisch aus Norwegisch, Altägyptisch und Kisuaheli vorgekommen. Und dazwischen sei immer wieder das Wort Lunenborg gefallen.
    Da die kleinen Wesen immer noch keine Anstalten machten, zu gehen, wies Nielsson genervt auf eine einzelnstehende, hohe Eiche. „Da entlang!“, rief er, „und dann immer geradeaus!“
    Anscheinend hatten die Zwillinge jetzt begriffen, denn sie verbeugten sich und setzten sich in Bewegung, aber nicht in Richtung Eiche, sondern auf den Hügel zu, hinter dem die Straße lag. Nielsson wartete, bis sie im Gebüsch verschwunden waren, dann folgte er ihnen. Oben angekommen, kletterte er auf einen Hochsitz, von dem aus er die Straße überblicken konnte. Gerade war der Mond durchgebrochen, und auf dem hellen Band der Straße sah er eine Marschkolonne, die sich im Gleichschritt davon bewegte. Bald war sie hinter einem Hügel verschwunden.
    Nielsson blieb wie vom Donner gerührt sitzen. Was er für den Mond gehalten hatte, entpuppte sich bei genauem Hinsehen als eine helle, ovale Scheibe, aus deren Unterseite jetzt ein grünes Ei herabschwebte und hinter dem Hügel verschwand. Nach einiger Zeit kam das Ei wieder zum Vorschein, stieg auf und und war kurz darauf verschwunden. Das leise Brummen, das schon die ganze Zeit in der Luft gelegen hatte wie Bienensummen, wurde lauter, der Lichtschein immer schwächer, und bald lag über der weiten Landschaft wieder eine grau-schwarze Wolkendecke.
    5
    „Käffchen?“
    „Nein, danke, ich hab schon reichlich.“
    „Wie war die Fahrt?“
    „Der Zug war pünktlich. Das heißt mit einer viertel Stunde Verspätung, hahaha.“
    „Na dann. Jeff, was hast du herausgefunden?“
    Jeff Greenman, groß, korpulent, Glatze, wegen seiner anlasslosen Heiterkeitsausbrüche gefürchtet, befeuchtete sich mit der Zunge die wulstigen Lippen. Dann legte er los.
    „Im Grunde nicht viel mehr, als wir schon wissen. Nun ja, es war nicht so einfach, die Leute überhaupt zum Reden zu bringen. Putziges Städtchen übrigens, dieses Lunenborg. Sieht aus wie vor fünfhundert Jahren eingefroren und letztes Jahr wieder aufgetaut, hahaha! Na gut. Besonders der Schulleiter machte mir den Eindruck, als habe er vor etwas Angst. Und auch in der Klinik hielten sie sich ziemlich bedeckt. Allerdings gibt es da ein paar Kleinigkeiten, bei denen man sich verwundert die Augen reibt. Zum Beispiel war der Knabe weder kranken- noch haftpflichtversichert. Hab ich zufällig herausbekommen.“
    „Ach nee! Daran hat natürlich niemand gedacht, dass er mal einen Schaden verursachen könnte.“
    „Dochdoch! Gedacht schon! Ich hab´ bei einer Haftpflichtversicherung angerufen und mir die Sachlage erklären lassen. Sie versichern nur Menschen und Tiere. Da der Knabe aber nach Befund ihres Experten weder das eine noch das andere war und sein bürgerlich-rechtlicher Status nicht feststellbar, mussten sie eine Versicherung ablehnen. Außerdem seien Minderjährige sowieso über die Eltern versichert.“
    „Und nun?“
    „Der geschädigte Autofahrer klagt jetzt beim OLG gegen die Schule auf Schadensersatz.“
    „Wird er damit durchkommen?“
    „Das wissen die Götter! So, und dann sind da noch die Umstände des... Dahinscheidens dieses Jungen.“
    „Was grinst du so?“
    Greenman streichelte seinen kahlen Schädel. „Manchmal toppt die Realität die schärfste Satire. Auf dem Standesamt wussten sie von nichts. Nein, eine Sterbeurkunde auf den Namen Hase – wie war noch der Name? Hasewas? sei nie ausgestellt worden. Ich also zur Kripo. Der zuständige Beamte, ein Hauptkommissar Heiland, hahaha! konnte sich zwar noch gut an den Vorfall erinnern, war aber, im Gegensatz zu seinem Namensvetter, zunächst äußerst unfreundlich. Er – “
    „Der Heiland konnte sehr unfreundlich werden“, unterbrach Böhmer das Geschwafel. „Denk nur an die Austreibung der Schächer aus dem Tempel.“
    „Welcher Heiland? Was für Schäfer?“
    „Na der richtige.“
    „Du meinst den in Lunenborg?“
    „Vergiss es! Weiter, aber bitte ohne dieses alberne Geächter.“
    Greenman biss sich auf die Lippen. „Wo war ich stehengeblieben? Ach ja. Also. Der... ähem... Hauptkommissar gebe keine Informationen an die Presse heraus, moserte er, im übrigen sei er kein Treteimer, ha, der jedesmal das Maul aufreiße, wenn es den Leuten gefiele. Erst als ich ihm sagte, ich sei nicht von der Presse, sondern von der ESA, wurde er etwas mitteilsamer und redete vernünftig. Als seine Beamten eintrafen, meinte er, hätten sie eine bewegungslose menschenähnliche Gestalt vorgefunden, aus der eine klare Flüssigkeit gesickert sei. Eine kurze Untersuchung durch den Gerichtsmediziner habe ergeben, dass es sich bei der Gestalt nicht um ein Wesen terrestrischer Natur gehandelt habe, sonder um eine unbekannte Existenzform. Deshalb habe der Gerichtsmediziner auch keinen Unfalltod zu Protokoll gegeben, sondern nur eine schwere Sachbeschädigung. Wegen der Eigenartigkeit des Falles sei die Existenzform in die Gerichtsmedizin gebracht, gründlich untersucht und dann in ein Kühlfach geschoben worden.“
    „Und was hat die Untersuchung ergeben?“
    Jeff zog einen Zettel hervor. „Ich hab´s mir aufgeschrieben. Erstens. Die klare Flüssigkeit war eine Salzlösung –“
    „Eine Salzlösung?“, riefen Sir Jon und Böhmer verblüfft.
    „Ja, so steht´s hier. Und wenn´s hier so steht, dann dürfte es wohl stimmen.“
    „Und wozu sollte die gut sein?“
    „Soll ich nun weiter berichten, oder willst du erst Fragen stellen?“
    „`tschuldige.“
    „– und stammte aus einer Blase im Unterleib des Wesens. Zweitens. Die Existenzform war nichtzellulärer Natur, was das auch immer heißt. Drittens. Die Existenzform besaß weder Herz noch Blutkreislauf. Viertens. Es konnten keine Alterungs- und Verschleißerscheinungen festgestellt werden. Fünftens – Herrgottnochmal, muss ich das alles ableiern? Steht doch haarklein in meinem Bericht.“
    „Musst du nicht, Jeff, wenn´s da drin steht“, sagte Böhmer. „Aber nun zieh endlich das Kaninchen aus dem Zylinder!“
    Greenman ließ sein unbeschwertes, gutturales Lachen hören. „Euch kann man auch nichts vormachen, hahaha! Also schön! Der nichtzellulären außerirdischen Existenz fehlte der Kopf.“
    „Wie, er ist ohne Kopf herumgelaufen?“
    „Blödmann! Natürlich nicht! Als die Ambulanz kam, fehlte der Kopf.“
    Eine Weile herrschte verblüfftes Schweigen. Dann bemerkte Sir Jon: „Das ist ja n Ding!“
    „Das kannst du zweimal sagen! Ich sprach mit dem Lehrer, der als erster am Unfallort gewesen war“, fuhr Jeff fort. „Er versicherte mir, da sei der Kopf noch dran gewesen. Dann sei er ins Haus gelaufen, weil er sein Handy im Lehrerzimmer vergessen hatte. Als er wenig später wieder auf die Straße lief, traf gerade die Ambulanz ein, und der Kopf war weg.“
    „Hmm...“, brummte Böhmer, „wer könnte ein Interesse daran haben, den Kopf eines Alien zu stehlen.“
    „Auch da gibt es mehrere Möglichkeiten“, sagte Sir Jon nach kurzem Nachdenken. „Ich fange mal mit der einfachsten an. Der Autofahrer, der ihn angefahren hat, nahm ihn mit.“
    „Du meinst, der Autofahrer stieg aus und schnitt ihm einfach ratz-fatz den Kopf ab?“ Böhmer kratzte sich am Kinn. „Nee, det gloob ick nich, det gloob ick den janzen Tach nich. Du vergisst, es ist nicht so einfach, jemandem den Kopf abzuschneiden. Ein Küchenmesser reicht da nicht, und so mal eben auf die Schnelle geht es schon gar nicht. Sogar bei einem Huhn brauchst du ein Hackebeilchen. Und dann erst bei einem Menschen. Da müsste der Autofahrer zufällig entsprechendes Werkzeug dabei gehabt haben. Halte ich für ziemlich unwahrscheinlich. Und dann, aus welchem Grund sollte er das getan haben?“
    Jeff beugte sich vor. „Na ja, auf einen Menschen oder ein Huhn trifft das schon zu, was du da sagst, Walter“, sagte er, „aber dieser Knabe war nicht aus Fleisch und Blut, und er besaß nach allem, was bisher durchgesickert ist, außerdem keine Knochen. Er war so etwas wie eine... gefüllte Schaufensterpuppe, hah –. Da kann es nicht so schwer gewesen sein, ihm mit einem scharfen Messer den Kopf vom Hals zu säbeln.“
    „Bleibt immer noch die Frage, warum der Autofahrer es getan haben sollte“, meinte Böhmer.
    „Hmm... nun ja... Das ist allerdings die Frage. Dazu fällt mir auf Anhieb auch nichts ein.“
    „Und wenn er wirklich an seinem Kopf interessiert war, woher konnte er wissen, dass der Knabe gerade in diesem Moment auf die Straße tappert?“
    „Ahem...“ Die rundliche Dame mit dem Schmetterlings-Tattoo auf den Oberarm, die bisher geschwiegen hatte, räusperte sich. Sie war eine Vertreterin von EUROPOL bei der ESA und redete nur, wenn es sich nicht mehr vermeiden ließ. „Alles schön und gut, was ihr da erzählt“, sagte sie, „aber der Autofahrer kann es nicht gewesen sein. Wir haben ihn natürlich sofort überprüft. Er ist Mitarbeiter eines Pflegedienstes und hatte es an diesem Vormittag etwas eilig. Einen Hinweis, dass er der Kopfabschneider war, haben wir nicht gefunden. Keine Spuren, kein Tatwerkzeug, kein Motiv.“
    „Hat er denn nichts gesehen?“
    „Angeblich lag er nach der Kollision schockiert hinterm Lenkrad und rang nach Atem.“
    „Hmm... wer könnte es dann gewesen sein... und aus welchem Grund...“, grübelte Böhmer laut. „Dann bleibt im Grunde nur noch jemand aus der Schule übrig.“
    Jeff klatschte sich auf sein dickes Knie. „Hahaha, ich sehe schon die Schlagzeilen in der BLIND-Zeitung: Hausmeister schneidet Schüler den Kopf ab, hahaha, und serviert ihn der Gattin zum Hoch – “
    „Jeff! Bitte.“
    „`tschuldige!“
    „Da halte ich den Autofahrer noch für wahrscheinlicher“, sagte die Dame von EUROPOL.
    „Na ja, dann müssen diese Fragen vorerst ungeklärt bleiben“, meinte Sir Jon, „ist ja auch nicht unser Bier. Wir sind hier bei der ESA und nicht bei der Kripo.“
    „Da bin ich aber ganz anderer Meinung!“
    „Was meinst du, Inge?“
    „Erstens ist das kein Fall für die Kripo, denn es war kein tödlicher Unfall, sondern nur Sachbeschädigung, wie wir vorhin gelernt haben. Dann denke ich, der Halsabschneider war kein Bürger dieser Stadt, sondern ebenfalls ein Alien, der aus irgendeinem Grunde den Kopf seines Mitbruders haben wollte. Und ich denke sogar, es war nicht der Kopf, der ihn interessierte, sondern das Gehirn, das da drinnen steckt. Ich vermute ja schon lange, dass es mit diesem Hasetépeté etwas Besonderes auf sich hat.“
    „Das würde ja bedeuten, sie wären schon mitten unter uns“, meinte Sir Jon ernst.
    „Ich rechne jeden Tag damit, dass noch mehr von diesen Leuten auftauchen“, sagte Inge

    Forts. folgt

    Einmal editiert, zuletzt von McFee (4. August 2019 um 15:03)

  • Hey @McFee ^^

    Mit dieser Geschichte und Handlung kann ich schonmal sehr viel mehr anfangen als mit deiner Sternenstaub-Erzählung: Die Handlungsabschnitte greifen gut ineinander, ohne wichtige Fragen offenzulassen und der distanzierte Erzählstil bleibt konsistent, was es leichter macht, der Geschichte zu folgen, wenn man sich daran gewöhnt hat.
    Das Reinversetzen und Mitfühlen mit den Figuren leidet allerdings unter dieser Distanzierung, wenn du also ein vollständiges Buch daraus machst, könnte die Handlung ohne wirkliche Bezugsperson irgendwann eintönig werden. Dazu kommt noch, dass du eine Riesenmenge an Figuren vorstellst, die zwar interessant sind, aber (mit Ausnahme des Keksfabrikanten vielleicht) nicht wirklich erforscht werden.
    Bisher finde ich den Erzählstil allerdings passend, weil das Rätsel um die Aliens noch im Vordergrund steht, nicht die Personen, die es auflösen.
    Die Dialoge sind mMn auch realistisch und nachvollziehbar geschrieben.

    Süßer die Kassenglocken nie klingen als zu der Weihei – eine kleine Unmutsfalte erschien auf seiner Stirn. „Leute gibts, die gibts gar nicht“, murmelte er. Komischer Kunde, der.

    Hier fehlt mir mehr Kontext - sieht er gerade einen Kunden, der am abgeschlossenen Laden steht? Denkt er über einen Kunden nach, der tagsüber im Laden aufgetaucht ist? Ich nehm an, du meintest Letzteres, aber ich musste mehrmals drüberlesen um das zu checken :S

    , und diesen angeblich außerirdischen Jungen, der vor acht Tagen angeblich in Gedanken versunken vor ein Auto gelaufen und dabei ums Leben gekommen war,

    Wiederholung - vielleicht eins durch "anscheinend" ersetzen?

    „Oder es hat irgendeine Katastrophe gegebenen. Was mag da bloß passiert sein?“
    „Frag´ mich was Leichteres. Und 'gerade' ist gut!

    Der erste hat doch gar nicht "gerade" gesagt :hmm: nicht wirklich schlimm, aber leicht verwirrend

    „Vergiss es! Weiter, aber ohne hahaha.“

    Vielleicht eher "spar dir das Lachen"? Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich die "hahaha"s im Text wirklich durch wörtliche Rede ausdrücken würde. Eine Beschreibung wie hier

    Greenman ließ sein unbeschwertes, gutturales Lachen hören.

    passt an vielen Stellen glaube besser rein und stört den Dialogfluss nicht so sehr.

    Liebe Grüße,
    Carpe

  • Hallo Carpe, vielen dank für dein Feedback.


    Das Reinversetzen und Mitfühlen mit den Figuren leidet allerdings unter dieser Distanzierung, wenn du also ein vollständiges Buch daraus machst, könnte die Handlung ohne wirkliche Bezugsperson irgendwann eintönig werden. Dazu kommt noch, dass du eine Riesenmenge an Figuren vorstellst, die zwar interessant sind, aber (mit Ausnahme des Keksfabrikanten vielleicht) nicht wirklich erforscht werden.

    Die Erforschung weiterer Personen kommt später, ich wollte die Eingangskapitel nicht mit Personalbeschreibungen belasten, denn es geht ja um andere Dinge. Außerdem weiß ich ja nochr gar nicht, ob die Geschichte gefällt.


    Hier fehlt mir mehr Kontext - sieht er gerade einen Kunden, der am abgeschlossenen Laden steht? Denkt er über einen Kunden nach, der tagsüber im Laden aufgetaucht ist? Ich nehm an, du meintest Letzteres, aber ich musste mehrmals drüberlesen um das zu checken

    Er steht im Verkaufsraum der Fabrik, in dem Bruchware verkauft wird, was der Leser natürlich nicht wissen kann. Wird geändert.


    Wiederholung - vielleicht eins durch "anscheinend" ersetzen

    Mit der Wiederholung will ich ausdrücken, dass er die Sache für Spintuskram hält.


    er erste hat doch gar nicht "gerade" gesagt

    Doch, zehn Zeilen weiter oben. Ist verwirrend, habe ich geändert.


    Vielleicht eher "spar dir das Lachen"? Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich die "hahaha"s im Text wirklich durch wörtliche Rede ausdrücken würde. Eine Beschreibung wie hier

    Ich habe: "... aber bitte ohne dieses alberne Gelächter!" eingesetzt. Ich denke, wenn der Leser Hahaha in wörtl. Rede liest, hört er die fettige Lache dieses Fleischbergs.


    Liebe Grüße
    McFee


    6
    In einem Kellerraum der Solomon-Sherensky-Schule standen drei Männer und starrten auf einen Metallzylinder, auf dem ein Kopf saß. Der Zylinder war über Schläuche und Drähte mit verschiedenen Apparaturen verbunden, rote, blaue und grüne Signallampen leuchteten im Halbdunkel wie riesige Edelsteine.
    Es war Sonntag Vormittag, der Schulbetrieb ruhte.
    „Da, ein Augenlid bewegt sich“, flüsterte einer der Männer, eine dürre Gestalt mit einem weißgrauen Hipster-Bart, „also lebt er.“
    „Jetzt müssen wir ihn nur noch zum Arbeiten bringen“, murmelte der Mann neben ihm
    „Wie ernährst du ihn?“
    „Als ich ihn abnahm, tropfte eine wasserklare Flüssigkeit heraus. Ich nahm eine Geschmacksprobe und stellte fest: Salzlösung. Die Energieversorgung geschieht demnach durch Elektrolyse.“
    „Wie hoch ist die Salzkonzentration jetzt?“, fragte der Mann an der anderen Seite des Tisches. Er hatte einen völlig kahlen Kopf und strahlend blaue Augen.
    „Dreikommafünf Volumenprozent, wie bei Meerwasser“, antwortete der dritte im Bunde, „ich denke, das reicht für den Anfang. Sollte es mehr brauchen, kann ich immer noch zugeben.“
    Eine Weile herrschte erwartungsvolles Schweigen. Nur das Summen der Apparate war zu hören.
    „Das haben Sie gut hinbekommen, Herr Hauschild“, lobte der Eierkopf den mit dem Hipster-Bart. „Wenn ich daran denke, was alles hätte schief gehen können!“
    „Danke. Ich hätte auch nicht gedacht, dass es so einfach ist, denn wir betreten hier absolutes Neuland. Ein lebender Kopf ist noch nie außerhalb des Körpers für längere Zeit am Leben gehalten worden. Und wenn es uns jetzt auch noch gelingt, sein Gehirn zum Arbeiten bringen – und alles sieht danach aus – dann ist der Grundstein zu einer völlig neuen digitalen Welt gelegt, in der nicht mehr energiefressende Groß-Computer, sondern umweltneutrale Gehirne der Menschheit das Denken abnehmen. Stellt euch das mal vor! Salz als Energieträger! Salz gibt es in rauen Mengen auf der Erde!“
    „Nun bleib mal hübsch auf dem Teppich, Jewgenij“, meinte der mit dem Rauschebart, „erst müssen wir ihn zum Sprechen bringen. Und, nehmen wir mal an, das Projekt gelingt, woher willst du dann die vielen Gehirne hernehmen? Menschliche Gehirne scheiden ja wohl aus.“
    „Meine Herren“, ließ sich der Glatzkopf, der Schulleiter, vernehmen, „das sind doch alles noch ungelegte Eier! Jetzt geht es doch erst einmal darum, dass wir die Ausschreibung gewinnen. Alles andere kommt später.“
    „Denke ich auch“, bestätigte der Bärtige. „Vor allem dürfen unsere Gerätschaften hier nicht versagen. Für solch eine Verwendung sind sie natürlich nicht vorgesehen. Ich musste ziemlich viel improvisieren.“
    „Mein werter Kollege“, orgelte der Glatzkopf, „in der Beschränkung zeigt sich erst der Meister. Aber wenn Sie etwas brauchen – auf dem kleinen Dienstweg, für den Rest sorge ich.“
    „Da wäre schon etwas, Herr Dr. Nissen“, sagte Herr Hauschild. „Unser Elektronenstrahl-Oszilloskop ist mittlerweile in die Jahre gekommen und ziemlich träge. Ein modernes digitales Speicheroszilloskop würde uns erheblich die Arbeit erleichtern.“
    Der Schulleiter zuckte leicht zusammen. „Und was kostet so ein Teil?“
    „Ein 70 MHz-Zweikanal-Gerät mit 2.500 K Rekordlänge gibt es schon unter 1200 Euro.“
    „Gut, ich werde sehen, was sich machen lässt. Dürfte an sich kein Problem sein. Wann rechnen Sie mit einem Ergebnis?“
    „Schwer zu sagen. Wenn der Kontakt steht, werde ich das Gehirn mit den Daten füttern, die auf Hasis Zettel standen. Dann werden wir weitersehen. Eile tut ja nicht Not. Die Ausschreibung läuft noch bis Mitte nächsten Jahres. Übrigens, weiß außer uns dreien sonst noch jemand Bescheid?“
    „Nein. Außer dem Hausmeister natürlich.“
    Hauschild blickte irritiert auf. „Hmm... Halten Sie Herrn Wiegand für so vertrauenswürdig?“
    Dr. Nissen zuckte mit den Schultern. „Hinter der Stirn ist es bei jedem dunkel. Aber bisher hat er sich der Schule gegenüber immer loyal verhalten. Nein, für Herrn Wiegand lege ich meine Hand ins Feuer. Und wir tun ja auch nichts Ungesetzliches. Wenn die Forschung an Affenhirnen erlaubt ist, dann habe ich beim Gehirn eines Aliens erst recht keine Bedenken.“


    „Es ist doch zum Kotzen“, murmelte Herr Hauschild, als der Schulleiter gegangen war, „immer muss einem so ein Dussel in die Quere kommen. Diesem Wiegand traue ich nicht von Wand bis Tapete.“
    „Hast du einen Grund?“
    „Nein. Aber ich kenne diesen Typ. Nehmen sich zu wichtig. Bilden sich ein, ohne sie läuft nichts. Dabei, wenn man ihn mal braucht, ist er 'gerade nicht im Hause', wie es so schön heißt. Aber mit seinem Schulkiosk reißt er sich den Arsch auf! Und abends beim Stammtisch kann er das Maul nicht halten.“
    „Das sehe ich anders. Bisher war er immer hilfsbereit, wenn er denn da war. Ich denke eher, den brauchen wir noch mal. Solch Leute haben Beziehungen, die manchmal sehr nützlich sein können.“
    „Denkst du da an etwas Bestimmtes?“
    „Im Moment nicht. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.“
    Hauschild beschlich ein beklemmendes Gefühl. Jetzt kam ihm nicht nur der Hausmeister, sondern auch dieser Kollege verdächtig vor. Eines stand für ihn fest: Im Moment würde er ihm keinen Gebrauchtwagen abkaufen.

    ***
    Heinrich Hauschild, Pädagoge und Erfinder

    Seit seine Frau vor zehn Jahren an Krebs starb und kurz darauf auch der Hund, lebt er allein. Gelegentlich besucht ihn seine Tochter, die in der Schweiz verheiratet ist; mit seinen Bruder, der einen Edelsteinhandel betreibt und sich häufig in Südafrika aufhält, hat er keinen Kontakt mehr.
    Auf einen höher dotierten Posten spitzt er nicht, die Stelle des Oberstufenkoordinators hat er folgerichtig einem jüngeren Kollegen überlassen. Er hat anderes im Sinn, als die Arbeit wie ein Tsunami über seinem Kopf zusammenschlagen zu lassen. Mittlerweile ist er zweiundfünfzig, und der schwellende Arbeitsdrang seiner früheren Jahre ist einer ruhigeren Gangart gewichen. Schon jetzt stapeln sich die Klausurmappen, die er zu korrigieren hat, auf seinem Schreibtisch zuweilen wie schiefe Türme zu Pisa, und die Rotweinflaschen werden immer schneller leer. Doch sowie es seine Zeit erlaubt, steigt er in seine Kellerwerkstatt hinab und bastelt an seinen Automaten herum, denn Heinrich Hauschild ist der geborene Erfinder.
    Und seine Erfindungen haben es in sich. Sie sind so vollständig ohne jeden praktischen Nutzen wie nur irgend etwas; es sind Kunstwerke der besonderen Art, von einem wachen und physikalisch geschulten Geist einer schnöden Alltagsrealität in einsamen Nächten abgetrotzt, und trotz ihrer Nutzlosigkeit mit einem gewissen ideellen Wert behaftet.
    Es ist keineswegs Drang und Absicht des Berichterstatters, sämtliche Maschinen und Geräte zu beschreiben, die in der Werkstatt herumstehen und -liegen und -hängen, aber insgesamt zeigen sie doch mehr über Wesen und Charakter dieses seltsamen Mannes als eine tausendseitige Biographie.
    Da liegt zum Beispiel ein Büchsenöffner, dem das entscheidende Teil, nämlich die Schneidkante fehlt. Aus dem Gasfeuerzeug daneben kommt statt der Flamme ein dünner Wasserstrahl, und mit dem Telefon an der Wand kann man nicht telefonieren, sondern duschen.
    In einer Ecke der geräumigen Werkstatt, sorgfältig mit Tüchern abgedeckt, steht auf einem hölzernen Podest sein erstes größeres Werk: Der Nixomat Nr. 2. Es ist dies ein rechteckiges Eisengestell mit einer Seitenlänge von 30x50 Zentimetern, angefüllt mit Zahnrädern verschiedener Größe, Stangen, Kolben, einem Propeller obendrauf, und vorne steckt ein Kurbel. Wenn nun jemand die Kurbel dreht, so bewegt sich – nichts, denn alle diese Räder und Stangen sind sind fest verschraubt oder verlötet. Dies Erfindung ist so nutzlos wie ein Haufen Taubenkacke. Und doch –
    Schüler einer Abschlussklasse, denen er den Nixomaten vorführte, waren hellauf begeistert; einer brachte es auf den Punkt indem er sagte, die Erfindung zeige in exemplarischer Weise die Höherwertigkeit des Nutzlosen gegenüber dem Praktischen, denn nutzlose Dinge zu tun sei die höchstmögliche Stufe der Freiheit.
    Gegenwärtig bastelt er an seinem Ratomaten herum, einem automatischen Ratgeber. Die Hardware ist schon fertig, allein es fehlt an geeigneter Software. Es handelt sich hierbei um einen umfunktionierten Glücksspielautomaten, der an Stelle von Geld fromme Sprüche auswirft, wie: Morgenstund hat Gold im Mund, oder: Müßiggang ist aller Laster Anfang.
    Natürlich weiß er, dass er sich mit solchen Sachen keine Freunde macht. Die Leute wollen unterhalten werden und nicht belehrt.
    So ziehen seine Tage in ihrem Gleichmaß dahin wie ein träger Fluss bei Niedrigwasser. Doch dann kam Hasi, und alles wurde anders...

    7
    Einige Kilometer jenseits des Kanals beginnt ein großes Waldgebiet, die Raubkammer genannt. In alten Karten liest man noch die 'Räuberkammer' – was treffender ist – denn noch vor hundertfünfzig Jahren bestand dieses Gebiet aus kargen Heideflächen und irrlichternden Mooren, in dem lichtscheues Gesindel unentdeckt verschwinden konnte. Wer eine reine Weste hatte und sich nicht auskannte, wagte sich freiwillig dort nicht hinein, denn im Moor sannen unheimliche Moorgeister darauf, den Eindringling zu verderben. Erst lockten sie ihn mit flackernden Lichtern in die Irre, dann griffen sie ihn an den Füßen und zogen ihn in die Tiefe hinab.
    Heute befindet sich auf dem Gebiet ein Truppenübungsplatz, einer der größten im Lande, dessen ungenutzte und selten betretene Teile sich zu Rückzugsgebieten seltener Tier- und Pflanzenarten entwickelt haben. So balzt dort noch der Auerhahn, in den Tümpeln tummeln sich Rotbauchunke und Kreuzkröte, von oben ertönt der Schrei des Bussards. Und es ist ein Paradies für Wölfe, die das gelentliche Gedröhn der Panzer und die Detonationen vom Schießplatz nicht stört.
    An diesem sonnigen Sonntag Vormittag fuhr, eine riesige Staubfahne hinter sich herziehend, ein Auto die Betonpiste entlang, die sich fast fünfzehn Kilometer lang und schnurgerade durch das Gelände zieht. Jetzt bog der Wagen in einen Waldweg ein und hielt nach wenigen Metern an. Ein junger Mann stieg aus und stapfte auf eine nahe Lichtung zu. Er war ein Mitarbeiter der Unteren Naturschutzbehörde und sollte die Fotofallen kontrollieren, die in diesem Teil des Waldes aufgestellt waren. Mit ihrer Hilfe wolle man die Spur eines aggressiven Wolfsrüden verfolgen, dem die Schäfer der umliegenden Dörfer gerissene Schafe anlasteten.
    Der junge Mann erreichte jetzt die Lichtung und blieb verblüfft stehen. Zwischen den Kieferstämmen auf der gegenüberliegenden Seite schimmerte undeutlich ein strahlend weißes Gebilde hindurch, das beim letzten Kontrollgang noch nicht dagewesen war. Zunächst hielt er das Gebilde für eine überraschend aus dem Boden gestampfte Biogas-Anlage, wies diesen Gedanken aber sofort als unmöglich zurück. Er überquerte die Lichtung und ging, über herumliegende Äste stolpernd, auf das Gebilde zu. Bald stand er vor einer riesigen Halbkugel, dessen untere Hälfte offensichtlich in den Boden der Heidefläche eingegraben war.
    Eine Weile staunte er das Gebilde bewegungslos an. Als er darauf zugehen wollte, sah er zwei Gestalten, die auf ihn zukamen und ihn mit seltsam glühenden Augen ansahen. Er wollte sich umdrehen und weglaufen. Doch da merkte er, wie ihm die Knie weich wurden. Dann sank er zu Boden, und kurz darauf war alles um ihn herum schwarz.
    Der Himmel hatte sich zugezogen, und wenig später begann es zu regnen.

    *
    Der Leiter der Unteren Naturschutzbehörde bei der Bezirksregierung, Uwe Wunderlich, ein hagerer Mittvierziger mit Hakennase und immer leicht geröteten Augen, schob erneut seine Brille zurecht, als könne er damit etwas ändern. Aber es half nichts, die Gestalt auf dem Foto war immer noch da. Undeutlich zwar, aber doch erkennbar.

    „Woher stammt das Foto?“, fragte er.
    Sein Gegenüber blätterte in einem Notizbuch. Dann sagte er: „Nr. 6 Jagen 13.“
    „Das ist jetzt schon der dritte Fall, dass wir statt der Wölfe diese Gestalten erfasst haben“, brummte Wunderlich kopfschüttelnd. „Allmählich wird mir die Sache unheimlich.“
    „Sie sehen ja auch ziemlich ungemütlich aus, die Typen“, sagte der Andere. „Wölfe sind sympathischer. Bin mal gespannt, was Hinnak mitbringt. Müsste doch schon längst hier sein.“
    Der Amtsleiter griff zum Telefon und wählte. „Uwe hier. Susi, kannst du mich bitte mal mit Rolf Hausen verbinden? Ich warte.“ Während Wunderlich wartete, trommelte er nervös mit den Fingern auf dem Tisch herum. Endlich stand die Verbindung. „Hey, Rolf. Wir haben schon wieder einen. Ja, der dritte. Nr. 6 Jagen 13. Hinnak ist noch nicht zurück, wahrscheinlich bringt er den vierten. Ich denke, wir schauen uns die Gegend einmal an. Wie wär´s um fünfzehn Uhr? Gut, wir treffen uns am Wagen. Bis dann. Tschau!“
    Wunderlich legte den Hörer ab. „Sören, kommst du mit?“
    „Mann, Uwe, muss das sein? Bei diesem Sauwetter?“

    Der Wagen rollte mit Tempo 30 über die endlose Piste. Plötzlich rief Sören: „Stopp! Da steht Hinnaks Wagen!“ Das Auto hielt, die drei Männer und die Frau, Mitglieder des Wolfsteams, stiegen aus.
    „Hmm... das sieht nicht gut aus“, sagte Wunderlich, während sie auf Hinnaks Auto zugingen „warum steht sein Auto immer noch da? Irgendetwas stimmt hier nicht.“
    „Vielleicht ist er ja zu Fuß los“, meinte Rolf.
    „Warum sollte er?“
    „Vielleicht, weil seine Karre nicht anspringt.“
    „Dann hätte er angerufen.“
    „Ruf doch mal, möglicherweise ist er ja noch in der Nähe.“
    Man rief, doch es kam keine Antwort.
    „Hoffentlich ist da nix Schlimmes passiert“, sinnierte Rolf.
    „Du meinst einen Wolfsangriff?“, fragte die Frau.
    „Nein. Die Setzzeit ist vorbei. Ich denke da eher an einen durchgeknallten Wolfsfeind auf der Pirsch, den Hinnak überrascht hat.“
    „Aber der schießt doch keinen von unseren Leuten über den Haufen!“, protestierte Sören.
    „Da wäre ich mir nicht so sicher, so aufgebracht wie die sind.“
    „Da! Schaut mal!“, stieß Sören hervor.
    Über den Kronen der Bäume wurde eine weiße Kuppel sichtbar, die immer weiter anwuchs. Allmählich nahm sie die Gestalt eines überdimensionalen Tennisballs an, das sich in die Luft erhob. Der Frau gelang es gerade noch, das Gebilde zu fotografieren, dann verschwand es in der tiefliegenden Wolkendecke.

    8
    „Inges Riecher war wieder mal richtig, Jon. Sie sind bereits mitten unter uns“, sagte Böhmer.
    Sir Jon hob die linke Augenbraue. „Wie kommst du darauf?“
    „Man hat sie gesehen.“
    „Ach! Und wo?“
    „In der Lunenborger Heide. Allerdings nicht direkt gesehen. Sie sind in Fotofallen getappt, die für Wölfe aufgestellt waren.“ Böhmer klappte eine Mappe auf. „Hier, schau sie dir an.“
    Sir Jon setzte seine Brille auf. „Hmm... ziemlich undeutlich... aber was man erkennt, sieht nicht gerade sympathisch aus, auch wenn man die brennenden Augen abzieht. Keine Leute wie du und ich, nur weniger gut genährt, möchte ich meinen. Wie viele sind es?“
    „Bisher vier.“
    „Na ja, eine überschaubare Menge. Wenn es nicht mehr werden –“
    „Darauf würde ich mich nicht verlassen, Jon. Aber mal was anderes. Der zuständige Sachbearbeiter vor Ort schwört heilige Eide, er habe mir die Fotos zugemailt. Aber sie sind nie angekommen. Und noch etwas. Eine Mitarbeiterin der dortigen Naturschutzbehörde hat angeblich einen Tennisball fotografiert, der in den Himmel auffuhr. Aber auf dem Speicherchip der Kamera ist nichts dergleichen drauf.“
    „Vielleicht sollte sie mal eine Weile die Nadel absetzen, hehehe!“
    „So einfach würde ich es mir nicht machen, Jeff. Denn dann hätte McFee ja auch an der Nadel gehangen, als er das Fladenbrot sah. Und das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Und dann haben drei andere Mitarbeiter das Riesenball auch gesehen. Behaupten sie jedenfalls.“
    „Worauf willst du hinaus, Walter?“
    „Anscheinend sind die Aliens in der Lage, die elektronische Speicherung von Daten zu unterlaufen.“
    „Und warum lassen sich die Dussel dann nachts fotografieren?“
    „Du kommst selber drauf. Schau dir die Fotos an.“
    „Ich? Ach ja!“ Jeff klatschte sich vor die fette Stirn. „Wärmebildkameras!“
    „Genau! Gegen Wärmebildkameras ist ihr Abwehrsystem anscheinend machtlos, warum auch immer, und sie haben nicht damit gerechnet, dass die Dinger da herumstehen und sind hinein getappt.“
    „Sehr möglich. Und was hat es nun deiner Meinung nach mit dem so genannten Tennisball auf sich?“
    „Ich vermute, es ist ein Transportmodul, das sie zu ihrem Raumschiff, das über den Wolken parkte, zurückgebracht hat.“
    „Gesetzt, es existiert wirklich –“
    „Wenn es vier Leute gesehen haben, dürfte es wohl stimmen.“
    „Aber verdammt nochmal, wieso hat das denn sonst niemand gesehen? So ein Teil fällt doch auf!“
    „Ich hab mich erkundigt. Bei dem Gelände handelt es sich um einen zweihundert Quadratkilometer großen Truppenübungsplatz, in dem sich außer diesen Wolfsleuten keine Zivilpersonen aufhalten dürfen. Dass die gerade da waren, als der Tennisball abhob, war wohl reiner Zufall. Ich habe vorhin den zuständigen Kommandeur angerufen und ihn um Amtshilfe gebeten. Er lässt das Gebiet mit Spähdrohnen überfliegen und absuchen. Aber ich rechne nicht damit, dass er etwas Verwertbares findet.“
    Eine Weile herrschte Schweigen. Dann sagte Jeff: „Sag mal Walter, glaubst du wirklich, was die da in der Heide beobachtet haben wollen? Ein riesen Tennisball, der in den Himmel auffährt. Ich glaub´s nicht. Das ist doch... das klingt mir verdammt nach... wie sagt man... nach Spökenkiekerei! Wir sind hier bei der Europäischen Raumfahrt-Agentur und haben verdammt andere Sorgen, als uns um die Visionen einiger durchgeknallter Wolfsschützer zu kümmern. Dieser angebliche Alien hat der ganzen Republik den Kopf verdreht, weil heutzutage alle Welt Fantasy-Romane liest. Weißt du überhaupt, ob der jemals existierte? Was? Ich meine diesen Alien. Hast du ihn gesehen? Ich nicht, obwohl ich vor Ort war! In Kroatien gibt es Firmen, die sich mit dem Erfinden von solchen Geschichten ihr Geld verdienen. Vielleicht war der Junge ja eine Ente aus Pula und kein Wesen von einem anderen Stern, wie die Sensationspresse unermüdlich trommelt.“
    „Und wie kommen dann diese Bilder zustande, mein Lieber? Ist das auch Spökenkiekerei?“, meinte Böhmer.
    „Reich mir doch mal die Fotos rüber!“ Sir Jon betrachtete die Bilder aufmerksam, dann sagte er: „Ich weiß nicht, ich weiß nicht... Ich bin fast geneigt, dir Recht zu geben, Jeff. Wenn sich da nicht jemand einen Scherz erlaubt hat... die Gestalten sind kaum zu erkennen... könnten auch große Gartenzwerge sein... sehr verdächtig!“
    Es klopfte, unmittelbar darauf wehte eine burschikose junge Dame mit knallroten Lippen in den Raum. Sie war Sir Jons Sekretärin und hieß Emilia 'Li' von Galgenheimbh – in ererbter mittelalterlicher Schreibweise. Wer sie eine Weile erlebte konnte verstehen, warum ihr bh hinten saß.
    „Hey!“, flötete sie, „was ist denn mit euch los? Ist euch die Petersilie verhagelt?“
    „Wir stecken gerade in einer tiefen Krise.“
    „So? Na dann hab ich was für euch!“ Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Parfümduft wallte auf. „Wird möglicherweise eure Herzen höher hüpfen lassen. Eben rief ein Dr. Müller aus Lunenborg an und berichtete, er habe vor acht Tagen eine weiße Kugel vom örtlichen Sportflugplatz in die Wolken aufsteigen sehen. Ich fragte ihn, warum er das nicht sofort den örtlichen Behörden gemeldet habe und erst jetzt damit herausrücke. Seine Antwort war n ziemlicher Onk.“
    Jeff sah Li verblüfft an. „Was ist ein Onk?“
    Böhmer machte eine abwehrende Handbewegung. „Und, was sagte er?“
    „Er sagte, wer diese Stadt nicht kenne, könne es sich nicht vorstellen. Die Leute da glaubten an alles, zum Beispiel an die Zusicherung des Stadtkämmerers, im nächsten Jahr einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen, obwohl der Stadtrat ein finanzielles Kuckucksei nach dem anderen ausbrüte. Aber wenn jemand behaupte, ein Ufo gesehen zu haben, dann werde er mit Hohn und Spott überzogen. Deshalb habe er auch bei uns und nicht dort angerufen.“
    „Soso. Ein Witzbold“, meinte Böhmer.
    „Der Gutste bat mich, es nicht weiterzusagen, wenn das in die falschen Ohren gelange, könne er seinen Laden dicht machen.“
    „Welchen Laden hat er denn?“
    „Oh, danach habe ich ihn nicht gefragt.“
    „Einen Augenblick!“ Böhmer tippte auf seinem Laptop herum. „Da haben wir ihn. Dr. Mueller mit u e, Confiserie GmbH & Co. KG, Hinter dem Flugfeld 17. Und warum hat er sich dann erst jetzt bei uns gemeldet und nicht schon vor acht Tagen?“
    „Danach habe ich ihn natürlich sofort gefragt. Ich bin ja nicht von gestern, Leute.“
    Böhmer grinste. „Sicherlich nicht, mein Täubchen. Also –“
    „Das Täubchen nimmst du sofort zurück!“
    „Gerne, Li! Also warum?“
    „Er gab an, gestern gegen dreiundzwanzig Uhr den Tennisball wieder gesehen zu haben. Aber diesmal schwebte er nicht hoch, sondern herab.“
    „Welchen Tennisball?“, fragte Jeff.
    „Hörst du nicht zu? Diese Kugel, die er vor acht Tagen schon einmal gesehen hat. Und noch etwas. Vor drei Tagen will ein Bauer auf Vendsyssel mit zwei Gartenzwergen gesprochen haben, die unbedingt nach Lunenborg wollten. Er sei den beiden nachgegangen und habe beobachtet, wie sie in ein großes grünes Ei stiegen und damit in die Wolken auffuhren.“
    „Woher hast du denn das nun schon wieder?“, fragte Jeff.
    „Aus Kopenhagen. War gerade im E-Mail.“
    Eine Weile herrschte atemlose Stille, dann knallte Jeffs Lache in den Raum. „Hahah, hihih, hohoh!“, röhrte er, „seid ihr denn alle durchgeknallt? Gartenzwerge, die in den Himmel auffahren! Sowas kannst du deiner Oma erzählen, Li, aber nicht mir! Lösch den Scheiß, und mail diesen Komikern, verarschen können wir und selbst am besten!“
    Sir Jon beugte sich vor. „Bist du sicher, Li? Da steht großes grünes Ei, und nicht etwa Ball oder Kugel?“
    „Ja, ganz sicher, Chef, ich bin doch nicht blind. Da steht großes grünes Ei und weder Ball noch Banane noch Kugel.“
    „Wo liegt denn dieses Venn... Sys –“
    „Vendsyssel. In Nordjylland.“
    Böhmers Handy schnurrte, und er hielt es ans Ohr. „Hallo! Herr Wunderlich, was gibt es? – – Wie? Ach! Und wo? – Hmm – Da sagen sie was! Die Hoffnung stirbt zuletzt! Die ESA? Nein, da muss ich Sie leider enttäuschen. Wir sind für Entführungen, auch im interplanetaren Bereich, nicht zuständig. Das müssen die zuständigen Dienststellen vor Ort erledigen. Trotzdem danke für die Mitteilung!“
    Böhmer steckte das Handy wieder ein. „Ein Mitarbeiter des Lunenborger Wolfteams wird seit drei Tagen vermisst. Sein Auto steht nicht weit weg von der Stelle, von der... ähem... der Tennisball aufstieg. Sie vermuten, dass der Mann von Außerirdischen entführt wurde.“
    Sir Jon kratzte sich das Kinn. „Ein Ei und eine Kugel... das eine weiß, die andere grün. Also, wenn mich nicht alles täuscht, haben wir es vermutlich mit zwei verfeindeten außerirdischen Raumfahrtnationen zu tun, die sich hier auf der Erde eingenistet haben. Ich habe es geahnt! Der Krieg beginnt!“

    Forts. folgt


    Commander Troysch

    1
    Zuerst dachte er, er wäre tot. Doch dann wurde ihm bewusst, dass er dachte und dass Tote nicht denken können. Und dass Tote auch nicht auf weichen Matratzen unter warmen Decken liegen. Wenn nur diese Dunkelheit nicht gewesen wäre. Sie war dicht und undurchdringlich und lag auf seinen Augen wie ein schwerer schwarzer Mantel. Und dann diese Stille, diese unheimliche Stille.Ein Sarg, dachte er, ich liege in einem Sarg, in einem gut gepolsterten Premium-Sarg! Er kniff sich in die Wange. Da war ein Gefühl, ein Schmerz. Doch ganz sicher, dass er noch lebte, war er sich nicht. Wer sagt denn, dass man nach dem Tod nichts mehr fühlt, wo doch auch die Haare noch einige Zeit weiterwachsen! Ist das schon mal untersucht worden? Und was heißt überhaupt tot?Er erinnerte sich an eine Vorlesung, in welcher der Professor behauptet hatte, man könne unmöglich einen Todeszeitpunkt bestimmen. Man könne nur sagen, derjenige habe sich vor zehn Minuten noch bewegt, und jetzt liegt er schon eine gute Weile ohne Lebenszeichen da. Gut, die Hirnströme. Wenn sich da nichts mehr regt, heißt es, sei man tot und zur Organentnahme freigegeben. Doch was bedeutet das schon. Eine Pflanze hat auch keine Hirnströme, und sie lebt trotzdem. Dann ist der Tod also nur der Übergang von der tierischen in die pflanzliche Existenzform...
    Das beantwortete aber immer noch nicht die Frage, wieso er jetzt in diesem dunklen Raum lag, und wie lange schon. Er überlegte. Seit einer Stunde, seit einer Woche oder seit hundert Jahren? Doch da war nichts, da war ein Loch, ein Zeitloch. Er hatte das Gefühl, dass Zeit ab jetzt keine Rolle mehr spielte, zumindest nicht die Zeit, die bisher sein Leben regierte.Also bin ich doch tot, dachte er bestürzt, denn die Toten kennen keine Zeit. Angestrengt versuchte er sich zu erinnern, was die Ursache für seinem Tod gewesen sein könnte. Erinnerungssplitter tauchten auf und verschwanden wieder. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er Baumstämme, und dazwischen ein großes weißes Etwas. Es war schließlich so hell gewesen, dass er blinzeln musste. Aber er war nicht in der Lage festzustellen, worum es sich dabei gehandelt hatte. Dann sah er zwei bizarre Gestalten mit glühenden Augen auf sich zukommen – und schon war alles wieder schwarz, und eine bleierne Schwere legte sich über seinen Geist.
    Doch auf einmal war da ein purpurner Glanz, der ganz nah oder sehr weit weg im Raum schwebte, und ein verwirrender grüner Schleier lag über dem imaginären Horizont wie wie das Geflimmer von Nordlichtern. Und jetzt vernahm er ein leises Brummen, das den Raum erfüllte, und er sah ein Gesicht, das sofort wieder verschwand. Das Brummen wurde zu einem Ton, der anschwoll, immer mehr an Höhe gewann und schließlich in ein unangenehmes Pfeifen überging. Dieser Ton kam ihm sofort bekannt vor, denn er klang völlig synthetisch und leblos. Ein Sinuston, der von einem Sinusgenerator erzeugt wird, und mit dem ich im Biologieunterricht meine Hörfähigkeit ausgetestet habe. Jetzt wurde der Ton spitz und scharf wie Nadelstiche, er wollte sich die Ohren zuhalten, denn die Stärke des Tons lag jetzt über der Schmerzgrenze, doch immer wieder stieß er mit den Händen gegen eine Barriere. Der Ton fiel in sich zusammen und verstummte. Dafür vernahm er jetzt Stimmen, die in einer unverständlichen Sprache redeten, seltsame Laute, die ihn an das Krächzen von Krähen und das Gemurmel einer erregten Menschenmenge erinnerte. Ein Schatten bewegte sich vor dem bunt schillernden Hintergrund und nahm feste Konturen an: Ein Gesicht mit roten Augen, das er schon irgendwo in ähnlicher Form gesehen hatte. Die Laute waren jetzt deutlicher und erinnerten an bekannte Worte, WILL – KO – KUK – KANE – PE – PO – KOMM – TOK – TEK, schließlich hörte er gut verständlich die Worte: „WILLKOMMEN AN BORD VON HASEPFEIL DREI“, und plötzlich wurde es hell.
    Die Helligkeit war so stark, dass er die Augen schließen musste. Als er sie wieder öffnete, kam ihm der Raum vor wie das weißglühende Innere eines Ofens, Einzelheiten konnte er nicht erkennen. Aber sein volles Bewusstsein war auf einmal wieder da, die Erinnerung an das, was vorher gewesen war, sein Körpergefühl, und die Gewissheit: ICH LEBE! Wieder erschien das Gesicht mit den glühenden Augen, jetzt war es fast weiß, nur die Augen leuchteten wie die Rücklichter eines Autos, es kam näher, schwebte über ihm, und eine Stimme, die aus weiter Ferne zu kommen schien, sagte freundlich in die schmerzende Helligkeit hinein: „Herr Winkelmann, wir nehmen jetzt die Elektroden ab, und dann können ßie aufßtehen und ßich die Beine vertreten! Betrachten ßie ßich als unßer Gast.“

    2
    „Mein Name ist Troych“, sagte die dünne Gestalt, „Commander Troych. Und ßie ßind Herr Hinnak Winkelmann, der Wolfsfreund. “
    Winkelmann betrachtete das Gesicht. Es war das Dutzend-Gesicht eines Mannes um die Lebensmitte. Die langen strohblonden Haare bildeten einen Kometenschweif an seinem Hinterkopf.
    „Wo bin ich hier?“, fragte er.
    „ßie befinden sich auf dem Raumchiff Haßepfeil III, unserem Mutterchiff. Wir parken zur Zeit in Krater ßechs des Mare Ingenii auf der erdabgewandten ßeite des Mondes. Das Transportmodul hat ßie hergebracht.“
    Winkelmann blickte sich um. Er sah einen hohen Raum mit einer ovalen Kuppel, aus der grünes Licht einfiel. Auch die Wände, sofern sie nicht mit blinkenden Schalttafeln bedeckt waren, schimmerten in durchsichtigem Grün. Die futuristisch anmutenden Sitzmöbel und der Tisch waren in leichten Beigetönen gehalten, der Fußbodenbelag glänzte schwarz. Als erschreckend empfand er die kalte Unpersönlichkeit, die dieser Raum ausstrahlte.
    „Zunächst möchte ich mich bei Ihnen ent-ßuldigen“, fuhr der Commander fort, nachdem er seinem 'Gast' Zeit gelassen hatte, sich umzusehen, „die Konditßjonierung ist mit einigen unangenehmen Empfindungen verbunden, deshalb haben wir verßucht, ßo chonend wie eben nur möglich vorßugehen. Allerdings, gewisse vorübergehende Beeinträchtigungen der Befindlichkeit lassen sich nun mal nicht vermeiden. Aber ßetzen wir uns doch!“
    Der Commander sprach in einem hohen, singenden Tonfall und in einer Sprache, die Winkelmann völlig fremd vorkam, und die er doch, bis auf das entsetzliche Lispeln, sehr gut verstand.
    Winkelmann setzte sich, der Commander klappte wie ein Taschenmesser ein und nahm ebenfalls Platz.
    „ßunächst einmal: ßagen ßie, Herr Winkelmann, können ßie mich gut verßtehen?“
    „Hmm... nun ja, verstehen schon, aber es ist ziemlich ermüdend, Ihnen zuzuhören. Sie lispeln stark“, antwortete der 'Gast' wahrheitsgemäß.
    „Oh, das tut mir Leid. Aber das haben wir gleich.“ Der Commander winkte eine der Gestalten herbei, die im Hintergrund in Hab-Acht-Haltung standen. „Die Gedankenübertragung auf unseren Gast funktioniert offenßichtlich noch nicht richtig“, hörte Winkelmann den Commander sagen. „Da muss wohl noch etwas nachjustiert werden.“ Der Hasetéper rannte davon.
    „ßie wundern ßich“ fuhr der Commander fort, „dass ßie mich verßtehen können, obwohl Ihnen die Laute, die an ihr Ohr dringen, völlig fremd vorkommen. Sähen Sü, es ist so: Öin kleuner Chüp, den wir hinter Ührem rechten Ohr eingepflanzt haben, überträgt moine Gedunken –“
    Der Wolfsfreund stutzte. „Wie bitte? Sie haben mir ohne meine Einwilligung einen Chip eingesetzt?“
    „Herr Winkelmann, regen Sie sich bitte nicht auf. Der Chip hat die Größe eines Reiskorns und ist ein Highlight unserer Nanotechnologie! Sowie Sie ihren Auftrag erledigt haben, wird er auf Knopfdruck entmaterialisiert, ohne dass Sie davon etwas merken. Dieser Nanochip überträgt meine Gedanken auf Ihr Gehirn, und Sie haben den Eindruck, dass ich mit Ihnen rede, obwohl ich wie ein Hasetéper denke – ist es jetzt besser? Gut. So, übrigens, geschieht auch die Verständigung unter den Hasetépern. Völlig geräuschlos durch Gedankenübertragung. Wir benötigen keinerlei Kommunikations-Elektronik, auch nicht über große Entfernungen hinweg. Die Gedanken sind schließlich frei.“
    „Und wieso können Sie mich verstehen?“
    Der Commander verzog sein Gesicht. Wenn es ein Lächeln sein sollte, dann war es gründlich misslungen. „Die elektronische Gedankenübertragung ist keine Einbahnstraße. Außerdem haben wir Ihr Gehirn ein wenig...hmm... na sagen wir: Umprogrammiert. Sie wörden nun eunigäs verstuhen, zum Beuspöl dös Haseutäpüch –“ Der Commander unterbrach sich. „Stämmt etwös nächt?“
    „Es ist jetzt schlimmer als vorher!“
    Troysch klatschte unwillig in die Hände. Sofort sprang ein weiterer Hasetéper davon.
    „Mänchmul stöllen sä säch zähmlich dosselich an.“ Der Commander wartete eine Weile, dann sagte er: „Herr Wönkelmann, Sie werden von jetzt ab keun Zeitgefühl mehr haben. Minuten werden Ihnen wie Tage vorkommen, und Tage wie Minüten. Wissen Sie, die Leute auf Hasetépe haben sich schon lange von der Zeit verabschiedet. Zeit führt nur zu unnötiger Betriebsamkeit. Nehmen Sie doch die Verhältnisse auf der Erde als Beispiel. Die Menschen wollen in immer weniger Zeit immer mehr schaffen. Und wohin das auf die Dauer führt, muss ich ihnen ja wohl nicht erkleuren. Wir haben Sie somit in die Lage versetzt, Ihren Auftrag ohne Hast und Eule auszuführen. Und wenn Sie hundert Erdenjahre dafür benötigen – einerlei. Wichtüg ist nur, dass Sie zu einem Ergebnis kommen.“
    Winkelmann hatte den Eindruck, dass der Commander die Sprache vokabelmäßig vollständig beherrschte, aber nicht mit ihr lebte. Zwei Hasetéper, dünne Gestalten mit spinnenartig langen Armen und Beinen, in schneeweiße Uniformen mit goldenen Knöpfen, kamen herein. Sie stellten Kekse und Konfekt auf den Tisch, verbeugten sich und verschwanden wieder. „Möchten Sie Koffee oder Tee?“, fragte der Commander.
    „Danke, im Moment möchte ich gar nichts. Ich muss erst das, was ich gerade erlebe und erfahre verdauen.“
    „Verstehe! Natürlich! Alles braucht seine Weile! Sagen Sie Bescheid, wenn Sie so weit sind. Die Kekse kann ich nur empfehlen, sie stammen aus der Confiserie Ihres Mitmenschen Dr. Mueller, heute Nachmittag eigens für sie besorgt.“
    Ein Trupp Gartenzwerge, begleitet von einer hoch aufgeschossenen Gestalt, durchquerte den Raum und verschwand in einer Wand.
    „Gefangene Kanetéper“, erklärte Troysch unaufgefordert, „so sehen sie dort alle aus. Wie Gartenzwerge ohne Zipfelmütze. Liegt an der enormen Schwerkraft ihres Planeten. Können sich dort keine großen Sprünge erlauben. Da sind wir besser dran!“ Der Commander ließ ein knisterndes Geräusch hören, das wohl ein Lachen sein sollte. „Wissen Sie eigentlich, warum viele Menschen auf der Erde Gartenzwerge so lieben? Sie bewahren eine uralte Erinnerung, denn die Kanetéper haben schon einmal vor langer Zeit die Erde besucht, genauso wie wir. Aber ihr Besuch war ein Reinfall. Statt einer Zivilisation trafen sie zottige Zweibeiner an, die mit Knüppeln aufeinander einschlugen. Da sind Sie wieder abgefahren. Als wir die Erde besuchten, schlugen söch die Erdbewohner nicht mehr mit Knüppeln tot, sondern sie bewarfen sich mit Speeren – “
    Das transparente Grün der Kuppel bekam einen rosa Schimmer, der sich intensivierte und über Apfelsinenrot schließlich zu einem dunklen Purpur wurde.
    „Sicherheitsalarm der höchsten Stufe“, rief Troysch und sprang auf, „ein Raumschiff der Kanetéper nähert sich dem Mond.“
    Die sonst staubgrauen Augen des Commanders leuchteten jetzt feuerrot. Winkelmann konnte nicht feststellen, ob das Leuchten von innen kam oder nur ein Widerschein war.
    Eine Wand löste sich auf und gab den Blick in einen rot schimmernden Saal frei, in dem eine große Anzahl uniformierter Hasetéper vor einem anderen weiß uniformierten Hasetéper stramm standen. Ihre Uniformen leuchteten blutrot.
    „Die Sicherheitsmannschaft“, sagte der Commander. „Der Leiter geht gerade noch einmal den Einsatzplan durch. Es geschieht in völliger Lautlosigkeit, nur auf dem Wege der Gedankenübertragung. Kommen Sie, wir fahren in die Aussichtskuppel hoch.“

    *
    Auch die Kuppel war von tiefrotem Licht erfüllt. Sie traten vor ein Fenster, von dem sich ein grandioser Rundblick über die Mondlandschaft bot. Kahle, langgezogene Hügelformationen, die Kraterwände, bildeten den Horizont. Dazwischen, wie schwarze Striche, die Schlagschatten kleinerer Einschlagkrater. Am schwarzen Himmel, umgeben von einem Meer von Sternen und in gleißend-verstörender Helligkeit die tief stehende Sonne.
    Der junge Mann staunte. „Ein fantastischer Anblick!“, rief er begeistert, „allein dieser Sternenhimmel! Einfach phänomenal!“
    Der Commander zuckte mit den Schultern. „Dabei besteht diese Pracht doch im Grunde aus nichts anderem als aus Leere“, sagte er nachdenklich. „Und phänomenal ist sie nur für einen empfindsamen Menschen. Die Hasetéper zum Beispiel nehmen es nicht wahr, ebenso wenig, wie es Hunde oder Katzen tun. Ihnen fehlt die nötige Fantasie.“
    „Hmm... das ist also die Rückseite des Mondes“, murmelte der junge Mann. „Hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt.“
    Wieder ließ der Commander sein eigenartiges Lachen hören. „Kann ich mir denken! Sie nahmen an, hier sei es dunkel wie im Sack, stimmt´s? Sie sehen, genau das Gegenteil ist der Fall. Wenn die Scheiben nicht getönt wären, müssten wir starke Sonnenbrillen tragen, obwohl wir uns bereits im letzten Viertel des Mondtages befinden.
    „Letztes Viertel? Was heißt das?“
    „Der Mond dreht sich in etwas achtundzwanzig Erdentagen einmal um sich selbst. Das heißt, ein Mondtag beträgt etwa vierzehn Erdentage, ebenso die Mondnacht. Um auf Ihre Frage zu antworten: In Lunenborg entspräche es etwa vier Uhr nachmittags. Aber es würde bis zum Sonnenuntergang noch mehr als drei Tage dauern.“
    „Aha! Und wie spät ist es dort jetzt wirklich?“
    „Kurz nach Mitternacht. Wir können die Erde leider von hier aus nicht sehen, dann könnten Sie sich davon überzeugen. Wir sähen Wasser, nichts als Wasser.“
    „Wie groß ist dieser Krater eigentlich? Sieht alles so nah aus.“
    „Zum Greifen nah sogar! Doch es ist eine optische Täuschung. Da Ihr Auge keine Vergleichsmöglichkeiten hat, und keine Luft die Konturen verwischt, tappt Ihr Gehirn, was Entfernungen und Dimensionen angeht, völlig im Dunkeln. Alles liegt in kristalliner Klarheit vor Ihnen, egal, wie nah oder wie weit weg es ist... Dieser niedliche Felsbrocken dort ist etwa fünfzehn Kilometer weit entfernt, und Mare Ingenii ist größer als das Saarland.“
    Der junge Mann schwieg und blickte mit zusammengekniffenen Augen nach draußen. Ein entsetzliches Gefühl der Verlassenheit ergriff ihn.
    „Woran denken Sie jetzt“, fragte der Commander.
    „Nun ja... Die Aussicht ist sicherlich beeindruckend! Und doch... Ich stelle mir gerade vor, ich wäre da draußen und mutterseelenallein... Gut, auf der Erde gibt es ähnliche Einöden. Aber da ist immer die Gewissheit, dass es anderswo Leben gibt.“
    „Da haben Sie Recht. Es ist eine grandiose, aber tödliche Wüste.“ Der Commander seufzte. „Ja, der Blaue Planet, dieses einzigartige Juwel unserer Galaxie, wenn nicht des gesamten Alls.“ Er wies mit ausgestrecktem Arm auf einen winzigen Lichtpunkt, der über einem Hügel auftauchte und schnell größer wurde.
    „Das Raumschiff der Kanetéper“, sagte er, „es kehrt gerade von der Erde zurück und steuert genau auf uns zu.“ Der Commander verharrte eine Weile reglos. Dann löste er sich aus seiner Erstarrung und erklärte: „Ich habe gerade die Meldungen der Sicherheitsmannschaft entgegengenommen. Alle Verteidigungsmodule sind scharf gestellt. Sollten die Kanetéper auf die hirnverbrannte Idee kommen, sich auch in diesem Krater niederzulassen, werden wir uns zu wehren wissen.“
    „Wieso? Sehen sie uns denn nicht?“
    „Nein. Hasepfeil hat Farbe und Struktur des Untergrundes angenommen. Und gegen feindliches Radar schützt uns eine Speziallegierung.“
    „Okay! Und wie wollen Sie sich im Ernstfall wehren?“
    „Wir würden sie mit einem Strom aus Antimaterie belegen und einschrumpfen. Wenn ihr Raumschiff die Größe eines Gasfeuerzeuges erreicht hätte, würden wir es einfangen und wegsperren.“
    „Und das funktioniert? Ich meine das Schrumpfen mit Antimaterie.“
    „Nun ja, so leicht, wie es sich ausspricht, ist es tatsächlich nicht. Aber mittlerweile haben wir die Technologie, und, wenn ich mich nicht täusche, sogar als Einzige in der Milchstraße. Im Versuch ist es uns bereits gelungen, einen Kometen in eine Sternschnuppe zu verwandeln.“
    Winkelmann sah den Commander ungläubig an. „Haben Sie nicht Angst, dass die Kanetéper das Gleiche mit Ihnen machen könnten?“, fragte er.
    „Nein. Erstens sehen sie uns ja nicht, und zweitens sind sie technisch noch nicht dazu in der Lage.“
    „Hmm... Was geschieht dann mit der Besatzung?“
    „Wir werden dafür sorgen, dass die Besatzung nicht verhungert und sie auf dem Rückweg irgendwo zwischen Sirius und Beteigeuze wieder freilassen.“
    „Jetzt wollen Sie mich auf den Arm nehmen, Sir.“
    Der Commander trat einen Schritt vor, und für einen Moment sah es so aus, als wolle er den jungen Mann umarmen. „Aber i wo! Ich denke nicht daran, junger Mann! Die Hasetéper sind eine friedliebende Zivilisation! Die Beobachtungen, die wir in den letzten Hunderttausend Jahren auf der Erde gemacht haben, haben uns gezeigt, wie man Konflikte gerade nichtlöst.“ Wieder nahm der Commander eine lautlose Meldung entgegen. Dann fuhr er fort: „Wir sahen mit Verwunderung, dass sich die Menschen immer wieder in Kriegen zerfleischen. Können Sie mir sagen warum, Verehrtester? Ich könnte ja verstehen, dass die Erdbewohner und die Marsbewohner verfeindet sind. Aber untereinander? Sie bewohnen einen wunderbaren Planeten mit Möglichkeiten, von denen man auf Hasetépe nur träumen kann. Doch die Erdlinge kennen anscheinend nur Ausbeutung und Zerstörung... Ich werde Ihnen sagen, warum. Weil in Ihrer Evolution, das heißt in den letzten zwei Millionen Erdenjahren, etwas schief gelaufen ist. Es hat sich immer nur der Stärkste und Aggressivste durchgesetzt, nie der Vernünftigste. So sind Sex und Aggressivität die beiden Eigenschaften, unter denen die Erdbewohner in der Galaxie bekannt sind. Und ich kann Ihnen versichern, nicht zu ihrem Ruhm! Unser Gott Ha hat einen anderen Weg gewählt. Die Bewohner Hasetépes sind körperlich alle gleich stark und – “
    Winkelmann stampfte mit dem Fuß auf. „Warum erzählen Sie mir das, Commander?“, rief er ärgerlich, „Ihre Moralpredigten können Sie sich an den Hut stecken! Welchen Weg Ihr Gott gewählt hat, interessiert mich einen Scheu... Schie... Schö...“
    „Geben Sie sich keine Mühe! Auf Kraftausdrücke reagiert das Gedankenübertragungsmodul nicht.“
    „Zum Henker! Dann sagen Sie mir wenigstens, warum Sie mich entführt haben!“
    „Aber, aber! Herr Winkelmann, ich bitte Sie! Wer redet denn von Entführung! Sie sind mein Gast! So wie Sie den Auftrag angenommen haben, bringen wir Sie wieder zurück. Und nachher werden Sie keine Minute älter geworden sein als Sie zu dem Zeitpunkt der... ähem... Einladung waren. Wir werden Ihnen Lebenszeit schenken, und wenn Sie wollen, können Sie noch mehr davon haben. Kann man da von Entführung sprechen?“
    Winkelmann seufzte resigniert. „Na schön. Was soll das für ein Auftrag sein?“
    „Später. Warum diese irdische Hast? Schauen Sie!“
    Das feindliche Raumschiff stand jetzt genau über ihnen. Jetzt sah man, dass es nicht weiß, sondern hellgrün schimmerte.
    „Sie können an der grünen Färbung erkennen, wie rückständig diese Kanetéper sind“, fuhr der Commander sichtlich pikiert fort. „Die Färbung beruht auf künstlichem Blattgrün, das in die Außenhaut des Raumschiffs eingearbeitet ist. Damit wollen sie einen Teil ihres Energiebedarfs decken. Wie Pflanzen. Total veraltete Methode.“
    „Wieso denn das nun wieder!“, begehrte Winkelmann ärgerlich auf, „was ist daran denn veraltet? Unsere Fachleute versuchen gerade, diese Technologie marktfähig zu machen!“
    „Pah! Hören Sie mir von der Erde auf! Das ist auch so etwas... Eure Ingenieure haben in den letzten zweihundert Jahren grundsätzlich immer auf das falsche Pferd gesetzt! Seit der Erfindung des Stromgenerators wäre es möglich gewesen, den Energiebedarf der Erde bei vernünftiger Wirtschaftsweise aus regenerativen Quellen zu schöpfen. Aber es mussten ja Kohle, Erdöl, Atomkraft, Gas sein... Und warum? Weil die Wirtschaftsweise nicht vernünftig war, und sie wird es wahrscheinlich auch nie werden. Jeder will mehr als der Nachbar besitzen, alles muss größer, schneller, teurer sein. Hinzu kommen Gier und Machtmissbrauch. Die Menschen auf der Erde spielen ein Spiel, und dieses Spiel heißt: Lügen, Betrügen und Ausbeuten... Ich sage Ihnen, wenn es so bleibt, wird der Götze Wirtschaftswachstum diesen einzigartigen Planeten kurz über lang aufgefressen haben.“
    Winkelmann wollte jetzt keine Auseinandersetzung. „Ziemlich einseitig, diese Sicht“, murmelte er anscheinend kleinlaut. Für sich dachte er: Klugscheißer.
    Der Commander schien diese Beleidigung nicht vernommen oder nicht verstanden zu haben, denn er fuhr unbeirrt fort: „Möglich. Aber die Verhältnisse auf der Erde zeigen, dass sie nicht grundsätzlich falsch sein kann.“
    Der Blick des Wolfshüters wanderte zu den Augen seines Gesprächspartners. „Wer sind Sie?“, fragte er, „so redet doch kein Alien, und Sie sehen auch nicht wie ein Hasetéper aus.“
    Troysch machte eine abwehrende Handbewegung. „Sie haben Ihr Geheimnis, ich habe meines. Also sind wir quitt.“
    Wieder schien der Commander auf etwas zu lauschen.
    „Entwarnung“, sagte er, „sie fliegen weiter.“
    Tatsächlich setzte sich das Raumschiff wieder in Bewegung; bald war es hinter einem Kraterrand verschwunden.
    Der Commander rieb sich vergnügt die Hände. „Sie haben etwas bemerkt, aber sie konnten uns nicht orten, die Dussel. Im Grunde sind sie blind wie Grottenolme. Unsere Tarnung ist perfekt!“
    Das Feuerrot der Kuppel erlosch.

    Forts. folgt

    Einmal editiert, zuletzt von McFee (9. August 2019 um 13:13)

  • *
    „Wollen Sie nicht doch eine Tasse Kaffee oder Tee?“, fragte der Commander, als sie wieder im 'Wohnzimmer' von Hasepfeil III saßen.
    „Nein, Mann! Lassen Sie mich mit diesem Blödsinn zufrieden! Ich will zurück zur Erde!“
    „Das sollen Sie ja, lieber heute als morgen! Aber zuvor müssen wir noch einiges bereden.“
    Ein Hasetéper trat auf den Commander zu, machte eine artige Verbeugung, und Winkelmann war es, als sagte jemand: „Möchten Eure Einzigartigkeit etwas trinken?“ Troysch schüttelte den Kopf, der Kerl verbeugte sich wieder und verschwand.
    „Eure Einzigartigkeit“, sagte Winkelmann grinsend, „ich bitte inständig, kommt endlich zur Sache!“
    „Sie grinsen“, sagte der Commander, „nun ja... Meine Einzigartigkeit ist auch nicht zu übersehen. Die Hasetéper sind alle nur Kopien eines Urahns – mit kleinen Abweichungen – der vor undenklich langer Zeit vom Gott HA geschaffen wurde. Deshalb sehen sie auch für das geübte Auge alle gleich aus. Man benötigt nun keinen Scharfblick um zu erkennen, dass ich nicht in dieses Schema passe. Den Grund erkläre ich Ihnen vielleicht später einmal.“
    „Verstehe! Sie meinen, diese lieben Leute hier sind alle geklont.“
    „Nein. Auch das Klonen ist ein völlig veraltetes Verfahren, bei dem sich zu viele Fehler einschleichen. Denken sie an das Klonschaf Dolly, das schon in jungen Jahren erhebliche Alterserscheinungen aufwies und mit sechs Jahren an einer Lungenentzündung starb. Außerdem sind die Hasetéper nichtzelluläre Wesen, die aus Sternenstaub und Steinsalz hergestellt werden. Das Verfahren ist ein streng gehütetes Geheimnis, das nur das HÖCHSTE WESEN, der Gott HA, kennt. Es hat unschätzbare Vorteile etwa gegenüber der Methode, die auf der Erde herrscht. Die geschlechtliche Fortpflanzung hat sich als Irrtum erwiesen, denn sie führt nur zu Missverständnissen und –“
    Der junge Mann fuhr auf. „Herr Commander Troysch!“, rief er ärgerlich, „ich verbitte mir weitere Moralpredigten! Sie reden wie ein eierloser Mönch! Noch eine überflüssige Belehrung in diese Richtung, und Sie können mich wieder zur Erde zurückbringen!“
    Troysch warf entsetzt die Arme hoch. „Entschuldigen Sie vielmals! Ich wollte Sie keineswegs belehren, sondern nur meinen Eindruck wiedergeben.“ Er wirkte echt bestürzt. „Ich vergaß, wie leicht erregbar ihr Erdbewohner seid. Trotzdem kann ich mir einen Rat nicht verkneifen: Werden Sie einer von uns, wir stellen eine Kopie von Ihnen her, oder, wenn Ihnen das zu extrem erscheint, wir konditionieren Ihr Gehirn etwas, und Sie kennen weder Zeit und Kummer noch Alter und Tod. Und Sie regen sich nicht mehr unnötig auf.“
    „Danke für das freundliche Angebot! Aber Sie werden lachen: Ich rege mich gerne auf! Aufregung ist gut für den Kreislauf! Nee, da bleibe ich doch lieber das Original.“
    Winkelmann spürte, wie die Gedankenströme des Commanders immer tiefer in sein Bewusstsein eindrangen. Er nahm sich vor, in Zukunft sehr wachsam zu sein.
    „Wie Sie wünschen! Wo war ich stehen geblieben... ach ja –“
    „Mein Auftrag, Mann!“ Winkelmann sah aus, als wollte er in der nächsten Sekunde auf den Commander stürzen und ihm den dünnen Hals umdrehen.
    Troysch seufzte. „Immer Ihre Ungeduld... Na schön... Vor etwa fünftausend Umrundungen unseres Planeten um die Große Sonne HE geschah etwas Furchtbares. Eine Supernova in zweihundert Lichtjahren Entfernung explodierte und verwandelte Hasetépe kurzzeitig in eine kochende Hölle. Der heilige Eis-Berg HA-SE, in dem für alle sichtbar der KÖNIG in einem Eis-Dom residierte, schmolz ab, und der KÖNIG verlor seinen Sitz über den Wolken. Und da ein Unglück selten allein kommt, fand unser Geheimdienst heraus, dass die Kanetéper, die Gunst der Stunde erkannten und vorhatten, den KÖNIG zu entführen. Denn wer ihn in seiner Gewalt hat, könnte das Universum beherrschen. Er musste also unbedingt in Sicherheit gebracht werden. Nun gibt es dummerweise auf Hasetépe kein Versteck, in dem es vor den Kanetépern sicher gewesen wäre, und die Hasetéper verfielen in ihrer Not auf die Idee, den KÖNIG in aller Heimlichkeit auf die Erde zu bringen, denn die Erde ist der einzige Planet weit und breit mit Lebensbedingungen ähnlich wie auf seinem Heimatplaneten, zudem besitzt sie große Mengen an Salzwasser und bietet viele Verstecke. Die Hasetéper setzten sofort Notsignale in Richtung Erde ab und fragten an, ob die Erdbewohner bereit wären, den KÖNIG für eine Weile aufzunehmen. Doch es kam nie eine Antwort. Da wir nicht länger warten konnten, haben ihn ohne Erlaubnis zur Erde gebracht, was wohl ein Fehler war, wie sich gezeigt hat.“
    „Und dieser König ist der Alien Hasi, von dem jetzt alle Welt spricht.“
    „Ja. Hasetépeté. Frei übersetzt: Sohn Gottes und Beschützer der Menschen.“
    „Ach nee! Und sie setzen dieses kostbare Persönchen so einfach auf einem unbekannten Planeten ohne Begleitpersonal aus? Mannomann! Ihre Chuzpe möcht ich haben!“
    „Für unsere Terra-Experten ist die Erde kein weißer Fleck im Universum“, verteidigte sich der Commander, „und ohne Begleitpersonal war er auch nicht.“
    „Okay! Lassen Sie mich raten! Dieser smarte Sohn Gottes und Beschützer der Menschen ist verschwunden, und ich soll ihn jetzt suchen.“
    „Seinen Kopf. Der Kopf ist verschwunden. Wo der Rumpf ist, wissen wir, doch der interessiert uns nicht.“
    „Hmm... verstehe ich nicht... Warum machen Sie um einen einzelnen Kopf solch einen Wirbel? Auf der Erde wurden Tausende Menschen geköpft, darunter auch Könige, und kein Hahn weint ihnen eine Träne nach. Manche Völker auf der Erde wären heilfroh, wenn der Kopf ihres Königs endlich vom Rumpf wäre!“ Winkelmann lachte dröhnend. „Bestimmen Sie einen neuen König, und die Sache ist geritzt.“
    „Wie meinen Sie?“
    „Äh... ich meine... Warum wählen Sie nicht einen neuen König? Nach dem Motto: Der König ist tot, es lebe der König!“
    Der Commander schüttelte bedächtig den Kopf. „So einfach ist das nicht. Es geht nicht um den König, auch nicht um seinen Kopf, sondern um das Gehirn, das in dem Kopf steckt. In diesem einzigartigen Organ sind sämtliche Programme gespeichert, die den Hasetépern das Überleben sichern. Außerdem enthält es den Schlüssel für viele Geheimnisse der Natur. Warum wohl bin ich in der Lage, dieses Raumschiff vollautomatisch und mit Überlichtgeschwindigkeit durch das All zu steuern, die Zeit anzuhalten oder sogar umzukehren, he? Weil wir dank kosmischen Wissens die Naturgesetze beherrschen –“
    „Ist es nicht ziemlich leichtsinnig, das gesamte Wissen einer Zivilisation in einem einzigen Gehirn zu speichern?“, unterbrach der Wolfsfreund. „Sie sehen doch, was dabei herauskommt.“
    „Hören Sie erst zuende! Natürlich gibt es Kopien, wo denken Sie hin! Sie befinden sich in den Köpfen ranghoher Würdenträger auf Hasetépe, jedoch mit einem Unterschied. Nur Hasetépetés Gehirn enthält den Code, mit dem der GROSSE REGENERATOR aktiviert werden kann. Mit dieser Maschine werden stark beschädigte oder unbrauchbare Volksgenossen ersetzt.“
    Winkelmann blickte den Commander ärgerlich an. „Mein Gott, was reden Sie da für einen Bockmist! Das klingt ja wie aus dem Wörterbuch des Unmenschen! Unbrauchbare Volksgenossen, ich glaub´s wohl! Sind Sie ein verkappter Neonazi?“
    „Ein was?“
    „Und von diesem Code gibt es keine Kopie, sagen Sie?“
    „Nein, nur das Original beim Gott HA. Doch der gibt es nicht frei.“
    Winkelmann grinste. „Verstehe. Damit will Ihr weiser Gott verhindern, dass sich die Hasetéper vermehren wie die Karnickel.“
    „So krass würde ich es nicht formulieren, und die Vermehrung ist auch eine andere, aber die Richtung stimmt. Die Anzahl der Hasetéper darf auf keinen Fall ansteigen, denn die Ressourcen auf Hasetépe sind noch begrenzter als die auf Terra. HA will nicht, dass wir schon Mitte des Jahres einen Welterschöpfungstag ausrufen müssen.“
    „Sie meinen wie auf der Erde.“
    Troysch schwieg vielsagend.
    „Übrigens, Commander, mir fällt gerade ein... Was hat Hasetépeté eigentlich am Kreidebergsee gesucht?“
    „Salzwasser! Sagte ich das nicht schon? Die Hasetéper ernähren sich von Salzwasser mit einer Prise Sternenstaub. Wissen Sie, die beste Technologie schützt nicht vor Irrtümern. Unsere Experten vom terrestrischen Erkundungsdienst hatten festgestellt, dass es in dieser Stadt eine Quelle reinsten Steinsalzes gibt, das in einer Saline gewonnen wird. Deshalb entschied sich der WEISE RAT für diesen Ort. Der KÖNIG und zwei Begleiter wurden also in einem Park in der Nähe der Saline abgesetzt. Dummerweise hatten die Experten übersehen, dass diese Quelle schon seit Jahren versiegt ist. Sie waren da wohl aus Versehen in eine andere Zeitschiene geraten.“
    „Traue eher einer Wölfin, der man die Jungen geraubt hat, als einem Experten“, meinte Winkelmann trocken.
    „Wie dem auch sei“, fuhr der Commander etwas irritiert fort, „der Routen-Adviser führte sie zu diesem See, und da mussten wir den nächsten Irrtum feststellen. Als wir das letzte mal auf der Erde waren, fanden wir ein grünes Paradies vor, das zum größten Teil von Meerwasser bedeckt ist, und wir nahmen an, dieser Teich enthalte ebenfalls Salzwasser. Doch schon nach dem ersten Schluck verfielen die Drei in eine Art Schockstarre, denn es handelt sich bei diesem Wasser um Kalkwasser, und Kalilauge ist für Hasetéper das schlimmste aller Gifte. Als ich die Katastrophe bemerkte, kehrte ich sofort um, doch es dauert einige Zeit, um ein Raumschiff mit dieser Masse und halber Lichtgeschwindigkeit zu wenden. Als wir ankamen, war Hasetépetés Kopf bereits verschwunden.“
    „Okay! Sie erwähnten eben drei Ihrer Leute. Man hat aber nur einen gefunden.“
    „Die beiden Anderen lagen noch im Schilf, wir haben sie geborgen.“
    Der Commander beugte sich vor, als spräche er wirklich zu seinem 'Gast'. „Herr Winkelmann, die Hasetéper wären Ihnen für die Wiederbeschaffung der Kopfes unendlich dankbar“, signalisierte er bedeutungsvoll und ohne die Lippen zu bewegen, „denn ohne den Code ist ihre Zivilisation dem Untergang geweiht.“ Er sah den jungen Mann aufmunternd an. „Möchten Sie wirklich nicht doch einen Keks probieren? Nein? Schade.“
    Der Commander erhob sich. „So, nun relaxen Sie noch ein Weilchen“, sagte er, „und dann geht´s zurück zur Erde.“
    Troysch winkte einen der Hasetéper, die sich im Hintergrund aufhielten, heran. „Unser Gast möchte sich ausruhen“, sagte er, „sorge dafür, dass er nicht gestört wird.“
    „Commander, eine Frage noch, wer sind Sie?“, rief Winkelmann, „Sie reden manchmal, als gehörten Sie nicht dazu! Sie sind doch kein Hasetéper!“
    Doch Troysch war schon verschwunden.

    *
    Obwohl sich der Wolfsfreund keineswegs müde fühlte, gelang es ihm nicht, aufzustehen. Er hätte gerne ein paar Schritte gemacht, denn sein rechtes Bein war eingeschlafen und fühlte sich an, als stecke es in einem Ameisenhaufen. Doch eine unsichtbare Kraft drückte ihn immer wieder in das Sitzmöbel zurück. Jetzt veränderte es sich unter leisem Summen und nahm die Form einer Liege an. Winkelmann gab genervt auf und streckte sich aus. Allmählich ließ das Kribbeln nach. Auf der Erde wäre diese kaum gepolsterte Unterlage bald zu einem Folterwerkzeug geworden, doch wegen der geringen Schwerkraft auf dem Mond lag er halbwegs bequem.
    Es war jetzt absolut ruhig, das einzige Geräusch, das Winkelmann vernahm, war das leise Pochen in seinen Schläfen.
    Der Hasetéper ließ ihn nicht aus den Augen und verfolgte argwöhnisch jede seiner Bewegungen.
    Winkelmann massierte seine Wade und betrachtete dabei seinen Bewacher. Die schmale Gestalt im üblichen Dress mit den goldenen Knöpfen machte einen exotischen, aber ziemlich trostlosen Eindruck. Auffällig war die fast durchsichtige Haut, die den Wolfsfreund an die gläsernen Larven bestimmter Meeres-Medusen erinnerte. Die großen, braunen Augen wirkten leblos, und bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass sie keine Iris besaßen. Der Kopf, kahl und faltenlos, besaß keine Ohren. Eine realistische Schaufensterpuppe, bei der man die Ohren vergessen hat,dachte Winkelmann amüsiert. Es war ihm unmöglich festzustellen, wie alt das Wesen war. Am Verwirrendsten aber empfand Winkelmann die völlige Unbeweglichkeit, mit der es dastand. Während bei einem Menschen, wenn er länger steht, ein gelegentliches Schwanken, ein leichtes Heben und Senken des Brustkorbs, zumindest aber der Lidschlag zu erkennen ist, so stand dieser Kerl da wie aus Stein gemeißelt. Dem Wolfsfreund lief es kalt den Rücken hinunter. Das ist kein Lebewesen, dachte er bestürzt, aber auch kein Toter. Es ist ein Untoter aus der unheimlichen Werkstatt des GROSSEN REGENERATORS...
    Zerstreut angelte er sich einen Keks und steckte ihn in den Mund. Kurz darauf öffnete sich eine Tür, zwei Hasetéper erschienen, stellten ein Tablett mit Getränken und verschiedenen Kekssorten auf den Tisch und verschwanden wieder. Eine Stimme in seinem Ohr sagte: Greifen Sie zu, es muss nichts übrig bleiben! Es war die Stimme des Commanders.
    Winkelmann blickte zu seinem Bewacher auf. Der stand immer noch unbeweglich wie ein Ölgötze und starrte ihn mit seinen toten Augen an.
    „Hallo!“, sagte Winkelmann freundlich lächelnd.
    Der Kerl reagierte nicht.
    „Wie geht es Ihnen?“, fragte Winkelmann laut und deutlich.
    Keine Reaktion.
    „Hey, Sie reden wohl auch nicht mit jedem?"
    Schweigen.
    „Woher habt ihr denn all diese leckeren Sachen her?“, fuhr der Wolfsfreund laut und deutlich fort.
    Eisernes Schweigen.
    Kerl, dachte Winkelmann, was bist du doch für ein sturer Döspaddel!
    Auf einmal kam Bewegung in den Ölgötzen, und Winkelmann vernahm: Bitte, was ist ein Döspaddel?
    Winkelmann überlegte kurz und telepathierte zurück: Jemand, der nicht antwortet, wenn er gefragt wird.
    Sie haben nichts gefragt, Sie haben nur den Mund bewegt, kam es auf averbalem Wege zurück.
    Entschuldigen Sie!, dachte Winkelmann sehr präzise, ich hatte einen Moment vergessen, wie man sich hier unterhält.
    Doch anscheinend war die Unterhaltung schon zuende, denn der Kerl versank wieder in dumpfes Schweigen.
    Winkelmann aß einen Keks und trank einen Schluck von der orangeroten Flüssigkeit, wobei ihn sein Bewacher nicht aus den Augen ließ.
    Winkelmann: Mann, was gucken Sie so! Haben Sie Hunger? Bedienen Sie sich! Die Kekse reichen für uns beide! Hab mittlerweile von Keksen sowieso die Nase voll!
    Der Hasetéper: Nein danke, diese Sachen verträgt X 3 Strich H nicht.
    Winkelmann: Haben Sie auch einen richtigen Namen?
    Der Hasetéper: Mein Name ist X 3 Strich H.
    Winkelmann: Aha! Und was heißt das?
    Der Hasetéper: X 3 Strich H ist der dritte Kammerdiener auf Hasepfeil drei.
    Winkelmann: Sagen Sie mir, X 3 Strich H, gefällt Ihnen Ihr Job?
    Der Hasetéper: X 3 Strich H soll aufpassen, dass Herr Winkelmann nicht gestört wird.
    Schweigen.
    Winkelmann nach einer Weile: Hast du auch einen Freund?
    Keine Reaktion.
    Winkelmann gab sich Mühe, seine Gedanken deutlich auszusenden: Ich meine, gibt es hier jemanden, mit dem du dich besonders gut verstehst?
    Der Hasetéper: X 3 Strich H soll aufpassen, dass Herr Winkelmann nicht gestört wird.
    Winkelmann: Aber hier ist doch niemand! Wer sollte mich denn stören?
    Der Hasetéper: X 3 Strich H soll aufpassen, dass Herr Winkelmann nicht gestört wird.
    Winkelmann dachte: Herrgottnochmal! Der ist mehr als ein Döspaddel, der ist eine hirnlose Dumpfbacke.
    Der Hasetéper: Bitte, was ist eine hirnlose Dumpfbacke?
    Winkelmann biss sich auf die Lippen und versuchte angestrengt, an nichts zu denken. Laut sagte er: „Das hier ist ja noch schlimmer als auf dem Amt. Da kann man wenigstens noch denken, was man will, ohne dass es gleich jeder mitbekommt. Von wegen, die Gedanken sind frei!“
    X 3 Strich H stand wieder reglos da und starrte auf die Liege.
    Winkelmann zwickte jetzt der Schalk. „Dumpfbacke!“, rief er laut. Keine Reaktion.
    „Arschloch!“ Der Hasetéper rührte sich nicht.
    „Du bist so sexy wie ein Schweißfuß.“
    Keine Reaktion.
    „Fick dich!“
    „LASSEN SIE DAS!“
    Winkelmann schaute hoch und blickte in das Gesicht des Commanders. „Er hört Sie nicht, und wenn er Sie hörte, würde er Sie nicht verstehen“, sagte der. Der Hasetéper verbeugte sich und trabte ab, die Liege wurde wieder zum Sessel.

    Forts. folgt

    Einmal editiert, zuletzt von McFee (18. Januar 2020 um 12:18)


  • „Nichts für ungut“, erwiderte Winkelmann, „aber der Stumpfsinn dieses Kerls reizte mich einfach. Sind die alle so?“
    „Es ist kein Stumpfsinn.“ Der Commander setzte sich. „Es ist eine gesellschaftlich akzeptierte Einschränkung der Intelligenz. Die Kapazität seines Gehirns ist nur zu einem Bruchteil ausgenutzt. Er ist perfekt in seinem Beruf, es ist das, was ihn mit Stolz erfüllt, alles andere liegt außerhalb seiner Wahrnehmung. Warum sollte er über Dinge nachdenken, die ihn nichts angehen? Dergleichen unnütze Grübeleien machen auf die Dauer doch nur unzufrieden. Die Hasetéper sind ein glückliches Volk.“
    „Nach solchen Sklaven würden sich die Tyrannen der Erde die Finger lecken!“
    „Es sind keine Sklaven, denn sie wissen nicht, was Freiheit ist. Es sind Räder eines perfekten Uhrwerks.“
    Winkelmann lachte herausfordernd. „Na na, Commander, sind Sie da nicht vielleicht ein bisschen zu blauäugig? Eine Gesellschaft ohne Widerspruch und ohne den Blick über den Tellerrand finde ich ziemlich langweilig.“
    „Langweilig? Für wen? Nicht für die Hasetéper!“ Der Commander schüttelte so heftig den Kopf, dass der Wolfsfreund schon befürchtete, er könne herunterfallen. „Wer nichts zu tun hat, schaltet einfach ab und denkt nicht an morgen. Mein lieber junger Freund, Sie übersehen die Vorteile dieser Gesellschaftsordnung. Noch nie haben die Hasetéper unter sich Krieg geführt, noch nie haben sie andere Planeten überfallen und geplündert, noch nie haben sie fremde Völker unterjocht und ausgebeutet! Noch nie –“
    „Schon gut, Commander, ich glaub´s ja. Sagen Sie mir lieber, was diese Zwangspause eben sollte. Ich kann mir nur sehr schwer vorstellen, dass es Ihnen dabei wirklich um meine Ruhe ging. Und dann dieser Aufpasser. Wozu? Erzählen sie mir nicht, um mich vor zudringlichen Hasetépern zu schützen. Die tun doch nicht den kleinsten Schritt ohne Ihre Erlaubnis!“
    Der Commander lächelte flüchtig. „Doch, gerade das will ich Ihnen erzählen, junger Mann“, sagte er, „Ihre Ruhe lag mir seht wohl am Herzen! Wissen Sie, das Salz, das die menschliche Haut ausscheidet, ist für viele Hasetéper eine Art Droge, der sie nicht widerstehen können. Schon deshalb sind sie für den Einsatz auf der Erde nicht geeignet, denn es ist vorgekommen, dass sich ein halbes Dutzend von ihnen auf einen ahnungslosen Passanten gestürzt und versucht hat, ihm Gesicht und Hände zu lecken. Damit dieses nicht mit Ihnen passiert, habe ich X 3 Strich H an Ihre Liege gestellt.“
    Der Commander stand auf. „So, genug geredet. Ich lasse Sie jetzt auf die Erde zurückbringen.“
    Winkelmann erhob sich ebenfalls. „Eine Frage noch. Wieso kommen Sie gerade auf mich? Warum schicken Sie nicht Ihre eigenen Leute los?“
    Troysch warf die Arme hoch. „Beim Gott HA!“, rief er, „die waren ja bereits unterwegs! Eine ganze Hundertschaft! Aber die Erde steckt voller Gefahren, gegen die wir machtlos sind, wie das Ende von Hasetépeté gezeigt hat, und die wir trotz unserer technologischen Möglichkeiten nicht richtig eingeschätzt haben. Technik schützt eben vor Irrtum nicht! Hinzu kommt noch dies: Die Kanetéper verfolgten meine Leute auf Schritt und Tritt und schnitten ihnen den Kopf ab!“ Der Commander warf sich in die Brust. „Aber wir sind auch nicht dumm! Wir haben einigen unserer Leute Gehirne gefangener Kanetéper eingebaut, und jetzt schneiden die denen auch die Köpfe ab. Wie heißt es doch so treffend? Wie hieß es nicht schon im alten Rom? Vis pacem, para bellum - willst du den Frieden, bereite den Krieg vor.“
    Troysch seufzte herzerweichend. „Unausdenkbar, wenn sie das GEHIRN vor uns fänden! Um nun auf Ihre erste Frage zu antworten. Ich habe meine Leute bis auf ein paar Spezialkräfte wieder zurückgezogen, denn ich denke, ein Erdbewohner ist für die Suche besser geeignet. Sie sind völlig unverdächtig und kennen sich aus, und an Erdbewohner wagen sich die Burschen nicht heran. Und, Herr Winkelmann, Sie lieben Wölfe.“
    „Na schön, aber was haben denn die Wölfe mit dem Fall zu tun?“
    Statt zu antworten fragte der Commander: „Sie wissen doch sicherlich, was ein Fenriswolf ist.“
    „Ja.“
    „Haben Sie solch einem alten Wolf schon einmal tief in die Augen geschaut?“
    „Auch ja.“
    „Und was haben Sie gesehen?“
    „Ich sah uraltes, vorgeburtliches Wissen.“
    „Und Sie wissen auch, dass ein Fenriswolf die Sprache der alten Götter versteht?“
    „Natürlich! Herr, was soll das Verhör?“
    Der Commander klatschte begeistert in die Hände. „Ich wusste es! Sie sind unser Mann! Reden Sie mit solch einem Wolf, sagen Sie ihm, worum es geht, bitten Sie ihn um Hilfe! Ich bin sicher, er wird Sie verstehen. Er wird Ihnen helfen, denn Sie haben auch seinen Verwandten geholfen. Worin diese Hilfe bestehen wird, kann ich allerdings nicht sagen.“
    „Nun mal langsam! Noch habe ich nicht zugesagt. Wenn ich mich nun weigere, den Auftrag anzunehmen?“
    Der Commander sah Winkelmann mit seinen feurigen Augen an. „Das können Sie nicht, lieber Herr Winkelmann, unter gar keinen Umständen können sie das! Wir haben doch ihr Gehirn verändert. Erinnern Sie sich nicht mehr? Sowie Sie wieder auf der Erde sind, werden Sie von dem verzehrenden Wunsch beseelt sein, Hasetépetés Gehirn zu finden – mit oder ohne Kopf. Sie werden Tag und Nacht keine Ruhe haben, wie ein Getriebener werden Sie alles Ihnen Mögliche versuchen. Der kleinste Hinweis wird Ihre Kräfte vervielfachen. Erst wenn der Auftrag erfüllt ist und das GEHIRN wieder auf Hesetépe, werden Sie erlöst werden und wieder Ruhe finden.“
    Der Commander gab seinem Gast die Hand. Sie war trocken, warm und zerfurcht. Winkelmann spürte deutlich: Es war die Hand eines Menschen.


    3
    Der Amtsleiter blickte erstaunt auf und schob seine Brille zurecht. „Hinnak, wo zum Teufel hast du denn gesteckt?“ entfuhr es ihm. Er sah seinen Kollegen aufmerksam an. „Was ist denn los? Dein Auto stand da, aber du warst weit und breit nicht zu finden. Wir haben uns schon Sorgen gemacht!“
    „Wie lange war ich denn weg?“
    „Was fragst du? Warte!“ Der Amtsleiter griff zum Telefon, wählte. „Susi, Hinnak ist wieder da! Entwarnung!“ Er legte auf. „Wie lange du weg warst? Na, seit gestern morgen um zehn! Jetzt ist es gleich halb fünf. Wir dachten schon, einer dieser verrückten Wolfsjäger hätte dich aus Versehen über den Haufen geschossen. Bei Verspätungen immer anrufen, gell? Also, wo hast du dich herumgetrieben?“
    „Das kann ich so schnell nicht erklären.“
    „So, kannst du nicht? Hmm...“
    „Ich kündige!“
    Die beiden Worte knallten in die Amtsstube wie Pistolenschüsse. Auf Hinnaks Gesicht lag ein ungewohnter Ausdruck von Feierlichkeit.
    Der Amtsleiter zuckte erstaunt zusammen. „Sag das nochmal!“
    „Ich kündige.“
    „Du kündigst? Wie soll ich das verstehen?“
    „Überhaupt nicht. Nimm es einfach zur Kenntnis.“
    Wunderlich tippte auf seinem Desktop herum. „Das wird so einfach nicht gehen. Dein Vertrag läuft erst Ende September aus.“
    „Scheiß doch auf den Vertrag! Auf jeden Fall komme ich nicht mehr. Ich hab es mir anders überlegt.“
    Sören kam herein, einen Schwall Frischluft vor sich herschiebend. „Ach nee!“, rief er, „da ist er ja, der Ausreißer! Wo warst du denn? Wir haben uns schon Sorgen gemacht.“
    „Er will kündigen“, knurrte Wunderlich.
    „Wie bitte?“ Sören sah Hinnak ungläubig an. „Gefällt es dir bei uns nicht mehr? Und die Wölfe? An die denkst du wohl gar nicht.“
    „Doch schon! Aber –“
    Die Tür sprang auf, und Susi stürzte herein. „Da ist er ja, der verlorene Sohn!“, rief sie erfreut, „wo warst du denn, wir haben uns schon Sorgen gemacht!“ Sie ging auf Hinnak zu und nahm ihn in den Arm. „Komm, lass dich knuddeln.“
    „Dein verlorener Sohn will kündigen“, sagte Sören.
    „Wie bitte? Du willst kündigen?“, staunte Susi. „Da bin ich aber platt!“
    Hinnak wich einem Kuss aus. „Herrgottnochmal! Könnt ihr mich nicht endlich in Ruhe lassen! Ich wollte nur Bescheid geben, dass ich nicht mehr komme!“
    Und hinaus war er.
    In die bestürzte Stille hinein sagte Wunderlich mit seiner hohen Stimme: „Wundert mich nicht. Ich kenne ihn von früher her, wir haben zwei Jahre in derselben Schulbank gesessen, bis ich dann... ähh...“ Er wollte sagen: Sitzen blieb, doch er fand, dass dieses Geständnis jetzt unpassend war. Stattdessen fuhr er fort: „Hinnak war damals schon ein rechter Hallodri.“

    ***

    Hinnak Winkelmann, der Wolfsfreund.

    Das Abitur bestand er mit Ach und Krach, möglicherweise nur, weil die Schule diesen Schüler, dessen Mutter die Fachlehrer mit ihrem endlosen Gejammer nervte, endlich los werden wollte.
    „Hinnak, dir fehlt es an Ehrgeiz!“, schimpfte der Vater ein übers andere Mal, „nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder!“
    Wirklich. Hinnak war kein Sohn, auf den ein ehrgeiziger Vater stolz sein konnte. Dabei war der Sohn nicht dumm, und auch nicht wirklich faul. In Sport war er sogar eine der Besten, und beim Fußball schoss er ein Tor nach dem anderen. Als Schüler für die Betreuung des Schulbiotops gesucht wurden, war er der Erste, der sich meldete. Ja, das Praktische lag ihm. Er war einfach nur auf der falschen Schulform gelandet...
    Na ja, der Bruder! Der stand morgens um halb sieben auf und legte sich abends um zehn todmüde ins Bett. In der Zwischenzeit studierte er. Mit zwanzig stellten sich die ersten grauen Haare ein.
    Der Bruder, das ewige Vorbild! Während René, so heißt dieser Halbgott, auf sein Abi büffelte wie ein Irrer, schwang sich Hinnak aufs Fahrrad, machte ausgedehnte Touren durch die Gegend und lachte die Sonne an.
    Um die Schule kümmerte er sich kaum, warum auch? Ihm reichte es, wenn er nicht sitzen blieb. Und ein Paptus hätte ihn übrigens auch nicht weiter gestört. In der Schule war es im Winter warm, das Essen genießbar, und die Lehrer – na ja, bis auf wenige Ausnahmen wohlwollend-freundlich. Also, Hand aufs Herz, warum unnötig früh ins so genannte Leben eintreten? Aber er blieb nicht sitzen, allen Unkenrufen der Lehrer zum Trotz... Er schaffte es immer wieder, im letzten Moment über die Runden zu kommen. Es war allen ein Rätsel. Er nannte das: Arbeitsökonomie.
    Im Physikunterricht hatte er den Satz: 'Elektrische Leistung ist elektrische Arbeit geteilt durch Zeit' aufgeschnappt und freudig verinnerlicht. Demnach ist eine Leistung um so höher zu bewerten, je weniger Zeit ich für sie benötige, überlegte er... In dieser seltsamen Philosophie richtete er sich behaglich ein. Es störte ihn auch nicht, wenn ihn die Lehrer einen Saisonarbeiter schimpften und einer ihn sogar den mit Abstand faulsten Schüler der Anstalt und einen Bruder Leichtfuß. Er verzieh ihm den 'Bruder Leichtfuß' und ließ alles beim alten. Er sah die verpickelten und schlecht gelüfteten Klassenkameraden und -innen der letzten Bank vor sich und dachte: Was soll´s! Die Dummen schuften, der Schlauen genießen. Schließlich ist der Mensch kein Arbeitspferd!
    Das Leben gab ihm sogar anscheinend Recht.
    Als er den Bruder vor zwei Jahren auf der Beerdigung des Vaters wiedersah, erkannte er ihn kaum wieder. Renés Mumifizierung war erschreckend weit fortgeschritten. Weiße, dünne Haare, krumme Beine, gebeugter Rücken, das bleiche Gesicht von tiefen Falten zerfurcht; besonders im Mundbereich zeigten sich erschreckende Gräben – mit fünfundvierzig!
    Und mager war er geworden, erschreckend mager...
    Nun ja. Auch Hinnak versuchte, fleißig zu sein, zumindest manchmal. Aber es gelang ihm einfach nicht auf die Dauer. Er konnte einfach nicht lange genug stillsitzen. Nach einiger Zeit fing es an, hier zu jucken, da zu zwicken, dort zu kratzen, und bald machte er Bewegungen wie ein verlauster Affe. Dann musste er hinaus in Wind und Wetter und sich auf dem Fahrrad frei strampeln.
    Du lieber Gott, was waren das manchmal auch für Touren! Bis ins Südliche Bergland, und am liebsten über Stock und Stein! Abends kam er dann nassgeschwitzt und hungrig wie ein Wolf nach Hause und war mit sich und der Welt zufrieden. Und es hatte aufgehört, zu jucken.
    Auf einer dieser Touren hatte er das entscheidende Erlebnis. Es war einige Wochen nach dem bestandenen Abitur, bei einer Radtour durch den Sachsenwald.
    Der Wolf stand zwischen den Baumstämmen und sah ihm entgegen. Der Waldweg verlief am Rande der Lichtung, und Hinnak gewahrte das Tier erst, als er auf gleicher Höhe mit ihm war. Er hielt an und stieg vom Fahrrad. Beide blickten sich an, und weder Mensch noch Wolf verspürten Angst voreinander. Es war ein großes Tier, das Fell struppig, zum Teil lag die Haut bloß, von einem Lauscher war nur noch ein Rest übrig: Ein alter, kampferprobter Einzelgänger. Sofort erkannte der junge Mann die Wesensverwandtschaft, denn auch er war ein Einzelgänger, dem die Tiere und Pflanzen mehr verrieten als die Menschen.
    Der Wolf gähnte und präsentierte sein fürchterliches Gebiss, gleichzeitig stellte er die Rute auf und wedelte. Hinnak war sich sofort im Klaren, was diese Gestik bedeutete: Der Wolf signalisierte, dass er diesen Menschen mochte und bereit war, ihn zu verteidigen. Hinnak sah in seine müden gelben Augen und erschauerte. Ein Strahl aus einer unbekannten Wirklichkeit traf ihn und öffnete seine Sinne kurzzeitig für das, was hinter der sichtbaren Welt lag. Es sah die Dinge, wie er sie noch nie gesehen und hörte Laute, wie er sie noch nie gehört hatte. Auf einmal erzählte ihm das Rauschen der Blätter von den verborgenen Geheimnissen des Waldes, das Gemurmel des Baches kam ihm wie das Raunen von Erdgeistern vor, der Ruf des Hähers wie der Donner eines zürnenden Gottes, und der Blick in den hohen blauen Himmel gab ihm eine Ahnung von der Unendlichkeit des Universums.
    Der Wolf machte kehrt und trabte davon. Die Erzählungen der Blätter verstummten, der Bach plätscherte geschwätzig-nichtssagend dahin, und der Häher beschimpfte zeternd einen Nesträuber.
    Noch mehrmals suchte Hinnak diese Stelle im Wald auf, doch der Wolf zeigte sich nicht mehr. Allmählich verblasste die Erinnerung, und schließlich war ihm, als habe er die Begegnung nur geträumt. Doch eines war geblieben: Der Wunsch, ein Freund der Wölfe zu werden, wenn er schon kein Freund der Frauen werden konnte...
    Ja, dieses Problem saß wie ein Stachel in seinem Fleisch. Dass er keinen Freund fand, störte ihn nicht sonderlich. Aber auch nach einer Freundin hielt er vergeblich Ausschau, dabei stand seiner Veranlagung nach nichts dagegen.
    Liebeshungrige Studentinnen gab es genug, es musste nur der Richtige sein, dem sie sich hingaben. Aber aus irgend einem Grund war er nie der Richtige. Immer wieder zerschlugen sich die Bekanntschaften. Mal war sie ihm zu albern, mal war er ihr zu ernst, oder zu dick, zu dünn, zu prüde, zu direkt – oder oder oder... Wie gerne hätte er solch ein lebenslustiges Mädel zur Freundin gehabt. Einmal schien sich eine tragfähige Beziehung anzubahnen, und schon schmiedete er Zukunftspläne. Er fantasierte von Kindern, Familie, einer gemeinsamen Wohnung mit einen zwei Meter langen Esstisch aus schwerer Eiche mit acht Stühlen. Die junge Frau, ganz in Schwarz – sie liebte schwarze Kleidung, schwarze Fingernägel, schwarze Wimpern, 'schwarze' Bücher – wurde still. Am Grunde ihrer Augen blitzte es böse. Mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht mit einem zwei Meter langen Esstisch mit acht Stühlen. Er hielt ihre plötzliche Wortkargheit für Nachdenklichkeit. Sie trennten sich im Streit. Am nächsten Tag schickte ihm die Angebetete eine bitterböse Mail und kündigte ihm die Freundschaft. Er lag tagelang wie gelähmt im Bett und betrank sich. An den Besuch von Vorlesungen war nicht zu denken. Allmählich kam er zu der Überzeugung: Ich bin ein Ausgestoßener, ein Überflüssiger, denn keiner liebt mich.
    Er ballte die Fäuste und rief: „Dann eben nicht! Dann werd ich eben Wolfsfreund!“

  • Der Kampf der Gehirne

    1
    Ihre Lippen sind zwei schmale Striche, die Augen flackern nervös. Von nebenan hört sie den krachenden Raucherhusten ihrer Mutter. Krrch – krrch – krrch, und wieder krrch – krrch – krrch. Endlich ist Ruhe, dafür furzt der Dackel unterm Bett. Sie hört es nicht, aber sie riecht es. Es stinkt. Sie würde gerne aufstehen und das Fenster öffnen. Doch sie schafft es nicht. Sie ist einfach zu träge. Erstunken ist besser als erfroren, denkt sie. Schon wieder das infernalische Husten von nebenan. Krrch – krrch – krrch. Es ist so laut, als sei die Wand aus Pappe. Hört sich an, denkt sie angewidert, als wolle Erika ihre Innereien auskotzen. Wenn sie´s mal täte! Dann wäre endlich Ruhe. Und dann dieses stinkende Vieh! Lange halt ich das hier nicht mehr aus.
    Der Dackel knurrt und schlägt an. Anscheinend hat er schon wieder gefurzt, denn der Gestank hängt in dem stickigen Zimmer wie Nebelschwaden in einer Waschküche. Demnächst gibt´s nur noch Trockenfutter, grummelt sie genervt, während sie sich aus dem Bett schält.
    Mit unbeholfenen Schritten schleppt sie ihren schweren Körper zum Fenster und stellt es auf Kippe. Draußen schneit es, die Schneeflocken rieseln ohne Eile herab und bepudern den Hof. Ihr Blick fällt auf die Reihe der Müllbehälter, die aufgereiht vor der Wand des Nachbarhauses stehen. Im fahlen Licht der Straßenlaterne erkennt sie kleine Gestalten, die irgendetwas in die Mülltonnen stopfen. Sie beugt sich vor, um besser sehen zu können. Dabei stößt sie mit der Stirn gegen die Scheibe und flucht. Kinder, denkt sie, was zum Teufel haben denn Kinder um diese Zeit an fremden Mülltonnen zu suchen?
    Diese Gestalten sehen eigenartig aus. Da es jetzt stärker schneit, nimmt sie nur noch Umrisse wahr, aber alle sehen irgendwie aus der Form geraten aus, manche sind kaum größer als breit, so kommt es ihr vor – wie Gartenzwerge, denkt sie, wie Gartenzwerge ohne Zipfelmütze . Und jetzt – sie hält den Atem an – was stopfen die da in den Abfallbehälter? Eine Schaufensterpuppe? Sie klopft gegen die Scheibe und ruft: „Hey! Was soll das? Das sind nicht eure Abfalltonnen!“ Doch die Kleinen lassen sich nicht stören und machen unbeirrt weiter. Wieder erscheint eine Schaufensterpuppe und verschwindet in einer Tonne. Doch anscheinend war es die letzte, die Gartenzwerge bilden eine Reihe und marschieren vom Hof.
    Sie schließt das Fenster, legt sich wieder hin, zieht eine Schublade ihres Nachtschränkchens auf und angelt sich eine Geleebanane. Nebenan kracht wieder der Husten, doch jetzt nicht mehr so aggressiv wie noch vor zehn Minuten. Sie weiß: Die Mutter schläft. Aber auch im Schlaf hustet sie noch. Es ist zum Verzweifeln... Die junge Frau beißt eine halbe Geleebanane ab und lässt sie genüsslich auf der Zunge zergehen. Das beruhigt sie etwas. Dann schiebt sie die andere Hälfte nach und macht das Licht aus.
    Eine Weile liegt sie so da und versucht, an nichts zu denken. Draußen hat es aufgehört zu schneien, und der Mond scheint durch die Gardine. Der Fettfleck, den ihre Stirn vorhin auf der Fensterscheibe hinterlassen hat, glänzt matt.
    Irgendetwas ist da noch, aber sie kommt nicht drauf. Sie seufzt wohlig und dreht sich auf die andere Seite. Doch, jetzt weiß sie, was da noch ist. Wenn es keine Schaufensterpuppen waren, was war es dann? Etwa Kinderleichen? Dieser Gedanke beunruhigt sie, obwohl sie ihn für ziemlich unwahrscheinlich hält. Trotzdem. Wurde nicht unlängst in der Nachbarschaft ein totes Baby in einer Mülltonne gefunden?
    Eine Weile ist sie unschlüssig, ob sie aufstehen und nachsehen oder die Polizei anrufen soll. Oder doch eher die Ambulanz? Sie beschließt: Das hat Zeit bis morgen früh. Tot ist tot und bleibt tot, auch wenn die Ambulanz kommt. Und außerdem, bei diesem Wetter jagt man doch keinen Hund vor die Tür!
    Sie nimmt eine Geleebanane aus der knisternden Packung und steckt sie in den Mund. Der Dackel unterm Bett schnarcht. Jetzt stöhnt er. Anscheinend träumt er schwer. Aber er furzt wenigstens nicht mehr. Wenige Minuten später schnarcht auch sie.


    2
    Es war die Zeit des Sonnenunterganges; die Sonne war herabgeglitten und stand über den Wipfeln des verdämmernden Waldes, ihre letzten Strahlenbündel ließen die Kiefernstämme erglühen wie in freudiger Erwartung einer nahenden Geliebten.
    Der Mann kam direkt auf ihn zu, und der Wolf nahm sofort Witterung auf. Der Geruch kam ihm bekannt vor. Es war der Geruch dieses menschlichen Rüden, der immer wieder in seinem Revier auftauchte und etwas mit diesen kleinen grauen Kästen anstellte. Der Geruch war angenehm und nicht so penetrant und aggressiv wie der dieser Menschen mit den Knallrohren. Jetzt erinnerte er sich, dass er diesen Menschen schon früher einmal gesehen hatte, und er erinnerte sich auch, dass er versprochen hatte, ihm zu helfen. Er hatte das Versprechen gegeben, weil er in dessen traurigen Augen die gleiche abgrundtiefe Einsamkeit entdeckt hatte, die auch sein Schicksal war.
    Jetzt blieb der Mensch stehen, hob einen länglichen Gegenstand hoch und legte ihn ins Gras. Noch eine Weile blieb er stehen, dann drehte er sich um und ging davon.
    Der Wolf wartete, bis der Mond hinter einer Wolkenbank verschwinden war, denn er hatte keine Eile.
    Es war jetzt fast dunkel. Der Wolf kam aus seinem Versteck hervor und blieb witternd und lauschend stehen. Bis auf das leise Rauschen des Windes in den Baumkronen war es ruhig, aber er wusste: Der Mensch war immer noch in der Nähe.
    Irgendwo knackte ein Zweig, ein Schwarzwildzug beim Ortswechsel. Er ging mit aufgestellten Lauschern auf die Stelle zu, wo der Mensch gestanden hatte. Im Gras lag ein schmaler Gegenstand mit langen, dünnen Fortsätzen. Er hatte diese Fortsätze schon oft gesehen, aber er hatte sie nie begriffen. Mit ihnen konnten die Menschen Dinge hervorzaubern, die vorher noch nicht da gewesen waren. Er hatte beobachtet, wie der Mensch, der jetzt im Hintergrund wartete, mit diesen Fortsätzen etwas aus dem kleinen grauen Kasten herausnahm. Er war dann hingegangen und hatte den Kasten von allen Seiten beäugt, aber er hatte nichts zum Herausnehmen gefunden. Schließlich hatte er es aufgegeben, das Geheimnis zu ergründen.
    Er schnupperte. Der Gegenstand roch nicht nach Mensch, obwohl er wie ein Teil eines Menschen aussah. Dafür vernahm er ganz deutlich einen anderen Geruch. Es war der Geruch von Sternenstaub. Und jetzt erinnerte er sich an etwas, das vor langer Zeit geschehen war. Ein solches Gebilde hatte er schon einmal im Maul gehabt. Er hatte kräftig zugebissen, und dann war da eine große, taumelnde Freude gewesen, und er war fürstlich belohnt worden. Doch er war sich nicht sicher, ob es in diesem Leben geschehen war oder in einem anderen, denn die Erinnerung gleicht einem schwankendes Schiff auf wild-bewegter See.
    Der Wolf hob den Kopf. Da war wieder der Geruch dieses Menschen, dieser sanfte, geheimnisvolle, dumpfweiche Geruch, der wie der Nachhall ungelöster Rätsel herüberwehte. Wegen der Dunkelheit konnte er ihn nicht sehen, aber er spürte deutlich, dass er in seine Richtung blickte und wartete. Auf einmal wusste er, was der Mensch von ihm wollte und worauf er wartete. Er, der Wolf, sollte etwas finden, nach dem der Mensch dort suchte, und dieses Etwas roch nach Sternenstaub. Und er sollte ihm ein Zeichen geben, dass er verstanden hatte.
    Der Wolf, alt, wild, von tausend Nachtgängen gewitzt, streckte den Kopf weiter in die Höhe und stieß ein langes sieghaftes Geheul aus. Dann setzte er sich in Bewegung.
    Über den Bäumen sang die Nacht ihr dunkles Lied; die Sterne funkelten, über die ungeheure, ewige Himmelskuppel mit ihrer unsterblichen Schönheit hingestreut wie Diamanten.

    3
    Kriminalobermeister Stinkan klappte den Deckel mit angewiderter Miene wieder zu. Er war ein bulliger Typ mit Vollglatze und Bauch. Wie üblich steckte eine kalte Zigarette in seinem Mundwinkel. Da er sich schon seit Jahren das Rauchen abgewöhnen wollte und nicht konnte, überbrückte er die Zeit bis zum nächsten Rückfall mit kauen.
    „Sind sie alle ohne Kopf?“, fragte der Kommissar.
    „Ja.“
    „Wie viele sind es?“
    „Wenn ich richtig gezählt habe drei.“
    „Hmm...“ Kommissar Gnadenbrodt zog die Luft scharf durch seine schmale Nase ein. „Wonach riecht das?“, fragte er.
    Stinkan zuckte mit den Schultern. „Meine Frau zaubert manchmal die abartigsten Gerüche in die Küche. Aber dieser war noch nie dabei. Ich würde sagen, es riecht wie Reeperbahn morgens um halb vier. Nach saurer Kotze.“
    Der Kommissar grinste. „Na schön. Ist nicht unser Fall. Für Schaufensterpuppen sind wir nicht zuständig. Also wieder mal Fehlalarm.“
    „Es sind keine Schaufensterpuppen“, sagte der Mann vom städtischen Reinigungsdienst, ein strammer Typ im blauen Overall. „Sie sind nicht hohl.“
    „Dann sind es eben gefüllte Schaufensterpuppen“, versetzte der Kommissar ungnädig. „Kinderleichen sind es auch nicht. Oder haben Sie irgendwo Blut gesehen?“ Er hatte es satt, sich ständig mit Lappalien abgeben zu müssen, während die Mörder und Totschläger ihm eine lange Nase machten.
    „Herr Gnadenbrodt, schauen Sie sich das mal an!“, rief der Obermeister. Er hatte den Deckel eines Abfallbehälters zurück geklappt und stocherte mit einem Aststück darin herum.
    „Muss das sein?“
    „Ich denke ja. Ist mir vorhin schon aufgefallen.“
    Der Kommissar warf einen Blick hinein und sagte: „Herr Stinkan, holen Sie bitte mal die Werkzeugkiste aus dem Wagen.“
    Als Stinkan zurück war, entnahm er der Kiste eine Rohrzange und zog damit einen dünnen Schlauch, an dem unten eine tropfende Blase hing, aus dem Hals der vermeintlichen Puppe. Der Kommissar betrachtete das Gebilde aufmerksam und legte es wieder zurück. Dann zerteilte er mit der Zange die Masse, die den Hals ausfüllte. Zu Vorschein kamen weitere Schläuche unterschiedlicher Weite. Er stutzte. „Pinzette und zwei Asservatenbeutel, bitte“, sagte er. Vorsichtig zog er ein eigenartig geformtes Teil hervor und versenkte es in dem Beutel. „Tun Sie den Schlauch in den anderen“, murmelte er und wandte sich dem Müllmann zu. Sagen Sie, Herr –“
    „Abendschweiß.“
    „Herr Abendschweiß, können sie dieses... ah... Material so lagern, dass es nicht aus Versehen in die Müllverbrennung landet?“
    „Ja sicher doch. Auf dem Bauhof.“
    „Gut. Decken sie es mit einer Plane ab. Sie hören wieder von uns.“
    Eine dicke Frau in einem Bademantel und zerzausten Haaren kam auf die Gruppe zu. „Sind es tote Kinder?“, rief sie schon von weitem.
    Gnadenbrodt wartete, bis die Frau vor ihm stand. Sie keuchte. „Wer sind Sie?“, fragte er. Die Frau nannte ihren Namen. „Und wer sind Sie?“
    Der Kommissar nannte Namen und Dienstgrad. „Sie Wohnen hier?“, fragte er dann.
    „Ja, mit meiner Mutter und dem Dackel, diesem Stinktier. Da drüben im zweiten Stock.“
    „Haben Sie bei der Polizei angerufen?“ Die Frau nickte.
    „Wie kommen Sie darauf, dass es tote Kinder sind?“
    „Na, weil die Gartenzwerge etwas mit Armen und Beinen hineinstopften und weil man doch dieses tote Kind – “
    „Gartenzwerge?“
    „Ja, die Leute sahen so aus.“
    „Wann war denn das?“
    „Na so gegen halb elf.“
    „Und da rufen Sie erst heute Morgen an?“
    „Hmm... nun ja... ich dachte, das ist doch Unsinn... Doch heute morgen beim Aufwachen erinnerte ich mich an dieses tote Baby in der –“
    „Schon gut. Sie zittern ja! Gehen Sie zurück, sonst erkälten Sie sich noch.“
    „Sind es nun Kinderleichen?“
    „Nein.“
    „Gartenzwerge“, sagte der Kommissar, als die Frau in der Haustür verschwunden war, „die Leute kommen auf Ideen! Wir fahren zur Gerichtsmedizin!“
    Die beiden Beamten gingen zum Auto. Ein Windchen wehte fauligen Geruch in Stinkans Nase und traf eine wunde Stelle auf seiner Seele. Ihm wurde wieder einmal bewusst, dass sein Name eigentlich Stink-Hahn bedeutet, weswegen man ihn in der Schule bis aufs Blut gehänselt hatte. Er spuckte die Zigarette aus und schickte einen kräftigen Fluch hinterher.

    *
    „Kannst du hiermit etwas anfangen?“, fragte Gnadenbrodt und hielt Dr. Terulda den Beutel mit dem Schlauch hin.
    Der Gerichtsmediziner nahm den Beutel und betrachtete ihn mit ausgestrecktem Arm. „Anfangen nichts, aber das Ding ist mir nicht unbekannt“, sagte er. „Kommt mal mit!“
    Dr. Terulda war ein kleiner krummbeiniger Mann mit einem runzeligen Affengesicht, Folge einer falsch behandelten Nasenquetschung. Er führte die beiden Beamten in den Kühlraum und zog ein Fach auf. „Da haben wir einen Doppelgänger.“
    „Sind das die Einzelteile dieses angeblich außerirdischen Knaben?“, fragte der Obermeister. Der Doktor nickte. „Alles fein säuberlich präpariert und nummeriert. Ich ahnte, dass er nicht der Einzige bleiben würde.“ Er zog ein weiteres Fach auf. „Und der kam heute Morgen herein.“
    „Ein großer Gartenzwerg!“, rief der Obermeister überrascht, „ohne Kopf!“
    „Die gleiche Bauart“, sagte Terulda, „nur hatte der kein Salzwasser sondern Zuckerwasser intus. Anscheinend gibt es auf seinem Planeten Sauerstoff.“
    „Kann man denn von Salz- oder Zuckerwasser auf die Dauer leben?“, fragte der Obermeister.
    „Man nicht, aber die anscheinend schon.“
    „Sie schneiden sich gegenseitig die Köpfe ab“, sagte der Kommissar. „Wie bei uns in der Steinzeit. Ich wüsste gerne, warum sie dafür auf die Erde kommen. Köpfe kann man doch überall abschneiden. Und warum sie das überhaupt tun.“
    „Das wüsste ich auch gerne“, sagte der Doktor.
    Der Obermeister spitzte die Lippen. „Wahrscheinlich, weil sie sich nicht grün sind und sich hier gegenseitig in die Arme laufen.“
    „Das mag schon sein“, wandte der Kommissar ein. „Aber das beantwortet nicht die Frage, warum sie überhaupt hier sind.“
    „Ich vermute, das hängt mit dem da zusammen.“ Terulda wies auf Hasetépetés Einzelteile. „Das war kein gewöhnlicher Alien. Seine Synapsen bestehen aus Gold, und die Zuleitungen aus Erbium. Bei dem anderen –“
    „Erbium?“, fragte der Kommissar.
    „Ja. Ein so genanntes Seltenerdmetall. Wird bei der Herstellung von Glasfaserkabeln benötigt. In seiner Außenhülle fand das Labor eine hohe Konzentration von Cer, einem weiteren Seltenerdmetall, das man in Ultraviolett-Strahlungs-Schutzgläsern verwendet. Und dann enthält der Balg auch noch größere Mengen Lanthan.“
    Der Doktor schwieg vielsagend.
    „Das heißt?“, fragte Gnadenbrodt erwartungsgemäß.
    „Das heißt“, erklärte Terulda bereitwillig, „der Kerl funktionierte wie eine Art Brennstoffzelle und wahrscheinlich war er auf seinem Heimatplaneten einer erhöhten Strahlenbelastung ausgesetzt.“
    „Vielleicht schwebte er ja über den Wolken“, meinte der Obermeister grinsend.
    Der Doktor spitzte die Lippen. „Möglich. Noch etwas. Meine Spurensucher fanden Spuren einer Substanz, die sie nicht zuordnen konnten. Interessant ist, dass diese Substanz bei dem Anderen fehlt, und dass dessen Leitungssystem nur aus gewöhnlichem Kupfer besteht. Ich denke, der Goldjunge war ein Auserwählter, ein Fürst, wenn nicht sogar der Erste von allen. Nur, da bleibt wieder die Frage, was hat so einer auf der Erde verloren?“
    „Wie geht das eigentlich, braucht man zum Leben nicht Fleisch und Blut und ein Gehirn?“, wollte Stinkan wissen,
    „Auf der Erde schon, aber nicht unbedingt in fernen Welten. Und so etwas wie ein Gehirn muss er ja gehabt haben, sonst wäre er nicht auf dieser Schule für Höchstbegabte gelandet. Ich denke mal, sein Geheimnis steckt in eben diesem Gehirn.“
    „Wir brauchen keine Höchstbegabte, sondern Leute, die einen Wasserhahn reparieren können“, grunzte der Kommissar.
    „Das heißt also, zwei verfeindete Gruppen von Außerirdischen sind auf der Erde gelandet, suchen das Superhirn und bringen sich dabei gegenseitig um“, resümierte der Obermeister. „Ziemlich bizarr, diese Vorstellung.“
    „Hat aber was für sich“, bestätigte Terulda. „Ich würde sogar noch einen Schritt weitergehen. Ich denke, man wird demnächst noch mehr Köpfe finden, aus denen die Gehirne oder KI-Boxen entfernt wurden. Es sind keine Kopfjäger, sondern Gehirnjäger.“
    „Hohlköpfe gibt es doch schon genug auf der Welt“, murmelte Gnadenbrodt, „da brauchen wir nicht noch mehr.“ Dann, lauter: „Sag mal, Jens-Uwe, warum liegen die hier bei dir in der Gerichtsmedizin? Bisher dachte ich, hier werden nur Menschen aufbewahrt.“
    „Normalerweise schon! Aber in diesem Fall mache ich eine Ausnahme, und Platz ist reichlich vorhanden. Diese Aliens interessieren mich, rein wissenschaftlich gesehen. Es sind eigenartige Existenzformen, so ganz anders, als wir sie auf der Erde kennen. Allein ihre Ernährung und ihr Stoffwechsel gibt Rätsel auf. Ihr Energieverbrauch ist minimal. Könnte die Menschheit einen Schritt in diese Richtung machen, hätte sie etliche Probleme weniger.“


    4
    Teruldas Vermutung erwies sich als richtig. Schon einen Tag später entdeckte ein Müllwerker auf einer Deponie drei abgetrennte Köpfe, die alle einen etwa kokosnussgroßen Hohlraum aufwiesen und nur von den Aliens stammen konnten. Einer davon wurde in die Gerichtsmedizin gebracht, die anderen auf den Bauhof. Einem Mitarbeiter des städtischen Veterinäramtes gelang es, die Köpfe den Körpern zuzuordnen, die in den Müllcontainern gelegen hatten. Da der Fund von allgemeiner Bedeutung war, berichteten die Medien darüber.
    Das Aufsehen, das die Berichte verursachten, war erheblich. Die Opposition witterte Morgenluft und warf der Regierung Versagen vor. Es sei ein Skandal, wetterte ein führender Oppositionspolitiker in der Abendschau, dass friedlichen Einwanderern vor aller Augen die Köpfe abgeschnitten würden, und der Rechtsstaat sähe untätig zu.
    Diese Bemerkung war natürlich blanker Unsinn. Erstens geschah das Köpfeabschneiden nicht in aller Öffentlichkeit, und zweitens sind Köpfe abschneidende Aliens keine friedlichen Einwanderer. Ein Redner des 'Vereins für Allgemeine Rechte Sicherheit und Chancengleichheit', im Volksmund ARSCH-Partei genannt, argumentierte noch hirnrissiger. Er forderte, das Land mit hohen Mauern abzuschotten, man sähe ja wieder einmal, was bei einer unkontrollierten Einwanderung herauskäme. Die Regierungs-Koalitionäre hielten sich wie immer bedeckt; die Kanzlerin formte die Finger zur Raute, zog einen Schmollmund und verwies auf den Innenminister. Der äußerte sich erst nach Tagen, und dann auch nur mit wenig aussagekräftigen Floskeln. Er wies darauf hin, dass die Herkunft der betreffenden Personen unklar sei und erst überprüft werden müsse, bevor man den Fall abschließend beurteilen könne. Darüber hinaus versicherte er mehrmals, dass seine Behörde alles tun werde, und so weiter und so fort.
    Was sämtliche Redner verschwiegen war dies: Noch nie hatte jemand einen dieser seltsamen Einwanderer lebend gesehen. Schon wurden Vermutungen laut, das Halsabschneiden sei gar nicht im Lande, sondern in einem Nachbarstaat geschehen, einem Land, dass immer wieder durch Anschläge von sich reden machte. Doch diese Spekulationen waren, kaum lanciert, schon wieder Makulatur: Ein junger Mann wurde von einem Lastwagen angefahren und tödlich verletzt, als er bei Rot eine Straße überqueren wollte. Dem herbei gerufenen Notarzt kam dieser junge Mann bekannt vor. Er glich wie ein Ei dem anderem diesem Knaben, den er vor einiger Zeit bewusstlos am Kreidebergsee vorgefunden hatte.


  • 5
    Acht Tage später.
    Während die Öffentlichkeit noch über die Herkunft des verunglückten Alien rätselte, standen die Herren Dr. Nissen, Hauschild und Weinert um Hasetépetés Kopf herum und beratschlagten.
    „Er kommt nicht weiter“, flüsterte Hauschild und blickte bekümmert auf den Kopf. „Heute morgen war er immer noch da, wo die anderen Schlaumeier auch waren, bevor sie aufgaben. Ich habe schon die Salzkonzentration erhöht.“
    „Meinst du, er – “
    „Still!“
    Aus dem Kopf drangen eigenartige Laute. Es war eine Folge von Zahlen und mathematischen Formeln, die sich ständig wiederholten. Die Bildschirme der Computer spielten verrückt.
    „Hört ihr?“, flüsterte Hauschild nach einer Weile, „bei der Berechnung der phi-Funktion stolpert er und bricht dann ab.“
    „Warum spricht er so hoch?“, fragte Dr. Nissen leise.
    „Er spricht mit Kopfstimme.“
    „Sitzt sein Kehlkopf denn nicht im Hals?“
    „Er hat keinen Kehlkopf.“
    „Und wieso kann er dann sprechen?“
    „Um das herauszufinden müssten wir seinen Kopf auseinandernehmen.“
    „Aber er spricht jetzt wenigstens“, tuschelte Weinert. „Eine Weile sah es so aus, als habe er die Sprache verloren.“
    „Glauben Sie, dass er aufgibt?“, fragte der Schulleiter weiter.
    „Pssst, nicht so laut! Ich hoffe doch nicht! Das Problem ist, was Generationen von Mathematikern und die Großrechner bisher nicht geschafft haben, ist für ein einzelnes Gehirn möglicherweise eine Hutnummer zu groß, auch wenn es sich um das Gehirn eines Hasetépeté handelt. Trotzdem gebe –“
    „Du meinst?“, unterbrach Weinert –
    „Ich meine gar nichts“, konterte Hauschild schnell und verpasste seinem Kollegen einen Tritt ans Schienbein. „Trotzdem gebe ich die Hoffnung nicht auf, nur, es wird dauern. Vielleicht liegt es auch daran, dass es hier unten immer noch zu laut ist. Die Heizungsrohre knacken, man hört deutlich den Lärm vom Treppenhaus, und wer ist auf die hirnverbrannte Idee gekommen, hier unten einen Pausengong zu installieren?“
    „Hier unten waren mal Klassenräume“, flüsterte Dr. Nissen, „aber den Gong kann man ja abstellen. Ich sage gleich Herrn Wiegand Bescheid.“
    „Das wird nicht reichen. Hasi braucht absolute Ruhe. Jedesmal, wenn oben eine Tür zuknallt, zuckt er mit den Augenlidern. Dabei kann doch nichts herauskommen!“ Hauschild betrachtete nachdenklich den Kopf, dessen Gesicht in Totenblässe erstarrt war.
    Eine rote Signallampe leuchtete auf. „Sehen Sie? Er fühlt sich unwohl. Schon unser Flüstern stört ihn.“ Weinert drehte an einem Knopf, das Lämpchen erlosch.
    „Dann gehen wir doch hoch in mein Dienstzimmer“, raunte Dr. Nissen.

    Das Dienstzimmer des Dr. Nissen war fast ganz in Schwarz gehalten: Schwarze Ledersessel, schwarze Vorhänge, schwarzer Schreibtisch, schwarze Aktenschränke. Der Teppich war dunkelgrau mit schwarzen Einsprengseln, die Wände schimmerten immerhin hellgrau. Der Schulleiter selbst: Schwarzer Anzug, schwarze Krawatte. Das Hellste an ihm ist noch seine Glatze, die wie ein Ei aus dem Nest schwarzer Backen- und Kinnbarthaare hervorwächst. Besucher, die diesen Raum zum ersten Mal betreten, blicken sich unwillkürlich um, auf der Suche nach Totenkopfemblemen oder anderen Zeichen nekrophiler Vorlieben. Doch der Raum ist fast kahl, ohne jeden Zierrat.
    „Und dann ist da noch die Möglichkeit, dass da unten jemand seine Nase hereinsteckt, der dort nichts zu suchen hat“, näselte Weinert, als sie in der schwarz-ledernen Sitzgruppe saßen. „Ständig laufen im Keller Installateure und Putzfrauen herum. Gut, wir haben das Sicherheitsschloss. Aber der Hausmeister hat einen Generalschlüssel, und der hängt in seinem Schlüsselschrank, den er tagsüber nicht abschließt. Nehmen wir einmal an, Hasi findet die Lösung. Ich weiß nicht, wie sich die Jury verhält, wenn bekannt wird, dass ein abgetrennter Kopf dahinter steckt.“
    „Dieses Problem besteht ja grundsätzlich“, meinte Dr. Nissen leise und rieb sich das Kinn. „Die Jury will eine Person ehren, nicht nur einen abgetrennten Kopf.“
    „Da sehe ich nun wieder keine Schwierigkeit“, sagte Herr Hauschild. „Wir haben genug ehrgeizige und hochbegabte Schüler, die wir auf das Riemannsche Problem ansetzen können. In einem bestimmten Stadium ihrer Berechnungen könnte ich dem Schüler mit dem besten Lösungsvorschlag einen Tipp geben, und den Schüler möchte ich sehen, der sich dann nicht einbildet, er habe die Lösung gefunden. Wichtig ist, dass die Sache unter uns bleibt.“
    „Meine Herren, was schlagen Sie vor?“
    Weinerts Sitzfigur straffte sich. „Ich habe vor einem halben Jahr eine Hofstelle in der Nähe von Ludwigslust geerbt“, sagte er. „Nichts Großartiges, müsste gründlich durchsaniert werden, finanziell ein Fass ohne Boden. Das Wohnhaus verfügt über einen geräumigen Keller. Das Dorf ist ziemlich abgelegen und leidet unter Bevölkerungsschwund. Die Zurückgebliebenen sind alt und krumm, sie kümmern sich um nichts, und wir wären vor neugierigen Blicken sicher. Und es ist dort vollkommen ruhig.“
    „Das heißt, wenn ich Sie recht verstehe, wollen Sie das Labor in Ihren Keller dort überführen.“
    „Das wäre eine Möglichkeit, ja. Wir, Herr Weinert und ich, könnten uns in den Osterferien mit Hasi dort einquartieren und ihn in aller Ruhe bei seinen Berechnungen unterstützen. Ein klein wenig von der Materie verstehe ich ja auch.“
    „Hmm...Bestehen denn da überhaupt die technischen Voraussetzungen?“
    „Nicht mehr oder weniger als hier unten.“
    „Kosten?“
    „Fünftausend, einschließlich des neuen Oszilloskops.“
    Dr. Nissen seufzte. „Na gut, das auch noch! Aber dann ist Schluss!“
    „Ich überlege gerade“, sagte Herr Weinert scheinbar leichthin, „wenn er das Problem in drei Wochen nicht gelöst hat, wird er es in vier oder fünf Wochen lösen. Und wenn er es gelöst hat, setzten wir ihn auf das nächste mathematische Jahrhundertproblem an und ernten möglicherweise noch mehr Ruhm und Geld. Wäre es da nicht angebracht, ich nähme eine kleine Auszeit, sagen wir bis zu den Herbstferien? Ich könnte mich dann rund um die Uhr um Hasi kümmern. Was halten Sie davon?“
    Der Schulleiter nietete seinen blauen Blick in das Gesicht des Bittstellers. „Eine Auszeit? Herr Hauschild, das fällt Ihnen aber ziemlich spät ein! Ich glaube nicht, dass das Schulamt so auf die Schnelle eine Ersatzkraft finden wird“
    „Herr Dr. Nissen! Mit Verlaub, Sie lesen doch Zeitung, nehme ich mal an“, sagte Herr Hauschild ziemlich frech, „Der MAD geht davon aus, dass sich bereits eine große Anzahl dieser Aliens in unserer Region aufhält. Da besteht doch nicht nur rein theoretisch die Möglichkeit, dass sie auf der Suche nach –“
    Dr. Nissen seufzte. „Ist mir bekannt! Na gut! Ich werde sehen, was sich machen lässt. Nötigenfalls lasse ich Sie für ein paar Wochen vertreten.“
    6
    Wenige Tage später fuhr ein weißer Kastenwagen auf der A23 Richtung Norden.
    Zunächst sagte keiner der beiden Insassen etwas.
    Als die Schweigsamkeit lauter war als die Fahrgeräusche, zog der Beifahrer, ein dürrer Mann mit weißgrauem Hipsterbart und Hakennase, seine Brieftasche hervor und entnahm ihr einen Zettel, den er kopfschüttelnd überflog. „Dass es die Leute nicht begreifen, dass es nicht umsonst, sondern vergeblich heißt“, sagte er. „Trotzdem... ich muss gestehen, ich habe den Mann gründlich unterschätzt. Die Nachricht ist für einen Außenstehenden so nichtssagend wie nur irgendetwas, aber für uns glasklar. 'Der König wartet nicht umsonst'. Geradezu genial!“
    „Er meint umsonst, und nicht vergeblich“, erwiderte der Fahrer. Er trug einen offenen Parka über einem ziemlich abgetragenen braunen Pullover und war von kräftiger Statur.
    „Wie?“
    „Er wollte Geld haben! Okay, 'Der König wartet'... ganz netter Wink mit dem Zaunpfahl, und dass der Kopf nicht umsonst zu haben war, konnten wir uns ja denken. Und was da sonst noch so steht, finde ich überhaupt nicht genial. Eher dumm-dreist. Und den Preis finde ich dann doch ziemlich happig. Kriegen alle den Hals nicht voll, diese Raffkes!“
    „Er wird Unkosten gehabt haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Wiegand den Kopf selbst abgeschnitten hat. Er hatte Helfer, die die Hand aufhielten. Und er kann zwei und zwei zusammenzählen. Ein Einzelstück ist immer teurer als Massenware. Und er wusste, dass wir hinter einem zweitem Kopf her waren. Bin gespannt, was er für den nächsten haben will.“
    „Der Mann wird mir immer unheimlicher. Er muss Verbindungen haben, von denen wir bisher nichts ahnten. So etwas kannst du doch nicht so einfach im Darknet bestellen. Und was mich fast noch mehr verwundert, wie kommt er an komplette Köpfe? Die bisher aufgefundenen waren doch alle hirnlos.“
    „Sein Geschäftsgeheimnis. Anscheinend ist er mehr als der popelige Hausmeister, für den ich ihn immer gehalten habe. Na ja, du schaust eben jedem nur bis zur Stirn.“
    „Ich kann mir nicht helfen. Der Mann ist mir von Grund auf unsympathisch wie alle diese Kerle mit den dicken Bizeps und den tätowierten Armen. Was lachst du?“
    „Ich stelle mir gerade vor... Er hat sich den Schwanz auch tätowieren lassen... haha! Mit ´ner Meerjungfrau... deren Gesicht dann immer länger wird, hahaha!“
    „Eine Fantasie hast du... Auf mich wirkt er irgendwie brutal.“
    „Nun lass es mal gut sein. Der Mann ist schon in Ordnung.“
    Eine Weile herrschte Schweigen, dann sagte der Fahrer: „Ich wundere mich übrigens immer noch, wie bereitwillig unser guter Dr. Nissen einverstanden war.“
    „Nissen! Der doch nicht! Überzeugt hat ihn die Aussicht, dass die Aliens den Kopf finden, bevor Hasi geliefert hat. Er will unbedingt, dass seine Schule das Preisgeld gewinnt. Kannst du das nicht verstehen? An seiner Stelle dächte ich wahrscheinlich genauso. Außerdem will er Staatssekretär werden, da würde ein spektakulärer Erfolg nicht schaden.“
    „Woher weißt du denn das schon wieder?“
    „Denke ich mal... Als du die Möglichkeit andeutetest, Hasi könnte noch weitere Probleme lösen, blitzten seine Augen auf. Und den nötigen Ehrgeiz hat er.“
    „Hmm... Was sagt eigentlich deine Frau dazu? Schließlich willst du einige Zeit ohne sie verschwinden!“
    Weinert lachte rau. „Sie reagierte erstaunlich gefasst! Ich hatte sogar den Eindruck, dass sie froh ist, mich für eine Weile los zu sein.“
    „Weiß sie was?“
    „Natürlich nicht!“
    „Du musst ihr doch etwas erzählt haben.“
    „Nun ja, das mit der Auszeit war ihr nicht neu, darüber haben wir schon mehrmals gesprochen. Ich sagte, ich wollte mich in Ruhe um den Verkauf des Hofs kümmern, und das könne ich am besten vor Ort. Und dass das so schnell nichts werden würde, müsste ihr auch klar sein. Ob sie mir geglaubt hat, weiß ich nicht. Nach den Osterferien macht sie erst einmal mit ihren Freundinnen eine Nordlandtour, und dann schau´n wir mal.“
    „Sie wird dich besuchen wollen.“
    „Glaub´ ich nicht. O-Ton Marta: In dieses Drecksnest kriegen mich keine zehn Pferde noch einmal hin. Eher hänge ich mich tot übern Zaun.“
    „Humor hat deine Frau, das muss man ihr lassen.“
    Ein Hinweisschild taucht auf:
    Klein Klammerow
    Gottlin
    Schwessel

    ***
    Der Wagen verlässt die Autobahn und biegt in die Kreisstraße ein. Die Eichen an der Straße werden dicker, der Asphalt dünner, schließlich hört er ganz auf: Kopfsteinpflaster.
    Herrje, Heinrich, was ist denn das?
    Kopfsteinpflaster mit Reichsprofil, Baujahr 1880, typisch für diese Schwundregion, erhöhte Rutschgefahr auf feucht-welkem Laub und nichts für Rückenleidende.
    Gottlin? Nie gehört! Das Navi empfiehlt Göttingen. Schessel? Schwiessel, ja. Aber Schwessel?
    Aufs Navi ist hier kein Verlass, Gisela. Zu viele Straßenneubauten, weißt du?
    Ein Schild: Amazon-Werke.
    Na sieh mal einer an! Klingt doch vielversprechend!
    Nee, ist es aber nicht, da abgewickelt.
    In der Ferne tauchen Plattenbauten des real existiert habenden Sozialismus auf: Zum Abriss bestimmt. Rechts: Gut Schwessel, verrammeltes Portal, leere Fenster, blätternder Putz, riesiger Park mit uralten Bäumen.
    Schau mal, Heinrich, ein altes Herrenhaus! Und der Park! Fantastisch!
    Kannste alles billig haben! Preis 1 Euro, Folgekosten: 1 Million. Mindestens.
    Endlich, nach zwölf Kilometern Straßen-Tortur: Klein Klammerow, 260 Einwohner, ehemals LPG Fleischkombinat „DER OSTEN IST ROT“, Kriegerdenkmal, Friedhof mit denkmalgeschützter Kapelle, große Grundstücke, Angerdorf. Ein Huhn verschwindet zeternd in einem Graben.

    ***
    Wenige hundert Meter hinter dem Ortsschild verschwand der weiße Kastenwagen in der Toreinfahrt eines grauen und stark renovierungsbedürftigen Vierseiten-Bauernhofes. Unter den Dachkehlen mehrere Rauchschwalbenkolonien, der Hof grasbewachsen, aber nicht vermüllt.
    Zunächst geschah nichts, denn es ging gerade ein heftiger Hagelschauer nieder. Als sich das Wetter beruhigte, stiegen die beiden Insassen aus. Der Bärtige bog sich den Rücken gerade und blickte sich interessiert um. Als er genug gesehen hatte, sagte er: „Ziemlich heruntergekommen, das Anwesen, aber von hier hinten nicht einsehbar, gut. Wasser, Strom, Telefonanschluss?“
    „Wasser ja, Strom ja, Telefonanschluss nein. Waltraut lebte ohne Fernseher und Telefon.“
    „Also auch kein Internet. Na ja, dann schau´n wir mal.“
    Weinert schloss eine Hintertür mit blauen Farbresten auf, und sie traten ein.
    „Puh, wie richt´s hier denn?“, fragte Hauschild mit angewiderter Miene.
    „Nach Katzenscheiße. Gehen wir hinunter.“
    Im Keller roch es muffig-kalt. Weinert tastete nach einem Schalter und machte Licht.
    „Oha! Ein alter Gewölbekeller!“, rief Hauschild überrascht. „Wie groß ist der?“
    „So um die vierzig Quadratmeter.“
    Der Physiklehrer klopfte mit der Faust an eine Wand. Ein großes Stück Verputz löste sich und fiel ihm vor die Füße. „Wann wurde das Haus gebaut?“
    „Neunzehnhundert und ein paar Gequetschte. Genau weiß ich es nicht. Alles noch im Originalzustand. Der Keller ist soweit ich sehen konnte trocken.“
    „Was ist hinter dieser Tür?“
    „Das würde ich auch gerne wissen. Ich vermute mal, Herberts Werkstatt. Aber drin war ich nie. Die Tür war immer abgeschlossen, und wo der Schlüssel liegt weiß ich nicht.“
    „Gibt es irgendwo Wasser?“
    „Ja, dort, in der Waschküche.“
    Die Waschküche war ein großer Raum mit zwei vergitterten Fenstern. In der Mitte stand der steinerne Kochkessel mit einem Deckel obendrauf. An einer Wand prangte ein angerostetes verschnörkeltes gusseisernes Waschbecken von anno dazumal. Hauschild ging darauf zu und drehte den Hahn.
    „Das Wasser ist abgestellt“, sagte Weinert.
    „Na schön. Ich denke, es müsste gehen.“
    „Denke ich auch. Komm, gehen wir nach oben.“


  • In der Küche standen noch die Fressnäpfe für die Katzen.
    „Wie viele von den Viechern hatte deine Tante eigentlich?“, fragte Hauschild mit angewiderter Miene.
    „Vierzehn. Die meisten sind im Tierheim gelandet. Wir gehen am besten erst mal ins Wohnzimmer.“
    Auch im Wohnzimmer sah es nach Originalzustand aus. Altertümliche verschnörkelte Möbel, geblümte Tapeten, Lampen mit Troddeln. In einer Ecke neben dem Sofa ein Berliner Kachelofen.
    „Heiner, nimm Platz“, sagte Weinert.
    Hauschild klopfte auf das zerschlissenen Sofa. Millionen feinster Staubteilchen stoben auf und erglühten im Licht der durch die Gardinen gedämpften Februarsonne. „Ich nehme doch lieber einen Stuhl“, sagte er. „Woran ist deine Tante eigentlich gestorben?“
    „Sagte ich das noch nicht? An Altersschwäche, mit sechsundneunzig. Vor zwei Jahren fuhr sie noch Auto.“
    „Alle Achtung!“
    „Na ja, von hier bis zum nächsten Koofmich und zurück. Ihren Trabbi, Baujahr Neunzehnhundert fünfundsiebzig, habe ich schon verkauft. Es gibt wieder Leute, die solche Autos lieben.“ Weinert blickte zum Fenster. „Das Schild nehmen wir am besten mal wieder weg“, sagte er, „ehe sich doch noch ein Interessent meldet.“ Er bog eine der staubgrauen Gardinen zur Seite, nahm das Schild aus dem Fenster und stellte es auf den Boden.
    „Jewgenij, hast du wirklich geglaubt, das Anwesen kauft dir jemand ab? In diesem Kaff, in dem jedes zweite Haus leer steht?“
    Weinert lachte kratzig. „Nee, nicht wirklich, aber ein Versuch war es immerhin wert. Außerdem kostet es mich ja so gut wie nichts und wirft wegen der Pacht sogar noch etwas ab, die Grundsteuer kannst du vergessen. Landwirtschaftlicher Betrieb. Eigentlich lachhaft. Herbert starb vor fünfunddreißig Jahren, und Waltraut hat seitdem nur noch ihre Katzen gefüttert und in den Volksempfänger hineingehorcht.“
    „Und wovon lebte sie die ganze Zeit?“
    „Von dem bisschen Rente und der Pacht. Zehn Hektar lehmiger Sand oder sandiger Lehm, was weiß ich...Die Spargelfelder vorhin, die sind seit einem halben Jahr meine.“ Weinert schlug sich zufrieden aufs Knie. „Und jetzt können wir auch noch die Hütte hier gebrauchen! Wes hätte das gedacht! Wenn die Versuche gelingen, hänge ich den Pauker an den Nagel und werde Landwirt.“
    „Unverhofft kommt eben oft“, meinte Hauschild, „aber das mit dem Landwirt würde ich mir zweimal überlegen. Außerdem ist noch nicht so weit. Erst müssen wir die Sache in Gang bringen. Ich denke, viel umbauen müssen wir nicht. Der Keller ist soweit in Ordnung. Geheizt muss er nicht sein, der Kellerraum in der Schule ist zwar beheizt, aber ich denke, die beiden Gehirne arbeiten auch bei kühleren Temperaturen. Zur Not stellen wir einen Heizlüfter auf. Funktioniert der Kachelofen?“
    „Wenn er beheizt wird, ja.“
    „Kannst du nicht mal schauen, ob dein Tantchen etwas zum Aufbrühen hinterlassen hat? Ich friere!“
    Weinert grinste. „Das kommt davon, wann man sich vegan ernährt! Iss mal ein ordentliches Stück Fleisch, dann frierst du auch nicht! Schon gut! Ich schau mal nach.“
    Während Weinert in der Küche hantierte, stand Hauschild auf und ging einige Male fröstelnd im Zimmer auf und ab. Vor einem gerahmten Foto blieb er stehen. Anscheinend ein Hochzeitsbild. Die Braut, ganz in weiß, groß, stark onduliert, nichtssagendes Gesicht, der Bräutigam klein, überschlank, mit streng nach hinten gekämmten schwarzen Haaren, Oberlippenbart. Beide standen etwas schief, Weinert hatte den Eindruck, als mache ihnen die gegenseitige Nähe Schwierigkeiten. Auf einem Tisch unter dem Foto ein schwarzer Kasten aus Plastik, mit verschnörkelter Front, ein Radiogerät, anscheinend noch aus den Anfängen der Radiotechnik. Er drehte einen Knopf. Nach einiger Zeit vernahm er ein knisterndes Rauschen, hinter dem, wie aus weiter Ferne, eine Art Marschmusik zu erahnen war, in die eine markante Stimme etwas hineinbrüllte.
    „Baujahr Neunzehnhundert dreiunddreißig“, sagte Weinert und stellte einen dampfenden Becher auf den Tisch, „Ein so genannter Volksempfänger. Seit Herberts Verschwinden Waltrauts einzige Verbindung zur Außenwelt.“
    „Ich vermute mal, die beiden auf dem Bild dort sind Waltraut und Herbert.“
    „Ja.“
    „Seltsames Paar... Walküre und Alberich.“
    „Wo die Liebe eben hinfällt.“
    Hauschild blickte sich um und schüttelte den Kopf. „Wie kann man denn so leben, in diesem verstaubten Kram hier? Ohne Fernsehen und Telefon... Das hält doch keiner auf die Dauer aus.“
    „Immerhin besaß sie ein Handy, hatte ihr jemand aufgeschwatzt. Aber bis vor einem halben Jahr war hier noch Funkstille... Wie kann man so leben, fragst du. Tja, darüber hab´ ich auch schon nachgedacht. Wahrscheinlich wie ihre Katzen. Genügsam und geistig minderbemittelt.“
    Hauschild drehte das Radio wieder aus, nahm einen Becher hoch und schlürfte. „Pfui Deibel!“, rief er und spuckte aus, „was ist denn das?“
    Weinert lachte. „Katzenkotbouillon auf Klein Klammerower Art... Kleiner Scherz... Die Würfel stammen wahrscheinlich noch aus DDR-Zeiten. Du wolltest doch unbedingt wat Heeßes. Wenn du dich erwärmt hast, sollten wir endlich ausladen und aufbauen.“
    „Vorher wird aber noch der Ofen angemacht!“

    Drei Tage später.
    Weinert ist gerade dabei, sein Frühstücksei zu köpfen, da meldet sich sein Smartphone, das neben ihm auf dem Tisch liegt. Er linst drauf und sagt: „Wiegand hat gerade gemailt. Der gleiche Text.“
    Hauschild blickt erfreut auf. „Heureka! Also hat er den dritten Kopf. Wer fährt?“
    Weinert betrachtet mit nichtssagender Miene ein Loch in der Insektenschutzhaube über der Käseschale. „Na wer schon? Du natürlich! Ich bleibe hier und passe auf!“

    ***
    Hans im Glück Jewgenij Weinert

    Den Verdienstausfall durch die Auszeit gleicht er mit der Portokasse aus, sagt er. Sein Lehrergehalt, verkündet er hinter vorgehaltener Hand, aber so laut, dass es alle hören können, bestehe wegen seiner verminderten Stundenzahl sowieso nur aus Peanuts. Wenn ihn jemand fragt, warum er sich dann noch jeden Morgen zur Schule schleppe, antwortet er keck: Erstens schleppe er sich nicht, denn das Unterrichten im Premiumsegment mache ihm einen Sauspaß, und zweitens: Soll ich zuhause vor Langeweile in die Tischkante beißen? Und irgendein Ehrenamt übernehmen – nein, das läge ihm nicht, er sei humanophob und deshalb nicht teamfähig.
    Solch Gequatsche bringt ihm natürlich nicht nur Bewunderer ein, sondern auch Neider. Im Kollegium, das unter Arbeitsüberlastung stöhnt, wird er von einigen geschnitten. Irgendwie vertragen sich Pädagogik, Geld und Freizeit nicht. Bei der Verabschiedung eines Kollegen fuhr ihn einer, das Mettbrötchen in der einen, das Sektglas in der anderen Hand, rauschnäuzig an: „Sie mit ihren Millionen!“ Dann drehte er sich angewidert um und ließ ihn stehen.
    Weinert juckt dergleichen Gemotze nicht. Er besitzt das Selbstbewusstsein eines Menschen, dessen Geldbeutel gut gefüllt ist, und die Schüler achten ihn wegen seines Fachwissens und seiner heiter-ironischen Art. Also was soll´s, denkt er, Neid ist nur eine andere Form von Bewunderung.
    Na ja, er ist auch der reinste Hans im Glück. Die erste Erbschaft fiel ihm zu, als er heiratete und kurz darauf seine Schwiegermutter starb. Die Erbschaft war nicht dick, aber ansehnlich, und seine Frau Einzelkind. Also musste nur mit dem Finanzamt geteilt werden – was schmerzlich genug war. Die zweite, als sein Bruder mit dreiundsechzig das Zeitliche segnete. Diesmal war der Nachlass nicht nur ansehnlich, sondern dick. Der Bruder war unverheiratet, kinderlos und ein Erzknicker gewesen und er, Jewgenij, wieder mal der einzige Erbe. Wieder musste nur mit dem Finanzamt geteilt werden – was schmerzlich genug war. Und jetzt noch der Hof...
    Das Problem ist nur: Er ist zwar verheiratet, aber bisher kinderlos. Und es sieht nicht so aus, als würde es mit Nachwuchs nochmal was werden. Er hat zwar einen prall gefüllten Geldbeutel, aber sein anderer Beutel enthält nur taube Nüsse. Er versucht, diesen Mangel durch gesteigertes Gewinnstreben auszugleichen. Mittlerweile geben sich die Anlageberater in seinem Wohnzimmer die Klinke in die Hand.
    Nur, wer soll den ganzen Zaster mal erben?
    Er denkt: Ja, es stimmt schon. Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen.
    Aber manchmal liegt der Haufen an der falschen Stelle...

    7
    Zwei Kilometer hinter der Dömitzer Brücke verlor Winkelmann die Fährte. Er entdeckte weder Fußabdrücke noch Losung und gewann den Eindruck, dass ihn der Wolf verlassen hatte. Er hielt die Hände an den Mund und stieß eine Art Wolfsgeheul aus – keine Antwort.
    Auf einer Anhöhe gewahrte er über den Wipfeln der Kiefern einen Aussichtsturm. Er stieg hinauf, warf Rucksack und Schlafsack ab und setzte sich. Unter ihm und vor ihm scheinbar endloser Wald, aus dem hier und da die kahlen Kronen hoher alter Eichen herausragten, dazwischen, perspektivisch verkürzt, Streifen freien Ackerlandes. Das Gebiet war für ihn kein Neuland mehr. Noch letzten Sommer war er auf einer Radtour wenige Kilometer weiter westlich in dem Dorf Vielank abgestiegen und hatte im Alten Brauhaus übernachtet.
    Winkelmann nahm sein Smartphone heraus und rief eine Wander- und Radweg-App auf. Er ging davon aus, dass sich der Wolf weiterhin in Richtung Nordosten bewegen würde, allerdings nicht parallel zur viel befahrenen Landesstraße 191. Hinter Neu Kaliss hörte der geschlossene Wald auf und machte ausgedehnten Ackerflächen platz, und ohne Deckung würde der Wolf auch nachts nicht marschieren. Außerdem war diese Gegend für hiesige Verhältnisse ziemlich dicht besiedelt. Also würde er den Umweg durch die Wälder des Mayenbachtals nehmen, das im weiten Bogen nördlich von Eldena wieder auf die Straße traf. Dort würde er ihm sicherlich ein Zeichen geben.
    Weiter nordöstlich lag Karstädt. Winkelmann wusste vom letzten Jahr her, dass dort gerade ein vierspuriger Autobahnzubringer gebaut wurde, der schon über weite Strecken abgezäunt war. Der Wolf würde also weiterhin dem einsamen Mayenbachtal folgen. Doch wohin würde die Reise gehen?
    Der junge Mann öffnete den Rucksack und nahm sein Proviant heraus. Während er aß, wurde ihm das Absurde seiner Situation bewusst. Seit drei Tagen laufe ich wie ein Idiot hinter diesem Wolf her, dachte er, mit Halsschmerzen und Blasen an den Füßen, ich übernachte wie ein verlauster Landstreicher unter Brücken – und warum? Um den Kopf eines Alien zu suchen, der mich einen Scheißdreck angeht! Das Gesicht des Commanders tauchte vor seinem inneren Auge auf, er hörte seine Worte: Sie werden erst zur Ruhe kommen, wenn Sie den Auftrag erfüllt haben... Ha, hat sich was! Ich kehre um! In Dömitz steig´ ich in den Bus nach Neuhaus, und von da aus... Winkelmann ließ den Kopf hängen. Das wäre dann der dritte erfolglose Versuch... Plötzlich richtete er sich auf. „Nein, nein, nein!“, rief er über die Kronen der Bäume hinweg, „wär´ doch gelacht! Heute schaffe ich´s! Ich fahre zurück!“
    Er steckte das übrig gebliebene Schinkenbrot wieder weg, holte sein Smartphone hervor und schaute nach den Busverbindungen. Der nächste Bus ging um sechzehn Uhr dreißig von Dömitz ab. Bis dahin ist noch reichlich Zeit...Er legte sich den Schlafsack unter den Kopf und streckte sich so gut es ging aus. Nur ein halbes Stündchen... Dann geht es ab nach Hause...
    Eine Weile lag er mit offenen Augen da. Über ihm wölbte sich ein makellos blauer Himmel in der Reinheit und Unschuld des frühen Vormittags, unter ihm der dunkle, stolze, geheimnisvolle Wald; ein laues Lüftchen flüsterte in den Baumkronen, durchtränkt vom Sirren der Insekten. Er streckte die Arme aus. Ach, welch einsames, unermessliches Land...
    Als Winkelmann erwachte, dämmerte es bereits. Er verließ den Aussichtsturm und trottete ergeben auf dem Fahrradweg der L191 seinem unbekannten Ziel entgegen.

    *
    Etwa zweihundert Meter von der Stelle entfernt, wo das Mayenbachtal auf die Straße zuläuft, erhebt sich ein mit Heidekraut bewachsener Hügel, an dessen Grund eine Wetterhütte steht. Es ging bereits auf Mitternacht zu, als Winkelmann dort eintraf. Am Himmel stand ein blanker Mond und überschüttete das Land mit seinem silbernen Glanz.
    Winkelmann setzte sich in die Hütte, machte die Beine lang und wartete auf ein Zeichen des Wolfes. Der Wind hatte sich gelegt, in einem fernen Feuchtbiotop quakten wie toll die Frösche. Als sich der Wolf nach einer Stunde immer noch nicht gemeldet hatte, machte sich der junge Mann auf, um nach einer Fährte zu suchen, denn er ging davon aus, dass er zumindest diese Nachricht hinterlassen hatte. Für einen geübten Fährtensucher wie ihn war es kein Problem, bei hellem Mondlicht und auf sandigen Wegen der Heide eine Wolfsspur zu entdecken und zu verfolgen.
    Er suchte den Weg, der sich als helles Band dahin schlängelte, sorgfältig ab. Da waren Spuren verschiedener Kleinsäuger und eines Dachses – aber eine Wolfsfährte fand er nicht.
    Bei seiner Spurensuche war er immer mehr in die Nähe des Baches geraten. Das Froschkonzert mit seinem onk – onk – quurks – quarks und pink – pink erfüllte die Luft. Darüber lag ein eigenartiges, klagendes Gewimmer. Winkelmann stand still und lauschte. Zunächst hielt er es für das Singen von Telefondrähten im Wind, doch es war absolut windstill, und wenn in dieser abgeschiedenen Gegend Überlandleitungen standen, dann nicht mitten im Wald. Er ging dem Jammern nach und stand bald an einem mit Seerosen und allerlei Wasserpflanzen zugewachsenen Teich, in dessen karger Wasserfläche sich der Mond spiegelte. Das Jammern war jetzt verstummt, nur das Geschrei der Frösche und Kröten erklang ungehemmt. Auf einmal setzte das Gewimmer wieder ein, in einer Intensität, dass es Winkelmann kalt den Rücken hinunterlief. Nun waren ihm Unkenrufe nichts Unbekanntes und nichts, wovor er sich gefürchtet hätte, auch wenn sie, wie jetzt, noch so schauerlich klangen. Doch in diesem einsamen, dunklen Wald, auf sich allein gestellt unter den Geistern und Kobolden der Nacht, hörte er deutlich das Gejammer unglücklicher, verlassener kleiner Kinder heraus. Dieser Eindruck wurde noch stärker, denn der Mond verbarg sich gerade hinter einer Wolkenbank, und zwischen die Baumstämme senkte sich die Schwärze der Nacht herab.
    Den einsamen Fährtensucher überkam ein Gefühl drohenden Unheils. Etwas Entsetzliches würde geschehen – nicht an diesem Teich, nicht in diesem Tal, nicht in dieser Nacht, aber in absehbarer Zeit und ganz in Nähe. Er blickte sich um. Gerade kehrte das Mondlicht wieder zurück und beleuchtete einen schmalen, waagerechten Gegenstand, der in einiger Entfernung anscheinend in der Luft schwebte, ein Wegweiser. Winkelmann ging darauf zu. Der Schriftzug war verwittert, aber noch erkennbar:
    Klein Klammerow 3km

    Winkelmann atmete erleichtert auf. Nun wusste er, das Ziel seiner Reise war bald erreicht. Der Wolf hatte ihn nicht verlassen, er hatte nur seine Methode gewechselt.
    Winkelmann überfiel eine bleierne Müdigkeit. Er ging zur Hütte zurück, stieg in seinen Schlafsack, zog die Kapuze zu und streckte sich aus. Die Gewissheit, bald angekommen zu sein, beruhigte ihn, und nach kurzer Zeit fielen ihm die Augen zu.

    *
    Ein Geräusch weckte ihn. Im Türrahmen stand eine Gestalt, klein und schmal, mit glühenden Augen. Er erkannte sie sofort: Commander Troysch.
    „Bleiben Sie doch liegen“, sagte der Commander, als er sah, dass Winkelmann sich aufrichten wollte. Er setzte sich auf die Holzbank an der Wand.
    „Was wollen Sie?“, fragte Winkelmann mürrisch gähnend und zog die Augenbrauen zusammen.
    „Ich bin bekommen, um Ihnen einiges zu erklären, was die Vergangenheit und die Zukunft betrifft, und was Sie wissen wollen.“
    „Jetzt, um diese Zeit?“
    „Warum nicht? Jede Zeit ist die richtige, wenn sie die Nachricht wert ist, die man für sie opfert. Es wird auch nicht lange dauern, dann können Sie weiterschlafen.“
    „Na schön, was ist passiert?“
    „Nichts ist passiert. Noch nicht. Zunächst einmal: Bevor ich meine menschliche Existenz aufgab, war mein Name Herbert Weinert, und meine Unterkunft war ein alter Bauernhof in Klein Klammerow –“
    „Warum erzählen Sie mir das?“


  • Die Erzählung des Commanders
    „Hören Sie doch erst einmal zu! Meine berufliche Laufbahn begann ich zunächst als Soldat, dann wurde ich Kampfpilot bei der Nationalen Volksarmee. Als dann der erste bemannte Flug zum Mond gelang, ließ ich mich aus Begeisterung für die Raumfahrt zum Astronauten ausbilden. Leider kam ich nie zum Einsatz, denn als ich soweit war, wurden die Raumfahrtprogramme aus Kostengründen eingestellt. Herr Winkelmann, Sie kennen die Lübtheener Heide. Dort befand sich damals ein Astronauten-Trainingslager. Eines Tages entdeckte ich in einer Bodensenke einen silbrig schimmernden Gegenstand, der die Form einer überdimensionalen Zigarre hatte. Zunächst dachte ich an eine Granate aus dem Zweiten Weltkrieg, doch ich konnte keinen Zünder entdecken. Ich versuchte, den Gegenstand hochzuheben, es ging nicht, er war zu schwer. Auf einmal drehte sich alles um mich herum, mir wurde schwindlig, ich hatte das Gefühl, als fliege ich in einer Hyperloop-Kapsel mit Überlichtgeschwindigkeit durch das All, dann verlor ich das Bewusstsein. Als ich wieder zur Besinnung kam, befand ich mich in einem gläsernen Raum mit grünlich leuchtenden Wänden, und eine Gestalt kam auf mich zu, in der ich sofort mein Ebenbild erkannte. Bisher hatte ich angenommen, dass es zu jedem Menschen auf dieser Erde mindestens einen Doppelgänger gibt. Heute weiß ich: Es gibt zu jedem Wesen im Weltall eines. Mein Ebenbild stellte sich als Commander Troysch vor und erklärte mir, sein Raumschiff habe notlanden müssen, weil ihnen wegen eines Logistikfehlers das Steinsalz ausgegangen sei, Salz sei ihr Lebenselexier, ohne dieses Element seien er und seine Leute zur Bewegungslosigkeit verdammt, und dass er überhaupt noch handlungsfähig sei habe er der Sonderration zu verdanken, die ihm als Kommandant des Raumschiffes zustehe. Um den Energieverbrauch auf ein Minimum zu reduzieren, habe er die Schrumpfung des Raumschiffes und der Mannschaft eingeleitet.
    Ich kann mich noch gut an die Verblüffung erinnern, mit der ich diese Worte vernahm. Denn, um in eine Zigarre hineinzupassen, müsste ich ja auch geschrumpft sein. Doch nichts dergleichen konnte ich feststellen, ich kam mir nicht kleiner vor, auch der Commander und das ganze Drumherum erschien mir normal groß. Und dass sich jemand von Steinsalz ernähren konnte erschien mir doch allzu fantastisch.
    Dem Commander war mein ungläubiger Blick nicht entgangen. Er sagte eilig: Lieber Herr Weinert, für lange Erklärungen ist jetzt keine Zeit. Wir benötigen unbedingt das Salz.
    Warum er denn gerade an dieser Stelle gelandet sei, fragte ich, hier werde schon lange kein Salz mehr gefördert.
    Seine Instrumente, erwiderte er, hätten Salzlagerstätten in der Nähe angezeigt, aber sie hätte kein Salz gefunden.
    Ich sagte, natürlich nicht, das Salz befindet sich in größerer Tiefe, außerdem sei das Salzbergwerk Lübhteen schon lange stillgelegt, aber ich könne handelsübliches Kochsalz besorgen.
    Er bedankte sich überschwänglich und bat mich, die Tüte mit dem Salz einfach neben das Raumschiff zu stellen. Zum Abschied drückte er mir eine kleine runde Dose in die Hand. Sollte ich mich einmal in Lebensgefahr befinden, sagte er, werde er sofort zur Hilfe eilen, denn Raum und Zeit stellten für ihn und seine Leute keine Hürde dar. Die Dose, so unscheinbar sie aussähe, sei ein Gedankenübertragungs-Modul mit galaktischer Reichweite, ein Hype intergalaktischer Kommunikations-Technologie, auf das er und seine Ingenieure seht stolz seien. Ich solle sehr acht geben, das Modul dürfe auf keinen Fall in falsche Hände geraten.“
    Die Erzählung des Commanders hatte den Wolfsfreund in eine eigenartige Erregung versetzt. An Schlaf dachte er nicht mehr. Es war die gleiche Erregung, die ihn beim ersten Zusammentreffen mit ihm ergriffen hatte. Damals hatte er fast körperlich gespürt, dass sich hinter dieser Gestalt ein Geheimnis verbarg, und der Commander war gerade dabei, es zu lüften. Als der Commander nun nach kurzer Pause fragte: „Herr Winkelmann, hören Sie noch zu?“, sagte er: „Aber ja doch! Bitte, erzählen Sie weiter!“
    „Wenige Augenblicke später“, fuhr der Commander daraufhin fort, „fand ich mich, leicht benommen, neben der Zigarre wieder, die Dose in der Hand. Es war unglaublich: Ich saß neben einem Raumschiff, das wegen Energiemangel auf Miniaturgröße zusammengeschrumpft war. Während ich das Ding staunend betrachtete, schien es mir, als schrumpfe es sogar jetzt noch immer weiter zusammen. Für einen Moment überkam mich die Versuchung, sitzen zu bleiben und zu beobachten, wie weit dieser Prozess gehen würde. Ich hatte als Junge einmal einen Teichmolch gefangen und in ein Terrarium gesetzt. Zwei Tage später war das Tier verschwunden. Verzweifelt suchte ich an allen Ecken und Enden – der Molch blieb unauffindbar. Vier Wochen später fand ich ihn, er hatte sich unter einem Stapel Handtücher verkrochen und war auf einen Bruchteil seiner ehemaligen Länge eingetrocknet. Und das erstaunlichste war: Er lebte noch. Wie klein würde dieses Raumschiff noch werden?, überlegte ich, so klein wie eine Hummel? Wie eine Mücke, oder noch kleiner? Die Natur hat, was das Fliegen betrifft, zum Großen hin ein Limit gesetzt, aber nicht zum Kleinen. Was macht uns so sicher, dass unter den vielen Insekten, die durch die Luft schwirren, nicht das eine oder andere Mini-Raumschiff ist, das seinen Heimathafen in einer uns Menschen verborgenen Parallelwelt ansteuert? Wie? Jaja, Sie haben Recht... Entschuldigen Sie die Abschweifung!“
    Der Commander räusperte sich verlegen und fuhr mit freudloser Stimme fort: „Doch da es nicht in meiner Art liegt, ein einmal gegebenes Versprechen zu brechen, machte ich mich auf den Weg und besorgte das Salz. Als ich nach einer Stunde wiederkam und die Packung neben das Miniaturraumschiff stellte, war es bereits auf die Größe eines Zigarillos geschrumpft.
    Daran, dass die Dose mir noch einmal nützen könnte, dachte ich zunächst nicht, und, um ehrlich zu sein, ich glaubte auch nicht recht daran. Was mich vielmehr an ihr interessierte war die Tatsache, dass sie von einer Zivilisation stammte, die technologisch der unsrigen offensichtlich weit voraus war, und dass es sich um ein Gedankenübertragungs-Modul handeln sollte. Der Kommandant war mir nicht wie ein Spinner vorgekommen, also musste, Nutzen hin, Nutzen her, etwas Wahres daran sein.
    Im Keller unseres Hauses hatte ich mir eine kleine Elektronikwerkstatt eingerichtet, Elektrizität hatte mich schon als Kind fasziniert. Ich setzte mich unter eine Lampe und schaue mir die seltsame Dose von allen Seiten an. Wie ein Wunderwerk der Technik sah sie nicht aus, mit glatter Oberfläche und offensichtlich aus einem Stück gefertigt. Ich legte sie wieder beiseite und vernahm auf einmal ein leises Rauschen und Knistern, dazwischen das unverständliche Geraune verschiedener Stimmen. Verblüfft stellte ich fest, dass die Töne aus dem Lautsprecher meines selbstgebastelten Empfängers kamen, mit dem ich ab und zu den Polizeifunk abhörte. Das Sonderbare: Das Gerät war gar nicht ans Stromnetz angeschlossen. Ich nahm die Dose weg – die Stimmen verstummten – ich hielt sie näher an den Empfänger heran – die Stimmen wurden klarer, ich konnte sogar einzelne Gesprächsfetzen erkennen. Zunächst achtete ich nicht auf den Wortlaut – zu groß war mein Erstaunen. Ein Radioempfang ohne Strom widerspricht allen Gesetzten der Elektronik. Ich drehte den Lautstärkeregler meines Geräts – die Stimmen wurden nicht lauter, doch schienen sie jetzt, nach der Art, wie die Leute redeten, aus einer anderen Zeit zu kommen, ich veränderte die Empfangsfrequenz – wurde eben noch deutsch gesprochen, so vernahm ich jetzt englische Laute und dann, als ich weiterdrehte, russische.
    Eine Weile betrachtete ich das seltsame Ding, das unscheinbar und harmlos vor meinem Empfangsgerät Marke Eigenbau lag. Mir war klar: Hier traf mit verblüffender Wirkung terrestrische auf galaktische Technik. Die Dose empfing Gedanken, die ich mit Hilfe meiner Geräte hörbar machte. Sie denken jetzt sicherlich: Gedanken, hörbar gemacht? Absurd! Aber es war so. Wie das kam, kann ich mir bis heute nicht erklären, und wenn ich es könnte, wem würde es nützen? Seitdem weiß ich, dass Gedanken, die hinter den Worten steckten, noch weiter existieren, auch wenn die Worte gesagt sind.
    Ich erkannte, welcher Sprengstoff in dieser Entdeckung lag.
    Zunächst baute ich in mein Gerät eine Art Spam-Filter ein, um die unwesentlichen Gedanken, die Alltagsgedanken, zu unterdrücken.
    Allein was der Spam-Filter durchließ, ließ mir zuweilen die Haare zu Berge stehen. So hörte ich eine Stimme im Moskauer Idiom darüber räsonieren, ob die Amerikaner die Stationierung von Mittelstreckenraketen auf Kuba hinnehmen oder einen Dritten Weltkrieg beginnen würden. Die Russen beabsichtigten also, vor der Haustür der Amerikaner Raketen zu stationieren. Diese Nachricht würde wie eine Bombe einschlagen. Doch wer würde mir glauben? Auf dem Gebiet der Nachrichtendienste war ich eine völlig unbekannte Größe ohne die geringste Reputation, und übertriebene Geheimnistuerei würde mir auch nicht weiterhelfen. Zunächst einmal musste ich meine Glaubwürdigkeit unter Beweis stellen.
    Einige Wochen danach belauschte ich den Gedankengang eines Menschen, der mit einer lächerlich hohen Fistelstimme dachte und im Geiste die Kosten eines Mauerbaus überschlug. Sofort war mir klar: Es handelte sich um den Bau der Berliner Mauer, von dem hartnäckige Gerüchte im Umlauf waren. Ich fuhr sofort nach Westberlin in die Amerikanische Botschaft, doch da lachten sie mich aus. Auch jetzt noch bin ich überzeugt, die Mauer hätte verhindert werden können, wenn mich die Sicherheitsorgane damals ernst genommen hätten. Aber den Namen Viktor Hugo, unter dem ich mich am Telefon gemeldet hatte, hatten sie sich wohl gemerkt, denn als ich einige Wochen später den Verrat eines Fluchttunnels unter der Berliner Mauer ankündigte, stand die Nachricht am anderen Morgen in allen westdeutschen Zeitungen.
    Also nahmen sie mich jetzt ernst.
    Nun hätte ich weiterhin zum Wohle der Menschen wirken können, doch diese Erfolge machten mich übermütig. Mit Klein-Klein wollte ich mich nun nicht mehr abgeben, ich wollte, um mein Ego zu befriedigen, hinauf in die hohe und höchste Politik, nicht nur in die des Ostens. Dieser Fehler vernichtete schließlich nicht nur meine bürgerliche, sondern auch meine menschliche Existenz. Damals beherrschte ich noch nicht die hohe Kunst des rechtzeitigen Aufhörens. Nun ja, das steht auf einem anderen Blatt. Kurz: Ein Jahr später war ich nicht nur einer der gefragtesten Informanten dieses westdeutschen Nachrichtenmagazins, ich hatte es mir auch mit allen politischen Systemen verdorben. Angst hatte ich kaum, denn niemand kannte meinen Klarnamen, und das Nachrichtenmagazin hatte noch nie einen Informanten verraten. Und dann... die Genugtuung, sozusagen aus dem Hinterhalt das politische Tagesgeschehen durcheinander wirbeln zu können, war das Restrisiko wert... Es war jedesmal ein Hype, ein ultimativer Kick, der mich die Gefahr, in der ich schwebte, vergessen ließ. Stellen Sie sich vor, die Politiker lasen morgens in der Zeitung, was sie am Abend zuvor beim Wein oder im Bett gedacht oder unter dem Siegel der Verschwiegenheit gesagt hatten, denn vieles, das ausgesprochen wird, ist ja vorher angedacht worden! Die Verwirrung war unbeschreiblich! Bis – ja bis –“
    Der Commander schwieg, anscheinend von Erinnerungen überwältigt.
    „Ich gebe Ihnen noch fünf Minuten“, sagte Winkelmann in die Stille hinein, „dann möchte ich gerne weiterschlafen.“
    Zunächst schien es, als habe der Commander die Bemerkung nicht gehört, nur seine Augen flackerten unruhig. Dann sagte er: „Okay, okay, ich habe verstanden. Also, ich hatte keine Angst, zumindest machte ich mir das vor. Eines Morgens stand Kommandant Troysch vor mir und befahl, ich solle unverzüglich das Haus verlassen und so schnell wie möglich in Richtung Lübtheener Heide laufen, ich sei in höchster Gefahr. Tatsächlich hatte ich schon seit einiger Zeit so ein unbestimmtes, aber bohrendes Gefühl der Bedrohung empfunden, dass in Angst umschlug, als bekannt wurde, dass Kohl und Gorbatschow die deutsche Einheit beschlossen hatten. Jetzt empfand ich zum ersten Mal wirkliche, magenzersetzende Angst. In einem amerikanischen Gefängnis Jahrzehnte lang den Arsch aufgerissen zu bekommen war nicht verlockender, als in einem russischen Straflager bei lebendigem Leibe zu verfaulen. Schon vor einiger Zeit hatte ich meine Abhöranlage in dem unverdächtig wirkenden Volksempfänger im Wohnzimmer untergebracht, um etwas bei einer Hausdurchsuchung keinen Verdacht zu erregen. Jetzt hatte mich der Kommandant im Traum gewarnt, und ich zögerte keine Sekunde. Unverzüglich stand ich auf, kleidete mich an, ergriff nach alter Gewohnheit mein Gewehr und verließ ohne mich von meiner Frau zu verabschieden das Haus, und zwar keine Minute zu früh. Bevor mir die Sinne schwanden sah ich noch, wie eine Kolonne Polizeiwagen auf unser Anwesen zusteuerte.“
    Wieder schwieg Troysch, und Winkelmann sagte: „Nun gut, Commander, also den Rest auch noch.“
    „Danke.Viel zu erzählen ist ja nicht mehr. Wieder wachte ich in dem Saal mit den grün schimmernden Wänden auf. Der Kommandant fragte mich, ob ich seine Stelle übernehmen wolle. Von der geistigen Verfassung und der Figur her würde es passen, meinte er. Er sei zu der Überzeugung gelangt, dass die Suche nach dem Kopf des KÖNIGs von einem Terraner geleitet werden müsse, für ihn und Seinesgleichen sei die Erde ein zu unübersichtlicher Planet. Schon an der Salzbeschaffung sei die Mission fast gescheitert, wie ich ja bereits wisse. Die beste Technik scheitere eben oft an trivialen Kleinigkeiten. Ich müsse nur ein paar harmlose Eingriffe an meinem Gehirn und an meinem Körper zulassen, dann würde ich in seine Existenz schlüpfen, auch seinen Namen könne ich übernehmen. Er selbst würde dann wieder zurück in die Reihen der normalen Hasetéper treten, bliebe aber ständig neben mir. Im Gegenzug versprach er mir Unsterblichkeit und vollständige Schmerzfreiheit. Nun ja, die Unsterblichkeit war es nicht, die mich verlockte – ich stelle mir vor, dass es einem dann auf die Dauer ziemlich langweilig werden kann, besonders auf einem Raumschiff bei Salzwasser und Trockenfutter – aber die Schmerzfreiheit. Ein gutes Versprechen für jemanden, der ein Leben lang unter heftigen Rückenschmerzen gelitten hat.“
    Von der Heide her erklang ein langgezogener Heulton: Der Wolf.
    „Fenris hat Hasetépetés Gehirn lokalisiert“, stellte der Commander fest, „es ist nicht weit weg von hier.“ Zum ersten Mal kam Bewegung in seine Stimme.
    Der junge Mann richtete sich auf. „Woran hat er es erkannt?“
    „Am Geruch. Hasetépetés Körper besteht zu dreißig Prozent aus Sternenstaub. Als Sie ihm seinen Arm vorlegten, hat er Witterung aufgenommen und ist dem Geruch gefolgt. Er kann Sternenstaub auf weite Entfernungen riechen.“
    Winkelmann wollte aufspringen.
    „Bleiben Sie liegen! Das hat Zeit bis morgen früh.
    „Okay, okay! Also nochmal, warum erzählen Sie mir das alles?“
    „Ich erzähle Ihnen das, damit Sie wissen, wen Sie vor sich haben, und warum Sie mir unbedingt das Gehirn bringen müssen. Hören Sie: Ich bin ein Zwitterwesen, eine Chimäre, halb Mensch, halb Alien, ja, und ich leide darunter. Sie haben mein Gehirn verändert, ich kann weder hassen, noch lieben, ich kann mich auf nichts mehr freuen, habe kein Verlangen mehr nach Sex und einem guten Tropfen, meine einzige Aufgabe besteht darin, dieses verdammte Raumschiff sicher an Roten Riesen und Schwarzen Löchern vorbei durch die Galaxie zu steuern. Ich kann nicht sterben, aber ich lebe auch nicht wirklich, sie haben mich zu einem Untoten gemacht. Ja, das ist es, ich bin ein Untoter! Allein das Wort klingt grauenhaft! Aber sie haben es versäumt, mir die Erinnerung an den Genuss zu nehmen, denn der Genuss ist ihnen völlig fremd. Allein schon der Anblick der Kekse damals machte mich fast wahnsinnig vor Verlangen! Ich –“
    „Warum haben Sie die Kekse dann überhaupt aufgetischt?“
    „Weil ich Ihnen damit eine Freude machen wollte! In meinem freudlosen Dasein wollte ich wenigstens Ihnen Freude bereiten! Denn ich erinnerte mich, wie wunderbar diese Kekse schmecken... Konnte ich ahnen, dass Sie kein Liebhaber von Keksen sind?“
    „An sich schon! Aber unter den damaligen Umständen –“
    „Sehen Sie! Auch Empathie ist etwas, das mir seitdem völlig abgeht! Ich komme mir vor wie einer dieser hirn- und gefühllosen Zombies im 'Krieg der Sterne'.“
    Die Stimme des Commanders klang müde. Er schien nicht in der besten Verfassung zu sein und hockte zusammengesunken auf der Holzbank. Plötzlich richtete er sich auf und rief:
    „Aber noch bin ich nicht verloren! Hören Sie: Ich habe mit dem ehemaligen Kommandanten einen Deal ausgehandelt. Sowie das Gehirn gefunden und wieder auf Hasetépe ist, werde ich in einen Menschen zurückverwandelt und auf die Erde versetzt. Um dieses Ziel zu erreichen, habe ich Sie ausgewählt. Herr Winkelmann, Sie sind meine Rettung, enttäuschen Sie mich nicht!“ Der Commander rang unsichtbar die Hände. „Ich will mich endlich wieder freuen können, lachen, weinen, ärgern, mich besaufen, ich will wieder fluchen, lieben, hassen – und Kekse essen! Ich will wieder ein Mensch sein! Lachen Sie nicht! Die Sache ist zu ernst!“
    „Sie haben die Rückenschmerzen vergessen.“
    Der Commander lachte gequetscht. „Ja, auch die will ich wiederhaben! Der Schmerz wird mein Bruder sein, ich werde ihn lieben wie mich selbst.“ Er erhob sich. „So, ich verlasse Sie jetzt. Fenris wird Ihnen zeigen, wo Sie suchen müssen. Wenn Sie das Gehirn gefunden haben, legen Sie diesen Miniatursender daneben. Wenn es wirklich Hasetépetés Gehirn ist, wird der Sender aktiv. Alles weitere werden meine Leute besorgen. Sie können dann nach Hause zurückkehren.“
    Die Augen erloschen, und als Winkelmann genauer hinschaute stellte er fest, dass der Commander verschwunden war.

    Zwei Stunden später, bei aufgehender Sonne.
    Der Fährtensucher war schon eine Weile unterwegs, da war er sich immer noch nicht sicher, ob ihm der Commander nicht im Traum erschienen war. Er blieb verwundert stehen. Nur, wer hat mir dann den kleinen silbernen Knopf auf den Schlafsack gelegt?, fragte er sich verwundert.

    Forts. folgt

  • 8
    Eine Zufallsbekanntschaft der dritten Art

    „Geht es hier zur Saline?“, fragte der junge Mann höflich. Seine dünnen, blonden Haare flatterten im Wind.
    Die junge Frau sah ihn an. In ihrem Blick lag deutliches Erstaunen, gepaart mit einem Schuss Skepsis. „Saline? Was soll das sein?“
    „Eine Salz-gewinn-ungs-anlage“, kam es ziemlich abgehackt zurück. Die Stimme klang eigenartig hoch, fast gläsern.
    „Kenn ich nicht... Ach, du meinst die Straße 'Hinter der Saline!“
    Ihr Blick ruhte immer noch auf dem Gesicht des jungen Mannes, sie schien zu überlegen.
    Die Ampel sprang auf grün.
    Plötzlich blitzte es in ihren Augen auf. „Komm, ich zeig es dir! Ist nicht weit von hier, und ich muss zufällig auch in diese Richtung.“
    Sie überquerten die Straße und bogen in eine der engen Gassen der Altstadt ein. Rechts und links schmale, hohe Giebelhäuser, die sich scheinbar ängstlich aneinanderschmiegten.
    „Du bist nicht von hier?“, fragte die junge Frau. Sie war ein lustiges Geschöpf mit blauen Augen, roten Lippen und einer kecken Mütze auf dem kahl geschorenen Schädel.
    „Nein.“
    „Darf man fragen, woher du kommst?“
    Der junge Mann zögerte ein wenig, bevor er antwortete. Er sagte: „Vom Mond, mare ingenii, Krater sechs.“
    Die junge Frau brach in ein helles, unbeschwertes Lachen aus. „Okay, du kommst vom Mond! Du bist mir einer!“ Sie sah ihn von der Seite an. „Na ja, wenn man dich so ansieht... stimmen könnte es schon, so zart und durchsichtig wie du bist!“ Wieder lachte sie. „Nun erzähl mir noch, dein Vater ist der Mann im Mond!“
    „Ich habe keinen Vater“, sagte der junge Mann mit ernster Miene.

    „Unsinn! Jeder hat einen Vater! Oder bist du auch noch vom Himmel gefallen? – So, da wären wir. Hinter der Saline. Aber eine Salzgewinnungsanlage gibt es hier nicht. Nur ein Museum, das Salzmuseum.“
    Der junge Mann blickte erfreut auf. „Kann ich da Salz bekommen?“
    „Was willst du denn mit Salz? Das macht doch nur durstig. Ich hab da eine bessere Idee! Ich lad dich zu einem Eis ein. Hier gleich um die Ecke gibt es ein süßes kleines Eiscafé. Nun komm schon!“ Sie zupfte ihn am Ärmel. „Oder hast du keine Zeit? Oder hast du Angst vor Frauen? Na also! Dein Salz kannst du immer noch kaufen.“ Sie sah ihn mit großen runden, vor Abenteuerlust sprühenden Augen an. „Mit einem vom Mond wollte ich mich schon immer mal unterhalten!“

    „Kann ich auch ein Glas Wasser bekommen?“, fragte der junge Mann, als sie unter einem Sonnenschirm Platz genommen hatten. „Ich mag kein Eis.“
    „Na sag mal, was ist denn mit dir los?“ Sie grinste schelmisch. „Ach ja, du kommst ja vom Mond! Gerade deshalb solltest du es mal probieren. Schmeckt vorzüglich. Ist das beste hier in der Stadt.“ Sie sah seine feingliederige, schmale Hand. „Sag mal, isst du eigentlich genug? Du bist ja das reinste Luftkotelett! Fall mir bloß nicht vom Stuhl! Du solltest unbedingt mehr essen.“
    „Essen? Ich hab ja noch nicht einmal genug zu trinken!“
    „Okay, okay, habe verstanden! Du sollst dein Glas Wasser haben! He, Frollein! Für meinen Freund ein Glas Wasser und für mich zwei Kugeln Fruchteis mit Sahnehäubchen. Zitrone und Erdbeere!“
    Das 'Frollein' zog ein Gesicht. „Wasser führen wa nich, da müssen Se zu den Wasserwerken gehen. Das Eis können Se haben.“
    „Nein danke! Komm, wir gehen.“
    „Na was denn, was denn, wer wird denn gleich! Kostet aber zwei Euro!“
    Sie sahen dem Wackelpopo nach, wie er Kurs auf das Lokal nahm.
    „Ich heiße übrigens Leona. Und wie heißt du?
    „Nenn mich einfach Hasi.“
    „Hasi von Mond! Weißt du was? Ich werde dich Mondhase nennen, okay?“
    „Von mir aus!“
    Eine Weile herrschte Schweigen. Dann sagte Leona: „Du bist so ganz anders als die Jungs hier im Quartier. Die meisten kannst du in der Pfeife rauchen, zugekifft und nichts als Scheiße im Kopf. Na ja, und die wenigen, für die ich mich erwärmen könnte, sind entweder total durchgeknallt oder schon vergeben. Aber du, Mondhase, wirkst auf mich irgendwie... wie soll ich sagen... irgendwie anders... ja, das ist es! Wie aus der Zeit gefallen! Und bist nicht so albern... Sag mal, wie alt bist du eigentlich?“ Ehe Mondhase antworten konnte, schnellte ihre Hand vor und verschloss ihm den Mund. „Lass mich raten! Achtzehn?“
    „Hmhm!“
    „Fünfundzwanzig?“
    „Hmhm!“
    „Fünfundachtzig?“
    „Hmhm!“
    Die Bedienung kam und stellte Eis und Wasser auf den Tisch. „Macht sechs fuffzig!“
    Während Leona das Geld abzählte, glitt der Blick des 'Frolleins' zu Mondhase hin. „Sie kommen aber nicht von hier“, sagte sie.
    „Nee, der kommt vom Mond, mare dingsbums, Krater sechs. Stimmt so.“
    „Ich glaub´s wohl!“
    „Sagen Sie, meine Dame, könnte ich wohl etwas Salz haben?“
    Die 'Dame' lachte spitz. „Hat der gnädige Herr sonst noch Wünsche? Vielleicht ooch noch Senf oda gebratene Backpfeifen!“
    „Nun werden Sie mal nicht frech, Sie!“, brauste Leona auf. „Wenn mein Freund Salz haben will, wird er schon wissen warum! Also, haben Sie?“
    „Nee. Aber auf dem Tisch da nebenan steht ein Salzstreuer.“
    „Mann, hast du eine Haut“, staunte Leona, während sie beobachtete, wie sich ihr 'Freund' Salz in das Wasser streute, „richtig wie Seide! Wie kriegst du das hin? Wenn ich da an meine denke...“ Anscheinend dachte sie wirklich, denn sie fuhr erst nach kurzer Pause fort: „Mondhase, sieht man eigentlich, dass ich stark geschminkt bin?“
    „Geschminkt? Was heißt das?“
    „Du stellst Fragen! Das heißt, ich hab meine Stirn zugekleistert, damit man die Pickel nicht sieht. Meine Schwester, die dumme Kuh meint, ich sähe blühend aus. Ich will aber nicht blühen, ich will glänzen! Was meinst du, Mondhase, sieht man was?“
    „Ich wüsste nicht, was es da zu sehen gäbe.“
    „Und wenn man was sähe, würde es dich stören?“
    „Warum sollte es mich stören?“
    „Danke! Komm, lass dich knuddeln!“
    Sie sprang auf, umarmte Mondhase kurz, setzte sich wieder und löffelte ihr Eis.
    „Weißt du, was mir an dir besonders gefällt?“ sagte sie nach einer Weile.
    „Nein.“
    „Dass du keine hirnrissigen Sprüche kloppst. Die Kerle, die ich kenne, sind manchmal so abgrundtief scheiße... Immer diese Aufschneidereien, immer nur Auto und Fußball im Kopf. Da ist mir einer wie du, der kaum was sagt, lieber. Dir könnte ich stundenlang zuhören!“ Sie lachte schelmisch. „Hast du eigentlich noch Geschwister?“
    „Ein Haufen Brüder.“
    „ Sehen die alle so aus wie du?“
    „Mehr oder weniger.“
    „Ach! Und wie haltet ihr euch auseinander?“
    „Jeder hat eine Nummer. Ich zum Beispiel bin 3-x-Ha-2.“
    „3-x-Ha-2... Hmm... Was bedeutet das?“
    „Dritter Kammerdiener des Großen Commanders auf Hasepfeil 2.“
    „Und was ist Hasepfeil 2?“
    „Unser Raumschiff.“
    „Verstehe! Was jetzt im mare – wie heißt das noch gleich?“
    „Mare ingenii, Krater sechs.“
    „Auf der Rückseite des Mondes.“
    „Genau.“
    „Wie bist du denn hier her gekommen, mein Freund?“
    „Mit einem Transportmodul.“
    Ihre Lippen kräuselten sich in verhaltener Ironie. „Dacht´ ich mir. Und was suchst du hier auf Erden?“
    „Salz.“
    „Ach ja! Die Saline! Gibt es auf dem Mond denn keines?“
    „Doch schon! Aber es ist im Moment leider nicht zugänglich. Sonst wäre ich nicht hier.“
    „Hmm... Und salzlose Ernährung ist nicht so dein Ding, denk ich mal.“
    „Nein. Im Gegenteil.“
    „Sag jetzt nicht, dass du dich von Salz ernährst!“
    „Doch, so ist es, mein Fräulein! Ich ernähre mich von Steinsalz und Sternenstaub.“
    „Glaub ich sofort, so wie du aussiehst! Und wie du sprichst, hihi, mein Fräulein... ist doch total veraltet, die Anrede. Heute sagt man zu einer Frau, die man mag, 'meine Liebe' oder, wenn man ganz vornehm ist: Meine Teuerste. Ich für meinen Teil ziehe Leona vor.“
    Ein paar Sekunden sah sie ihn ungläubig an, dann prustete sie los. „Mann, das ist ja n Onk! Ein echter Alien! Das muss ich gleich Taifan erzählen! Die wird sich kaputtlachen! Weißt du, Taifan ist nämlich die Wetterhexe von Dienst und ich bin Frau Holle. Wir ernähren uns von Fruchteis mit Schlagsahne, dazu ab und an mal als Leckerbissen eine Elfenlocke, und wir wohnen zwar nicht hinterm Mond, aber – sag mal, du bist ja steif wie ein Stock! Magst du keine Frauen?“
    Schweigen.
    Ein Schatten fiel über ihre Augen. „Aha! Verstehe schon! Du bist vom anderen Ufer. Dacht ich mir doch gleich, als ich dich sah... Na ja, soll mir Recht sein... Andrerseits, irgendwie schade... Mondhase, ich glaube, wir beide hätten gut zueinander gepasst... Hat eben nicht sollen sein... So, ich muss jetzt. Trink in Ruhe aus, dein Salzwasser. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder. Tschau!“ Nach wenigen Schritten kehrte sie wieder um. „Übrigens, Salz gibt es beim Discounter zweihundert Meter weiter geradeaus. Kannst du nicht verfehlen.“
    Ein letzter Blick, dann drehte sie sich blitzschnell um und lief mit klappernden Stiefeletten davon.

    Forts. folgt


  • 8
    Die beiden anderen Köpfe waren genauso montiert wie der von Hasi: Auf Glaszylindern, die zur Hälfte mit einer grünlich schimmernden Flüssigkeit gefüllt waren. Weinert, der im Zweitfach Chemie lehrte, war auf die Idee gekommen, die Salzlösung mit einem Chlorophyll-Extrakt anzureichern und mit starken Lampen zu bestrahlen, weil Blattgrün Lichtenergie in biochemische Energie umwandelt. So, meinte er, könne die Energieversorgung verbessert und die Denkleistung der Gehirne weiter gesteigert werden. An Stirn, Schläfen und Hinterkopf waren Elektroden angebracht, von denen Leitungen zu verschiedenen Relais und Computern gingen. Auf drei Bildschirmen flimmerte es, und ein leises Summen lag in der Luft. Hauschild überprüfte noch einmal die Geräte – alles funktionierte einwandfrei.
    „Ich glaube, wir können sie jetzt allein lassen“, sagte Weinert, „der Neue wird sich von der Fahrt erholen wollen. Die Kreisstraße hat ihn doch ganz schön durcheinander geschüttelt, mich übrigens auch. Ich hätte auf der Bundesstraße bleiben sollen. Morgen werden wir sie in Betrieb nehmen und sehen, wie es läuft. Ich schlage vor, bis die Stube warm ist, vertreten wir uns etwas die Beine. Das viele Sitzen bekommt mir nicht.“
    Weinert schaltete die Deckenleuchten aus. Durch die Kellerfenster drang gedämpftes Licht herein. Die Glasgefäße und die Signallampen schimmerten bunt.

    *
    Das Dorf lag wie ausgestorben unter der tief hängenden Wolkendecke, nur hier und da leuchtete ein Fenster. Vor einem verlassenen Ladenlokal blieb Weinert stehen.
    „Hier hat Waltraut noch vor zwei Jahren Katzenfutter gekauft“, sagte er. „Katzen- und Hundefutter waren die wenigen Artikel, die noch bis zum Schluss liefen. Hier hat jeder mindesten drei Katzen und zwei Hunde. In den Wäldern hier sollen sich mehrere Tausend verwilderte Katzen herumtreiben, das gefundene Fressen für die Wölfe.“
    „Können Wölfe den auf Bäume klettern?“, fragte Hauschild grinsend.
    „Das nicht. Aber die Katzen fallen herunter, denn viele sind todkrank.“
    „Wagen sie sich bis ins Dorf?“
    „Wer? Die Wölfe? Nein. Der Wolf hat vor dem Menschen mindestens genauso viel Angst wie der vor ihm. Nur manchmal nehmen sie einen Hühnerstall von einem dieser Neusiedlerhöfe da draußen aus.“
    „Warum räumt man denn nicht mal gründlich auf?“
    „Wie meinst du das?“
    „Na, wie heißt es so schön im Amtsdeutsch? Durch Entnahme aus der Natur.“
    „Ha!“ Weinert blieb überraschend stehen. „Du hast ja keine Ahnung!“, rief er, „dies hier ist Wolfsland, in dem Menschen geduldet werden, und wer sich mit den Wölfen anlegt, legt sich mit den Wolfsschützern an. Vor einiger Zeit haben sie einem Vertreter des Samtgemeinderates, der das Maul in dieser Richtung zu weit aufgerissen hatte, die schöne weiße Villa mit Teer angestrichen.“ Weinert ging weiter. „Außerdem würde es nichts nützen. Sie kommen über Usedom, sie schwimmen durch die Oder. Wenn du einen abschießt, ist gleich der nächste da. Dort drüben, der schwarze Streifen, das ist der Bannwald. Dort beginnt ihr Reich. Im Winter, und besonders bei Frost, hörst du sie heulen. Nicht jedermanns Sache, besonders den Schäfern vergällt es die Nachtruhe. Nun ja, ich mag dieses Wolfsgeheul, wie ich diese Gegend hier mag. Es klingt irgendwie urzeitlich. Wie der Gesang aus einer anderen Welt. – Was haben wir den hier?“
    Weinert blieb stehen und bückte sich. „Eine Wolfsspur!“ Er betrachtete aufmerksam eine Stelle neben dem Sandweg. „Ein alter Einzelgänger“, stellte er fest.
    „Woran erkennst du das?“
    „Am Schritt. Er ist müde und setzt bedächtig Fuß vor Fuß. Den Wölfen geht es wie den Menschen. Irgendwann wollen die alten Knochen nicht mehr. Diesen Sommer wird er noch überleben, den Winter wahrscheinlich nicht mehr. Ich wundere mich nur, was er hier will. Außer ein paar lahmen Katzen gibt es hier nichts zu holen.“
    „Vielleicht sollte er mal den Knall der Flinte hören!“
    „Nicht der! Der lässt sich durch den bloßen Knall einer Flinte nicht vertreiben, sonst hätte er sich nicht in die unmittelbare Nähe des Dorfes gewagt. Vielleicht ist er ja sogar ein Fenriswolf.“
    Sie kamen am Kriegerdenkmal vorbei. Der steinerne Soldat über der Gedenktafel glänzte vor Nässe, es sah aus, als schwitze er.
    „Fenriswolf? Sagt mir nichts.“
    „Eine germanische Sagengestalt. Der Fenriswolf wurde von Tag zu Tag größer und kräftiger, und die Götter fühlten sich bedroht: Sie fürchteten, er werde sie alle verschlingen. So entschlossen sie sich, ihn für alle Zeiten zu fesseln. Man ließ erst zwei schwere Ketten fertigen, die der Wolf aber mühelos zerriss. Nun sollte er seine Kraft an der magischen Fessel Gleipnir erproben, die so harmlos wie ein simpler Faden aussah. Der Faden war aber von den Zwergen gemacht und zwar aus den Sachen, die es nicht gibt. So zum Beispiel aus den Sehnen der Bären, dem Atem der Fische, den Bärten der Frauen, dem Speichel der Vögel, dem Geräusch eines Katzentritts und den Wurzeln der Berge. Der Fenriswolf schöpfte Verdacht. Er verlangte zur Sicherheit gegen Betrug, dass einer der Götter ihm die rechte Hand ins Maul legte. Keiner wollte sich dafür hergeben außer Tyr. Man fesselte Fenris, aber je stärker er an der Fessel riss, desto enger zog sie sich zu. Er blieb gefesselt, biss Tyr jedoch die rechte Hand ab. Dadurch wurde die Götterwelt gerettet und das ausgerechnet durch den Gott Tyr, den Gott des Krieges. Zum Dank verliehen die Götter Fenris die Gabe, Dinge zu finden, nach denen andere vergeblich suchten.“
    „Nett! Ich wusste gar nicht, dass du so ein großer Wolfskenner und Geschichtenerzähler bist. Wenn man dich in deinem fleckigen Weißkittel mit deinen Chemikalien hantieren sieht, denkt man eher an den drögen Oberstudienrat als an einen begeisterten Tierfreund.“
    „Die Geschichte hat mir meine Großmutter abends am Bett erzählt, als ich noch klein war.“
    „Und danach konntest du einschlafen?“
    „Warum nicht? Die Großmutter war ja da und passte auf.“
    „Und du hast nie Angst gehabt, dass der Wolf kommt und die Großmutter frisst?“
    „Wölfe fressen keine Großmütter und Füchse stehlen keine Gänse“, sagte Weinert mit ernstem Gesicht. Hauschild belegte Weinert mit einem mokanten Blick. In diesem Moment kam er ihm wie ein kleines Kind vor.
    Eine Weile setzten sie ihren Weg schweigend fort, dann sagte Weinert: „Heiner, hast du schon mal einem Wolf tief in die Augen geschaut?“
    „Nicht dass ich wüsste.“
    „Dann kannst du nicht mitreden. Es sind faszinierende Geschöpfe. Ihre Geselligkeit gleicht der des Menschen. Sie leben in Familienclans, in denen eine strenge Rangordnung herrscht. Bestimmte Zeremonien sorgen dafür, dass der Zusammenhalt untereinander nicht verloren geht. Der Anführer zeichnet sich durch sein Imponiergehabe aus und hält sich einen Harem –“
    „In dem allabendlich Bauchtänze dargeboten werden! Schon gut, ich glaub´s ja! Lass uns umkehren. Ich friere, und mir knurrt der Magen.“
    Eine ältere Frau stand vor einer Hauswand und beobachtete, wie ihr Hund ein Häufchen machte. Als sie die beiden Männer kommen sah, zog sie den Hund eilig weg und bog in einen Seitengasse ein.

    *
    Nach dem Abendessen saßen die beiden Kollegen im Wohnzimmer bei einer Flasche Wein. Ein leises Simmern im Kachelofen zeigte an, dass er gut zog.
    „Auf unsere Zukunft“, sagte Weinert und hob sein Glas. Nachdem sie sich zugetrunken hatten, fuhr er fort: „Erkläre mir doch nochmal genau, was du vorhast. Mir will nicht so recht in den Kopf, wie du mit der Antimaterie wirtschaftlich Energie gewinnen willst. Wir sind nicht das CERN. Solche Projekte kann man nur wagen, wenn das Füllhorn der steuerfinanzierten Wissenschaftsförderung weit geöffnet ist. Also, bitteschön, wo soll das Geld herkommen? Die Million für den Riemann bekommen doch wir nicht, das Geld geht an die Schule.“
    Hauschild tat einen kräftigen Schluck und stellte sein Glas ab. Dann erklärte er: „Es geht nicht ums Geld, das stellt sich später von selber ein, wenn sich die ersten Erfolge abzeichnen. Es geht darum, das anscheinend Undenkbare zu denken. Dazu brauchst du lediglich einen Fetzen Papier, einen Bleistiftstummel – und ein Ausnahme-Gehirn, so wie das von Einstein. Und davon haben wir wahrscheinlich gleich drei im Keller. Ich will die Formel für die Elektronen-Positronen-Fusion finden, so wie Einstein seine Energieformel fand, die schließlich zur Energieerzeugung durch Kernspaltung führte –“
    „Und zur Atombombe.“
    „Herrgottnochmal, ja! Aber auch mit einem Küchenmesser kannst du Leberwurst aufs Brot schmieren oder deine Frau erstechen.“
    „Manchmal denke ich, es wär´ das beste!“ Weinert lachte ungut. „Kleiner Scherz... Na schön, was steht auf deinem Fetzen Papier? Wie sieht deine Theorie aus?“
    „Das Problem ist, dass Antimaterie noch nicht in ausreichender Menge zur Verfügung steht, obwohl sie in rauen Menden existiert. Auch Atomkerne gibt es überall, aber erst Einsteins Berechnungen haben dazu geführt, dass man sie wärmetechnisch nutzen kann. Solche Berechnungen muss es auch für die Antimaterie geben, und Hasi und die beiden anderen sollen sie anstellen.“
    „Gut, nehmen wir an, es gelingt ihnen. Wie soll es dann weitergehen?“
    „Wenn ein Elektron mit einem Positron verschmilzt, entsteht ein kleiner Lichtblitz. Man könnte jetzt, bei großtechnischem Einsatz, diese Lichtblitze mit Spiegeln einfangen und damit Wasser verdampfen. Alles weitere geschieht dann konventionell in normalen Heizkraftwerken.“
    „Hmm...“ Weinert massierte sich das Kinn. „Klingt an sich ganz einfach. Wahrscheinlich liegt der Teufel wieder mal im Detail.“
    „Ich glaube nicht an den Teufel. Etwas anderes macht mir mehr Sorgen. Auch hier besteht das Risiko einer unkontrollierten Kettenreaktion, die im schlimmsten Fall zu einem Super-GAU führen könnte. Erinnerst du dich noch an das, was die Medien verbreiteten, als beim CERN der erste Versuch mit Antimaterie lief?“
    „Nicht wirklich.“
    „Es hieß, wenn der Versuch außer Kontrolle gerate, könnte sich die gegenseitige Auslöschung von Materie immer weiter ausbreiten, und schließlich sei von Genf und Umgebung nur noch ein riesiges Loch übrig.“
    „Noch steht Genf doch.“
    „Ja, weil die Anzahl der Elementarteilchen zu gering war, um eine Kettenreaktion auszulösen. Nur, was ist, wenn die kritische Masse überschritten wird?“ Hauschild blickte seinen Kollegen wie hilfesuchend an. Doch er hatte wohl keine Antwort erwartet und fuhr fort: „Eine Möglichkeit bestünde darin, den Versuchsreaktor mit einem absoluten Vakuum zu umgeben. Wo nix ist, kann auch nix verschwinden. Nur wäre das großtechnisch nicht praktikabel. Ich überlege, ob man diese Art der Energieerzeugung deshalb nicht besser auf den Mond verlegen sollte. Sollte tatsächlich etwas schiefgehen – dann gäbe es eben noch einen Krater mehr auf dem Mond. Die ESA plant gerade ein Raumschiff für den Linienverkehr Erde-Mond. Der Transport von Personal und Material wäre also nicht das Problem... Sag mal, hörst du mir überhaupt noch zu?“
    Tatsächlich hatte Weinert bei den letzten Sätzen wie abwesend dagesessen und mit der Serviette gespielt.
    „Doch, doch... Der Transport von Personal und Material wäre also nicht das Problem … An die Menschen, die bei einem GAU ums Leben kommen könnten, an die denkst du wohl gar nicht.“
    „Der laufende Betrieb wird natürlich von Robotern besorgt.“
    „Gut. Wie willst du die Energie zur Erde befördern?“
    „Mit Laser-Kanonen. Das Licht wird mit solarzellen-beschichteten Parabolspiegeln aufgefangen, die in unbewohnten Gegenden auf gestellt sind, am besten in Hochgebirgslagen. Da wir so gut wie keine Abwärme haben, denke ich an einen Wirkungsgrad von an die fünfundneunzig Prozent. Ein Traum! Bei der besten konventionellen Kraft-Wärme-Kopplung liegen wir bei –“
    „Weiß ich, weiß ich! Und du meinst, das klappt?“
    „Warum sollte es nicht klappen? Platon sagt, alles was gedacht werden kann, existiert auch. Man muss es nur richtig wollen.“
    „Hör mir mit deinem Platon auf! Der behauptete auch, Frauen hätten kein Gehirn.“ Weinert sah sein Gegenüber spöttisch an. „Und du glaubst, du könntest damit das Klima retten?“
    „Retten? Nein, Aber ich könnte, was die CO2-Problematik betrifft, etwas Druck vom Kessel nehmen. Und es springt noch etwas dabei heraus.“
    Weinert schnippte mit den Fingern. „Ich hätte da eine bessere Idee, bei der erheblich mehr herausspringen würde. Allerdings befürchte ich, sie wird dir nicht gefallen.“
    „Lass hören!“
    „Nehmen wir an, die Elektronen-Positronen-Fusion gelingt, dann könnte man damit doch eine Bombe bauen. Eine P-Bombe.“
    „Ich verstehe nicht...“
    „Herrgottnochmal! Was ist denn daran nicht zu verstehen? Eine Bombe! BE-O-EM-BE-E! Es wäre eine schreckliche, wenn nicht die schrecklichste, aber auch eine vergleichsweise humane Massenvernichtungswaffe! Die Atombombe verursacht unnötige Folgeschäden, ich denke da an die vielen Strahlenopfer, die Wirksamkeit der Neutronenbombe ist noch nicht erprobt, auf jeden Fall gäbe es auch hier massenhaft Tote und Verletzte, biologische und chemische Kampfstoffe wirken nicht zielsicher genug – ich will auf folgendes hinaus: Eine Positronen-Bombe würde, wenn ich deine Erklärung richtig verstanden habe, weder zerstören noch töten, sie würde einfach auslöschen... das Zielgebiet würde sich in Nichts auflösen... es gäbe keine Ruinen, keine Leichen, höchstens ein Loch in der Erdoberfläche... Menschen und Tiere wären von einer Sekunde auf die andere einfach nicht mehr da... wahrscheinlich, ohne etwas davon zu merken. Und ohne zu leiden.“ Weinert stutzte. „Du siehst wenig begeistert aus!“
    Hauschild sah seinen Kollegen entsetzt an. „Auf Ideen kommst du! Eine humane Massenvernichtungswaffe... das ist doch krank! Anscheinend hast du überhaupt nicht begriffen, worum es mir geht. Es gibt doch schon genug Vernichtungspotential auf der Welt.“
    „Nun halt mal die Beine still! Habe ich denn behauptet, dass ich die Waffe einsetzen will? Ich stelle mir die Sache so vor: Wir bauen zu Demonstrationszwecken einen kleinen Prototypen, laden ein paar wichtige Politiker ein und eliminieren damit vor ihren Augen irgend einen unbedeutenden Hügel, von mir aus in der Lübtheener Heide. Das wird den entsprechenden Leuten klar machen, dass wir keine Spinner sind. Sollte es immer noch nicht reichen, könnten wir behaupten, die beiden letzte Woche verschollenen Passagierflugzeuge gingen auf unser Konto. Dann erklären wir ihnen, wir könnten jederzeit eine Großstadt wie Genf oder Paris spurlos vom Erdboden verschwinden lassen. Aber wir sind ja keine Unmenschen. Allerdings, damit wir es nicht tun, verlangen wir Lösegeld – eine moderne Art der Brandschatzung. Und wir hätten ein für alle Mal ausgesorgt. Wir könnten reich werden, stinkreich!“
    „Das ist Erpressung.“
    „Nein. Das ist Machtpolitik.“
    „Und mit dem Reichwerden... Wenn du dich da mal nicht vertust! Sie werden bis zum Sanktnimmerleinstag verhandeln, und du siehst keinen Cent. Man kennt das ja. Schau dir doch nur den Krieg in Syrien an. Sie verhandeln und verhandeln, und nichts tut sich.“
    „Papperlapapp! Du immer mit deinen kleinlichen Bedenken! Du denkst wie ein Spießbürger! Bloß nichts wagen, immer schön auf dem Sofa sitzen bleiben. Nun ja, wenn sie partout nicht zahlen wollen, dann lassen wir eben zum Exempel eine Kleinstadt hopsgehen. Es tut ja nicht weh... Was ist, du zitterst ja –“
    Hauschild sprang so heftig auf, dass sein Stuhl mit voller Wucht gegen die Kommode mit dem Volksempfänger krachte. „Hör auf, das ist ja widerlich!“, schrie er und sah Weinert aus verkniffenen Augen böse an. „Mensch, Jewgenij, so kenne ich dich ja gar nicht!“ Er stand jetzt aufrecht vor Weinert und blickte auf ihn herab. Seine Wangen zitterten. „Jewgenij, sag mir, dass du das eben nicht ernst gemeint hast! Sonst breche ich das Projekt sofort ab!“ Es klang fast bittend.
    Weinert sah ein, dass er den Bogen überspannt hatte und gab sich einsichtig. „Reg dich ab und setz dich wieder hin! Natürlich habe ich es nicht ernst gemeint... es war nur laut gedacht...“ Er biss sich auf die Lippen.Scheiße! Warum kann ich nicht einmal den Mund halten. „Und noch wären es ja sowieso nichts anderes als Hirngespinste. Oder hat der Thinktank da unten schon irgendetwas Brauchbares geliefert? Na siehst du! Komm, Heiner, hab dich nicht so! War alles nur so daher gesagt. Ich hol uns noch eine Flasche, und dann stoßen wir auf unsere alte Freundschaft an!“
    Die beiden horchten auf. Zunächst war da ein deutlich zu vernehmendes knisterndes Rauschen, dann knackte es ein paarmal, und in das Rauschen hinein rief eine wütende knorrige Stimme: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Frenetisches Beifallsgebrüll erscholl, danach, immer wieder von starkem Knistern überlagert, undeutliche Marschmusik.
    Die beiden blickten sich erwundert an.
    „Der Stoß eben hat das Teufelsding wieder in Gang gesetzt“, sagte Weinert.
    Wieder rauschte und knisterte es, dann, wie aus weiter Ferne eine lächerliche Fistelstimme: „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu bauen... Verstehe ich Ihre Frage richtig...“ Das weitere ging im Grundrauchen unter. Weinert öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch nun erklang eine andere Stimme, heiser und gequetscht: „Es wächst zusammen, was zusammen gehört.“ Ein paar Knackser, dann war, bis auf ein leises Grundrauschen, Ruhe.
    Als erster fasste sich Hauschild. „Ich habe mich also doch nicht verhört“, sagte er, „Hitlers Stimme war gestern schon drin. Die von Ulbricht und Brandt sind neu. Seltsam, sehr seltsam.“
    „Hast du den Kasten gestern nicht ausgestellt?“, fragte Weinert.
    „Doch!“ Hauschild stand auf und drehte den Ein-Aus-Knopf. „Steht eindeutig auf Aus“, stellte er fest. „Wie kann das sein?“
    „Zieh doch mal den Stecker. Vielleicht besteht ja ein Wackelkontakt. Ich hol´ mal eben eine neue Flasche.“
    Hauschild zog den Stecker, doch das leise Grundrauchen blieb.
    Weinert kam mit der entkorkten Flasche zurück, setzte sich und schenkte ein. „Hört sich an, als seien in dem Gerät Reden schicksalshafter Augenblicke unserer Geschichte konserviert“, sagte er nachdenklich. „Die Reden selbst sind schon lange verklungen, doch der Geist, in dem die gehalten wurden, existiert noch, und das Gerät ist in der Lage, ihn wieder gegenwärtig zu machen.“ Er blickte den Volksempfänger fast ehrfurchtsvoll an. „Ich hab´ doch geahnt, dass es kein normales Radiogerät ist.“
    Hauschild hob eine Augenbraue und blickte Weinert amüsiert an. „Was du dir da wieder zusammenfantasierst! Wie soll das denn gehen, so ohne Strom, he? Nee... ich vermute, da steckt ein batteriebetriebener aber defekter Kassettenrekorder drin, der bei Erschütterungen wieder anspringt. Hast du mal einen kleinen Schraubenzieher in greifbarer Nähe?“
    In greifbarer Nähe nicht, aber im Keller. Hauschild schraubte eine Weile herum, schließlich hielt er die Rückwand des Radios in der Hand. Er warf einen kurzen Blick ins Innere, dann drehte er das Gerät um.
    „Leer!“, rief Weinert aufs Äußerste verblüfft, „das gibt es doch nicht!“
    „Nicht ganz!“ Hauschild wies auf ein kleine runde Dose und eine Schaltplatine am Boden des Geräts. „Eine Wanze!“
    Weinert schlug sich auf den Schenkel, dass es klatschte. „Diese hinterfotzige Muschpoke!“, rief er entrüstet, „jetzt wird mir einiges klarer! Ich hab´ mich schon immer gewundert, warum Herbert damals nicht in die LPG eintreten musste und sie ihm trotzdem seine Kartoffeln abnahmen. Jetzt weiß ich´s. Er war bei der Stasi, der Hund! Und Waltraut, die alte Eule, hat mitgespielt. Also deshalb.“ Er schüttelte den Kopf. „Weißt du, als ich einmal in den großen Ferien hier war und dem Ding da zu nahe kam, spielte Herbert verrückt. Weg da!, schnauzte sie, das ist nichts für kleine Jungs! Natürlich machte er mich durch sein Gezeter erst recht neugierig. Doch als ich in einem unbeobachteten Augenblick den Knopf drehte, war da außer verknisterter Marschmusik nichts, und ich hielt den guten Onkel für übergeschnappt.“
    Plötzlich lachte Weinert laut auf.
    „Es ist sowas von bizarr! Da haben die von der Abteilung Lausch und Horch alles Mögliche und Unmögliche versucht, um die Dingerchen zu verstecken, und in Herberts Wohnzimmer steht so ein Teil seit fünfzig Jahren für alle sichtbar. Nicht schlecht, Herr Specht, darauf muss erst mal einer kommen!“ Weinert griff zum Glas. „Und jetzt weiß ich auch, warum Herbert die Flirren gekriegt hat, als es mit seinem Arbeiter- und Bauernstaat zuende ging.“ Er trank einen kräftigen Schluck und stellte das las wieder ab. „Ein paar Tage vor der Wende war ich gerade hier. Ich war damals zehn oder elf. Du hättest Herbert mal sehen sollen, als einer von den DDR-Bonzen im Rundfunk die Wende ankündigte. Heute weiß ich, dass es Modrow war. Na ja, damals verstand ich von dem allen so gut wie nichts, Politik war für mich noch uninteressanter als für ein Pferd, das auf dem Weg zum Schlachter ist, ein vorgeworfenes Bündel Stroh. Aber eines war sogar mir damals klar: Herbert hatte eine Höllenangst. Wie von der Tarantel gestochen lief er im Haus herum, dann zog er sich Stiefel und Lodenmantel an, hing sich seinen Püster um und rannte raus. Waltraut und ich dachten, er geht auf Karnickel. Kurz darauf stand die Kripo vor der Tür und wollte wissen, wo Herbert ist. Waltraut gab wahrheitsgemäß an, sie wisse es nicht. Mir machte sie allerdings nicht den Eindruck, als würde sie Herberts Abgang sehr schmerzen. Aufgetaucht ist er nicht mehr. Hat sich wahrscheinlich nach Polen oder Russland abgesetzt.“ Weinert schnaufte vor Erregung. „Ganz normal getickt hat er wohl nie. Sonst hätte dieser Hänfling nicht diese Walküre von Frau geheiratet.“
    „Hmm...“ Hauschild kratzte sich das Kinn. „Alles schön und gut, was du da erzählst, mein Lieber, und für den einen oder anderen, der diese Zeit nicht hautnah miterlebt hat, wie ich zum Beispiel, möglicherweise auch nicht ganz uninteressant. Aber wir sind ganz von der Frage abgekommen, warum in dieser angeblichen Wanze die Stimmen deutscher Politiker zu hören sind.“
    Weinert dachte eine Weile nach. Dann sagte er: „Wie ich vorhin schon andeutete, wenn eine Rede verhallt, heißt das nicht, dass auch die Gedanken, die dieser Rede zugrunde liegen, aus der Welt sind. Nimm Hitlers Nazi-Gedanken. In den Köpfen mancher Leute schwirren sie immer noch herum. Also existieren sie noch. Oder Ulbricht mit seiner Mauer. Wieder gibt es Politiker, die Europa zu einer Festung machen und Mauern errichten wollen. Dieses Gerät ist eben in der Lage, dieses Gedankengut wieder hörbar zu machen.“
    „Das würde ja bedeuten, wir hätten es hier mit dem perfidesten aller Abhörsysteme zu tun, einem Gedankendetektor!“
    „So sieht es wohl aus.“
    „Hmm... Und warum in drei Teufels Namen höre ich meine Gedanken jetzt nicht?“
    „Vielleicht sind sie nicht bedeutend genug.“
    „Ach nee! Aber deine sind es, wie? Hörst du was? Ich nicht!“
    „Liegt wahrscheinlich – “ Weinert verstummte. Aus dem Lautsprecher drangen Wortfetzen, die unter dem Knistern und Knacken zunächst kaum zu verstehen waren. Allmählich wurden die Störgeräusche leiser, und jetzt hörte man deutlich, wie jemand B-O-M-B-E buchstabierte undhumane Massenvernichtungswaffe sagte.
    Weinert erstarrte, dann sprang er auf. Sein Weinglas fiel um, der Inhalt floss auf den Teppich. Er riss den Volksempfänger an sich und stürzte aus dem Zimmer. Kurz darauf hörte Hauschild vom Hof her wütende Schläge, Material zersplitterte.
    Der Chemie- und Biologielehrer kam schwer atmend und mit hochrotem Kopf zurück. „So“, sagte er, „der Gedankendetektor ist nicht mehr!“

    Forts. folgt