Brain War - Der Krieg der Hirne

Es gibt 45 Antworten in diesem Thema, welches 10.343 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (15. Februar 2020 um 22:09) ist von Stadtnymphe.


  • 9
    Die ältere Dame war jetzt beim Kriegerdenkmal angelangt. Der Hund und knurrte und wollte nicht mehr weiter. Mit gespreizten Vorderbeinen stemmte er sich energisch auf dem Kiesweg ab. Er war ein winziges vierbeiniges Etwas mit dem Selbstbewusstsein eines Löwen.
    Die Dame blickte sich um. Schon hundertmal waren sie an dem Kriegerdenkmal vorbeigegangen, und nie hatte es Schwierigkeiten gegeben. Da sah sie es. Auf dem seitlichen Sockel der in Stein gehauenen Erinnerung an die Gefallenen des Ersten Weltkrieges, die auch ihren Familiennamen enthielt, hockte ein kleiner Mann und schlief. Sein kahler Schädel glänzte in der Abendsonne.
    Die Dame schüttelte indigniert den Kopf. Dies ist kein Ort, um sich den Rausch auszuschlafen, dachte sie und näherte sich dem Schläfer. Den Hund, der sich immer noch wütend sträubte, zog sie herrisch hinter sich her.
    Als sie vor dem Mann stand, stutzte sie. Das ist kein Mann, das ist einer dieser dicke Knaben, von denen es jetzt immer mehr gibt. Sie versuchte sich vorzustellen, wie er etwas schlanker und mit lockigen blonden Haaren aussehen würde.
    Erneut schüttelte die Dame den Kopf. Ts... ts... ts... So jung und schon betrunken... Und diese seltsame Kleidung...
    Sie ging näher heran. Der vermeintliche Knabe saß da, mit offenen Augen, völlig bewegungslos, als sei er tot. Sie blickte ihm ins Gesicht.Das Gesicht eines uralten Kindes...
    Jetzt bemerkte sie den dunklen Strich an seinem Hals.
    Das Herz der Dame begann heftig zu klopfen. Das ist doch nicht möglich... Sie hob ihren Fuß mit dem spitzen Schuh und verabreichte dem Gnom einen kräftigen Tritt in die Seite. Der vermeintliche Knabe kippte um, und sein Kopf rollte ihr vor die Füße.
    Die Dame richtete sich auf, vor Schreck wie gelähmt. Dann griff sie sich stöhnend an die Brust und sackte zusammen. Der Hund begann, wie von Sinnen zu kläffen.
    Gerade ging die Gasleuchte auf der anderen Straßenseite an.

    *
    Oberkommissar Heimfried Heiland knallte wütend den Hörer auf die Gabel. ,„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ polterte er „was für eine gottverlassene Gegend ist das hier! Und die Regierung tut nichts!“
    „Sie tut schon, aber zu wenig“, sagte sein Kollege, Kommissar Marwald Modrow. „Was ist denn überhaupt passiert?“
    „Eine ältere Dame bekommt einen Herzanfall und stirbt, weil der Notarzt nicht zu erreichen ist!“ Heiland erhob sich ächzend.
    „Nun beruhige dich doch! Sonst bekommst du auch noch einen“, sagte Modrow . „Wo?“
    „Am Kriegerdenkmal in Klein Klammerow. Jarmatz ist schon da.“

    Als die beiden Beamten vor Ort eintrafen, wurde der Sarg mit der Toten gerade in den Leichenwagen geschoben. „Wieso kommt ihr Heinis so spät?“, schnauzte Heiland den Fahrer des Notfallwagens ungeniert an. Wie immer machte er aus seiner schlechten Laune keinen Hehl.
    „Massenkarambolage auf der A24“, gab der ungerührt zurück.
    Dr. Jarmatz, der Gerichtsmediziner, trat auf die beiden Beamten zu. „Tod durch Herzstillstand“, sagte er schmallippig.
    „Hätte sie noch gerettet werden können?“, fragte Modrow.
    „Bei rechtzeitiger Herzdruckmassage möglicherweise schon. Aber vielleicht auch nicht. Sie war schwer herzkrank.“
    „Woher weißt du denn das schon wieder?“
    „In ihrer Handtasche liegt eine Packung Metropololsuccinat, ein starker Betablocker.“
    „Also können wir Fremdverschulden ausschließen.“
    „Davon gehe ich mal aus. Aber hundertpro sicher bin ich mir nicht.“
    „Kann mal jemand den Hund wegbringen!“, rief Heiland genervt, „das Gekläffe ist ja entsetzlich! Was heißt das? Wieso bist du dir nicht sicher? Kai-Ludwig, rede gefälligst nicht in Rätseln!“
    „Geht zum Denkmal, dann seht ihr es.“
    Heiland drehte den Kopf mit dem Fuß um. „Dacht´ ich mir doch. Hohl. Jetzt treiben sie auch bei uns ihr Unwesen. Als ob wir nicht schon genug mit unseren eigenen Hohlköpfen zu tun hätten!“
    „Dann stimmt das also doch, was die Lunenborger berichten“, meinte Modrow. „Sie klauen sich die Gehirne und werfen den Rest weg. Bisher wollte ich es nicht glauben.“
    „Ist ja auch ziemlich abartig, und bisher weiß auch anscheinend noch niemand, was dahinter steckt. Zumindest nicht die Kollegen in Lulu. Ich vermute mal, der Kopf ist der Frau unvermutet vor die Füße gerollt.“
    „Du meinst, er war abgeschnitten, wie die anderen, die bisher gefunden wurden. Das heißt, die Frau könnte vor Schreck tot umgefallen sein.“
    „Nein.“ Der Doktor war ihnen gefolgt. „Am Schreck als solchem ist noch niemand gestorben. Der Anblick des Kopfes, der ihr vor die Füße rollte, hat sie in Panik versetzt, und ihr Gehirn spielte verrückt. Es wollte sie in den Fluchtmodus versetzten, doch da machte ihr schwaches Herz nicht mehr mit.“
    „Du meinst, indirekt könnte dieser Alien ihren Tod verursacht haben.“
    „Ja. Nur, was soll´s. Es ist müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Es wäre auch nur von theoretischer Bedeutung. Beweisen lässt sich nichts. Und wenn, finde mir einen Staatsanwalt, der sich um die Untaten von Außerirdischen kümmert.“
    „Da magst du wohl Recht haben. Was soll nun mit diesen... Teilen geschehen?“, fragte der Kommissar. „Irgendwo müssen sie ja bleiben.“
    „Irgendwo schon! Aber nicht bei mir in der Gerichtsmedizin!“, rief der Doktor.
    „Das ist nun schon der dritte“, murmelte der Kommissar.

    10
    Winkelmann war sich so gut wie sicher. Das dunkle, wurstförmige Gebilde war Wolfskot, denn kein anderes heimisches Wildtier scheidet mit der Losung Knochenreste und Zähne aus. Er kniete sich hin und schnupperte. Auch der Geruch stimmte. Mit gesenktem Kopf, den Blick auf den Boden gerichtet, setzte er seinen Weg fort. Da! Die Spuren im Sand – er erkannte sie sofort: Das länglich-ovale Trittsiegel des Wolfes mit den kräftigen Krallenabdrücken! Seine ganze Aufmerksamkeit galt jetzt der Fährte. Sie lief direkt auf das Dorf zu, dessen braunrote Dächer in etwa fünfhundert Metern Entfernung unter der fahlen Morgensonne lagen.
    Er blieb stehen, imitierte ein Wolfsheuler und lauschte. Da! Fenris antwortete! Ein langes, herrliches Heulen, durch die Entfernung gedämpft.
    Dem Wolfsfreund lief es heiß und kalt den Rücken herunter. Diese Töne in ihrer urzeitlichen Kraft ersetzten ihm alle Musik der Welt.
    Ermuntert setzte er seinen Weg fort. Die schnurgerade Spur und führte ihn vor eine langgestreckte Mauer, bog dann scharf ab und war auf einmal verschwunden.
    Der junge Mann kehrte zu der Mauer zurück und setzte sich auf einen Holzstapel. Die Dorfstraße lag wie ausgestorben im Morgendunst. Für einen Moment hatte er das Gefühl, dass der Wolf und er die einzigen Lebewesen auf der Welt waren. Doch die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es dort die wachsamsten Augen gibt, wo man sie am wenigsten vermutet.
    Er öffnete seinen Rucksack, nahm den Proviant heraus und begann zu frühstücken. Dabei musterte er unauffällig die Gegend. Genau vor ihm ungepflegte Gemüsegärten in winterlicher Starre, dahinter blankes Ackerland, weiter rechts ein Wohnhaus mit heruntergelassenen und kaputten Jalousien, anscheinend unbewohnt, dann eine verfallene Scheune, die aussah, als könne sie jeden Moment zusammenfallen.
    „Hier also muss er sein, irgendwo hinter dieser Mauer. Wahrscheinlich haben sie ihn in einen Keller eingesperrt“, murmelte er.
    Er horchte. Das Tuckern eines Treckers kam näher und entfernte sich wieder. Hinter der Mauer regte sich nichts.
    Winkelmann trank etwas Tee und packte die Brotbox wieder ein.
    Jetzt merkte er, wie müde er war. Die Nacht war schlecht gewesen, und in den Nächte davor hatten ihn trotz der frühen Jahreszeit die Mücken geplagt.
    Hinter der Mauer wurde ein Automotor angelassen.
    Winkelmann war im Nu wach. Behände sprang er auf den Holzstapel und lugte auf den Hof. Ein weißer Kastenwagen mit Lunenborger Kennzeichen fuhr auf eine Toreinfahrt zu. Der Fahrer verließ den Wagen, öffnete das Tor, stieg wieder ein und fuhr weg. Das Tor ließ er offen.
    Also bleibt er nicht lange weg, überlegte er. Seine Augen tasteten die Rückseite des Wohnhauses ab. Nirgendwo Licht oder Bewegung... Entweder schlafen die noch, oder der Fahrer ist der einzige Bewohner... Die Hintertür da... wahrscheinlich abgeschlossen... Wenn ich nur wüsste, wie lange der Kerl wegbleibt... Es wird das Beste sein, ich suche mir hier ein Zimmer und beobachte erst einmal in aller Ruhe. Bevor ich nicht weiß, mit wie vielen Leuten ich es zu tun habe, ist mir die Sache zu gefährlich... Wahrscheinlich haben sie mich schon gesehen und drücken sich heimlich die Nasen platt... Ein Fremder, noch dazu im Morgendunst...
    Der Impuls kam überraschend, doch er wunderte sich nicht. Die Kraft schoss in ihn ein wie Wasser in ein leeres Staubecken. Es war bisher immer geschehen, wenn er mutlos und unentschlossen gewesen war. Wieder hörte er die Worte des Commanders: Sie werden erst Ruhe finden, wenn Sie Hasetépetés Kopf gefunden haben!
    Der Drang zu handeln wurde übermächtig. Mit einem Satz war er über der Mauer, mit zehn weiteren an der Hintertür.
    Sie war unverschlossen.
    *
    Weinert steuerte den Wagen hinter eines dieser verfallenden LPG-Gebäude, stellte den Motor ab und wartete. Der Verfall war atemberaubend. Leere Fensterrahmen, kaputte Wände, verrostende Landmaschinen urtümlicher Bauart, aufgebrochene Betonplatten, überall Schutt und Geröll. Irgendwo muhte es. Er blickte sich um und stellte zu seiner Überraschung fest, dass eines der Gebäude als Rinderstall benutzt wurde.
    Nach wenigen Minuten erschien Wiegand und stieg ein.
    „Hat dich jemand erkannt?“, fragte Weinert und gab ihm die Hand.
    „Ich gehe mal nicht davon aus. Jedenfalls habe ich meinerseits kein bekanntes Gesicht gesehen. Wo brennt´s denn? Was wolltest du mir über Handy nicht sagen?“
    Weinert startete und fuhr los. „Hauschild mauert. Der Idiot bildet sich immer noch ein, er könne die Welt retten und dabei auch noch Geld verdienen. 'Die Wissenschaft muss zum Wohle der Menschheit beitragen, nicht zu ihrer Vernichtung!', faselt er. Pa! Wenn ich das schon höre! Der reinste Schwachsinn! So reden sie seit hundert Jahren, und was ist dabei herausgekommen? Der Overkill! Aber davon will er nichts hören. Nötigenfalls werde er die Formeln mit einem Sicherheits-Algorithmus versehen, der sie bei Missbrauch unbrauchbar mache. Er droht damit, das Projekt Riemann scheitern zu lassen, wenn ich noch einmal das Wort P-Bombe in den Mund nehme.“
    „Hmm... das hört sich nicht gut an... Nur, was habe ich damit zu tun?“
    „Ich denke, du könntest ihn auf eine... äh... robuste Art überzeugen, dass mein Projekt das bessere ist. Du hast doch einschlägige Erfahrungen auf diesem Gebiet.“
    „Robuste Art ist gut! Könntest du denn ohne ihn überhaupt weitermachen?“
    „Was das Apparative betrifft, durchaus. Schließlich habe ich genau zugesehen, wie er´s gemacht hat, und ein klein wenig Ahnung von diesen Dingen hab ich auch. Ich denke, technisch wird es keine Probleme geben. Allerdings, von dem Formelkram verstehe ich so gut wie nichts. Aber ich kenne Leute, die etwas davon verstehen und brennend interessiert sind.“
    „Musst du nicht ein Programm eingeben? Wenn du vorne nichts reinsteckst, kommt hinten nichts ´raus!“
    Weinert lachte. „Gut gesagt! Auch das dürfte nicht allzu schwierig sein. Von den drei Hirnen denken nur das von Hasi und das zweite, Hirn Nummero drei hat Hauschild zu einem Programmier-Modul umgearbeitet. Du tippst eine Fragestellung in den Computer ein, Hirn drei entwirft die entsprechenden Rechenmodelle, die beiden anderen durchdenken sie und werfen einen Lösungsvorschlag aus. Im konkreten Fall würden meine Leute das Programm entwickeln und die Interpretation des Outputs übernehmen. Für die Realisierung des Projekts müssten noch Interessenten gefunden werden. Dürfte nicht allzu schwierig sein, bei dem Potential, das dahinter steckt.“
    „Ist solch ein Fall schon erprobt? Ich meine, das mit dem Programmier-Gehirn?“
    „Ein ähnlicher. Wir haben ein kürzlich gelöstes mathematisches Problem programmiert, die beiden Denk-Hirne haben es bearbeitet und sind zu demselben Ergebnis bekommen wie der Nobelpreisträger, allerdings, so behauptet Hauschild, mittels einer viel eleganteren Methode.“
    „Was ist denn mit dem Wiechmann? Gibt es da Fortschritte?“
    „Du meinst den Riemann. Ja, ein erstes Ergebnis liegt mittlerweile vor. Wir lassen es gerade noch einmal durchrechnen. So, da wären wir.“
    „Sag mal, Jewgenij, diese Leute, von denen du eben sprachst, wer ist das eigentlich?“
    Weinert sah den Hausmeister belustigt von der Seite an. „Kannst du schweigen?“
    „Aber sicher doch!“
    „Ich auch. Eins noch, Klaus. Wenn du keinen Ärger haben willst, stelle am besten keine unnötigen Fragen.“
    Weinert stieg aus und verriegelte die Hoftür, Wiegand, auf seinen krummen Beinen, hinter ihm her. „Und was springt für mich dabei heraus?“, fragte er.
    „Du wirst schon nicht zu kurz kommen“, war die knappe Antwort. Vor der Hintertür drehte sich Weinert um. „Wir versuchen es erst einmal im Guten“, flüsterte er. „Wenn er dann immer noch nicht will – sein Problem.“

    ***
    Klaus Wiegand, Hausmeister

    Wenn man ihn braucht, hat es keinen Zweck, nach ihm zu suchen, er ist dann gerade nicht 'im Hause'. Wo er sich sich herumtreibt, bleibt sein Geheimnis, noch nicht einmal der Schulleiter weiß Bescheid. Doch pünktlich zu Beginn der großen Pause ist er wieder da, und er hat sogar seine Frau mitgebracht! Denn jetzt beginnt der Verkauf von Getränken und allerlei süßem Zeug unten in der Mensa, und sein und seiner Frau Eifer ist grenzenlos. Er behauptet, er brauche den Erlös für ihre Altersversorgung, bei seinem Gehalt könne er sich nicht... und der Verdienst seiner Frau... Na ja, Schwamm drüber. Trotzdem fährt er einen großen PS-Boliden mit horrendem CO2-Ausstoß, wenn ihn jemand darauf anspricht, sagt er: Wieso, ist doch gut, dann müssen wir im Winter weniger heizen – Na ja, Schwamm drüber.
    Wiegand, 42, konfessionslos, verheiratet, eine Tochter und der rechten Szene nicht abgeneigt, behauptet aber von sich, es sei ein strammer Demokrat, wobei er Demo stark betont. Wenn man ihn so sieht, wie er in seinem Kiosk herumtobt, wie er mit sicherem Griff das Gewünschte zum Vorschein bringt und mit hastigem Griff das Geld einstreicht, während seine unscheinbare Frau keuchend weitere Getränkekästen anschleppt: In der Tat, er ist ein ziemlich gut aussehender Mann. Das Gesicht, groß und voll unter der Bürste seiner braunen Haare, zeigt die etwas grobe Sinnlichkeit eines Mannes in mittleren Jahren und kraftstrotzender Gesundheit. Die Augen sind von einem starken Zementgrau, ihr Blick forsch und herausfordernd, zuweilen etwas brutal. Kinn und Wangen schimmern trotz scharfer Rasur immer etwas bläulich, was das Männliche seiner Erscheinung weiter betont. Sein Körperbau ist muskulös, gut genährt doch nicht feist, sein mächtiger Brustkorb wölbt sich wie der Himmel eines eigenen Universums.
    Die Pause ist beendet, die Schüler zerstreuen sich, Herr Wiegand schließt den Verkaufsstand ab und begibt sich in seine Hausmeister-Loge. Und jetzt beginnt ein optisches Drama, das Seinesgleichen sucht: Wiegands Beine – o, o, O! Wir sehen sie und sind erschüttert. Sie sind von einer Krümmung, die wir nicht für möglich gehalten hätten. Einst drückte es eine Schülerin frech so aus: Auch in Hab-Acht-Stellung könne man ein Schwein zwischen seinen Beinen hindurchjagen. Nein, das war nicht frech, es ist die Wahrheit! Eine grausamen Natur hatte ihm unten genommen, was sie ihm oben an harmonischer Gestaltung gegeben hatte. Wiegand selbst behauptet zuweilen in beißender Selbstironie, seine Mutter habe ihn nach der Geburt zum Trocknen auf eine Tonne gesetzt.
    Ja, diese Beine sind der Grund, warum sich auf der ansonsten glatten Stirn dieses Mannes eine senkrechte Kummerfalte eingenistet hat. Er versucht den Makel zu kaschieren, indem er weite Hosen trägt oder in einem Overall mit Übergröße herumläuft – es nützt nichts, krumm bleibt eben krumm. Ein Witzbold hat ihm geraten, nach Schottland auszuwandern, da könne er einen knöchellangen Rock anziehen...

    Forts. folgt

  • 12
    Um möglichst wenig Gewicht auf die Stufen zu legen, stützte sich Winkelmann am Treppengeländer ab. Trotzdem knarrte schon die erste Stufe. Er blieb stehen, hielt den Atem an und lauschte. Nichts rührte sich. Drei Stufen auf einmal nehmend stand er wenige Sekunden später vor dem Tisch mit den Köpfen.
    Beim Anblick der aufgepfropften und verdrahteten Köpfe lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Einer dieser Köpfe schien ihn unter halb geschlossenen Lidern aufmerksam zu mustern; Winkelmann vermutete sofort, Hasis Kopf vor sich zu haben. Er trat näher heran und bewegte seine Hand vor dem Kopf ein paarmal hin und her – der Blick blieb starr und bewegungslos in eine hypothetische Ferne gerichtet. Die Augen der anderen Köpfe waren geschlossen.
    Aus einer Wand vernahm er Stimmengewirr. Winkelmann blickte sich um. Die Stimmen kamen nicht aus der Wand, sondern aus einem der beiden Kaminschächte. Er nahm einen der Revisionssteine heraus und beugte sich herab. Von oben tönte es dumpf aber deutlich. Da wurde heftig gestritten. Plötzlich schrie jemand auf, dann war Ruhe.
    Eine Weile noch horchte er in die schwarze Öffnung hinein, dann merkte er am Luftzug, dass irgendwo eine Tür geöffnet wurde. Kurz darauf knarrte die Kellertreppe. Ohne zu überlegen legte er den Sendeknopf vor den Kopf mit dem halben Blick, dann öffnete er eine Tür und verschwand darin.
    Durch die Brettertür vernahm er schwere Schritte und dumpfes Stöhnen, das schnell näher kam.
    Winkelmann blickte zu den beiden Kellerfenstern. Zu hoch, und außerdem vergittert. Er saß in der Falle. Verzweifelt kauerte er sich hinter den steinernen Wäschekessel, der in der Mitte des Raumes stand.

    *
    Wenige Minuten zuvor hatte sich im Wohnzimmer über dem Gewölbekeller folgendes abgespielt...

    Weinert sprang auf und brüllte: „Mann, Heiner, wie kann man nur so hartleibig sein! Lass uns doch wenigstens den Prototyp bauen! Das ist die Chance! Willst du denn ewig ein verschwitzter Steißtrommler bleiben mit diesem lächerlichen Gehalt? Für das Geld würd ich beim Furzen noch nicht mal den Arsch heben!“
    Hauschild schüttelte den Kopf. „Seid ihr taub? Ich habe nein gesagt, und wenn ich nein sage, meine ich nein.“
    Weinert tat resigniert. „Na dann eben nicht. Schade.“ Er blickte Wiegand an. Der nickte.
    Der Schlag traf Hauschild völlig unvorbereitet. Er prallte mit der Stirn gegen die Tischkante, Blut trat aus. Jemand – es konnte nur Wiegand sein – band ihm blitzschnell die Hände auf dem Rücken zusammen, und bevor er noch protestieren konnte, hatte Weinert ihm den Mund zugeklebt.
    Er bäumte sich auf, doch der Hausmeister hatte ihn fest im Griff. Dieses Schwein, dachte Hauschild, ich wusste es doch.... Sterne tanzten vor seinen Augen, ihm wurde schlecht.
    „Nach unten in die Waschküche mit ihm“, sagte Weinert, „dort kann er erst mal eine Weile bleiben und nachdenken. Zur Sicherheit binde ihm noch die Beine zusammen.“
    Der Verklebte wand sich wie ein Aal, doch es nützte nichts. Sie nahmen ihn hoch und schleppten ihn nach unten. Weinert öffnete die Tür zur Waschküche, und Wiegand schleifte ihn hinein. Dann lehnte er sein Opfer, das jetzt verzweifelte Grunzlaute ausstieß, mit dem Rücken an ein Abflussrohr und band ihn daran fest.
    Weinert stellte sich breitbeinig vor sein Opfer hin. „So, mein Lieber, jetzt bin ich es, dar auf jemanden herabsieht“, sagte er hämisch grinsend, „so schnell kann´s gehen. Hättste nicht gedacht, was? Denk nicht, dass mir das Spaß macht." Er zog ein Taschentuch hervor, tupfte Hauschild die Stirn ab uns warf das Tuch in eine Ecke. "Aber wer nicht hören will, muss eben leiden. Jetzt siehst du, was du von deinem albernen Gutmenschentum hast! Nichts als Kopfschmerzen und eine Beule aud der edlen Denkerstirn! Und dabei wird es vermutlich nicht bleiben! Eigentlich jammerschade... Mit dir würde auch ein enormes Fachwissen von der Welt verschwinden... Na ja, dafür haben wir ja jetzt Hasi und Kollegen. – Noch nicht“, rief er, als er sah, dass sich Wiegand, der den Raum nach verdeckten Ausgängen abgesucht hatte, die Ärmel hoch krempelte, „wir sollten ihm erst noch Bedenkzeit bis morgen früh geben! Vielleicht überlegt er es sich ja noch.“
    „Herrgottnochmal, was soll er sich denn noch überlegen?“, brauste Wiegend auf, „etwa, dass er scheinbar klein bei gibt und dann, wenn er frei ist, alles zerstört? Ich bin für klare Verhältnisse! In Syrien bin ich damit immer am besten gefahren.“
    „Wir sind aber nicht in Syrien! Und wo lassen wir seine Leiche, du Schlauberger? Der kleinste Fehler, und wir landen so schnell hinter Gittern, als hätten wir eine Rakete abgefeuert! Nein, da weiß ich was Besseres! Wir sperren ihn so lange ein, bis das Projekt steht, dann lassen wir ihn laufen.“
    „Das kann doch Jahre dauern!“
    „Dann dauert es eben Jahre!“
    „Und wo wollst du ihn einsperren, hä?“
    „Da, wo ihn niemand vermutet. In der Kammer unter dem Kriegerdenkmal.“
    „Und wenn er da herumschreit?“
    „Soll er, bis ihm die Puste ausgeht. Die Kammer ist ein ehemaliger Luftschutzbunker.“
    „Schön. Und wie kommt er dahin? willst du ihn gefesselt durchs Dorf schleppen?“
    „Nein. Es gibt einen Verbindungsstollen von diesem Keller aus zum Denkmal. Wahrscheinlich ein alter Fluchttunnel. Entdeckt habe ich ihn, als ich Unterlagen aus dem siebzehnten Jahrhundert durchsah. Dem Plan zufolge müsste der Einstieg hier irgendwo in der Waschküche sein, aber ich habe noch keinen gefunden, allerdings habe ich auch noch nicht richtig gesucht. Das machen wir morgen.“
    Weinert trat wieder auf Hauschild zu. „So, mein Lieber, wir lassen dich jetzt allein. Dass es so kommen musste, tut mir aufrichtig leid. Aber schließlich ist es nicht meine Schuld. Morgen früh sehen wir uns wieder. Das Licht bleibt an.“
    Weinert schloss die Tür zur ab und steckte den Schlüssel ein.

    *
    Der gefesselte Mathe- und Physiklehrer bewegte ein paarmal den Kopf. Es tat zwar noch weh, aber merklich verletzt war wohl nichts, obwohl der Schlag ziemlich heftig gewesen war. Jetzt ärgerte er sich, dass er sich nicht entschiedener gewehrt hatte.
    Er versank in Grübeleien. Ein Film lief auf der Leinwand seiner Gedanken ab.
    Das Büro des Schulleiters.
    Nissen, mit großen Augen, die Verheißung von Geld und Ruhm gierig in sich einsaugend, Weinert mit näselnder Stimme und hypnotisierendem Blick: Eine MILLION für die Lösung, das dürfen wir uns nicht entgehen lassen... Szenenwechsel. Wiegand, mit widerlich prallen und tätowierten Oberarmen, hinterhältig grinsend... Wieder Weinert, beschwichtigend:Der Mann ist in Ordnung... Scheiße, dreimal SCHEISSE... Hätte ich bloß auf mein Bauchgefühl geachtet... Spätestens, als Weinert von der BOMBE anfing, hätte ich mit ihm Schluss machen müssen... hätte, hätte, hätte...
    Hauschild stöhnte auf. Jetzt quälte er sich damit ab, eine plausible Entschuldigung für sein Versagen zu finden, aber er fand keine. War es die einmalige, aber unglückliche Abfolge von Ursache und Wirkung?, grübelte er. Wäre alles anders gelaufen, wenn ich mich nicht blind auf Weinert verlassen hätte? Wenn ich nicht so idiotisch vernarrt in den Erfolg gewesen wäre und besser aufgepasst hätte...
    Und wieder höhnte der Kobold in seinem Ohr: Hätte... HÄTTE..
    . HÄTTE
    Es war ein Fehler gewesen, den beiden bedingungslos zu vertrauen...
    Er ließ den Kopf sinken. Es macht keinen Sinn, sich über Dinge den Kopf zu zerbrechen, die nicht mehr zu ändern sind...
    Sein Nacken schmerzte. Er versuchte, sich etwas mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen, doch nichts hält fester als schnödes braunes Packband.
    Jemand rüttelte ein paarmal an der Türklinke, dann Schritte, die sich entfernten, kurz darauf fiel oben krachend eine Tür zu.
    Hauschild starrte auf die Deckenleuchte. Der Boden der Glaskuppel war schwarz von toten Insekten. Ihn schauderte.

    Was war das? Ein metallisch-schnirgelndes Geräusch lenkte seinen Blick auf den Waschkessel. Langsam hob sich der Deckel, wich nach hinten zurück, und über dem Beckenrand erschien ein Gesicht.
    „Hey!“, rief das Gesicht, „nicht erschrecken, ich bin ein Freund!“
    Der Pädagoge war so verblüfft, dass er für einen Moment die Schmerzen vergaß.
    Winkelmann kletterte aus dem Kessel, holte ein Taschenmesser hervor und schnitt Hauschilds Fesseln durch.
    „Wie fühlen Sie sich?“, flüsterte er.
    „Beschissen!“, rief der, als sein Mund frei war, „wer sind Sie?“.
    „Pssst, nicht so laut! Über den Schornstein in der Wand könnte man uns hören! Mein Name ist Hinnak Winkelmann, ich suche den Kopf eines Alien, und wie es scheint, habe ich ihn gefunden.“
    Hauschild glotzte seinen Befreier verständnislos an. „W – was haben sie mit dem Kopf zu schaffen?“, stotterte er, „und wie sind Sie hier überhaupt herein gekommen?“
    „Durch die Hintertür. Sie war nicht abgeschlossen. Alles andere später! Jetzt müssen wir erst den Einstieg zum Fluchtstollen finden! Sie haben keine Ahnung, wo er sein könnte?“
    „Ich hörte vorhin zum ersten Mal davon.“ Hauschild ging zur Tür und drückte die Klinke.
    „Lassen Sie das!“, zischte der Fährtenleser, „das ist jetzt nicht mehr wichtig! Wir müssen hier so schnell wie möglich weg! Womöglich fällt es einem der Halunken ein, noch einmal nach Ihnen zu sehen!“
    „Wir wären dann zu zweit.“
    „Und wenn sie nun beide kommen? Der eine hörte sich nicht so an, als ließe er sich auf eine Diskussion ein.“
    Hauschild raufte sich die Haare. „Herrgottnochmal! Ich kann doch Hasis Kopf nicht diesen Verbrechern überlassen! Das wissen Sie ja nicht, die wollen mit seiner Hilfe eine Bombe bauen!“
    Der Junge Mann trat näher an Hauschild, der ihn fast um Haupteslänge überragte, heran. „Herr –“
    „Hauschild.“
    „Herr Hauschild! Niemand wird mit Hasis Hilfe eine Bombe bauen. Seine Leute sind bereits unterwegs, um seinen Kopf zu holen und wieder zurück nach Hasetépe zu bringen. Ich wundere mich nur, warum sie noch nicht hier sind.“
    „Wovon reden Sie?“
    „Genug jetzt! Suchen Sie! Oder wollen Sie, dass man uns unter dem Kriegerdenkmal einsperrt und dann vergisst?“
    Trotz intensiver Suche entdeckten sie nicht den kleinsten Hinweis auf einen Zugang zum Fluchttunnel. Von den Wänden rieselte zwar der Putz, aber sie waren lückenlos verfugt, der Beton des Bodens war stark abgetreten, aber ohne Spalten oder Ritzen, die auf eine Falltür darunter hingewiesen hätten, auch das Abklopfen brachte keinen Fingerzeig.
    Schließlich lehnte sich Winkelmann frustriert an eine Wand. „Der Mann hat doch eindeutig gesagt: Unter der Waschküche, oder habe ich mich da verhört?“, tuschelte er.
    Hauschlid zuckte mit den Schultern. „Ich kann mich leider an nichts erinnern. War wohl noch nicht richtig bei mir.“
    Der junge Mann starrte verzweifelt auf den Waschkessel. Er erinnerte sich...Als ich einstieg, hatte der Boden hohl geklungen... Plötzlich ging er in die Knie und rief halblaut: „Heureka, Rollen! Sehen Sie! Der Kessel steht auf Rollen!“
    Tatsächlich stand der schwere Kessel auf kleinen verrosteten Rollen, die von oben nicht zu sehen waren.
    Mit vereinten Kräften schoben sie den Kessel beiseite, eine eiserne Bodenklappe mit einem Ring kam zum Vorschein. Hauschild hob sie hoch, die Sprossen einer Eisenleiter wurden sichtbar. Winkelmann überlegte nicht lange und stieg hinunter. „Der Stollen!“, rief er hinter vorgehaltener Hand, „kommen Sie!“
    Der Stollen, angeblich aus dem siebzehnten Jahrhundert, war niedrig. Winkelmann musste den Kopf einziehen, der Pädagoge kam nur gebückt voran. Die Luft roch abgestanden und gruftig-feucht.
    Winkelmann knipste sein Feuerzeug an. Die Flamme bog sich leicht, doch ohne Strahlkraft.
    „Sehen Sie? Ein leichter Luftzug! Irgendwo hat der Tunnel eine Öffnung. Haben Sie eine Ahnung, wo diese Öffnung liegen könnte?“
    „Nicht die geringste, in diesem beschissenen Dorf kenne ich mich überhaupt nicht aus. Vielleicht kommen wir ja übers Kriegerdenkmal ins Freie.“
    „Wie weit ist es bis dahin?“
    „Hmm... ich schätze, so zweihundert bis zweihundertfünfzig Meter. Es können aber auch mehr sein. Genau kann ich es nicht sagen. Ich bin nur einmal an dem Denkmal vorbeigekommen.“
    Beide blickten zurück. In der Ferne schimmerte schwach der schmale Streifen des Einstiegs.
    „Fünfzig Meter, höchstens“, stellte Winkelmann fest, „wir müssen uns beeilen! Wer weiß, was uns noch in die Quere kommt!“
    Um Gas zu sparen, machte er das Feuerzeug wieder aus. Eine ganze Weile bewegten sie sich tastend vorwärts. Glücklicherweise befand sich der Tunnel in einem guten Zustand. Der Gang, mit tonnenförmiger Decke, war aus sauber behauenen Steinen gefügt. Dann stieß Winkelmann, der vorweg ging, mit der Stirn schmerzhaft gegen etwas Hartes und Kaltes: Eine Wand. Das Feuerzeug brachte Gewissheit: Sie standen in einem Blindgang und mussten wieder umkehren.
    „Immer geradeaus wäre auch zu einfach gewesen“, grunzte Hauschild.
    Um den übersehenen Abzweig zu erreichen, mussten sie eine ziemliche Strecke zurückgehen. Winkelmann war eben daran vorbei gegangen, weil er ihn für eine Nische im Mauerwerk gehalten hatte.
    Doch dummerweise war dieser Blindgang nicht die einzige unangenehme Überraschung.
    Als sie vor der nächsten Wand standen, öffnete sich das Tonnengewölbe zu einem viereckigen Schacht nach oben. Winkelmann hielt das Feuerzeugs hinein und trat mit einem Überraschungslaut einen Schritt zurück. Über ihm hing ein Gitterrost, aus dem lange, spitze Dornen senkrecht nach unten ragten: Eine fürchterliche Abwehrvorrichtung.
    Der nächste Blindgang enthielt eine weitere Teufelei: Sie waren noch nicht an seinem Ende angelangt, da wäre Winkelmann beinahe in die Tiefe gestürzt. Vor ihnen tat sich ein schwarzer Abgrund auf. Dass er nicht abgestürzt war, hatte der junge Mann weder seiner Wachsamkeit noch dem Zufall zu verdanken – er war lauschend stehen geblieben, weil hinter ihnen dumpfe Laute von Männerstimmen zu vernehmen waren.
    Beiden Flüchtenden war klar, was das zu bedeuten hatte. Wenn die Verfolger auch noch weit weg waren – der Schall in einem Tunnelsystem trägt weit – so war jetzt höchste Eile geboten. Es bestand die Gefahr, dass Weinert, der den Plan sicherlich sorgfältig studiert hatte, sie dort höhnisch grinsend erwarten könnte, sollten sie den Ausgang zu spät finden.
    In diesem Moment ging das Feuerzeug aus.

    Forts. folgt

  • 13
    Während unter der Erdoberfläche von Klein Klammerow zwei Menschen verzweifelt im Dunklen herumtappten, spielte sich im Raumfahrt-Kontrollzentrum Darmstadt folgendes ab:

    „Wo steht denn das?“, fragte Inge.
    „In Klein Kummerow, einem Dorf am Rande der Lübtheener Heide im schönen Lande Mecklenburg Vorpommern“, klärte Böhmer auf, „das Foto ist gerade hereingekommen. „Das Kriegerdenkmal, was du da siehst, ist der Lüftungsschacht für ein unterirdisches Mausoleum, in dem angeblich die sterblichen Überreste nordischer Sagengestalten aufbewahrt werden. So steht´s zumindest im Begleittext.“
    „Quatsch!“ Inge lachte spitz. „Sagengestalten haben keine sterblichen Überreste, schon gar nicht in unterirdischen Mausoleen! Wer erzählt denn so etwas!“
    „Steht darunter. Ein Kriminalkommissar Modrow, KK Ludwigslust!“
    „ Ich glaub´s nicht! Leute haben die!“, motzte Jeff.
    „Nun halt mal die Beine still, Jeff! Möglicherweise ist ja was Wahres dran!“
    „Seit wann glaubst du an Gespenster?“
    Böhmer schüttelte ungehalten den Kopf. „Sagengestalten sind keine Gespenster. Na ja, wenn ich ehrlich bin, so ganz glauben kann ich es auch nicht. Trotzdem, ich würde das Gerede der Leute, auch wenn es sich noch so fantastisch anhört, nicht in Bausch und Bogen ablehnen. Ich erinnere mich noch an die Eichmann-Affäre. Damals behauptete ein Waldarbeiter, er habe den Judenmörder Eichmann, den man für tot hielt, als Gespenst in der Goerde, einem einsamen Waldgebiet in Ost-Niedersachsen, umhergeistern sehen. Kurze Zeit später stellte sich heraus, dass es nicht sein Gespenst, sondern Eichmann selbst gewesen war. Der israelische Geheimdienst hatte ihn aufgespürt und geschnappt.“
    Jeff klatschte sich auf die Oberschenkel und lachte barbarisch. „Vielleicht lebt ja Hitler auch noch!“ brüllte er, „in diesem Mausoleum! So weit ich weiß, hat niemand gesehen, wie und wo er gestorben ist. Vielleicht ist er ja gar nicht nach Argentinien ausgewandert, wie manche Leute behaupten, sondern nach Klein Kummerow, haha!“
    „Lass es gut sein, Jeff“, sagte Böhmer, „Hitler ist mit Sicherheit tot, man konnte sein Gebiss identifizieren.“
    „Hmm... nun ja... mag sein...“ Jeff blickte mürrisch vor sich hin. „Aber verdammt nochmal, was hat das Kriegerdenkmal denn mit uns zu tun?“
    „Das hat folgendes mit uns zu tun“, ließ sich jetzt, wie immer leicht näselnd, Sir Jon vernehmen, „heute morgen erhielt ich einen Anruf vom Innenministerium. Der dortige Staatssekretär wollte wissen, was es mit einem rätselhaften Todesfall in Klein Kummerow auf sich habe. Ob es stimme, dass der Vorfall von einem Alien verursacht wurde. Ich sagte wahrheitsgemäß, von einem Todesfall durch Außerirdische sei mir nichts bekannt. Er darauf: Ob ich denn wenigstens wisse, was es mit den abgeschnittenen Köpfen auf sich habe, die Anwohner immer wieder in Mülltonnen fänden. Ich: Ja, dies sei mir bekannt, aber zu den Hintergründen könne ich nichts sagen, da tappten wir genauso im Dunkeln wie alle anderen Behörden auch. Eine Weile herrschte Stille, und ich dachte schon, jetzt legt er auf, da polterte er los. Dann machen Sie sich mal gefälligst auf die Socken, Sir, rief er, es sei ein Skandal, dass ein kleiner Dorfpolizist den Fall gemeldet habe und nicht unsere Behörde, die doch für Außerirdisches zuständig sei! Der Innenminister habe schon genug mit dem ungelösten Ausländerproblem zu tun, und ein ungelöstes Außerirdischen-Problem könne er sich politisch nicht leisten. Ich entgegnete, bisher habe sich noch niemand besonders aufgeregt. Aliens rangierten im Ansehen anscheinend noch einige Etagen tiefer als Ausländer. Nichts da, schnauzte er, jetzt gebe es anscheinend den ersten Todesfall einer unbeteiligten Person, und er befürchte, sollte sich solch ein Fall wiederholen, könne es zu Unruhen in der Bevölkerung kommen. Er, der Staatssekretär, erwarte umgehend einen Bericht. Schluss, aus.“ Sir Jon schwieg bedrückt.
    Inge: „Und was war da in Klein Kummerow nun los?“
    „Vor zwei Tagen ist am Kriegerdenkmal eine alte Frau vor Schreck tot umgefallen, weil ihr der abgeschnittene Kopf eines Alien vor die Füße rollte.“
    Zunächst herrschte verblüffte Stille. Dann sagte Sir Jon: „Es hilft alles nichts. Wir sollten die Sache jetzt mal wirklich ernst nehmen und nicht als Hirngespinst eines bekifften Keksfabrikanten abtun. Offensichtlich stößt der Todesfall in Dimensionen vor, mit denen wir nicht gerechnet haben.“ Er blickte zur Uhr. „Gleich Mittag. Ich schlage vor, nach dem Essen kommen wir hier in meinem Büro wieder zusammen und überlegen uns, was da zu machen ist. Inzwischen rufe ich in Ludwigslust an und frage mal nach weiteren Einzelheiten.“

    „Die alte Dame war schwer herzkrank und ist vor Schreck gestorben“, sagte Sir Jon, als alle wieder in seinem Büro am runden Tisch saßen. „Sie war eben zur falschen Zeit am falschen Platz. Bedauerlich aber auch wieder erfreulich, denn sie ist nicht durch eine direkte Einwirkung eines Außerirdischen gestorben, und weitere ähnliche Vorgänge sind nicht bekannt. An Menschen wagen sie sich also nicht heran. Insofern können wir uns zurücklehnen. Dann habe ich den Kommissar noch mal nach dem unterirdischen Mausoleum gefragt, ob es da wirklich spuke. Von Spuk wolle er nicht reden, meinte er, aber einige Bewohner wollen in dem eisernen Krieger Klopfzeichen und Stimmengewirr gehört haben.“
    „Hast du auch was Zielführendes erfahren können?“ Inge nun wieder. „Zum Beispiel, was diese Aliens in diesem Heidenest wollen?“
    Sor Jon grinste schief. „Nein, die wissen noch weniger als wir, nämlich gar nichts.“
    Eine Weile herrschte nachdenkliche Stille, dann sagte Jeff: „Was haltet ihr hiervon: Sie benutzen das Mausoleum als sicheres Versteck, von dem aus sie ihre mörderischen Streifzüge unternehmen.“
    Sir Jon schüttelte den Kopf. „Unwahrscheinlich, höchst unwahrscheinlich. Der eiserne Krieger ist bis auf seine Nasenlöcher dicht, und ein Zugang zum Mausoleum ist nicht bekannt. Und dann –“
    „Aber es muss doch einen Zugang geben!“, insistierte Inge.
    „Das schon, meine Liebe! Nur wo? Im Dorf und Umgebung jedenfalls nicht. Und wenn ja, bliebe immer noch die Frage, warum benutzen sie ausgerechnet ein Mausoleum in Klein Kummerow? Es gibt doch auch in Lunenborg und Umgebung genug Verstecke, denke ich mal, gerade jetzt, wo wegen der Wirtschaftsflaute die Fabrikhallen massenweise leer stehen.“
    „Dann gibt es nur eine Erklärung“, sagte Jeff, „Hasis Kopf ist in Klein Kummerow, und die anderen sind hinter ihm her.“
    „Und wie kommt er dahin, du Schlaumeier?“, giftete Böhmer. „Gut, nehmen wir mal an, seine Leute haben den Kopf wirklich gefunden, dann bringen sie ihn doch nicht in ein ostdeutsches Heidenest, sondern zurück auf ihren Planeten!“
    „Mir kommt da eine Idee.“ Inge. „Hat sich dieser Hasi nicht wegen der Salzvorkommen nach Lunenborg abgesetzt? Irgendetwas dergleichen war da doch...“
    „Aber zum Teufel warum gerade in Klein Kummerow?“, wandt Böhmer ein, „die Welt ist groß, und Salz gibt es überall! Zum Beispiel beim Discounter. Also warum in dieser gottverlassenen Gegend, wo sich Fuchs und Wolf gute Nacht sagen.“
    „Genau das habe ich mich auch gefragt“, sagte Jeff. „Warum haben sie ausgerechnet Lunenborg gewählt und nicht Heilbronn, wo immer noch Salz in rauen Mengen gefördert wird, oder warum sind sie nicht zum Toten Meer gefahren, da hätten sie in ihrer Nahrung baden können, hahaha!“
    „Ernst bleiben, Jeff!“, mahnte Sir Jon, „ernst bleiben! Und was ist dir dazu eingefallen?“
    „Ich denke, es war reiner Zufall. Über Nordeuropa lag damals eine geschlossene Wolkendecke, ihr Radar oder was auch immer zeigt eine verwirrende Erdoberfläche, sie erkennen Wasser, denken, es ist Salzwasser, lassen den Knaben herunter und verschwinden wieder. Dass in dem Teich Süßwasser war, ahnten sie nicht.“
    Inge runzelte ihre makellose Stirn. „Du meinst, sie sind gelandet, ohne sich zuvor über die Erde zu informieren? Halt ich für wenig wahrscheinlich bei einer Zivilisation, die Lichtjahre überwinden kann.“
    „Das eine schließt das andere nicht aus! Auf der Erde gibt es zig-tausend Salzvorkommen, und sie haben sich eben für diese Gegend entschieden. Irgendwo muss man ja mal ´nen Punkt machen“, stellte Böhmer fest.
    „Möglich“, sagte Sir Jon. „Jeff?“
    „Ihr erinnert euch doch noch, dass ein Mitarbeiter des Lunenborger Wolfsteams verschwunden war. Ich hab da angerufen und nachgefragt. Der Mann, sein Name ist Hinnak Winkelmann, ist tags darauf wieder im Amt erschienen und hat gekündigt. Seitdem ist er verschwunden. Der Amtsleiter meinte, Winkelmann habe gewirkt, als stünde er neben sich, wie einer, dem man kurz zuvor eine Gehirnwäsche verpasst hat.“
    „Hmmm...“, brummte Sir Jon unzufrieden, „alles schön und gut, bringt uns im Moment aber auch nicht weiter. Wie steht´s bei dir, Walter?“
    „Ich bin der Frage nachgegangen, warum sie sich gegenseitig die Köpfe abschneiden. Für mich gibt es dafür nur einen einzigen stichhaltigen Grund: Rache! Nach dem Motto: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Da alles darauf hindeutet, dass sich mittlerweile zwei verfeindete Zivilisationen auf der Erde tummeln, habe ich folgende Theorie: Hasis Leute verdächtigen die anderen, seinen Kopf geraubt zu haben und zahlen es ihnen auf diese Weise heim.“
    „Du meinst, es handelt sich um Kopfjägerei.“
    „So etwas in dieser Art, ja.“
    „Das hieße aber, sie suchen noch nach ihm. Bleibt wieder die Frage, warum gerade in Klein Kummerow.“
    „Ja meingottnochmal!“, rief Inge. „Zum Kopfabschneiden müssen sie doch nicht erst auf die Erde kommen! Nee, nee, mein Lieber, das ist mir einfach zu schlicht. Das klingt mir zu steinzeitlich. Da steckt mehr dahinter!“
    „Hast du eine bessere Idee?“
    „Hmmm... nun ja... doch, ich hab eine!“ Inge sprang auf, „entschuldigt mich einen Moment! Bin gleich wieder da!“ Sie verließ den Raum, eine Parfümfahne hinter sich herziehend, und kam nach wenigen Minuten mit einem Zettel in der Hand zurück. „So!“, rief sie und ließ sich in ihren Stuhl fallen, das wär ja gelacht!“
    „Was wäre gelacht?“
    Inge grinste vielsagend. „Sofort! Jetzt brauch ich erst mal eine Tasse Kaffee.“
    Nachdem sie sich gestärkt hatte, begann sie: „Als du vorhin von einer Gegend sprachst, Walter, in der sich Fuchs und Wolf gute Nacht sagen, und als Jeff dann noch den verschwundenen Wolfsfreund erwähnte, klingelte es in meinem Oberstübchen, und zwar gewaltig, und ich erinnerte mich an einen Zeitungsartikel, den ich vor ein paar Tagen las.“ Sie schlug mit der flachen Hand auf den Zettel. „Hier ist er!“ Dann legte sie los, und je länger sie sprach, desto größer wurde der Ausdruck der Verwunderung auf den Gesichtern ihrer Zuhörer.

    Forts. folgt

  • 14
    Der Wolfsfreund unterdrückte einen saftigen Fluch. Das Feuerzeug war leer, da half kein Schütteln und kein Klopfen.
    Die Wände abtastend und die Füße vorsichtig Schritt für Schritt vorsetzend, kamen sie nur quälend langsam voran. Die Stimmen hinter ihnen waren verstummt, aber sie gaben sich keinen Illusionen hin: Die Verfolger rückten unerbittlich näher, denn sie hatten Licht - und den Plan. Diese Gewissheit, dann die absolute Finsternis und die Befürchtung, keinen Ausgang aus diesem Labyrinth zu finden, zehrten an den Nerven. Hinzu kam noch die gebückte Haltung, mit der sie sich fortbewegen mussten. Hauschild schlug mehrmals fluchend mit dem Kopf gegen die Decke. Glücklicherweise verlief dieser Gang schon eine ganze Weile ohne Abzweige und Hindernisse geradeaus; der Bereich der Blindgänge und Fallgruben lag wohl hinter ihnen.
    Ein langgezogenes AAHHH, das schnell leiser wurde und erstarb, schreckte sie aus ihren Endzeitgedanken auf. Nun erscholl lautes, verstörtes Rufen.
    „Einer der beiden ist in einen Schacht gestürzt!“, flüsterte Winkelmann.
    „Der Stimme nach war es Wiegand“, meinte Hauschild, „geschieht ihm recht.“
    „Verstehe ich nicht! Ich denke Weinert hat den Plan! Und sie haben Licht!“
    „Vermutlich eine verdeckte Fallgrube. Ja, er hat einen Plan, sicherlich. Aber welchen?“ Hauschild grinste ungesehen. „Der Baumeister dieser Anlage wird nicht so dumm gewesen sein, den möglichen Eroberern die Originalpläne zu hinterlassen. Die liegen wahrscheinlich wohlverwahrt in einem Archiv. Nein, was Weinert gefunden hat, ist eine Fälschung, ein Trugplan, der Eindringlinge in die Irre führen soll.“ Er sprach jetzt in normaler Lautstärke. „Damit hätten wir diesen Mühlstein vom Hals. Kollege Weinert ist stark mit der Zunge, aber schwach mit den Fäusten. Wahrscheinlich wird er zurückgehen, wenn er denn weiß, auf welchem Wege.“
    Sie tasteten sich weiter vor. Plötzlich gab es einen metallischen Klang. Winkelmann war mit dem Schuh gegen ein Eisenrohr getreten: „Eine Leiter!“, rief er. Er griff nach oben "Eine Bodenklappe! Helfen Sie mal!" Gemeinsam stießen sie die Klappe auf, Winkelmann stieg hoch. In dem Raum war es genauso finster war wie unten im Stollen. Hauschild folgte fluchend, die Augen voller Staub und Dreck; außerdem hatte er sich wieder einmal den Kopf gestoßen. Oben richtete er sich vorsichtig auf und massierte sich stöhnend den Nacken. „Welche Wohltat, aufrecht stehen zu können“, ächzte er. „Mein Nacken ist mittlerweile so steif wie die Wände hier. Sollte ich in die Hölle kommen, werden die Teufel mich ununterbrochen durch niedrige Tunnel scheuchen, in die eiserne Spitzen hineinragen.“
    „Sagen Sie das nochmal!“
    „Warum?“
    „Weil die Akustik hier eine andere ist als unten. Unten klang es dumpf, hier oben klingt es mehr hohl.“
    Statt seinen Satz zu wiederholen, rief Hauschild mehrmals laut: „Abrakadraba!“
    „Hören Sie? Es klingt hohl!“
    „Das heißt, wir befinden uns im Sockel des Bronze-Kriegers“, stellte Hauschild fest.
    „Gehen Sie rechts herum, ich gehe links herum“, schlug der Wolfsfreund vor.
    Bald war eine weitere Eisenleiter gefunden, und sie stiegen hoch. Dieser Raum war eng und schmal und der Akustik zufolge nach oben offen. Hauschild schlug mit der Faust gegen eine Wand, es klang dumpf und hohl.
    „Können Sie sich noch an die Figur des Soldaten erinnern?“, fragte Winkelmann. „Stand er, kniete er, waren die Beine frei oder miteinander verbunden?“
    „Er kniete, mit dem Helm in der Hand. Mehr weiß ich nicht.“
    „Hmm...“ Winkelmann tastete die Wände ab. „Alles rund. Nach der Form des Innenraums hier zu urteilen, befinden wir uns wahrscheinlich in seinem Knie.“
    Winkelmann rief „Hallo!... Hören Sie den Nachhall? Die Röhre da ist der dazugehörige Oberschenkel.“
    „Na schön. Aber wie kommen wir hier heraus?“
    „Seltsam... Ich hatte den Soldaten viel kleiner in Erinnerung... Auf jeden Fall nicht so groß, dass zwei erwachsene Männer in sein Knie hineinpassen. Entweder ist er inzwischen gewachsen, oder wir sind geschrumpft.“
    Hauschild lachte. Es klang dumpf und freudlos. „Ich denke, letzteres wird der Fall sein. Wir sind eine ganze Weile in einem Bauwerk aus dem siebzehnten herumgewandert. Damals waren die Leute viel kleiner als heute. Verdammt, dann hätte ich ja zum Schluss aufrecht gehen können! Aber dann passt es immer noch nicht.“
    In der Ferne erklang ein langer Heulton. „Der Wolf!“, rief Winkelmann erfreut, „er sucht uns!“
    „Welcher Wolf?“
    „Später!

    Trotz größter Anstrengungen gelang es ihnen nicht, weiter nach oben vorzudringen. Winkelmann versuchte, auf den Schultern Hauschilds stehend, irgendetwas zu fassen, an dem er sich weiter hochziehen konnte, doch seine Finger glitten immer wieder ab. Nun verlor Hauschild endgültig die Nerven. Wild trommelte er mit den Fäusten auf eine Wand ein und schrie: „Scheiße, Scheiße, Scheiße! Ich halte das nicht mehr aus! Dieser Mistkerl mit seiner Bombe! Ohne den säßen wir hier jetzt nicht fest! Es muss doch verdammt nochmal einen Ausgang geben! Ein Fluchttunnel ohne Ausgang ist doch so nutzlos wie ein Arsch ohne Loch.“
    „Hören Sie auf zu brüllen“, sagte der junge Mann, „dadurch ist nichts gewonnen.“
    Wieder war eine Stimme zu hören, aber diesmal war es nicht die Stimme des Wolfs.
    „Hört sich an, als ob uns jemand riefe“, sagte Winkelmann.
    „Quatsch! Wer sollte das denn sein?“, versetzte der Physiklehrer mürrisch.

    15
    Sir Jons Blicke ruhten anerkennend auf seiner 'Quotenfrau'. „Darauf wäre ich nicht gekommen“ sagte er und rieb sich die Hände. „Gute Arbeit, meine Liebe! Bravo!“
    Inge grinste gebauchpinselt. „Es ist ja nicht so, dass die Medien lügen“, sagte sie. „Sie berichten schon die Fakten, aber die Wahrheit musst du dir aus den verstreuten Fakten selber zusammenbasteln.“
    Böhmer hatte sich von seiner Verblüffung wieder erholt. „Du meinst also allen Ernstes, dass es diese Fenriswölfe wirklich noch gibt?“
    „Ja. Nicht viele, aber sie gibt es noch. Wie willst du es dir sonst erklären, dass dieser Wolf nicht zu fassen ist?“ Sie nahm den Zettel hoch und klopfte darauf, wie man ein Stück Wäsche ausklopft. „Hier steht´s doch schwarz auf weiß! Er überspringt locker einmeterzwanzig hohe Elektrozäune, trickst erfahrene Hirtenhunde aus, bereitet den Schäfern schlaflose Nächte. Die Versuche, ihn aus der Natur zu entnehmen, wie es so beschönigend heißt, haben den Steuerzahler mittlerweile über hundertzwanzig Tausend Teuro gekostet – ohne Erfolg. Nein, NG236m ist kein normaler Wolfsrüde, da beißt keine Maus´ nen Faden ab. Und er ist auch nicht für die vielen Schafsrisse verantwortlich.“
    Sir Jon räusperte sich. „Ich fasse also zusammen“, sagte er, „deiner Meinung haben nicht die feindlichen Aliens den Kopf entführt, sondern seine Lehrer, um mit seiner Hilfe das Preisgeld zu gewinnen, und zwar in ein Labor oder Keller in oder in der Nähe von Klein Kummerow, und der Wolfsfreund soll ihn mithilfe des Fenriswolfes, dem du übernatürliche Kräfte zubilligst, suchen.“
    „Nicht suchen, finden!“, verbesserte Inge. „Er ist in der Lunenborger Heide und zehn Tage später auch in Klein Kummerow erkannt worden, seine Fährte ist ein unverwechselbares Siegel.“
    Jeff: „Frage: Wer hat die beiden beauftragt? Und warum fehlt von diesem Wolfsfreund bisher jede Spur?“
    Böhmer hatte sich umgedreht und hämmerte auf ein Tastboard ein. Plötzlich rief er: „Ha! Treffer!“ Er drehte sich wieder zurück. „Inge liegt mal wieder goldrichtig“, dröhnte er gut gelaunt, „in Klein Kummerow steht ein Anwesen zum Verkauf. Nun ratet mal, was ich da gefunden habe.“
    „Du wirst es uns bestimmt gleich sagen.“
    „Das Haus besitzt einen Gewölbekeller aus dem siebzehnten Jahrhundert. Na, wenn das kein Wink mit dem Zaunpfahl ist!“
    „Wie bist du denn darauf gekommen?“, wollte Inge wissen.
    „Intuition!“
    Sir Jon sprang mit einer Heftigkeit auf, die ihm aufgrund seines ansonsten vornehmen Gehabes niemand zugetraut hätte. „Ich seid großartig!“, rief er überschwänglich und stürzte sich mit ausgebreiteten Armen auf Inge, „alle miteinander! Komm, Inge, lass dich knuddeln, und auch du, Walter, und auch du, Jeff! Ihr habt mir eine schwere Last vom Herzen genommen! Auch wenn nicht alles eins zu eins stimmen sollte, was ihr da erzählt, für einen netten Bericht taugt´s allemal!“
    Inges Reaktion auf diesen Gunstbeweis war mehr als merkwürdig. Sie nahm Sir Jons Kopf zwischen ihre Hände und blickte ihm ein paar Herzschläge lang tief in die Augen. Dann stieß sie ihn brüsk von sich.

    Forts. folgt


  • 16
    Winkelmann blieb unsichtbar stehen. „Halt! Haben Sie gehört? Die Stimme kam von unten! Mir war vorhin schon so. Wir hätten nicht hochsteigen sollen, sondern weitergehen!“
    Als die beiden, sich mühsam vortastend und nach einer gefühlt endlosen Zeit, wieder unten im Tunnel standen, sagte Hauschild: „Herr Winkelmann, entschuldigen Sie meinen Ausbruch eben. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Es ist überhaupt nicht meine Art, mir Frust von der Seele zu brüllen. Diese Dunkelheit bringt mich noch um der Verstand!“
    „Fragen Sie mal, wem es auch noch so geht! Wenn Sie es nicht getan hätten, hätte ich es getan! Ich stand jedenfalls kurz davor. Ich ärgere mich furchtbar, dass ich kein frisch gefülltes Feuerzeug bei mir hatte. Allerdings – wer konnte das ahnen. Gehen wir!“
    Nach wenigen Metern gabelte sich der Tunnel, und sie standen vor der Wahl, ob sie nach rechts oder links abbiegen sollten. „Verdammter Mist!“, stöhnte Hauschild, „fängt das schon wieder an!“
    „Hören Sie auf zu jammern! Sagen sie lieber: Links oder rechts?“
    „Woher soll ich das wissen? Rechts!“
    „Na gut.“
    Noch ein Abzweig, dann zeichnete sich in der Ferne ein matt schimmerndes Rechteck ab. „Heureka!“, rief der Lehrer erfreut, „der Ausgang! Wir sind gerettet!“
    „Oder wir sind im Kreis gelaufen und bewegen uns wieder auf den Einstieg zu“, knurrte der Wolfsfreund.
    Das Mauerwerk bestand jetzt nicht mehr aus Urgestein, sondern aus Ziegelsteinen, in die, kaum zu erkennen, merkwürdige Formen eingearbeitet waren.
    „Wofür halten Sie das?“, fragte Winkelmann, der stehen geblieben war und eine dieser Gebilde abtastete. Hauschild brachte sein Gesicht ganz nah an die Wand heran. Plötzlich rief er: „Unglaublich! Dann hat Weinert doch keinen Unsinn gefaselt! Das ist eine Totenmaske, und ich befürchte nicht die einzige hier unten.“ Seine Stimme klang auf einmal spröde und niedergeschlagen. „Weinert erzählte mir einmal, unter dem Kriegerdenkmal befinde sich eine uralte Totenstadt, ab und zu höre man in der Bronzefigur dumpfes Geschrei und Geklopfe. Ich hielt das für Spintuskram, denn Weinert war auch überzeugt, dass Wölfe mit Göttern kommunizieren. Doch anscheinend hat er recht. Möglicherweise befinden sich hier unten uralte vergessene Katakomben!“
    „Still! Da! Das Rauschen, hören Sie?“, flüsterte Winkelmann aufgeregt, „wenn ihr Kollege Recht hat, dann ist es der Fluss, der das Reich der Toten von der realen Welt abgrenzt und den kein Lebender überschreiten darf!“
    „Unsinn! Wahrscheinlich ein unterirdischer Abwasserkanal.“
    „Und wenn ich doch Recht habe?“
    Hauschild lachte hohl. „Dann sollten schleunigst umkehren, bevor wir auf Nimmerwiedersehen verschwinden.“
    Doch es war bereits zu spät. Auf einmal wurde es so hell, dass die beiden Troglodyten die Arme vor die Augen legen mussten, und eine gewaltige Stimme donnert: „Halt! Keinen Schritt weiter, oder die Mächte der Unterwelt werden euch verschlingen!“


    17
    „Jonathan Smith, wer bist du?“, rief Inge, „auf keinen Fall ein echter Mensch. Du bist ein Terraner, ein Erdbewohner, aber kein Mensch!“
    Böhmer und Jeff sprangen auf und sahen abwechselnd Sir Jon und die junge Frau an. „Was erzählst du da?“
    „Ihr habt es doch gehört. Ich halte Jon für alles, nur nicht für einen echten Menschen!“
    Bühmer sah Sir Jon entgeistert an. „Stimmt das?“
    „Ja, es stimmt. Setzt euch wieder. Ich habe mich schon gewundert, warum es bisher noch niemandem aufgefallen ist.“ Sir Jon griff in seinen Haarschopf und zog ihn vom Kopf. Zum Vorschein kam ein kahler glänzender Schädel, um den sich ein dunkler Strich zog. „Was ihr da seht, ist keine schlecht verheilte Narbe, sondern eine Schädelklappe. Ich bin ein Hominide, ein Kunstmensch.“ Er setzte den künstlichen Kopfschmuck wieder auf. „Aber keine Angst! Eine Gefahr geht nicht von mir aus. Ich besitze eine Aggressionshemmung gegenüber echten Menschen.“
    Eine ganze Weile herrschte verblüfftes Schweigen. Dann fragte Jeff: „Inge, woran hast du es erkannt?“
    „Als er mich umarmte, sah ich es.“
    „Nun mach es nicht so spannend“, drängte Böhmer, „was sahst du?“
    „Ich sah ihm in die Augen und sah seine Iris. Sie ist nicht echt. Wo bei dir die schillernde Regenbogenhaut ist, ist bei ihm nur ein grauer Ring. Und dann –“ Inge blickte Sir Jon an, „und dann habe ich noch einem Mann mit einem derart hohen Hirnschädel gesehen.“
    Böhmer fuhr auf. „Aber wie kann denn ein Kunstmensch so täuschend echt wirken! Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass er kein richtiger Mensch ist. Ich kann es einfach nicht glauben!“ Zu Sir Jon: „Verarsch uns nicht! Du bist von der Leiter gefallen, hast dir die Kopfschwarte abgetrennt, und irgend ein Pfuscher hat sie dir wieder stümperhaft angenäht.“
    „Ich verarsche niemanden“, rief Sir Jon wütend. Er riss sich die Perücke ab, steckte einen Finger ins linke Ohr, seine Schädeldecke klappte hoch, der Blick ins Innere seines Kopfes wurde frei. Den entsetzten Blicken zeigte sich ein Gewirr von silbernen Drähten sowie ein Stapel Schaltplatinen, die eng aneinander gepresst wie die Waben eines Bienenkorbes aus dem Schädel herausragten. „Ich bin ein Spitzenerzeugnis der Bionik“, sagte er nicht ohne Stolz. „Mein Schädel ist angefüllt mit modernster Elektronik, die mir Gehabe und Bewegung eines echten Menschen ermöglicht, und noch viel mehr. Zum Beispiel beherrsche ich akzentfrei sämtliche moderne Verkehrssprachen.“ Sir Jon klappte seine Schädeldecke wieder zu und setzte die Perücke auf.
    „Auch Paderborner Platt?“ Jeff nun wieder.
    „Das ist keine Verkehrssprache, du Eumel!“, belehrte ihn Inge.
    „In Paderborn schon!“
    „Dann bist du also doch kein Erdling, sondern ein Außerirdischer“, stellte Böhmer fest.
    „Das Labor, in dem meine Brüder und ich entwickelt wurden, steht auf dem Mars, aber unser Einsatzgebiet ist Terra. Meine Mutter, um es mal so auszudrücken, ist Doktor der Außerterrestrischen Medizin, mein Vater ist Professor für Neue Bionik an der Greenman-Universität in Marsalia.“
    „Deine Brüder?“
    „Na ja, Brüder... mir fällt kein besseres Wort ein... bisher zwanzig an der Zahl, aber es werden weitere folgen. Es sind baugleiche Spezial-Hominiden.“
    „Hmm...!“ Inge sah Sir Jon mit einem betörenden Augenaufschlag an. „Ein Kunstmensch also... Interessant... Sag mal, Jon, und nimm es mir bitte nicht übel, wenn ich so direkt frage... unten herum, regt sich bei dir da was?“
    Sir Jon grinste schalkhaft. „Willst du es wirklich wissen? Dann lad ich dich heute Abend zum Essen ein, und danach – “
    Jeffs brutale Lache knallte in den Raum. „Hahaha! Ein Hominide mit Humor! Bisher dachte ich, die sind alle so staubtrocken wie Penatenpuder!“
    „Am besten wird sein, ihr kehrt zur Tagesordnung zurück und vergesst das andere“, sagte Sir Jon ernst. „Es wird sich eh nichts ändern. Ich tue weiterhin meine Pflicht, genauso wie ihr.“
    „Nein, nein, mein Lieber, so leicht kommst du mir nicht davon!“ Inge. „Ich will zumindest wissen, was es mit deinen Augen auf sich hat. Gehe ich recht in der Annahme, dass sich darin Augenscanner befinden?“
    „Wie kommst du denn darauf?“
    „Jon, ich bitte dich! Ich bin zwar blond, aber nicht blöd! Also was ist? Willst du uns nicht vielleicht ein spannendes Erlebnis erzählen, zum Beispiel, wie du als Geheimagent in gefährlicher Mission unterwegs warst?“
    Sir Jon schmunzelte. „Du gibst wohl nie auf, wie?“
    „Natürlich nicht! Wäre ich sonst bei der ESA?“
    „Na schön! Aber nicht während der Arbeitszeit. Danach gerne.“
    „Und dann sagst du uns auch, warum du ausgerechnet bei dieser Behörde gelandet bist“, entschied Inge.

    Forts. folgt

    Einmal editiert, zuletzt von McFee (9. November 2019 um 11:16)


  • 18
    Als die unterirdischen Wanderer die Augen wieder öffneten, standen sie an einer goldglänzenden Brücke, hinter der eine riesenhafte Gestalt aufragte. Sie war in ein dunkelblaues Gewand bekleidet, das von einer Unzahl glitzernder Sterne übersät war, und dichter Nebel verhüllte ihr Haupt.
    „Wer bist du?“, riefen die beiden wie aus einem Munde.
    „Ich bin Modgudur, die Bewacherin der goldenen Jenseitsbrücke Gjallarbrú“, donnerte die Stimme, „und was wollt ihr hier?“
    „Wir haben uns verirrt!“, rief der Physiklehrer mutig, „und suchen einen Ausgang!“
    Eine Weile herrschte Stille, nur das leise Rauschen des Flusses war zu vernehmen. Wieder dröhnte die Stimme: „Nichts da! Helheim, das Reich der Göttin Hel, hat keinen Ausgang! Ich, die Riesin Modgudur, frage nicht gerne zweimal! Also sprecht! Welchen Geschlechts seid ihr, und woran seid ihr gestorben?“
    „Wir sind zwei Männer –“
    Die Riesin stampfte mit dem Fuß auf, sodass es ein mittleres Erdbeben gab. „Bei Wotan!“ donnerte sie, „das sehe ich, oder haltet ihr mich für blind?

    Frigga gebar Odin,
    Hömdar, Hemodr und Bragi,
    Odin zeugte Vidar und Vali,
    Gyge gebar Hati und Skalli,
    Gerda und Freyr zeugten Fjolnir,
    und noch viele andere.

    Also, ich frage euch zum letzten Mal: Welchen Stammes seid ihr?“
    „Wir sind Niedersachsen“, sagte der Wolfsfreund kleinlaut.
    „Was seid ihr? Niedersachsen?“
    Die Gestalt schrumpfte zusammen und war bald nicht größer als der lange Lehrer. „Niedersachsen? Nie gehört! Seid ihr wenigstens Edelinge?“ Die Augen der klein gewordenen Riesin funkelten grünlich.
    „Edelinge? Ja, das könnte man so sagen“, meinte der Lehrer ohne viel zu überlegen.
    „Dann ist es gut. Nun, woran seid ihr gestorben? Habt ihr das Glück des Strohtodes genossen oder an einem ehrenhaften Todespfeil von vorne mitten ins Herz? Hat euch die Altersschwäche dahingerafft oder ein Rudel Wölfe? Sprecht frei! Helheim ist kein Ort der Strafe, sondern der Aufenthaltsort ehrenhaft Gestorbener! Den Verdammten ist Hels Reich verwehrt.“
    Inzwischen war ein zottiger Hund herbei gerannt und schnüffelte aufgeregt an Winkelmanns Hosenbeinen herum, zum Verdruss Hauschilds, der kein Hundeliebhaber war. „Kannst mal jemand den Köter wegbringen?“, schnauzte er grob.
    Ein Blitzschlag traf Stirn des Pädagogen, der sich daraufhin nicht mehr bewegte. „Hüte deine Zunge, Fremder!“, rief die Riesin mit einer Stimme wie Posaunenschall, „dies ist kein Köter, sondern Germr, der Höllenhund! Noch so eine dumme Bemerkung, und er nimmt dich mit!“
    „Stopp!“, rief der Wolfsfreund, „ich denke, dies hier ist keine Hölle? Woher kommt dann der Hund?“
    „Habe ich gesagt, dass es keine Hölle gibt? Die Hölle ist eine Etage tiefer!“ Modgudur trat näher an Winkelmann heran und blickte ihm in die Augen. „Sag mal, du bist gar nicht tot, sonst sähen deine Augen anders aus, und Germr würde nicht an deinen Hosenbeinen herumschnüffeln! Die Seelen der Toten haben keinen Geruch, und dein Freund ist auch nicht tot. Wie heißt du, Fremder?“
    „Mein Name ist Hinnak, der Wolfsfreund.“
    „Und der da?“
    In diesem Moment wurde dem Wolfsfreund klar, dass er außer Hauschilds Nachnamen nichts von ihm wusste. „Der?“ Er überlegte blitzschnell. „Er heißt: Schild der Namenlosen.“
    „Schild der Namenlosen“, wiederholte die Riesin nachdenklich, „Schild der Namenlosen... ein seltsamer Name... Und du bist ein Wolfsfreund.... Um welchen Wolf handelt es sich denn?“
    „Es ist Fenris, der Wolf der Götter!“
    Die Schrumpfriesin wuchs sichtlich in die Höhe und klatschte begeistert in die Hände. „Fenris lebt, sagst du! O welche Freude, welche Freude!“ Einen Moment sah es so aus, als wolle die Riesin vor Freude in Tränen ausbrechen. „Asgards Leute gingen bisher davon aus, dass Fenris, gemäß der Weissagung, nach dem großen Weltbrand, den die Menschen den Zweiten Weltkrieg nennen, von Odins Sohn Vidar getö –“
    „Ich kenne die Geschichte“, unterbrach sie der Wolfsfreund, „meine Großmutter sie mir erzählt. Allerdings ist dieser Wolf nicht der, den du meinst, sondern ein Urenkel von ihm. Die Menschen, in ihrem Wolfshass, haben ohne es zu ahnen, Odins Urteil vollstreckt, und Vidars Tat war nicht mehr nötig. Doch auch der Urenkel ist ein echter Fenriswolf, der die Sprache der Götter versteht und Dinge weiß, die den Menschen verborgen sind.“
    „Gut gesagt, Fremder! Richte ihm schöne Grüße aus, wenn du ihn wieder siehst! Ich freue mich über jede Sagengestalt, die noch lebt, denn viele treben leider, leider schon im Strom der Zeit dem Abgrund des Vergessenwerdens zu.“
    Die Riesin breitete die Arme aus und rief mit ihrer Donnerstimme:

    „Einst lebten die Götter in Frieden,
    auf samtenen Sohlen wandelten sie
    und über weichen Boden,
    auf den Lippen heilige Lieder,
    versunken in herrliche Gedanken.

    Da hob ein Streit an, wer der Größte sei.
    Odin, trunken von Met,
    bestand auf seiner Herrschaft,
    und es kam zum Kampf.

    Fenris verschlang Odin,
    Widar riss Fenris´ Maul entzwei,
    Tyr tötete Garmr und starb,
    Thor erschlug die Schlange
    und brach vergiftet zusammen.

    Asgard erbebte unter den Schlägen
    und dem Geschrei der Kämpfenden,
    und Odins Raben vergossen
    salzige Tränen.“

    Die Riesin schwieg bedrückt, und der Nachhall ihrer Worte erfüllte den Himmel.
    „Na ja“, sagte Winkelmann in die anschließende Stille hinein, „viele Götter liegen erschlagen, doch neue sind entstanden. Statt Odin oder Widar heißen sie jetzt Google und Facebook.“

    „So? Nun genug geredet!“ Die Riesin schnippte vergnügt mit den Fingern, was sich wie eine kleine Explosion anhörte. „Jetzt trinken wir zusammen eine Schale Met, denn Fenris´ Freund ist auch mein Freund. Dabei, wenn du willst, zeige ich dir Hels Reich.“
    „Hmmm... Wenn ich ehrlich bin, die Hölle würde mich mehr interessieren.“
    Die Riesin sah den jungen Wolfsfreund mit ihren grünen Augen enttäuscht an. „Aber eine Schale Met trinken wir doch noch, oder? Die Hölle... Nun ja... Ich würde an deiner Stelle wahrscheinlich genauso denken, denn Helheim ist im Grunde ein ziemlich langweiliger Ort. Die Toten existieren doch so weiter, wie sie immer schon gelebt haben, also ziemlich altbacken-bürgerlich, viele sind betrunken, oder zumindest angetrunken; außerdem sieht man wegen des Nebels kaum etwas. Sei´s drum! Die Sache hat nur einen Haken: Für die Hölle bin ich nicht zuständig! Da muss du dich an den Teufel wenden.“
    „Bist du sicher, dass er mich überhaupt empfangen will?“
    „Der? Warum denn nicht? Wir sind gute Bekannte, ich werde ein Wort für dich einlegen. Normalerweise hat die Hölle keinen Ausgang, aber ich denke, mir zuliebe wird der Teufel eine Ausnahme machen.“
    „Und was geschieht mit meinem Bekannten?“
    „Der komische Vogel da? Der bleibt da erst mal stehen. Wenn du zurückkommst, nimmst du ihn wieder mit. Nicht auszudenken, wenn der in der Hölle genauso herumpoltert wie eben! Der Teufel versteht keinen Spaß!“

    Forts. folgt

  • 19

    Sir Jon hatte es nicht unterlassen, für Kaffee und Gebäck zu sorgen.

    „Um auf deine Frage von heute Mittag zurückzukommen, Inge“, begann er, „ich besitze – bis auf die Augen – alle Organe, die auch ein echter Mensch besitzt, und fast alle sind auch voll funktionsfähig, nur bestehen sie nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus einem künstlichen Material, dessen Herstellung allerdings sehr kostenintensiv ist. Ich kann ohne Stolz behaupten, dass ich zu den zwanzig teuersten Wesen in unserem Sonnensystem gehöre. Allerdings kann ich keine Nachkommen zeugen – noch ist die Eigen-Vermehrung künstlicher Menschen nicht gelungen. Ich denke da nicht so sehr an eine geschlechtliche Fortpflanzung, die wird wahrscheinlich nie klappen, ich denke da eher an eine Art Knospung wie bei Polypen oder Medusen, oder etwa nach dem 3D-Verfahren. Auf dem Gebiet der Reproduktions-Technologie ist uns die Natur immer noch um Lichtjahre voraus –“

    „Das heißt, bei dir herrscht tote Hose“, unterbrach ihn Inge.

    „Wie meinst du das?“

    „Verdammtnochmal!“, brüllte Böhmer. „Inge, nunn hör doch mal mit dem Quatsch auf! Es gibt Wichtigeres im Leben als Sex!“

    „Aber nix Kurzweiligeres!“

    „Hirni!“ Zu Sir Jon: „Hör nicht auf sie, Jon, erzähl ruhig weiter!“

    „Ähem... nun ja... Nun werdet ihr euch mit Recht fragen, okay, aber warum haben deine so genannten Eltern denn überhaupt solch ein sauteures Wesen wie dich hergestellt, warum haben sie nicht den natürlichen Weg gewählt, der außer ein paar roter Rosen und einer halben Flasche Sekt kaum etwas kostet? Die Antwort ist einfach: Für die Missionen, für die man mich und meine Brüder bestimmt hat, sind echte Menschen völlig ungeeignet. Abgesehen davon, dass es viel zu lange dauert, bis ein Mensch in seine Aufgabe hineingewachsen ist, und dass er zu viel Zeit mit unproduktiven Beschäftigungen wie Schlafen, im Internet surfen, Verliebtsein und anderen Krankheiten vertrödelt – der Homo sapiens besitzt einige unangenehme Eigenschaften, die meine Baumeister nicht gebrauchen können: Er ist zu gutgläubig – und sterblich. Die Sterblichkeit – Schwamm drüber... Aber was die Gutgläubigkeit betrifft... Ich meine jetzt nicht das Heer der Polit-Sklaven, die immer wieder auf die Wahlversprechen ihrer Rattenfänger hereinfallen, oder die alte Dame, die sich am Telefon überreden lässt, ihren Neffen, den es gar nicht gibt, fünftausend Euro zu überweisen – ich meine die Gutgläubigkeit, die darin besteht, dass die Leute etwas für wahr halten, wenn sie es nur sehen, und ableugnen, was sie nicht erkennen können. Ein Beispiel. Hat jemand von euch gestern Abend unseren werten Außenminister in der Tagesschau gesehen?“

    „Ja, ich“, sagte Jeff.

    „Und, Jeff, ist dir da etwas aufgefallen?“

    „Hmm... eigentlich nicht... er wirkte so wie immer, wie ein –“

    „Du hast also nicht bemerkt, dass der Mann ständig die Augendeckel auf und zu klappte?“

    „Nee...“ Jeff zögerte einen Moment. „Doch, jetzt wo du es sagst... aber was soll das?“

    Sir Jon blickte in die Runde. „Da habt ihr es!“, rief er, „unbedarfte Gutgläubigkeit par exellenz! Nichts für ungut, Jeff, aber es musste mal gesagt werden! Ich beobachte diesen Politiker schon seit einiger Zeit“, setzte Sir Jon seine Rede in das verblüffte Schweigen hinein fort, „und bin mir sicher: Dieser Mann, der da im Fernsehen gezeigt wird, ist eine Kopie, der echte Außenminister sitzt womöglich auf einer fernen Karibikinsel und tätschelt einer braunen Tänzerinnen den Hintern.“

    „Das ist aber nun doch –“, schnappte Inge.

    „Das musst du gerade sagen!“, feixte Böhmer.

    „Nein, ist es nicht! Dieses Geklapper mit den Augenlidern beruht auf einem Softwarefehler, der ab und zu bei diesen Kopien auftritt. Wahrscheinlich haben ihn seine Hintermänner bereits behoben.“

    „Ziemlich starker Tobak, den du uns da auftischst“, meinte Böhmer, „und das sollen wir glauben?“

    Sir Jon wischte die Frage mit einem gewinnenden Lächeln beiseite. „Glauben? Euer Problem. Fakt ist: Es ist davon auszugehen, dass mittlerweile etliche Spitzenpolitiker Kopien sind. Der amerikanische Präsident ist mit Sicherheit eine. Schaut ihn euch doch an! Verhält sich so ein normaler Mensch, auch wenn er Präsident und stinkreich ist? Irgendetwas mit seiner Software stimmt nicht. Vermutlich ist auch der nordkoreanische Staatschef nicht echt, und es gibt Hinweise, dass auch der chinesische Oberste Führer eine Kopie ist. Man erkennt es unter anderem an dem dichten Haarschopf dieser Leute, alles Perücken, mit denen sie gewisse Schädelanomalien verdecken wollen, die sich beim Kopiervorgang ergeben und die den Geheimdiensten dank meiner Brüder bekannt sind. Der echte Politiker trägt Glatze oder so kurz, dass man seine Schädelform erkennen kann.“

    Sir Jon schwieg.

    Als erste erholte sich Inge von diesem verbalen Knockout. „Nehmen wir mal an, Jon, deine Theorie stimmt“, sagte sie, „wer zum Teufel sollte denn ein Interesse daran haben, den deutschen Außenminister durch eine Kopie zu ersetzen? Der Mann wirkt doch sowas von harmlos!“

    „Da tappen wir noch im Dunkeln. Denkbar wäre eine unbekannte feindliche, terroristische Macht, möglicherweise vom Mars, oder vom Sirius, was weiß ich, die die Erde ins Chaos stürzen will, damit sie ihnen leichter in die Hände fällt. Nachdem der IS größtenteils besiegt ist, versuchen sie es auf diese Weise. Dergleichen Befürchtungen sind ja nicht neu.“ Sir Jon richtete sich auf und fuchtelte mit den Händen aufgeregt in der Luft herum. „Lasst euch nicht täuschen!“, rief er beschwörend, „ja, zugegeben, unser Außenminister beziehungsweise sein Original ist ein friedliebender Mensch, aber wie sieht es mit seiner Kopie aus? Kennt jemand deren Programm? Vielleicht fliegt ja demnächst der Bundestag in die Luft, und dann waren es wieder die Ausländer! So aufgeheizt wie die Lage im Lande jetzt schon ist könnte sich in nullkommanichts ein Bürgerkrieg entwickeln! Alles in ähnlicher Form schon mal dagewesen! Und an den Nordkoreaner mit seinen Atombomben mag ich nicht denken.“

    „Wie willst du denn überhaupt Menschen kopieren, geht das denn so einfach?“, wollte Inge wissen.

    „So einfach bestimmt nicht, aber es geht, wie der Fall des iranischen Verteidigungsministers beweist. Seine Kopie wurde vom israelischen Geheimdienst – oder sagen wir besser von einem meiner Brüder im Dienste des israelischen Geheimdienstes – erkannt und daraufhin eliminiert. Trotzdem stand zwei Stunden später wieder ein putzmunterer iranischer Verteidigungsminister vor den Fernsehkameras, der genauso aussah wie der erste, also eine weitere Kopie.“ Sir Jon seufzte tief. „Wir müssen davon ausgehen, dass es mittlerweile Dutzende von Politiker- und Warlordkopien mit extrem hohen Aggressionspotential gibt. Denn beim Kopiervorgang geht das gesamte ethisch-moralische Bewusstsein, das den Menschen vom Tier unterscheidet, verloren. Heraus kommen gewissenlose Monster.“

    „Na, na, übertreibst du da vielleicht nicht ein wenig? Bisher haben sich doch alle bemüht, einen Weltkrieg zu vermeiden.“

    „Meine liebe Inge, ich wünschte, ich täte es! Es geht nicht um den großen Weltbrand, die Hintermänner dieser Monster wollen ja keine radioaktiv verseuchte Wüste vorfinden. Es geht um die vielen regionalen Konflikte, die immer mehr zunehmen und am Ende die mühsam errungene globale Friedensordnung aushebeln. Diese Leute kennen keinerlei Skrupel! Sie lügen, betrügen, verraten ihre Freunde und Verbündeten, bereichern sich schamlos an den Schätzen ihrer Länder, beuten ihre Völker aus – es gibt keine Schändlichkeit, die diesen Politikern fremd ist. Es sind Monster, selbstverliebte, brutale, gierige, gewissenlose Monster.“

    „Hmm... Unser Außenminister ein Monster? Selbstverliebt ja, aber brutal, gierig, gewissenlos? Kann ich mir nur sehr schwer vorstellen.“

    Sir Jon rang verzweifelt die Hände. „Himmel! Genau das ist es, was mir Angst macht! Nur weil der Mann wie ein braver Junge aussieht, hältst du ihn für einen braven Jungen! Und so haben diese Leute leichtes Spiel, weil keiner Verdacht schöpft. Hinzu kommt noch: Diese Kopien sind kaum von ihren Originalen zu unterscheiden. Die einzige Möglichkeit besteht darin, ihre Iris auf Echtheit hin zu überprüfen. Es ist nämlich nicht möglich, eine Iris lebensecht zu kopieren, fragt mich nicht warum. Nur, das wissen diese Kopien und vermeiden jeglichen Augenkontakt. Schaut sie euch doch an, wie sie da stehen auf ihren Rednerpulten! Die Augen gehen ständig hin und her, ihre Köpfe sitzen auf Wendehälsen – immer in Bewegung wie bei den Eulen, nur schneller! Alles, damit ihre Iris nicht gescannt werden kann, denn dazu müssten sie ihre Gucker zwei Sekunden stillhalten.“

    „Und du bist ausgesandt, um zu verhindern, dass sich eine dieser Kopien in unseren heiligen Hallen einnistet und das ganze Weltraumprogramm über den Haufen wirft“, meinte Böhmer.

    „Ja. Meine Aufgabe ist es, die Kopie gegebenenfalls zu erkennen und zu eliminieren, ehe sie in den Hochsicherheitstrakt eindringen kann.“

    Jeff: „Und ein echter Mensch wäre dazu nicht imstande?“

    Sir Jon: „Er müsste selbstmörderisch veranlagt sein, mit einem Augenscanner in der Hand herumlaufen, und sowie er sich der Kopie auf zehn Schritte nähert, hätten ihn deren Bodyguards schon mit Blei vollgepumpt. Bei mir wäre das kein Problem. Ich ginge zur Reparatur zurück auf den Mars, und ein anderer meiner Brüder träte an meine Stelle.“

    Inge zog ein Mäulchen. „Dabei habe ich mich gerade so an dich gewöhnt!“, schmollte sie.

    „Du würdest keinen Unterschied bemerken, mein Täubchen“, beruhigte sie Sir Jon.

    „Und deine Augen...“ fing Böhmer an.

    „Ja, Inge hat wieder einmal richtig beobachtet. Meine linkes Auge ist ein Mini-Augenscanner, und in meinem rechten befindet sich ein Mini-Laserkanone, mit der ich der betreffenden Kopie ins Auge schieße und sein Programm zerstöre.“

    „Und womit siehst du?“

    „Mit den beiden kleinen grauen Scheiben. Darin befinden sich hochsensible Fotozellen.“

    Böhmer, nach einer schweigenden Weile: „Das heißt also, wir haben es mittlerweile auf unserer guten alte Erde mit fünf verschiedenen Hominidenformen zu tun, mit echten Menschen wie Jeff, mit Kopien von Menschen wie vermutlich unser Außenminister oder der amerikanische Präsident, mit künstlichen Menschen, Wunder der Bionik wie Jon, ferner mit menschenähnlichen Aliens wie dieser Hasi, und mit menschenähnlichen Arbeitsrobotern. Wer soll sich da noch auskennen!“

    „Und mit Frauen wie Inge“, frotzelte Jeff.

    „Und mit albernen Sackträgern wie Jeff“, konterte Inge.

    „Jon, weiß man, wo die Originale geblieben sind“, fragte Böhmer.

    „Leider nein, aber wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen.“

    Es war spät geworden. In der Cafeteria saßen nur noch wenige Gäste, die Urlaubszeit machte sich bemerkbar. Die vier Kollegen, überragt von Jeffs stämmiger Sitzfigur, saßen vor einem der bodentiefen Fenster mit dem überwältigenden Ausblick auf den Park: Herrliche, wind-zerzauste Kiefern, mächtige knorrige Eichen mit schwarz-rissigen Borken, über den Baumwipfeln ein dunkelblauer Himmel, die Sterne glitzernde Diamanten auf einem samtenen Tuch, in der Ferne, wie eine stille Verheißung, der Heiligenschein des aufgehenden Vollmondes...

    20

    Winkelmanns Besuch in der Hölle

    Der Abstieg über die grob in den Fels gehauene enge Wendeltreppe gestaltete sich ausgesprochen halsbrecherisch; die Stufen waren eng und schmal, ein Geländer fehlte. Der Wolfsfreund hatte alle Mühe, sich nicht das Genick zu brechen, zumal er wie die Götter in Asgard leicht angesäuselt war. Als er schließlich nach einer kleinen Ewigkeit unten ankam, sah er sich vergeblich nach einer Tür oder Öffnung um. Doch schon wich der Fels auseinander, ein seltsam gekleideter Mann trat auf ihn zu, bot ihm die Hand, verbeugte sich leicht und brüllte in den höllischen Lärm hinein, der jetzt auf Winkelmanns Ohren eindrang: „Gestatten: Teufel. Herr Winkelmann, willkommen in der Hölle! Modgudur hat Sie schon angekündigt.“

    Der Mann war ganz in Weiß gekleidet, Schuhe, Socken, Hemd, sogar die Haare, alles war schneeweiß; doch die lodernde Frisur, die Blümchenfliege und die große, schwarz umrandete Brille verliehen seinem Gesicht einen gewissen persönlichen, um nicht zu sagen komödiantischen Zug. Diese Erscheinung wäre in der Straßenbahn möglicherweise belächelt worden, aber nicht weiter aufgefallen. Einzig die schwarze Anstecknadel in Form einer zweizinkigen Gabel, die einen Totenschädel aufspießte – und natürlich der Ort – gaben einen Hinweis darauf, dass es sich um den Chef der Unterwelt handelte.

    „Sie wollen also die Hölle besichtigen!“, rief der Teufel, „na gut, ausnahmsweise! Normalerweise empfange ich keine Besucher! Wer zu mir kommt, bringt Zeit mit, viel Zeit, und bleibt hier. Am besten, wir gehen in die Kanzel! Hier versteht man ja sein eigenes Wort nicht!“

    Die Kanzel war ein gläserner Zylinder, der vor einer hohen Wand stand; sie traten ein, eine durchsichtige Tür schloss sich, der Behälter sauste nach oben und blieb auf halber Höhe stehen. Der Lärm war jetzt stark gedämpft.

    Der junge Mann war so verblüfft, das er zunächst kein Wort hervorbrachte. Schließlich stammelte er: „Das... das soll die Hölle sein?“ Er blickte verwirrt auf das bizarre Spektakel, das sich seinen Augen darbot. „Die Hölle habe ich mir ganz anders vorgestellt!“

    Der Teufel sah seinen Besucher verschmitzt an. „Kann ich mir denken, Lieber Herr! Und den Teufel sicherlich auch! Über Tage wird ja auch viel Unsinn über mich und diesen Ort erzählt. Zum Beispiel, dass die armen Sünder hier über kleiner Flamme gegrillt oder in kochendem Öl gesotten werden – das war mal, ist aber bei den gegenwärtigen Energiepreisen nicht mehr wirtschaftlich. Genutzt hat es auch nichts, die Welt ist dadurch nicht besser geworden. Und ich soll angeblich Hörner und einen Pferdefuß haben! Lachhaft! Schauen Sie mich an: Sehen Sie irgendwo Hörner und einen Pferdefuß? Nein, Sie werden zugeben, der Teufel sieht so aus wie ein normaler Mensch... Wie ein smarter Conferencier oder ein Eintänzer auf einer Fünfzig-Plus-Party – kurz, wie du und ich.“ Der Teufel lachte kratzig. „Auch Personal werden Sie vergeblich suchen – zu unzuverlässig und dann auch noch anspruchsvoll. Der ganze Laden hier funktioniert vollautomatisch und weitgehend umweltneutral. Bis auf ein paar Ingenieure und Wartungskräfte, die ab und zu vom Himmel herabsteigen und nach dem rechten sehen – so genannte Erz-Engel – bin ich hier unten alleine und kann mich trotzdem nicht über Langeweile beklagen.“

    Während der Mann hinter der Blümchenfliege sprach – seine Stimme klang angenehm, wiewohl etwas kratzig – starrte Winkelmann wie hypnotisiert in den riesigen Kuppelsaal, der vom Fußboden bis zur Decke in einem glitzernden Weiß glänzte. Grelle Strahlenbündel zuckten wild hin und her; an der gegenüberliegenden Wand leuchteten zahllose bunte Lampen anscheinend wahllos auf und erloschen wieder, grell-bunte Scheiben drehten sich in rasender Geschwindigkeit; eine andere Wand war von oben bis unten mit Bildschirmen verschiedener Abmessungen gepflastert, auf denen in rascher Folge Bildsequenzen vorüber huschten. Weiter hinten, in der Tiefe des Raumes, stieg weißer Qualm auf. Auf dem Boden, weit unter ihnen, wogte eine unübersehbare Menge luftig-durchsichtiger Gestalten; das Gedränge war so dicht, dass es Winkelmann wie das Auf und Ab von Brandungsschaum vorkam.

    „Wir befinden uns hier in der Vorhölle, Sektion Laster, in der die leichteren Fälle behandelt werden“, sagte der Teufel, von Winkelmanns Ergriffenheit sichtlich amüsiert. „Diese Gestalten dort unten – ich nenne sie Patienten, das heißt: Die Leid-Tragenden – sind Verstorbene, die sich in ihrem Leben minder schwerer Vergehen schuldig gemacht haben, zum Beispiel Fernsehsüchtige, Drogen- und Alkoholsüchtige. Dort, wo Sie die bunten Scheiben sehen, ist die Abteilung der Spielsüchtigen, die durch ihr Laster sich und ihre Angehörigen ruiniert haben. Jedesmal, wenn ein Spieler eine Münze in einen dieser einarmigen Banditen steckt, erhält er einen Stromschlag, der allmählich gesteigert wird. Sie werden es nicht glauben, lieber Herr Winkelmann, aber manche halten so lange durch, bis sie schwarz werden und schreiend umfallen. Wenn sie wieder zu Kräften gekommen sind, beginnt das Spiel von Neuem. Hundert, Tausend, Zehntausend irdische Jahre. Und die Trinker –“

    „Das ist ja furchtbar!“, rief Winkelmann aus und schüttelte sich, „wäre es nicht besser, diese armen Sünder zu therapieren, als sie zu Tode zu quälen?“

    Der Teufel wischte diesen Einwand mit einer fahrigen Handbewegung weg. „Die Hölle ist ein Ort der Strafe, nicht der Therapie. Dazu hätten diese Patienten zu Lebzeiten Gelegenheit gehabt! Außerdem sterben sie nicht, denn sie sind ja schon tot. Die Qualen sollen sie läutern und für ein anständiges nächstes Leben fit machen! Die Seelen derjenigen, bei denen die Läuterung gelingt, werden nach Seeheim gebracht, dem Ort der Ungeborenen, und in einem passenden Körper eingehaucht.“

    „Und was geschieht mit den anderen?“

    „Die hoffnungslosen Fälle? Die werden als Ratten oder Mäuse oder dergleichen Ungeziefer wiedergeboren. Ähnlich verfahre ich mit den Völlerern und Fressern.“ Der Teufel zeigte auf die Qualmwolke. „Dort steht ein oberbayerisches Festzelt, in dem auf riesigen Grillrosten ununterbrochen Kalbshaxen brutzeln, und in dem Ströme von Starkbier fließen. Die Patienten essen so lange, bis sie sich übergeben müssen, dann steht schon wieder eine neue Riesenportion Haxen mit Kraut auf dem Tisch, und das Bier wird ihnen mit Schläuchen –“

    „Hören Sie auf!“, rief der Wolfsfreund entsetzt, „das ist ja furchtbar! Das ist wirklich die Hölle!“

    Der Teufel lächelte geschmeichelt. „Ja woran dachten Sie denn, Verehrtester? Etwa an einen Ort wie Helheim oder Walhall, wo die Verstorbenen in schicksalloser Anschauung vor sich hindämmern? Die Hölle ist doch eingerichtet worden, um die Menschen zu bessern, nicht, um ihnen nach dem Tode einen angenehmen Aufenthalt zu gewähren! Dazu ist schließlich das Paradies da!“

    „Glauben Sie im Ernst, mein Lieber Herr Teufel, „dass die Angst vor Strafe wirklich jemanden bessert?“

    „Herr Winkelmann, was ich glaube, steht nicht zur Debatte! Ich führe meinen Auftrag aus, und damit basta!“ Der 'liebe Herr Teufel' biss sich auf die Lippen. „Hmm... nun ja... ich weiß, ich weiß... Es gibt Bestrebungen, die Hölle ganz abzuschaffen und den Teufel in Rente zu schicken. Doch noch ist es nicht soweit. Eine Mehrheit der Menschen glaubt noch an mich, und solange man an mich glaubt, solange habe ich eine Existenzberechtigung. Aber lassen wir das. Schauen wir lieber in eine andere Abteilung hinein.“

    Die gegenüberliegende Wand löste sich auf und gab den Blick in einen altertümlichen Krankenhaussaal frei, in dem sich auf eisernen Bettgestellen ohne Matratzen und Bettzeug nackte Leiber in orgiastischen Verrenkungen wanden; ihr Keuchen und Stöhnen war bis in die Kanzel zu hören.

    „Die Abteilung für Sexsüchtige und zwanghafte Ehebrecher“, sagte der Teufel und grinste teuflisch. „Die Patienten sind gezwungen, unablässig den Liebesakt zu vollziehen, und zwar immer mit denselben Partnern. Viele sogar mit ihren Ehefrauen oder Ehemännern.“

    „Brrr...“ Der junge Mann schüttelte sich. „In der Tat: Geradezu teuflisch teuflisch“, brummte er ohne es zu wollen.

    „Wenn Sie genau hinschauen, werden Sie einige prominente Leute wiedererkennen“, fuhr der Teufel fort.

    „Ich werde mich hüten!“

    „Wie Sie wollen! Und ehe Sie fragen: Die Unverbesserlichen werden nach einiger Zeit in Hengste, Stuten und Zuchtbullen inkarniert, die anderen verlassen das Purgatorium mit dem Zeug zu braven Ehefrauen und Ehemännern. Allerdings: Bei vielen halten die guten Vorsätze nicht lange vor. Was soll ich machen? Schließlich ist der Platz hier noch knapper als in den übrigen Abteilungen. Wie Sie sicherlich festgestellt haben, sind alle Betten belegt.“

    Plötzlich leuchteten rote Signallampen auf, und ein knarrender Warnton erfüllte den Glaszylinder. „Zum Teufel“, sagte der Teufel, „was ist denn da nun wieder los?“ Er schnippte mit den Fingern, und an der Decke der Kanzel erschien ein Bild, auf dem eine bizarre Gestalt immer wieder gegen eine unsichtbare Wand anrannte. „Dacht´ ich mir´s doch! Innozenz spielt wieder mal verrückt. Wir müssen runter, eh er total durchdreht!“

    Die Kanzel glitt herab, es wurde dunkel, es wurde hell, und als sie hielt, bot sich dem Wolfsfreund

    ein apokalyptischer Anblick.

    Forts. folgt

  • Heyho McFee ,

    soo...jetzt bin ich endlich bis hierhin vorgedrungen. Was soll ich groß sagen?

    :thumbsup::thumbsup::thumbsup:!

    Ist für mich ganz großes Kino. Zugegeben, am Anfang war's etwas schwierig, mit den vielen verschiedenen Charakteren klarzukommen, aber das ging dann doch ziemlich schnell. Die ganze Geschichte hat sich rasant entwickelt - und das gilt auch für die Geschwindigkeit, mit der ich sie gelesen habe. Ist für mich immer ein deutliches Zeichen, daß der Flow stimmt. Nichts am Ausdruck wirkte irgendwie gestelzt oder aufgesetzt und ich hatte auch fast nirgendwo das Gefühl, beim Lesen "mit den Augen hängenzubleiben" - also an einem Satz erst mal ein gedankliches "?" setzen und den dann nochmal lesen müssen, weil man den Zusammenhang/die Bedeutung zum Rest nicht gleich hinbekommt.

    Ich mag also Deinen Stil - und die Story ebenfalls. Ich bleibe also dran...

    Burk:thumbup:

  • Die Höhle, in der gut ein gotischer Dom Platz gefunden hätte, war von einer Unzahl lodernder Feuer erhellt, die an den Höhlenwänden in Reihen übereinander angeordnet brannten; rußige Qualmwolken stiegen auf, Blitze, von gewaltigen Donnern begleitet, zuckten wild umher; die Luft, in der das wilde Geschrei von Frauenstimmen lag, war erfüllt vom Gestank schwelenden Holzes und versengten Fleisches. Zwischen den Flammen wanderten Scharen schwarzer Gestalten umher, die Köpfe in Kapuzen verborgen, ab und zu warfen sie sich flach auf den Boden und stießen ein entsetzliches Geheul aus; dazwischen ragten unbewegt einige Figuren in hellen, glitzernden Gewändern auf; sie hielten lange Holzkreuze hoch, und an der Bewegung ihrer Münder war zu erkennen, dass sie sangen oder laut sprachen.

    Jetzt gewahrte der junge Mann etwas, das ihm die Haare zu Berge stehen ließ: In den Feuern standen Pfähle, und an diese Pfähle waren Frauen in groben Gewändern angekettet.

    In der Mitte der Höhle erhob sich wie eine überdimensionale Käseglocke eine gläserne Kuppel, in der eine Gestalt in bizarren Kleidern und anscheinend aufs höchste erregt, hin und her lief. Sie hatte eine Art dreigeschossiger Krone auf dem Kopf; sie rannte wild gestikulierend gegen die gläserne Wand der Kuppel an, brach zusammen, richtete sich wieder auf und rannte von neuem los.

    Der Teufel verließ die Kanzel, ging zur Kuppel und starrte eine Weile mit hypnotisierendem Blick auf die Gestalt, die allmählich ruhiger wurde und sich schließlich setzte.

    „Was Sie hier sehen ist ein riesiges Autodafe, eine Hexenverbrennung gigantischen Ausmaßes“, erklärte der Teufel, als er wieder zurück war. „Wir haben die Anzahl der Feuer auf eine Million begrenzt, wahrscheinlich brannten in Mitteleuropa noch viel mehr. Der Wilde da in der Kuppel mit der Tiara auf dem Kopf ist Papst Innozenz IV, der die Existenz von Hexen und Hexern im Jahre 1484 kraft seines Amtes bestätigte. Aber der Hauptschuldige an dieser Schande ist der andere da, ein gewisser Heinrich Kramer, auch Henricus Institoris genannt, Doktor der Theologie, Prior des Dominikanerklosters in Schlettstadt und Chef-Inquisitor. Wenn jemals ein Teufel in Menschengestalt existiert hat, dann war es der, und ich möchte nicht mit ihm in einem Atemzug genannte werden. Gegen den bin sogar ich ein rechter Waisenknabe. Seine Hetzschrift Hexenhammer hat dazu geführt, dass in den folgenden Jahrhunderten Hunderttausende, wenn nicht Millionen unschuldiger Männer und Frauen auf die Scheiterhaufen geschickt wurden. Er selbst rühmte sich, eigenhändig zweihundert Frauen umgebracht zu haben.“ Der Teufel schwieg bedrückt.

    Winkelmann zog ein Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn. „Ich... ich... ver...stehe nicht“, stotterte er, „wieso lassen Sie diese Gräuel dann immer noch zu?“

    Der Teufel lächelte verschmitzt. „Wer sagt denn, dass ich sie zulasse? Lasse ich ja gar nicht! Das ganze Spektakel ist nur vorgetäuscht, es geschieht virtuell mittels modernster Projektoren, eigens für den Einsatz in der Hölle von meinen Ingenieuren entwickelt, und einer raffiniert ausgeklügelten Software! Verblüffend echt, nicht wahr? Das Geschehen wirkt nicht nur dreidimensional, es ist dreidimensional, der Bischof dort in dem golddurchwirkten Messgewand steht wirklich da. Allerdings, wenn Sie versuchen sollten, ihn zu fassen, greifen Sie ins Leere.“

    „Und die Feuer, der Qualm?“

    „LED-Technik.“

    „Woher kommt dann diese Hitze hier?“

    „Erdwärme. Das virtuelle Autodafe ist eine negative Gamifizierung der Folgen ihrer Taten, die die beiden sich nun schon seit mehr als fünfhundert Jahren ununterbrochen ansehen müssen. Ich habe dafür gesorgt, dass sie keinen Schlaf finden, und Kramer kann noch nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde die Augen schließen. Wie sie sich auch drehen und wenden: Überall brennende Scheiterhaufen mit entsetzlich schreienden Frauen. Innozenz steht kurz vor dem Wahnsinn, Kramer allerdings ist einer von den Uneinsichtigen und reagiert nicht. Aber den kochen wir auch noch weich! Wir haben ja Zeit, viel Zeit!“

    „Was haben Sie mit den beiden letztendlich vor?“

    „Kramers Astralleib bleibt für alle Zeiten hier, und seine Seele auch, denn welches Wesen könnte solch eine Seele aufnehmen? Es würde doch zum Ungeheuer! Innozenz scheint langsam zu begreifen, was er da aus Gutgläubigkeit angerichtet hat. Ich denke, seine Seele kann bald als gebessert entlassen werden und im nächsten Leben Gutes bewirken. Ein gelungenes Beispiel für eine solche Umkehr ist die geläuterte Seele Napoleons, die dem Körper Gandhis eingehaucht wurde. Doch sicher sein kann man sich natürlich nicht.“

    In der Kuppel geschah jetzt etwas Eigenartiges. Papst Innozenz stand auf, raufte sich die Haare, wobei er durch seine Papstkrone hindurchgriff, dann ließ er sich mit ausgebreiteten Armen flach auf den Boden fallen, blieb eine Weile bewegungslos liegen, erhob sich wieder, fiel auf die Knie und streckte die Arme in die Höhe.

    „Er fleht um Vergebung“, sagte der Teufel. „Lassen wir ihn. Wie gesagt, er ist keiner von den Schlechtesten. Man muss ja auch bedenken, in welcher Zeit er gelebt hat. Obwohl Stellvertreter Christi auf Erden, war er doch als Mensch vor Irrtümern nicht sicher. Ich schlage vor, wir werfen noch einen kurzen Blick in die Abteilung der Nationalsozialisten. Da müssen Sie sich allerdings auf gewaltige Hitze gefasst machen, denn dieser Teil der Hölle liegt nahe am Erdkern.“

    „Ich will nicht unhöflich sein, aber ich fürchte, ich habe schon viel zu viel Zeit in der Hölle verbracht! Gut, es war nicht uninteressant, lieber Herr Teufel, aber jetzt muss ich weiter.“

    Der Teufel zog einen Flunsch. „Schade, da verpassen Sie was! Für Hitler und Konsorten haben sich meine Ingenieure etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Na, vielleicht später einmal! Sollten Sie mal wieder in der Nähe sein, schauen Sie doch gerne wieder vorbei! Ich habe vor, einen Tag der offenen Tür einzurichten. Wenn die Leute sehen, was sie hier erwartet, werden sie ja vielleicht schon zu Lebzeiten einsichtig.“

    „Das würde aber bedeuten, der Teufel schafft sich selber ab!“

    „Glaub ich nicht! Ich rechne nicht mit großem Andrang.“ Der Teufel nahm die Hand seines Besuchers und drückte sie warm. „Herr Winkelmann, leben Sie wohl! Es hat mich gefreut! Mal mit einem normalen Menschen zu reden tut auch dem Teufel gut.“

    *

    „Na, wie war´s in der Hölle?“, donnerte Modgudur, als Winkelmann wieder vor ihr stand. Sie war jetzt wieder riesengroß.

    „Och... ich hatte es mir schlimmer vorgestellt!“, brüllte Winkelmann zu ihr hoch. „Zum Schluss war es etwas heiß, aber sonst ganz interessant. Und der Teufel – netter Herr, vielleicht etwas zu sehr von sich eingenommen, aber sonst ganz angenehm.“

    „Welcher Mann ist nicht von sich eingenommen!“, kam es von hoch oben zurück, und ein gewaltiges Gelächter erfüllte Helheim. „Wenn du den Ausgang suchst: Am Abzweig links! Dein Bekannter wartet schon!“

    Der junge Mann bedankte sich – und stand urplötzlich wieder in stockfinsterer Nacht. Er tastete sich vor und wäre nach ein paar schritten beinahe mit dem Lehrer zusammengestoßen.

    „Wo kommen Sie denn her?“, fragte der.

    „Das gleiche könnte ich Sie fragen“, entgegnete Winkelmann.

    „Sie waren auf einmal –“

    „Still! Hören Sie?“

    Ein langgezogener Heulton drang gedämpft herein.

    „Der Wolf!“, rief Winkelmann, „er sucht uns!“

    „Welcher Wolf?“

    „Der Fenriswolf, der mich nach Klein Klammerow gebracht hat... Ach, das wissen Sie ja noch gar nicht! Ich erzähl Ihnen die Geschichte später! Jetzt müssen wir erst einmal hier herauskommen. Irgendwo muss ein Ausgang sein, sonst würde er uns nicht rufen.“

    „Woher weiß Ihr ominöser Wolf denn, dass wir hier sind?“

    „Ein Fenriswolf sieht und hört so manches, was uns Menschen verborgen bleibt. Da – der Lichtfleck! Wir sind so gut wie draußen!“

    Der Stollen endete vor einem Eisengitter. Ein kräftiger Tritt, und das Gitter klatschte in einen Graben. Auf der anderen Seite: Der Wolf in seiner ganzen Herrlichkeit, groß, breitmäulig, mit heraushängenden Lefzen, erhobener Rute und leuchtenden Augen.

    Hauschild sah das Tier staunend an. „Kommen Sie“, rief Winkelmann ungeduldig, „den Wolf anstaunen können Sie später noch genug!“

    Sie folgten dem Wolf, der auf der anderen Seite des Grabens vor ihnen her lief, und standen in wenigen Minuten vor dem Weinertschen Anwesen. Hauschild schloss auf.

    „In die Waschküche!“, rief Winkelmann und stürmte voran, Hauschild und der Wolf hinterher. „Klappe zu und den Kessel darüber!“, kommandierte er, als sie unten waren, „vielleicht steckt Herr Weinert ja noch da unten.“

    Nein, Herr Weinert steckte nicht unten, er stand verwundert in der Tür zum 'Labor'. Er war heruntergekommen, weil er die Rufe gehört hatte. Als er den Wolf sah, nahm er Reißaus und schloss sich im Wohnzimmer ein.

    Der Wolf hatte sich, mit den Vorderpfoten auf der Tischkante, aufgerichtet und hechelte einen der Köpfe an. „Ist das Hasetépetés Kopf?“, fragte Winkelmann. Hauschild nickte.

    „Ich Idiot!“, entfuhr es dem Wolfsfreund, „da kann ich ja lange warten!“ Der Sendeknopf lag vor dem falschen Kopf. „Können wir das Gefäß mit dem Kopf transportieren?“

    „Den Kopf, ja, in der Transportbox.“

    „Dann her damit und rein mit ihm, aber bitte schnell! Fenris wird schon ungeduldig.“

    „Was geschieht mit den anderen Köpfen? Werden die auch gewünscht?“, fragte Hauschild, während er Hasetépetés Kopf vorsichtig vom Glaszylinder nahm, die Versorgungskabel- und Schläuche kappte und samt dem Kopf in der Box verstaute.

    „Weiß ich nicht! Jetzt schnell hinter dem Wolf her! Es wird höchste Zeit!“

    Forts. folgt

    Einmal editiert, zuletzt von McFee (9. Dezember 2019 um 11:33)

  • 21

    Weinert öffnete die Kellertür einen Spalt breit und stellte fest, dass die Luft rein war. Dann betrat er das Labor.

    Die Idee, zurück in den Tunnel zu steigen und zu versuchen, dem abgestürzten Wiegand zu helfen, hatte er nach kurzer Überlegung wieder aufgegeben. Jetzt erschien es ihm wie ein Wunder, dass er überhaupt zum Einstieg zurück gefunden hatte; er schob es glücklicher Fügung zu. Aber das Glück erneut herauszufordern wagte er nicht, denn den Plan hatte Wiegend mit in die Tiefe gerissen.

    Unschlüssig starrte er auf den leeren Behälter, auf dem noch vor wenigen Minuten Hasetépetés königlicher Kopf gethront hatte. Dann musterte er die beiden Köpfe über der grünlich schimmernden Nährflüssigkeit. Der eine schien ihn hinter halb geschlossenen Lidern zu beobachten, der andere hielt die Augen geschlossen.

    Er setzte sich auf einen Stuhl und dachte nach.

    Wiegand ist wahrscheinlich tot. Herrgottnochmal, dass es so kommen musste! War ´ne Scheißidee, das mit der Bombe. Hätte vermutlich sowieso nicht funktioniert, sonst hätte sie bestimmt schon jemand vor uns erfunden. Dafür haben wir jetzt vermutlich einen Toten... Was ich nicht verstehe, wieso hat das so gescheppert, als er unten aufschlug? Hörte sich an, als wäre er in einen Haufen Altmetall gefallen... Hätte ich bloß eine Taschenlampe gehabt! Aber es musste ja alles schnell schnell gehen! Ich kann von Glück sagen, dass ich überhaupt wieder herausgefunden habe!

    Auch der andere Kopf hatte jetzt die Augen geöffnet und starrte Weinert an.

    Soll ich nun den Rettungsdienst bestellen oder nicht? Wenn er nun doch noch lebt und nur ohnmächtig war? Hmm... dann sehen die das hier, und die Million ist im Eimer... Und im Grunde ist er´s ja selbst in Schuld. Wollte unbedingt vorangehen und keine Zeit verlieren. Und ich Idiot geb´ ihm auch noch die Taschenlampe und den Plan! Jetzt hat er Zeit, und den Plan. Weinert steckte sich eine Zigarette in den Mund. Wieso starren die mich denn so an, diese Viecher? Würde zu gerne wissen, was die jetzt denken. Sollte sie abstellen, denn ohne Hauschild kann ich mit ihrer Denke eh nichts anfangen.. Hauschild... Hauschild... Wie hat der das bloß geschafft? Wiegand hat ihn doch verklebt wie ein Postpaket! Und woher kannte er den Einstieg? Es ist und bleibt ein völliges Rätsel... Bin mal gespannt, ob er den Ausstieg findet. Nur, sollte er, wie geht´s dann mit uns weiter? Auf jeden Fall werde ich mir den Lösungsvorschlag zum Riemann ausdrucken, den die drei Superhirne ausgeheckt haben. Dann hab´ ich was in der Hand, wenn es hart auf hart kommt.

    Weinert, mit der kalten Zigarette im Mund, rutschte mit dem Stuhl vor den Computer und gab den Geheimcode für den Vorgang 'Riemann' ein. Auf dem Bildschirm erschien ein Gewirr von Zahlen und mathematischen Symbolen. Dann stellte er den Drucker an.

    Weinert durchlebte jetzt eine Situation, von der manche Mathematiker in dumpf-verschwitzten Nächten träumen. Sie rechnen, rechnen, rechnen und kommen doch nie zu einem schlüssigen Ergebnis. Hauschild hatte ihm noch vor wenigen Tagen von einem solchen Alptraum erzählt, er sei schweißgebadet aufgewacht und habe daraufhin ein weiteres ungelöstes mathematisches Problem formuliert, nämlich, ob es eine mathematische Beweisführung gebe, deren Länge unendlich sei. Er hoffe, dieses von ihm als 'Hauschildsches Paradoxon' bezeichnete Problem mit Hasis Hilfe demnächst lösen zu können.

    Hauschildsches Paradoxon! Weinert lachte rau auf. Das liegt jetzt unten im Schacht!

    Der Drucker druckte, druckte und druckte. Schon hing eine meterlange Papierschlange aus ihm heraus, der Drucker druckte wacker weiter. Die erste Rolle Druckpapier war verbraucht. Der Drucker signalisierte: Weiter. Weinert legte eine neue Rolle ein. Mittlerweile reichte die Papierschlange, zu Schleifen gefaltet, bis zur Wand, und noch immer war kein Ende abzusehen. Aus den einfachen Schleifen wurden Hyperschleifen, die sich immer höher auftürmten. Er versuchte, den Drucker abzustellen, doch das Gerät reagierte nicht. Mit geradezu perversem Eifer druckte es weiter. Da, endlich, mit einem Geräusch, das in Weinerts Ohren wie höhnisches Krächzen klang, stoppte das Gerät, aber nicht, wie sich bei genauerem Zusehen herausstellte, weil der Druckvorgang beendet, sondern weil die Druckerschwärze aufgebraucht war.

    Weinert stand jetzt bis zu den Knien in Papierschleifen. Er nahm eine dieser Schleifen hoch, breitete sie aus und betrachtete sie. Zu seiner großen Verblüffung stellte er fest, dass sich die Zeichen ständig wiederholten:

    2"z(8x4$) - '#*6@+m-7:g9...

    „Das ist doch nie und nimmer die Lösung zum Riemann!“, rief er wütend. Verwirrt griff er nach einer anderen Schleife. Das Gleiche. Er knirschte mit den Zähnen. Da will mich doch jemand verarschen! Laut Flüche und Verwünschungen ausstoßend, trampelte er auf dem Druckpapier herum. Dabei fiel sein Blick auf die beiden Köpfe. Der eine sah ihn mit großen Augen an. Weinert hatte den Eindruck, dass er sich über ihn amüsierte. Der andere schien zu grinsen.

    Der Pädagoge fühlte nackte, kalte Wut in sich hochsteigen. „Ihr verdammten Sauhunde!“, brüllte er in einer Lautstärke, als ob ihm jemand gerade die Eier abbiss, „nicht mit mir!“ Er nahm einen Stuhl, schlug ihn an der Wand entzwei, riss ein Stuhlbein aus den Trümmern und hob es hoch, um es auf die Köpfe niedersausen zu lassen. Da fühlte er eine Hand schwer auf seiner Schulter, und eine raue Stimme sagte: „Lass das!“

    Forts. folgt

    Einmal editiert, zuletzt von McFee (9. Dezember 2019 um 11:31)

  • Heyho McFee ,

    war mal wieder ein echtes Vergnügen zu lesen - vor allem die Idee mit dem Hexenhammer...:thumbup:

    In dem Kapitel haben sich jedoch, passend zur Thematik, 3 Fehlerteufel eingeschlichen, was ich bei Dir gar nicht gewohnt bin.:pupillen::pupillen::pupillen:

    Die Höhle, in der gut ein gotischer Dome Platz gefunden hätte,

    denn dieser Teil der Hölle liegt nahe am Erkern.

    Erdkern...?

    Der Teufel zog einen Flusch.

    Soll wohl "Flunsch" heißen...

    Ansonsten alles Tutti! Freue mich auf mehr.:essen:

    Burk

  • Hallo Der Wanderer,

    vielen Dank für die Hinweise! Wird sofort verbessert! Ich überlege, ob ich noch eine Höllenabteilung einbaue, in der eine Horde Fehlerteufel oberflächliche Schreiberlinge pisackt...

  • 22

    Etwa zur gleichen Zeit auf dem Mond, Mare ingenii, Krater 6.

    Troysch betrachtet die aufgehende Erde, die wie die blau-weiß gesprenkelte Kuppe eines riesigen Fingernagels über dem Mondhorizont steht und versinkt in Grübeleien.

    Wie lange ist es jetzt her, dass er sich Herbert Weinert nannte? Ein Tag, ein Jahr, tausend Jahre? Seit seiner Verwandlung hat er sich noch nicht an dieses Gefühl der Zeitlosigkeit gewöhnen können, an diesen absoluten Stillstand von Zeit und Raum. Nichts auf dem Mond bewegt sich, sogar die Erde steht still – sie wird auch in ein, zwei oder in drei Erdentagen noch genauso tief über dem Horizont hängen wie jetzt; man müsste schon viel Geduld aufbringen und genau hinschauen, um wenigstens ihre Drehung zu erkennen. Dann diese Dunkelheit der Mondnacht, die seit gefühlt endloser Zeit auf der öden Kraterlandschaft liegt wie zäher Schleim... Und dieser schwarze Himmel, gegen den sogar die Sonne machtlos ist. Der Himmel über dem Mars ist wenigstens rötlich angehaucht, und ab und zu gibt es einen kräftigen Sandsturm... Doch hier? Höchstens eine dieser Staubfahnen, die eine halbe Mondnacht lang über dem Horizont schweben, aufgewühlt durch die Ketten der selbstfahrenden Sihgtseeing-Busse der LTO.

    Doch was wird mich auf Hasetépe erwarten?

    Es gibt nur eine Möglichkeit, dieser höllischen Einsamkeit zu entkommen: Ich muss wieder ganz Mensch werden. Doch die Voraussetzung dazu ist Hasetépetés Kopf.

    Nur: Wo befindet dieser Kopf?

    Der Commander blickte zur Zeitanzeige, die schwerelos und leuchtend rot vor der Wand zu schweben schien. Auch hier gab es keine Zeit in Form von Sekunden, Minuten, Stunden, sondern nur mehr oder weniger ellenlange Zahlenfolgen. Da leuchtete zu oberst die MST, die Mittlere Systemzeit (gemeint war das Sonnensystem), bestimmt durch den scheinbaren Durchgang des Sonne durch den Meridian der Sternwarte von Marsalia, darunter die LOT, die Lunare Orbit Time, und schließlich die MEZ, die Mitteleuropäische Zeit. Die Fernsehprogramme und technischen Signale, die auf dem Mond empfangen wurden, kamen von der Erde.

    Island schob sich allmählich in Sicht, und der Commander wusste: In seinem Heimatdorf gingen jetzt die Straßenlaternen an.

    Troysch seufzte nach alter Menschenart.

    Er war sich darüber im Klaren, dass eine Auseinandersetzung mit seinem Rivalen unvermeidlich war. Freiwillig, und dann noch ohne Hasetépetés Kopf, würde Toysch das Feld nicht räumen, dazu war er zu erfolgversessen. Zudem hatten Troyschs verdeckte Ermittler – zwei umgedrehte Kanetéper – gemeldet, Commander Toysch habe angeordnet, seine Kämpfer scharf zu drillen und das Raumschiff einer Generalinspektion zu unterziehen – will heißen, er bereitete einen Angriff vor. Er wolle ihn, Troysch, durch einen Überraschungsangriff vertreiben, um ungestört nach dem Kopf suchen zu können.

    Befürchtungen, Toysch könne ihn tatsächlich davonjagen, hegte Troysch nicht. Er besaß die technischen Möglichkeiten, wenn nötig den Rivalen auf einen Schlag vollständig zu vernichten. Dagegen war er, Troysch, bei klugem Einsatz der 'Wunderwaffe' so gut wie unangreifbar.

    Der Commander blickte auf die durchsichtige Wand mit den schimmernden Zeichen und leuchtenden Signalknöpfen. Da war der blaue Button... Ein Fingerdruck, und die Wunderwaffe würde aktiviert, dieses einzigartige Kampfmittel, das in der gesamten Milchstraße nur den Hasetépern zur Verfügung stand.

    Troysch grinste schief. „Na warte, alter Bursche“, sagte er laut – es konnte ihn ja niemand verstehen – „da hast du die Rechnung ohne den Wirt gemacht!“

    Doch so einfach war die Sache nicht...

    Da war Toyschs kaltschnäuzige Unberechenbarkeit. Seit der Verwüstung seines Planeten war er der Anführer eines raumfahrenden, heimatlosen Volkes und scherte sich einen feuchten Kehricht um Regeln und Abmachungen. Schon mehrmals war er von der Vollversammlung der Vereinten Galaktischen Königreiche gerügt worden – bisher ohne sichtbaren Erfolg. Somit bestand die Gefahr, dass Toysch, wenn er einsehen musste, dass Kopf und Gehirn des KÖNIGs für ihn unerreichbar waren, aus kalter Wut, ohne Vorwarnung und aus dem Hinterhalt, seine Laserkanonen abfeuern könnte.

    Sorgen bereiteten dem Commander auch die Hasetéper, die in Gefangenschaft der Kanetéper geraten und umgedreht worden waren. Es bestand das Risiko, dass sich möglicherweise einer dieser Verräter mit einer Bombe im Körper bereits an Bord befand und, wenn Toysch sah, dass er die Schlacht verlor, sie alle in die Luft sprengen könnte. Troysch nahm sich vor, alle Detektoren und Sicherheitssysteme sofort aufs Gründlichste überprüfen zu lassen.

    Während dem Commander diese Gedanken durch den Kopf gingen – natürlich streng nach außen abgeschirmt, Lauscher waren das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte – blickte er in den schwarzen Himmel, der von einem Meer funkelnder Sterne übersät war. Ein Satz tauchte in seiner Erinnerung auf, ein Satz, ein Spruch, den er in seinem vorigen Leben irgendwo gehört oder gelesen hatte:

    Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir...

    Ja, so ähnlich hatte der Spruch gelautet. Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Der Commander fixierte einen großen hell blinkenden Stern, der Sirius... In diesem Moment hatte er den Eindruck, der Weltgeist werfe ein Auge auf ihn, blinzele ihm möglicherweise sogar zu... „Was blickst du mich an, Großer Geist“, murmelte Troysch gedankenverloren, „an mir liegt es nicht, dass das Universum von Zombies und Monstern wimmelt, die nichts anderes im Sinn haben, als sich gegenseitig zu schaden und das Universum mit Terror zu überziehen...“ Hat es überhaupt noch Sinn, grübelte er weiter, sich angesichts der Macht des Bösen als Einzelner für das Gute einzusetzen? Dieses Bösen, dem tagtäglich mehr zuwächst, als ihm die verzweifelten Bemühungen der Galaktischen Ordnungskräfte nehmen können?

    Doch was ist das Gute?

    Über der sanften Welle eines Kraterrandes erschien ein heller Lichtpunkt, der sich langsam in flacher Kurve über die Mondoberfläche bewegte und schließlich wieder verschwand: Das Linienraumschiff Gaia X auf dem Landeanflug zum Weltraumhafen Luna I.

    Ja, was ist das Gute? Das ist die Millionenfrage!

    Der Commander kam zu dem Ergebnis: Das Gute war jetzt der Versuch, seinen Widersacher Toysch in einem ehrlichen Kampf zu besiegen und zur Abreise zu zwingen. Dieser Kampf sollte kein Vernichtungskampf sein, sondern er würde mit geistigen Mitteln ausgefochten werden. Nicht die physische Auslöschung des Gegners war das Ziel, sondern dessen bessere Einsicht.

    Im Erfinden skrupelloser Finten und Fallen war ihm Toysch haushoch überlegen, denn er besaß die kriminelle Energie eines sizilianischen Mafia-Bosses potenziert mit der skrupellosen Durchtriebenheit eines Cum-Ex-Börsenmaklers. Dafür konnte er, Troysch, auf die intelligentere Mannschaft zugreifen – obwohl die Kanetéper alles andere als dumm waren. Aber denen fehlte i-Tüpfelchen, das Superhirn, das Gehirn des KÖNIGs, und das würde schließlich den Ausschlag geben. Wenn... ja wenn...

    Troysch kratzte sich nach alter Menschenart am Kinn.

    Nur, was geschieht, wenn Hasetépetés Kopf, sollte es hart auf hart kommen, nicht rechtzeitig zur Stelle ist?

    Er beschloss, über dieses Probleme zunächst nicht weiter nachzudenken, denn eine andere Frage beschäftigte ihn jetzt sehr intensiv.

    Kann ich mich auf meine Leute hundertprozentig verlassen?

    In diesem Punkt gab er sich keinerlei Illusionen hin. Er wusste, dass sie sich – sozusagen hinter der hohlen Denkhand – über ihn lustig machten. Für die Hasetéper war er weder Fisch noch Fleisch, weder Mensch noch einer der Ihren, für sie war er ein Alien, ein Fremder, ein Ausländer, ein Humanoide, dem sie äußerlich mit Respekt, ja, mit Unterwürfigkeit begegneten, den sie innerlich aber verachteten, soweit sie überhaupt zu einer solchen Regung fähig waren.

    Troysch verließ die Führungskanzel, ging in seine Kabine und nahm etwas von dieser zähen blau-grünen Masse zu sich, die jetzt seine Nahrung war, irgend ein schlackenloser, nahrhafter Algenextrakt, ohne jeden Geschmack und widerlich ölig. Auch das war ein Grund, warum er seine Existenz als humanoider Halb-Hasetéper möglichst bald beenden wollte: Die völlige Abwesenheit jeglicher Lebensfreude. Immer und immer dieser eintönige eklige blau-grüne Brei und diese öden, abweisenden Gesichts-Attrappen...

    Troysch befahl Sub-Commander Ha-Thor zu sich.

    23

    Weinert ließ das Stuhlbein sinken und drehte sich um. Hinter ihm stand Wiegand, krummbeinig, mit zerkratztem Gesicht und blutender Kopfwunde. Vor seiner Brust baumelte ein dickes goldenes und mit Edelsteinen besetztes Cruzifix.

    Weinert starrte verblüfft erst den Hausmeister, dann das Kreuz an. „Wo kommst du denn so plötzlich her?“

    „Na von wo wohl, aus der Unterwelt.“

    „Wie... was...“ Der Lehrer riss die Tür zur Waschküche auf. Der Kessel stand immer noch über dem Einstieg. „J-jetzt verstehe ich gar nichts mehr“, stotterte er.

    „Mein Gott, so stell dich doch nicht so begriffsstutzig! Ich hab den Plan und fand den Ausgang. Hauschild vermutlich auch. Allerdings ohne Plan.“ Der Hausmeister blickte Weinert irritiert an. „Was ist denn los mit dir? So unbeherrscht kenne ich dich ja gar nicht! Leg endlich das Stuhlbein weg, sonst geht doch noch was zu Bruch.“

    Der Lehrer warf den Holzprügel zu dem anderen Kleinholz und wischte sich die Stirn. „Mit mir ist gar nichts los!“, zischte er, „aber mit diesen verdammten Köpfen da! Schau dir das mal an!“ Er hielt Wiegand eine der vielen Papierschleifen hin. Der warf einen kurzen Blick darauf und grunzte: „Ja, was ist damit?“

    „Siehst du es nicht? Zahlensalat! Dabei sollte die Lösung für den Riemann da drauf stehen.“

    „Ah! Jetzt verstehe ich! Und aus Wut darüber wolltest du alles kurz und klein schlagen.“

    Weinert knurrte Unverständliches. Dann: „Du blutest ja! Und was ist das da für ein Kreuz?“

    „Ehe du dich kaputt staunst wirf bitte mal einen Blick auf die Wunde. Fühlt sich an, als hätte die Schwarte ein Loch.“

    „Wie bist du da wieder herausgekommen?“, fragte Weinert im Wohnzimmer, während er Jodlösung auf die Platzwunde träufelte. Er hatte sich wieder einigermaßen beruhigt, unbeherrschte Wutausbrüche gehörten tatsächlich nicht zu seinem Naturell.

    „Autsch! Ich bin die eisernen Krampen hochgeklettert, die aus der Wand ragen.“

    „Und warum hast du nicht geantwortet? Ich habe mehrmals gerufen.“

    Der Hausmeister verzog schmerzhaft das Gesicht. „Weil ich nicht zum Reden aufgelegt war! In dem Moment war ich wohl etwas benommen! Der Schlag war nicht von schlechten Eltern. Ich bin mit dem Hinterkopf auf den marmornen Sockel eines Leuchters geknallt. In dem Schacht befindet sich ein Haufen Antiquitäten und altes Zeug. Wusstest du davon?“

    „Ich? Nein“. Weinert grinste. „Glaubst du, dann wäre noch etwas davon da? Viel wichtiger ist die Frage: Wie kommen wir an den Lösungsvorschlag heran? Anscheinend ist da etwas durcheinander geraten.“

    „Zur Hölle mit dem Riemann!“, brauste Wiegand auf. „Ich brauch jetzt einen Schnaps.“

    Der Lehrer verschwand und kam mit einer Flasche und zwei Gläsern zurück. Wiegend beäugte die Flasche misstrauisch. „Blauer Würger? Was ist das denn?“

    „Ein Wodka-Verschnitt. Wurde damals viel getrunken.“ Weinert goss ein. „Na dann Prösterchen.“

    Der Hausmeister kippte und keuchte: „Puh... macht seinem Namen alle Ehre!“

    „Was Besseres kann ich nicht bieten. Aber möglicherweise hat dergleichen Gesöff den Untergang der DDR beschleunigt. Also trink ihn mit Andacht!“ Der Lehrer deutete auf das Kreuz. „Was hast du damit vor?“

    „Na was wohl!" Wiegand schlug mit der Hand auf das Kreuz. "Das hier ist jetzt angesagt! Zwar verstehe ich nichts von diesen Dingen, aber der Plunder sieht mir sehr nach Kirchenbesitz aus. Vielleicht ein Beutestück aus einem Kirchenraub, und alt, sehr alt. Dürfte ziemlich wertvoll sein, so wie es aussieht. Ein Spatz in der Ha –“

    „Möglich. Nur, wem gehört es?“

    „Ist das denn so wichtig?“

    „Ja. Sagt dir der Name Schalck-Golodkowski etwas?“

    Der Hausmeister dachte eine Weile nach. „Schalck-Golodkowski... Schalck-Golodkowski... Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor. Aber ich wüsste im Moment nicht, wo ich ihn hinstecken sollte.“

    „Würde dir auch ziemlich schwerfallen, mein Lieber, denn der war ein gewichtiger Herr.“

    Weinert unterbrach sich, um die Gläser zu füllen.

    „Gehts wieder? Ja, der Schalck... Ein Schalk, der Böses dabei denkt... Einer dieser feinen DDR-Bonzen, weißt du... Der wusste, wie man sich so nützlich macht, dass ihn hinterher keiner an den Arsch packen konnte, weder aus Ost, noch aus West... War nach Honecker der mächtigste Mann im SED-Staate: Waffenhändler, Menschenhändler, Devisenbeschaffer, Unternehmer, Porno- und Drogenhändler – ein begehrter Mann also. Der hätte sogar mit dem Teufel höchstpersönlich Geschäfte gemacht. Er starb 2015 mit zweiundachtzig in seiner Villa am Tegernsee. Eines seine Geschäftsfelder bestand darin, den Leuten ihre Antiquitäten und Wertsachen abzunehmen, in den Westen zu bringen und dort meistbietend zu verscherbeln. Die DDR war zu der Zeit schon Pleite und brauchte dringend Devisen. Was – “

    „Wem erzählst du das! Ich war damals schon auf der Welt.“

    „Ach ja? Was uns alle wunderte, war, wie relativ unbeschadet er und seine Frau dann die Wende überstanden. Na gut, er wird mächtige Beschützer haben, sagte wir uns, wie es eben bei solchen Herren so geht. Schwamm drüber. Aber sein Narrativ, das er in Interviews verbreitete, er besitze keinerlei Vermögen, das hat ihm hier niemand abgenommen. Waltraut sagte einmal, der Schalck heißt nicht nur Schalk, er ist auch einer! Der ist nicht so dumm, sich bis aufs Hemd ausziehen zu lassen, der hat vorgesorgt.“

    „Du meinst, der Plunder da unten –“

    „Ja.“

    „Hmm... Hatte deine Verwandtschaft denn so weitreichende Beziehungen? Ich meine, irgendjemand aus deiner Familie muss ihm das Versteck doch angeboten haben, und dieser Schalck muss ihm vertraut haben.“

    „Herbert traue ich mittlerweile alles zu. Vielleicht ist er ja deshalb kurz nach der Wende spurlos verschwunden.“

    „Aber vielleicht sind es ja gar nicht Schalcks Sachen. Die Nazis sollen doch auch überall Gold und Silber versteckt haben.“

    „Gleichwohl –“

    „Jewgenij, was hast du vor?“

    „Erst einmal gar nichts. Wir lassen das Zeug da liegen, wo es liegt. Frisst ja kein Heu.“

    Wiegand machte ein Gesicht, als habe ihm jemand Salz in den Kaffee getan. „Ich weiß was Besseres... Ich kenne Leute, die sich möglicherweise dafür interessieren.“

    „Das kann ich mir denken, dass du die kennst! Lass es gut sein, Klaus, wir wecken nur schlafende Hunde. Außerdem gehört der Schatz nicht uns, sondern dem Land.“

    „Scheiß doch aufs Land! Weiß denn wer was? Na siehst du!“

    „Kommt nicht infrage. Schluss, aus. Schließlich bin ich hier der Herr im Haus!“

    Wiegand seufzte ergeben. „Na schön. Was hast du mit den Köpfen vor? Ohne das Superhirn sind sie doch wohl wertlos.“

    „Und ohne Hauschild erst recht, wie sich vorhin gezeigt hat. Ich weiß es noch nicht. Werd´ sie abschalten und erst einmal stehen lassen. Vielleicht gebe ich sie den Aliens zurück, sollte sich einer melden. Wo ist eigentlich der Plan?“

    „Hier in meiner Tasche. Geb´ ich dir gleich. Sag mal, willst du dir das mit den Sachen da unten nicht noch überlegen? Da steckt eine Menge Geld drin! Und ich bin gegenwärtig ziemlich knapp bei Kasse. Wir könnten sie ja Stück für Stück versetzten. Ich kenne da gute Leute, die in der Lage wären –“

    Weinert winkte ab. „Bist du schwerhörig? Sowie du mit dem Kreuz da mein Haus verlässt und es irgendwem anbietest, mache ich mich der Duldung rechtswidriger Antikenhehlerei schuldig. Ich bin doch nicht blöd und setzte meine Beamtenschaft aufs Spiel!“ Du Arschloch glaubst doch wohl nicht, dass ich mit dir teile!

    Der Hausmeister seufzte schwer. „Na schön, dann eben nicht.“ Du Arschloch wirst gleich spüren, dass es doch geht! „Ich gieß´ uns noch einen ein. Halt mir mal dein Glas hin.“

    Der Lehrer beugte sich vor und schob das Glas zu Wiegand hinüber. Der ergriff die Schnapsflasche am Hals, erhob sich kurz und schlug sie Weinert mit aller Kraft über den Schädel. Glas splitterte, die klare Flüssigkeit spritzte in alle Richtungen. Der Getroffene schlug mit der Stirn auf der Tischplatte auf und blieb so liegen. Blut sickerte aus seinen Haaren.

    Der Hausmeister verließ den Raum und kam mit einem Rucksack wieder. Er setzte sich auf die Tischkante und betrachtete sein Opfer. Der Schnaps tropfte auf den Boden, das Wohnzimmer roch wie ein Western-Saloon nach einer wilden Schießerei. Als Weinert sich nach fünf Minuten immer noch nicht regte, stand Wiegand auf, nahm ihn unter den Armen hoch und schleifte ihn die Treppe hinunter in die Waschküche. Dort schob er Zentimeter um Zentimeter keuchend und stöhnend den schweren Kessel beiseite, öffnete die Klappe und ließ den leblosen Körper die Leiter hinunter, dann stieg er selber nach.

    Nach zwanzig Minuten stieg Wiegand wieder aus der Luke. Der Rucksack war prall gefüllt. Er schloss die Bodenklappe, knipste das Licht aus, verließ den Raum und stieg klappernd und leise scheppernd die Treppe hoch.

    Forts. folgt

    2 Mal editiert, zuletzt von McFee (19. Dezember 2019 um 11:51)

  • Heyho McFee ,

    war wie immer ein echtes Vergnügen zu lesen:thumbsup: - und wie immer viel zu schnell vorbei. :chainsaw:

    2 klitzekleine Schreibfehler am Ende von Kap.22:

    ...denn eine andere Fragen beschäftigte...

    ...noch einer der Ihren, für sie war ? ein Alien, ein Fremder...

    ...da sollte wohl noch ein "er" rein.:fan:

    Als Du den ollen Schalck-Golodkowski ins Spiel brachtest dachte ich für einen Moment: "Scheisse, jetzt biegt er falsch ab! Woher sollen denn irgendwelche Leute, die die DDR nie kennengelernt haben irgendwas mit dem Kerl anfangen können?!?"

    Aber das hast Du dann ja schon im nächsten Absatz sehr elegant erklärt...

    Bloß hier hatte ich einen Haker:

    ...roch wie ein englischer Pub nach einer wilden Schießerei.

    Englischer Pub???

    Ja gut, auch in England wird ganz sicher rumgeballert. Aber gerade mit den Engländern und ihren (nach alter Tradition) normalerweise unbewaffneten Polizisten fällt's mir doch eher schwer, da den Bogen zu schlagen...schon gar nicht, wenn auch noch so ein Gesöff wie der "Kristall-Wodka" im Spiel ist.

    :puke:

    Ist aber jetzt nur mein persönlicher Eindruck.

    Ansonsten Danke und in Erwartung von Nachschub

    Burk

  • Hallo Der Wanderer,

    vielen Dank für deine Aufmerksamkeit. Das mit dem Pub wird sofort geändert. In England werden die Leute lt. Statistik nicht erschossen, sondern erstochen. Oder vergiftet.

    Als Du den ollen Schalck-Golodkowski ins Spiel brachtest dachte ich für einen Moment: "Scheisse, jetzt biegt er falsch ab! Woher sollen denn irgendwelche Leute, die die DDR nie kennengelernt haben irgendwas mit dem Kerl anfangen können?!?"


    Weil diese Figur auch in zwei Welten unterwegs war, im Osten und im Westen, wie mein Wolfsfreund in der banalen Realität und einer mystischen Wirklichkeit unterwegs ist... Für mich ist dieser Mann eine Mephistogestalt, skrupellos und unangreifbar, und ich hab eine Weile überlegt, ob ich meinem Teufel nach seinem Bild modellieren sollte. Aber dafür war er mir nun wieder nicht "teuflisch" genug, deshalb habe ich das "Biedermann-Modell" gewählt, denn in jedem Menschen steckt ein kleiner Teufel...

    Woher sollen denn irgendwelche Leute, die die DDR nie kennengelernt haben...


    Dann sollten sich solche aufgeweckten Leute wie du damit mal möglichst schnell vertraut machen! Es ist ost-deutsche Vergangenheit, die in der westdeutschen steckt wie der Teufel in der Flasche, und wehe, jemand zieht den Korken ab! Nun, ich will nicht politisieren. Nur so viel: Auch in im Commander steckt DDR-Vergangenheit, also ein Stück deutscher Geschichte, und es wird sich zeigen, wie er sie bewältigt. Es klingt etwas bombastisch, aber ich sag´s trotzdem: Auch eine Fantasy-Erzählung darf eine kleine Bildungsanstalt sein...

  • Heyho McFee ,

    Dann sollten sich solche aufgeweckten Leute wie du damit mal möglichst schnell vertraut machen! Es ist ost-deutsche Vergangenheit, die in der westdeutschen steckt wie der Teufel in der Flasche, und wehe, jemand zieht den Korken ab!

    Ich kann nur für mich sprechen - als Zeitzeuge,der ich nun mal bin. Und ich hatte nie ein gutes Gefühl, wenn ich früher in die "DDR" gefahren bin. In diese "demokratische Rebublik" die niemals eine war. Ich verstehe Deine Wut. Und Deinen Frust. Und viel habe ich als "Westdeutscher" auch nicht zur Diskussion beizutragen. Das hat aber damit zu tun, das ich keine Grenze mehr ziehen möchte zwischen dem "Osten" Deutschlands und dem "Westen" unseres Landes. Dieses Thema sollte meiner Meinung nach endlich beendet werden.

    Auch eine Fantasy-Erzählung darf eine kleine Bildungsanstalt sein...

    Eine Fantasy - Erzählung ist eine Bildungsanstalt. PUNKT. Man muß sie nur zu lesen verstehen. Kriegen die meisten leider nicht mit...ist ja "phantastisch". Und damit nicht "realistisch" genug.

    So far...so what?

    Sincerely Yours,

    Der Wanderer

  • Sub-Commander Ha-Thor, groß, sehr schlank, mit einer Art Pickelhaube auf dem dreieckigen Kopf (eine elektronische Kappe mit kurzem Stiel, die Antenne), erschien in Begleitung zweier gefangener Kanetéper, die er als Kammerdiener abgerichtet hatte. Troysch betrachtete diese Gestalten und verkniff sich ein Grinsen. Noch nie hatte er intelligente Wesen dieser Art gesehen. Ihre Plumpheit war geradezu verblüffend: Der dicke runde Kopf auf gedrungenem, walzenförmigen Körper, die runden Arme, die Wurstfinger, dieser unsichere Gang, gegen den die Bewegungen einer schwangeren Bärin wie ein Ballett-Tanz wirkten. Anscheinend machte ihnen die geringe Schwerkraft des Mondes zu schaffen.

    Wieder überkamen Troysch Zweifel, ob er diesem Alien, den er zu seiner rechten Hand bestimmt hatte, trauen könne. Was wusste er überhaupt von diesem leichenblassen Wesen? Was bewegte ihn? Wenn man schon einem Menschen nur vor die Stirn schaut, grübelte Troysch, wie viel mehr an Unauslotbarem liegt dann hinter diesen stummen, starren, nichtssagenden Gesicht, an dem auch nicht der sanfteste Hauch eines Seelenlebens zu erkennen ist!

    Nicht einmal der Name stimmt!

    Troysch hatte sich geweigert, seinen engsten Mitarbeiter mit einer Art PIN-Nummer anzureden, einer dieser Serienbezeichnungen, die alle so ähnlich wie 123XYZ klangen. Auf Befragung hatte der Hasetéper erklärt, er stamme vom Gott HA ab. Ich werde dich Ha-Thor nennen, hatte Troysch vorgeschlagen und erklärt, Thor sei ein alter mächtiger Donnergott der Erde, der immer noch seine Kraft zeige. Nach kurzem Zögern hatte der Sub-Commander sein Einverständnis genickt.

    Trotzdem – irgendwie wurde er mit ihm nicht warm.

    Gut, Ha-Thor hat sich bisher immer loyal verhalten, nie hat er irgendwelche abweisenden Gedanken von sich gegeben. Aber Troysch wusste auch, dass Ha-Thor die Roboter beherrschte, und dass die Kämpfer im Zweifelsfall auf ihn hören würden. Und dass er den Schlüssel zu der Geheimwaffe besaß...

    Ha-Thor, nach einer einladenden Handbewegung, setzte sich, die Augen erwartungsvoll auf den Chefcommander gerichtet. Mit keiner Faser seines glatten Gesichts ließ er erkennen, dass er dessen Gedankengänge belauscht hatte. Seine beiden Sklaven nahmen neben der Sitzmulde Aufstellung.

    Troysch kam es zu, den Gedankenaustausch zu eröffnen.

    Ha-Thor, begann er, wenn die Berichte unserer Spione stimmen – und warum sollten sie falsch sein – bereitet sich Commander Toysch auf einen Kampf vor. In diesem Fall macht es keinen Sinn, den Kopf in den Sand zu stecken und abzuwarten. Nachgiebigkeit stärkt nicht das Recht, sondern den potentiellen Angreifer.“

    Ha-Thor sah seinen Vorgesetzten mit großen, nicht verstehenden Augen an.

    Troysch biss sich auf die Lippen. „Was erzähle ich da“, murmelte er, „das ist doch humanoides Gequatsche, das hier niemand versteht.“ Deshalb fuhr er gedanklich fort: Was wissen wir über die Bewaffnung des Gegners?

    Ha-Thor ließ sich mit der Antwort Zeit. Als er schließlich antwortete, war sein Gedankenstrom klar und präzise. Nach den Informationen, die ich gerade eingeholt habe, verfügt Commander Toysch über sämtliche konventionelle Waffen bis hin zu Atomsprengköpfen, allerdings nur in geringer Stückzahl.

    Der Sub-Commander schwieg. Er wartete auf die nächste Frage.

    Verfügt er über Neuentwicklungen, wie es zum Beispiel unsere Anti –

    Ha-Thor sprang auf. Still!, rief er unhörbar für Ohren, Feind hört möglicherweise mit!

    Dann schick deine beiden Sklaven doch hinaus!, dachte Troysch ungehalten.

    Ha-Thor schüttelte den Kopf. Chief-Commander, Sie denken immer noch wie ein redender Erdling, der die Sprache gewohnt ist! Gedanken lassen sich nicht durch Wände aufhalten! Man muss sich vorher genau überlegen, was man denkt! Der Sub-Commander setzte sich wieder.

    Troysch nahm die Ohrfeige hin ohne mit der Wimper zu zucken. Innerlich war er sogar froh, denn auf Ha-Thor war anscheinend doch Verlass.

    Du hast Recht, entschuldige! Unterbrich mich ruhig, wenn meine Gedanken wieder zu... zu verräterisch sind. Es geht um folgendes: Ich vermute, dass sich Toysch in nächster Zeit zu einem unbedachten Angriff hinreißen lässt, denn seine Vorräte gehen allmählich zur Neige, und seine Leute werden langsam ungeduldig. Immer noch ist kein Ende des Einsatzes in Sicht. Vorsicht ist die Mutter... Ähem... Was ich sagen will, Ha-Thor, ist dies: Wir dürfen kein Risiko eingehen. Gib also Befehl, die Spezialaggregate klar zu machen und alles für eine Landung auf er Erde vorzubereiten.

    Sollten wir mit Kampfhandlungen nicht warten, bis der Kopf des KÖNIGs wieder zurück ist?

    Wir schon, aber wird auch Toysch warten? Er ist ungeduldig und rechnet sich aus, dass wir ihm mit dem GEHIRN haushoch überlegen sind – er kennt ja unsere wirkliche technische Stärke nicht. Also wird er versuchen, uns in einen Kampf zu zwingen, bevor wir es gefunden haben. Ich rechne jeden Erdentag damit, dass er losschlägt.

    Ha-Thor klatschte mit der flachen Hand auf das tischähnliche Gebilde vor ihm. – Dann werden wir ihn eben vernichten! Signallampen leuchteten auf, die Kuppel begann, sich rot zu färben, ein Zeichen, dass Gefahr drohte. Der Schlag war wohl etwas zu heftig gewesen. Eine Wand löste sich auf, einer der Sicherheitsleute erschien und blickte Troysch fragend an. Der winkte ab. Entwarnung, beschied er, nur ein kleines Missgeschick! Der Alien trabte ab, die Wand erschien wieder.

    Nein, Ha-Thor, deinen Kampfgeist in allen Ehren, aber genau das werden wir nicht tun. Zumindest zunächst nicht und auch nur dann, wenn alle anderen Mittel versagen. Mir schwebt da etwas ganz Besonderes vor, etwas, womit Toysch bestimmt nicht rechnet.

    Ha-Thor saß kerzengerade und mit versteinertem Gesicht in seiner Sitzmulde. Troysch hatte den Eindruck, dass er sich über die unbedachte Aufwallung ärgerte, und verkniff sich weiterführende Gedanken.

    Commander, schwebt Ihnen da schon etwas Konkretes vor?, ließ sich Ha-Thor nach kurzer Gedankenleere vernehmen.

    Ja. Allerdings muss es noch gründlich durchdacht werden. Gib bitte den Hütern des Wissens Bescheid, dass wir uns um sechzehn Uhr MEZ, also in zwei Stunden, hier zur Beratung treffen. Ich danke dir.

    Troysch stand auf und verbeugte sich. Auch Ha-Thor erhob sich, lieferte eine Art Hofknicks, machte zackig kehrt und entschwand mit unbewegter Miene und seinen beiden 'Kammerdienern', die mit täppischen Bewegungen hinter ihm her trotteten. Obwohl auf Ha-Thors Gesicht keinerlei Anzeichen innerer Erregung lagen, hatte Troysch doch das Gefühl, dass sich der Sub-Commander immer noch über seinen unbedachten Ausbruch ärgerte.


    Der Krieg der Gehirne

    1

    Über der Lübteener Heide senkten sich zwei erstaunliche Gebilde aus der tief hängenden Wolkendecke herab. Das eine sah aus wie der überdimensionale Ball eines urzeitlich-ungeheuren Tennisspiels, das andere ähnelte dem Riesenei eines urzeitlichen Dinosauriers. Doch da es sich um militärisches Sperrgebiet handelte, blieb dieses seltsame Schauspiel von Menschenaugen unbeobachtet, und das leise Sirren, das die Luft erfüllte, ungehört. Lediglich ein mehrmaliges und tiefes Onk! Onk! drang an das Ohr eines weißen Milans, der in einiger Entfernung hoch oben im Wipfel einer mächtigen Eiche saß und fasziniert die bizarren Himmelsgeburten anstarrte. Das Onk! stammte von einem der beiden Raben, die auf den knarrenden Ästen einer abgestorbenen Kiefer hockten. Dann war da noch ein großer grauer Wolf, der sich am Fuße der Kiefer niedergelassen hatte. Alle vier beobachteten das Geschehen mit wachen Blicken.

    Ei und Ball setzten auf der Erde auf, und eine Weile tat sich nichts. Dann öffneten sich Klappen, und mehrere Dutzend elfenhaft durchsichtiger Gestalten sprangen heraus. Sie stellten sich gegenüber in zwei Halbkreisen auf, etwa zehn Meter von einander entfernt. Die Figuren der einen Reihe waren groß und schlank, die der anderen klein und zwergenhaft gedrungen.

    Nun traten aus den Raumkapseln je zwei weitere Gestalten in weiten, goldglänzenden und blau bestirnten Gewändern hervor. Jede trug ein silbernes Tablett vor sich her, darauf lag, unter einer Glaskuppel oder Käseglocke, je ein rundliches, in fluoreszierendem Grün schimmerndes Gebilde. Ihnen folgten eine Gestalt mit einem Gefäß, in dem eine wasserklare Flüssigkeit leicht hin und her schwappte. Die beiden Gestalten in den goldglänzenden Gewändern traten in die Mitte des Kreises und stellten sich mit den Rücken gegeneinander auf. Die beiden Wasserträger traten neben sie. Über allem lag eine diffuse Helligkeit, deren Quelle den vier Beobachtern verborgen blieb.

    Der Wolf und die beiden Raben – Odins Vögel Huginn und Muninn – betrachteten diese Szenerie mit gesteigerter Aufmerksamkeit. Sie wussten, was jetzt beginnen sollte, denn sie verstanden die Sprache der Götter, und die hatten schon vor einiger Zeit signalisiert: Zwei außerirdische Mächte werden in der Lübteener Heide um den Kopf eines Königs kämpfen. Und ferner: Dem Sieger sollte das Superhirn der Galaxis zufallen, das Gehirn des Hasetépeté, dem KÖNIG von Hasetépe, mit dem derjenige, der es besaß nach uralter Weissagung das All beherrschen konnte. Dieser Hasetépeté kannte die physikalischen Grundlagen, mit denen man Überlichtgeschwindigkeit erreichen und somit Raum und Zeit überwinden konnte und noch einiges mehr, und er hütete eine geheime Zauberformel, nach der zu fragen den Hasetépern verboten war.

    Der Kampf fand auf der Erde statt, weil sich dieses Superhirn auch auf der Erde befand. Allerdings kannte keine der Parteien den genauen Ort. Sie wussten nur: er war hier irgendwo in der Nähe. Des gegenseitigen Bespitzelns und Köpfeabschneidens müde und angesichts der Begrenztheit ihrer Ressourcen auf dem Mond hatten die beiden Commander der Hasetéper und der Kanetéper notgedrungen zueinander gefunden und eine Art Entscheidungsschlacht beschlossen. Der Sieger sollte weiterhin ungestört nach dem Gehirn suchen dürfen, der Verlierer würde auf seinen Heimatplaneten zurückkehren.

    Soweit die Mitteilung Lokis, des Feuergottes, im Auftrag der Götter auf Asgard.

    Allerdings, was Loki nicht wusste: Auf beiden Seiten war man nicht ganz ehrlich.

    Die Hasetéper verschwiegen den Kanetépern, dass sie inzwischen einen Fenriswolf an ihrer Seite hatten, den Wolf Odins, und damit einen mächtigen Verbündeten. Andererseits verstand der Befehlshaber der Hasetéper, Commander Troysch, ein Humanoide, halb Mensch, halb Alien, zwar manches von Wölfen, aber wenig bis nichts von der Mentalität des Gegners. Deren Kommander Toysch nun galt in galaktischen Kreisen als ausgesprochen windiger Hund. Ein gefangener Kanetéper, dem irrtümlich das Gehirn aus dem abgeschnittenen Kopf eines kriegsgefangenen Hasetépers eingebaut worden war, sagte aus, Toysch habe vor, im Falle seiner Niederlage die Hasetéper durch eine vorgetäuschte Abreise in Sicherheit zu wiegen. Wenn diese dann das Gehirn gefunden hätten, würde er aus seinem Versteck hinter dem Marsmond Phobos hervorstoßen und versuchen, es ihnen bei einem Überraschungsangriff abzunehmen.

    Als Troysch dies erfuhr, warf er alle guten Vorsätze über Bord und schwor im Falle seines Sieges fürchterliche Rache.

    So standen die Dinge, als der Kampf begann.

    2

    Doch zunächst sah es nicht nach Kampf aus, nur die Beleuchtung änderte sich. Das Wolkengrau über dem Aufmarschgebiet changierte ins Bläuliche, phosphorisierende Blitze zuckten, die rundlichen, qualligen Gebilde unter den Käseglocken erstrahlten intensiv grün.

    All das geschah in völliger Lautlosigkeit.

    Der Wolf stellte die Ohren auf. Wer spricht da?

    Huginn an Fenris: Was bedeuten die Blitze und das Licht?

    Fenris ließ die Lauscher wieder sinken. Der Rabe Huginn, ungeduldig wie immer. Er sprach nicht wirklich, es war Gedankenübertragung, eine Kommunikationsform, die nur unter den Göttern und in einigen fernen Welten verbreitet war.

    Fenris an Huginn: Der Kampf beginnt! Die grünen Gebilde unter den Kuppeln sind Kampfhirne, die Blitze Zeichen ihrer Kampfbereitschaft, der grüne Schein zeigt das Maß ihrer Energieversorgung an. Sie sind jetzt in Bestform und haben gegenüber der gegnerischen Mannschaft Aufstellung genommen.

    Huginn an Fenris: Bei Odin! Was sind Kampfhirne?

    Der Wolf zögerte mit der Antwort. Sie durfte nicht zu kompliziert und zu lang sein, denn der Rabe war zwar intelligent, aber kein Meister im Zuhören.

    Fenris an Huginn: Die Gehirne versuchen, sich gegenseitig mit Gedanken zu besiegen. Wenn es einem der Kampfhirne gelungen ist, wird ein Mitglied der unterlegenen Mannschaft eliminiert. Mehr weiß ich auch nicht.

    Huginn an Fenris: Kann man denn mit Gedanken kämpfen?

    Fenris an Huginn: Ha, nicht nur das! Gedanken können die Welt verändern!

    Auf der Fichte erklang ungeduldiges Flügelklappern und heiseres Krächzen. Huginn an Fenris: Und warum höre ich nichts?

    Fenris an Huginn: Weil die Gedankenübertragung zwischen ihnen und uns nicht funktioniert! Schließlich sind es Mitglieder ferner Zivilisationen mit anderen Übertragungsfrequenzen.

    In diesem Moment leuchtete ein Hasetéper kurz auf und sackte in sich zusammen. Huginn hüpfte flügelklappernd ein paarmal auf und ab, trockene Fichtennadeln rieselten herab. Da, den ersten hat´s erwischt! Er lachte scheppernd.

    Lautes, verärgertes Krächzen erklang. Bei Tyr und allen guten Göttern! Des Raben Muninns virtuelle Worte fluteten durch den Äther. Huginn, du Un-Rabe, hast du gar kein Mitgefühl? Das ist doch äußerst grausam und einer Zivilisation nicht würdig! Sie vernichten sich, und du lachst noch! Hel über dich!

    Fenris an Huginn und Muninn! Bei Odin! Ihr breitschnäbeligen Quatschköpfe, seid endlich still! Ja es ist grausam, aber nicht im Vergleich zu dem, was sich die Menschen antun! Diese Aliens DENKEN es nur, die Menschen TUN es!

    Muninn an Fenris: Aber sie töten sich doch!

    Muninn war schon immer der Sensiblere von beiden, dachte der Wolf.

    Fenris an Muninn: Sie können sich nicht töten, denn sie sind unsterblich. Sie setzten sich nur in die Zeit vor ihrer Entstehung zurück. Das ist kein Tod, sondern der Anfang eines neuen Daseins.

    Die Aufmerksamkeit der drei wurde jetzt durch eine Handlung in Anspruch genommen, die zunächst völlig unverständlich erschien. Die Aliens mit den Becken traten vor, nahmen die Glasglocken hoch und besprengten die Kampfhirne, die inzwischen stark an Strahlkraft verloren hatten und nur noch schwach vor sich hin dämmerten, mit der klaren Flüssigkeit. Daraufhin leuchteten die Hirne wieder in hellem Grün.

    Was machen sie da?, sendeten die Raben gleichzeitig.

    Fenris: Sie verspritzen Salzwasser, vermischt mit intergalaktischem Staub, ihr Lebenselexier. Aus diesem Gebräu beziehen sie ihre Energie.

    Zwei Hasetéper leuchteten auf und fielen um, während die Reihe der Kanetéper noch geschlossen stand.

    Huginn an Fenris: Fenris, sage uns, warum leuchtet es jedesmal, wenn eine dieser komischen Gestalten umfällt?

    Fenris an Huginn: Weiß ich nicht, interessiert mich auch nicht! Haltet jetzt verdammt nochmal die Schnäbel!

    Der Wolf kratzte sich mit der Hinterpfote den Kopf. Das sieht nicht gut aus! Wenn es so weitergeht, verlieren unsere Freunde den Kampf... Sie sind einfach nicht gut genug im Ausdenken von vernichtenden Gedanken...

    Am Horizont erschien ein roter Streifen, der sich ausbreitete und bald den gesamten Himmel überzog. Der Wolf sprang auf. Loki, der Gott des Feuers war in der Nähe, und dann war auch Wotan, der 'Wütende Donnerer', nicht weit!

    Fenris an Huginn und Muninn: Hört, ihr Raben, Loki und der Wütende Donnerer sind da! Seid jetzt still, denn sie wollen mir etwas Wichtiges mitteilen!

    Gerade sackte wieder ein Hasetéper in sich zusammen.

    Der Wolf stand eine Weile reglos, mit aufgestellten Lauschern. Auf einmal kam Bewegung in ihn.

    Fenris an Muginn und Huninn: Ihr bewegt euch nicht von der Stelle, Raben! Ich bin gleich wieder zurück.

    Und schon sprang er in langen Sätzen davon.

    3

    Schon nach der ersten Ausfällen ahnten Troysch und Ha-Thor, dass sie ohne das GEHIRN keine Chance hatten. Es lag nicht an mangelnder Kampfbereitschaft, sondern daran, dass das Kampfhirn der Kanetéper einfach das stärkere war. Dem Kampfhirn der Hasetéper fehlte der entscheidende Impuls. Es war nur eine Kopie, aber eine Kopie, auch die perfekteste, ist nur eine Kopie und nicht das Original. Aber nur das Original hätte die Kraft besessen, dem Kampfhirn der Kanetéper paroli zu bieten. Doch dieses Original, das SUPERHIRN, der Think-Tank galaktischen Ausmaßes, befand sich immer noch an einem unbekannten Ort. Sollte nicht noch ein Wunder geschehen, würden sie demnächst nur mit einem kümmerlichen Rest der Besatzung und den Reparaturrobotern an Bord auf Hasetépe ankommen. Nun ja. Die ausgefallenen Hasetéper würden wiederhergestellt werden – makelloser, strahlender, grüner als die alten. Aber er würde ohne das GEHIRN ankommen. Damit wäre diese Zivilisation für alle Zeiten zum Sklaventum verdammt.

    Aber nicht das war es, das dem Commander Sorgenfalten auf die ansonsten glatte Stirn trieb. Sklaven waren sie jetzt schon, also würde sich nicht viel ändern...

    Was ihn so verstörte war die Aussicht, für alle Zeiten, sollte der Kriegsgott Mars ihm nicht gewogen sein, ein Hominide bleiben zu müssen, ein Zwitterwesen halb irdischer, halb außerirdischer Natur, ein Fremdling unter Fremden, von der Sehnsucht verzehrt, ein Mensch zu sein – mit allen Schwächen und Stärken.Ja, der Mensch ist ungerecht“, murmelte er, damit ihn Ha-Thor nicht verstehen konnte, „er ist grausam, er ist selbstsüchtig und was auch immer, aber er ist auch vergebend, liebevoll, hilfsbereit.“ Immer öfter sehnte er sich nach einem kräftigen Wutausbruch, verspürte den Drang, irgendjemand in die Arme zu nehmen, und sei es ein verlauster Straßenköter – oder jemandem einen wohlverdienten Kinnhaken zu verpassen.

    Der Commander nahm diesen Befund ruhig, gelassen und ohne besondere Emotionen hin. Er fragte sich nur, warum er sich auf die Verwandlung und dann auch noch auf diesen Kampf mit den ungleichen Mitteln überhaupt eingelassen hatte. Sollte er doch noch gezwungen sein, zum Äußersten zu greifen? Ein mutiger Schritt, ein beherzter Schluck – und schon hätte er sich in Nichts aufgelöst.

    Also warum hatte er es noch nicht getan?

    Es war die Hoffnung gewesen.

    Die Hoffnung, Hasetépetés Kopf oder zumindest sein Gehirn rechtzeitig in Empfang nehmen und seinem Volk zurückgeben zu können. Die Hoffnung hatte ihn sogar beflügelt, diesen Schlachtplan auszudenken. Ha-Thor? Pah! Der kannte nur eines: Die totale Vernichtung mit der Wunderwaffe. Und die beiden Hüter des Wissens... Na, ja... Wissen und Einfallsreichtum sind zweierlei...

    Der Commander seufzte. Der Kopf mit dem GEHIRN... Das wäre der Weg in die Freiheit. O FREIHEIT, du Donnerwort! Die Signale, die der Wolf ausgesendet hatte, waren doch so vielversprechend. Warum hat er immer noch nicht geliefert? Warum hat der Sendeknopf versagt? Es ist mir ein vollständiges Rätsel. Nun ist es zu spät.

    An den worst case, dass Hasetépetés Gehirn zerstört war, wagte er nicht zu denken

    *

    Der Commander betrachtete das Geschehen durch ein Fenster, das von außen nicht zu erkennen war, denn es bestand aus einem halbdurchsichtigen Material. Wieder fiel ein Hasetéper wild mit den Armen rudernd um – mittlerweile der vierte.

    Ich hätte es wissen müssen. Toyschs Kampfhirn denkt sich die furchtbarsten Quälereien und Vernichtungsszenarien aus, denen kein Hasetéper gewachsen ist. Diese Aliens sind groß im Erfinden von Teufeleien, denn sie gehören zum Reich des Bösen. Und meine Leute sind die Guten! Lächerlich!

    Troysch schüttelte resigniert den Kopf.

    Was hat unser Kampfhirn denn dagegen zu setzten? Moralische Überlegungen ohne Saft und Kraft, die noch nicht einmal einen dieser albernen Raben dort überzeugen könnten. Ihm fehlt einfach der Erfindungsreichtum, die zündende Idee, das ultimative Argument. So bleibt meinen Leuten nur die Selbstauflösung... Der Kommander schloss die Augen, denn schon wieder jeuchtete ein Hasetéper auf. Geschieht ihnen recht! Warum legen sie ihr Schicksal in die Hände eines einzigen Volksgenossen! Na gut, die Menschen machen´s doch ähnlich. Nur heißt der Genosse bei ihnen GOTT. Aber immerhin, sie leisten sich mehrere. Dadurch sinkt das Risiko eines Totalausfalls...

    Troysch erhob sich.

    Ja, wenn Hasetépetés Gehirn auf dem silbernen Tablett läge...

    Er ging in die Führerkanzel und kontrollierte die Instrumente. Seit sein zweiter Stellvertreter, Sub-Commander Ha-Re (auch ein Spitzname), von der Aufsicht über eine Außenbord-Reparatur nicht mehr zurückgekehrt war, oblag ihm auch noch die Aufsicht über die Technik. Spezielle Kenntnisse waren dazu nicht nötig; alle Aggregate und die Navigation funktionierten vollautomatisch, er musste lediglich im Falle einer Störung rechtzeitig die Reparaturroboter aktivieren. Da alle Kontroll-Leuchten ungestörten Betrieb anzeigten, ging er wieder auf seinen Aussichtspunkt zurück und blickte auf den Kampfplatz.

    Wieder fiel ein Hasetéper, die Reihe der Gegner hingegen stand lückenlos.

    Forts. folgt

    Einmal editiert, zuletzt von McFee (4. Januar 2020 um 12:00)

  • *

    Aus dem Wald, weit hinter der Fichte mit den beiden Raben, traten drei Gestalten. Troysch beugte sich vor. Seine Augen ließen in letzter Zeit stark nach, wohl eine Folge der einseitigen Ernährung. Noch waren die Gestalten zu weit entfernt, um Einzelheiten zu erkennen. Doch ein winziger Hoffnungsschimmer keimte auf. Er trat noch näher an das Fenster heran.

    Allmählich wurde die Gestalten deutlicher.

    „Die Freunde! Endlich!“, rief er, „der Fenriswolf, Winkelmann, und ein Mann mit einer Box am Arm! Das GEHIRN!“

    Der Commander zögerte keinen Moment, denn er ging davon aus, dass auch die Kanetéper die Gruppe bereits entdeckt hatten und ahnten, was die Box enthielt. Er rief einen scharfen Befehl in den Raum – nein, er dachte ihn nur, aber es kam ihm so vor, als habe er ihn aus alter Gewohnheit gerufen.

    Schon stand Ha-Thor vor ihm.

    Ha-Thor! Einsatz der Schutzhülle! Sofort!

    Der Sub-Commander verbeugte sich, ging zur Schalttafel und fixierte eine Sekunde lang den roten Knopf. Mehrere Aggregate sprangen sirrend an, ein Vibrieren lief durch das Raummodul, Skalen leuchteten giftig grün auf und erloschen wieder, irisierendes Blau blinkte, dann feuriges Rot. Für einen kurzen Moment schien es, als sei das Riesenei außer Rand und Band geraten.

    Troysch blickte gespannt nach draußen. Über der Raumkapsel tauchte ein glitzerndes Gebilde

    auf, wurde größer, schwebte wabernd durch die Luft wie eine überdimensionale eckige Seifenblase, und senkte sich über die drei Ankömmlinge herab, die stehen geblieben waren und das seltsame Gebilde verdutzt anstaunten.

    Es war keinen Augenblick zu früh. Schon stürmten haufenweise Kanetéper herbei und stürzten sich auf das hauchzarte, gläsern durchsichtige Gebilde, auf dem Lichtreflexe wie flimmernde Sterne zuckten.

    Commander Toysch, breit, wie erdverhaftet, mit dem Gesicht eines haarlosen Trolls, hüpfte vor Freude ein paarmal auf und ab und rief – gedanklich:

    Hasetépetés Gehirn! Zum Greifen nah! Jetzt krieg´ ich es! Sieg, Sieg, Sieg!

    Doch er freute sich zu früh...

    Mit weit aufgerissenen, glühenden Augen und offenen Mündern rannten seine Kämpfer auf die Seifenblase zu, die jetzt Zylinderform angenommen hatte. Für einen Moment sah es so aus, als wollten sie hindurch laufen. Doch sobald sie den Zylinder mit ihren Händen oder Waffen berührten, blitzte es auf, und der Angreifer war verschwunden.

    Commander Toysch ließ verblüfft die Arme sinken. Was war das?

    4

    Von seinem Beobachtungsposten aus konnte Troysch sehen, wie sich Toyschs Leute einer nach dem anderen buchstäblich blitzartig in Nichts auflösten. Allerdings bestand kein Grund zur Freude: Mit jedem vernichteten Kanetéper zog sich der Zylinder immer mehr zusammen, und es war abzusehen, dass er die Freunde bald berühren würde. Und mit seinen Kämpfern auf der Walstatt stand es auch nicht gut. Gerade fiel wieder einer in sich zusammen.

    Dem Commander grauste es.

    Ich muss versuchen, Toysch zu einem Fehler zu verleiten.

    Jetzt begann ein unerhörtes, auf der Erde noch nie da gewesenes non-verbales Säbelrasseln. Die erste Breitseite schoss Troysch ab.

    Commander Troysch an Commander Toysch: He, Sie Schrumpfalien, wie viele Ihrer Kämpfer wollen Sie noch verlieren? Der Schutzschirm besteht aus Antimaterie und ist für solche unfähigen Halbaffen wie Sie nicht zu überwinden!

    Dies war eine gezielte Provokation, denn die Kanetéper litten erstens unter ihrer unansehnlichen Gestalt und zweitens darunter, die Technik der AM-Herstellung noch nicht zu beherrschen. Ein weiterer Grund, warum sie so scharf auf Hasetépetés Kopf waren.

    Toyschs Antwort war voller Hohn. Commander Toysch an Commander Troysch: Ha, Sie Kriegskomiker! Denken Sie, ich bin blind? Sie werden sich wundern! Schauen Sie sich mal Ihre komische Blase an! Da staunen Sie, was? Sie sind der geborene Verlierer!

    Tatsächlich! Statt sie zu berennen, bewarfen sie die Kanetéper jetzt mit Steinen. Mit jedem Stein, der traf, zog sich der Zylinder weiter zusammen. Es stand zu befürchten, dass der Wolf und seine beiden Begleiter bald ebenfalls von der Bildfläche verschwinden könnten. Troysch murmelte: „Ich werde wohl noch weitere Kämpfer hinaus schicken müssen.“ Er Befahl Ha-Thor zu sich.

    Ha-Thor, wie viele Kämpfer kannst du noch herstellen?

    Hmm... Bei der gegenwärtigen Materialknappheit vielleicht noch eine Decurie.

    Gut!

    Wenig später nahmen die zwanzig Kämpfer vor der schwindenden Schutzschirm Aufstellung. Dann schoss er die nächste Gedankenladung ab. Commander Troysch an Commander Toysch: Blind nicht gerade, aber ein notorischer Lügner!

    Toysch nahm diese Beleidigung erstaunlich gelassen hin. Commander Toysch an Commander Troysch: Wie kommen Sie denn darauf, Sie Looser?

    Troysch: Sie sind durchschaut, Sie Abfluss! Wenn Sie verlieren, wollen Sie sich nicht an die Abmachung halten und weiterhin versuchen, Hasetépetés Gehirn zu rauben! Leugnen Sie nicht! Sie haben vor, sich hinter dem Mars zu verbergen und uns dann zwischen Mars und Saturn zu überfallen! Sie haben sich doch noch nie an Abmachungen gehalten, Sie Banause!

    Toyschs Replik war verworren und unverständlich. Er sah sich ertappt und schien tatsächlich die Nerven zu verlieren. Während seine Gedanken hervorsprudelten wie Wasser aus einer versehentlich angebohrten Leitung, dachte Troysch fieberhaft nach.

    Ha-Thor! Wir brauchen unbedingt neue Antimaterie! Der Vorrat ist bald aufgezehrt!

    Dazu müsste ich Hasetépetés Kopf haben! Nur er kennt den Sicherheits-Code für die Generatoren! Aber unter diesen Umständen...

    Dann muss der Kampf unbedingt unterbrochen werden. Es hilft nichts... Ich werde Toysch um eine Gefechtspause bitten!

    Der hatte inzwischen die nächste gedankliche Hass-Tirade abgelassen und wartete auf eine Antwort. Doch Troysch antwortete nicht, in Überlegungen verstrickt.

    Commander Toysch an Troysch: He, Sie Drückeberger! Warum antworten Sie nicht? Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?

    Gedankenstille.

    Commander Toysch an Troysch: He, Sie Trollo, ich warte! Aber nicht mehr lange!

    Troysch: Ich verlange eine Unterbrechung das Kampfes!

    Commander Toysch an Troysch: Hahaha! Ich lach mich kaputt? Mit welcher Begründung denn, Sie Scherzkeks?

    Troysch: Mit folgender, Sie Trauerkloß: Laut den Gesetzen der Vereinten Galaktischen Königreiche ist eine Unterbrechung eines Kampfes dann möglich, wenn sich eine der beiden kämpfenden Parteien nicht an die Regeln hält!

    Gerade fiel erneut ein Hasetéper um, und wieder war Toyschs Antwort voller Hohn. Commander Toysch an Troysch: Sie sind ja wahnsinnig, Sie Traumtänzer! Das hätten sie wohl gerne! Jetzt, wo es sich abzeichnet, dass Sie haushoch verlieren, winseln Sie wie ein enthirnter Hasetéper um Gnade! Sie wollen doch nur Ihr bisschen Haut retten! Ich würde mich in Grund und Boden schämen! Nein, nicht mit mir, Sie Heuchler! Es wird bis zum letzten Hasetéper gekämpft! Basta!

    Ein Kanetéper verglühte – mittlerweile der fünfte –, und Toyschs Stimme klang auf einmal nicht mehr so triumphal.

    Toysch an Commander Troysch: Welche Regel meinen Sie denn?

    Troysch: Denken Sie nach, Sie öder Staubfresser, dann kommen Sie selber darauf.

    Die Finte wirkte, denn eine ganze Weile herrschte gedankliche Funkstille.

    Troysch nutzte die Zeit, um einen Ausweg aus der verfahrenen Situation zu finden. Seine ganze Hoffnung richtete sich jetzt auf ein Wesen, das sich bisher im Verborgenen gehalten hatte: Der Zweite Wissensbewahrer (der erste war ohne Gehirn; es diente draußen als Kampfhirn).

    Der Commander signalisierte: Commander Troysch an HA-PO! Commander Troysch an HA-PO! Es besteht dringender Beratungsbedarf!

    Sofort näherte sich ziemlich schnell und völlig geräuschlos ein schildkrötenhaftes Wesen ohne Arme und Beine. Statt der Augen besaß es zwei zitternde Antennen, und statt des Stummelschwanzes eine gestielte Signallampe: Das Superhirn HA-PO, oder besser gesagt, seine äußere Hülle. Wie es sich fortbewegte, war nicht zu erkennen, möglicherweise auf einem Luftkissen. HA-PO war in der Gedankensprache der Hasetéper die Abkürzung für 'Sagenhafter Weiser Ratgeber des Gottes HA'. Er stammte aus einer Zeit, als alle Götter der Welt noch eine große friedliche Familie bildeten und ohne Zwist und Priester auskamen. Wegen ihres enormen Wissens wurden beide HA-POs als Berater geschätzt und gerne auf Fernreisen mitgenommen.

    Commander Troysch an HA-PO: HA-PO, du besitzt fast das gesamte Wissen des Universums – dann ist dir bestimmt auch der Sicherheitscode bekannt, mit dem ich die AM-Produktion anfahren lassen kann.

    Die Leuchte am Hinterende des Sagenhaften Weisen Wissensberaters flackerte rötlich.

    HA-PO an Commander Troysch: Leider nein, mein Herr! Vor zwei Millionen Jahren beschloss ein HOCHWEISER RAT der Götter, diesen Code in das Gehirn unseres KÖNIGS zu übertragen, weil er dort sicherer sei als bei mir. HA-POs Lampe leuchtete knallrot. Angeblich, weil ich ihnen zu unstet bin.

    Commander Troysch an HA-PO: Ach, das wusste ich nicht!

    HA-PO an Commander Troysch: Woher auch! Der RAT meinte damals, bei leichtfertigem Einsatz von AM könnte sich schnell ein Flächenbrand entwickeln, der nicht nur das Zielobjekt, sondern ganze Landstriche, Kontinente, ja sogar einen kompletten Planeten in einem gigantischen Feuerwerk vernichten würde. Deshalb ließ der HOCHWEISE RAT nur die Herstellung eines geringen Vorrats zum Schutze des KÖNIGs zu und befahl ihm, den Code nur freizugeben, wenn der Fortbestand unserer Zivilisation ernsthaft gefährdet sei.

    Troysch rang die Hände. HA-PO! Alle Götter! Dieser Fall ist doch jetzt eingetreten! Was soll denn noch passieren? Unser Vorrat an AM geht zuende, der Schutzschirm löst sich auf, und ich komme nicht an Hasetépetés Gehirn heran! Noch ein paar Steinwürfe, und unsere Hoffnung löst sich in Nichts auf!

    Die Tentakel des Weisen Wissensberaters schlugen heftig aus. HA-PO an Commander Troysch: Tja, tut mir aufrichtig Leid, Commander, hier kann ich nicht weiterhelfen!

    Das Signallämpchen sprang auf grün, sollte heißen: Ende der Beratung. HA-PO huschte mit zitternden Antennen und blinkendem Schlusslicht davon.

    Troysch biss sich auf die Lippen. Verdammter Mist, dachte er enttäuscht, wieder ein Berater, der sein Futter nicht wert ist!

    *

    Bei den Freunden hatte sich inzwischen folgendes abgespielt.

    Als die glitzerdnde Seifenblase wabernd auf sie zuschwebte, sich herabsenkte und sie schließlich umgab, waren sie mit offenen Mündern stehen geblieben. Doch sie kamen nicht dazu, sich lange zu wundern, denn ein Haufen weißer Gestalten mit rotglühenden Augen und bizarren Waffen rannte auf sie zu, und, wie es aussah, keineswegs, um sie freundlich zu begrüßen. Die beiden Männer wichen entsetzt zurück und blickten sich nach einem Fluchtweg um – sogar der Wolf knurrte böse – da blitzte es mehrmals kräftig auf, und die Angreifer waren spurlos verschwunden.

    In die nun folgenden Stille, in der sich immer mehr Verblüffung auf den Gesichtern zeigte, machte Hauschild plötzlich ein Geräusch, das wie ein heiserer Mövenschrei klang. Er lachte. „Es ist nicht zu fassen“, keuchte er.

    Winkelmann sah ihn erstaunt an. „Was meinen Sie?“, fragte er.

    „Zehn Meter, das dürfte eine Weile reichen.“

    „Herr Hauschild, bitte!“

    „Wir haben es hier mit einem Schutzschirm aus Antimaterie zu tun. Es dauerte eine Weile, bis ich mir darüber im Klaren war. Die Lichtblitze haben mich schließlich darauf gebracht. Wissen Sie, wenn Materie mit Antimaterie verschmilzt, wird die gesamte Substanzmasse in Sekundenbruchteilen vollständig in Energie umgewandelt. Das Sternenfunkeln rührt daher, dass Insekten, Staubteilchen und anderes Kleinzeug gegen den Zylinder fliegt und verglüht“ Er hob einen Stein auf und warf ihn in Richtung Zylinder. Es blitzte. „Mein zweifelhafter Kollege Weinert wollte auf Basis dieser physikalischen Gegebenheiten eine Bombe bauen, wogegen ich mich bis zum Schluss entschieden gewehrt habe. Mit dieser Möglichkeit nun habe ich überhaupt nicht gerechnet.“

    „Hat man Sie deshalb niedergeschlagen?“

    „Ja.“ Der Lehrer starrte auf eine der anrennenden Gestalten. „Da, haben Sie gesehen? Unser Problem ist, dass bei jeder Kollision eben auch etwas Antimaterie verloren geht. Der Zylinder wird mit der Zeit immer enger. Sollte er uns berühren, erwartet uns das gleiche Schicksal wie diese Leute da. Einen Fluchtweg gibt es nicht, es sei denn, wir graben uns durch die Erde. Aber dazu fehlt uns die Zeit.“

    „Das heißt, wir befinden uns in einer Art Sicherheitsverwahrung.“

    „Mit der Aussicht auf vollständige Vernichtung.“

    „Keine besonders schöne Aussichten.“

    Wieder rannten Angreifer auf die Kuppel zu und verschwanden in Lichtblitzen.

    „Haben Sie eine Ahnung, wer diese Selbstmörder sind“, fragte der Physiker, „und was sie von uns wollen?“

    „Es sind Kanetéper, eine missgünstige Nachbarzivilisation der Hasetéper. Sie wollen mit aller Macht Hasetépetés Kopf, hinter dem sie schon lange her sind.“

    „Wissen Sie, warum?“

    „Aus dem gleichen Grund, warum Sie hinter ihm her waren.“

    Hauschild blickte betreten zu Seite und schwieg.

    Winkelmann sah den Lehrer ernst an. „Herr Hauschild“, sagte er, „machen Sie sich auf einiges gefasst, ich kann mir nicht vorstellen, dass die Hasetéper den Raub des Kopfes ungestraft lassen, denn er hat sie in große Verzweiflung gestürzt. Schließlich sichert er den Fortbestand ihrer Zivilisation. Und dieses ganze elende Kopfabschneiden hätte nicht stattgefunden. Ich kann nur hoffen, dass Commander Troysch kein Racheengel ist. Jetzt müssen wir schauen, wie wir den Kopf abliefern können. Im Moment sehe ich da leider keine Möglichkeit.“

    Das Berennen hatte aufgehört, dafür schleppten die Kanetéper jetzt zu zweit dicke Steine heran. Der erste Steinwurf verursachte einen riesigen Lichtblitz, die beiden Steinwerfer blieben als verkohlte Häufchen zurück.

    Der Zylinder war merklich geschrumpft.

    „Diese... wie sagten Sie noch? Diese Kanetéper sind anscheinend ungeübt im Umgang mit antimateriellen Schutzschirmen “, stellte Hauschild fest. Er hatte sich wieder gefasst. „Sonst wüssten sie, dass solch ein Zehn-Kilo-Stein eine gewaltige Energie freisetzt.“ Er blickte sich um. „Sehen Sie? Der Zylinder ist merklich kleiner geworden. Noch ein paar solcher Würfe, und wir müssen uns auf das Schlimmste gefasst machen.“

    Der nächste Wurf geschah aus größerer Entfernung und traf nicht. Der Stein blieb im Sand liegen.

    „Sie sind wenigstens lernfähig“, bemerkte der Physiklehrer trocken. „Aber besonders viel Kraft haben sie nicht in den Knochen.“

    „Soweit ich weiß, besitzen sie gar keine“, entgegnete der junge Mann. „Bin gespannt, was ihnen noch einfällt.“

    Jetzt begannen die Kanetéper, den Schutzzylinder mit kleineren Steinen zu bewerfen. Doch die Wirkung war bescheiden, die Dimensionen der blitzenden Rundung veränderten sich nur langsam, aber auch langsam führt zum Ziel. Die Blitze kamen immer näher.

    „Noch drei oder vier Meter... Wenn nicht bald etwas geschieht, sind wir geliefert“, knurrte Hauschild.

    Die Freunde standen in der Mitte der Blase, eng aneinandergeschmiegt, uns starrten die näherkommenden Lichtblitze ängstlich an.

    Der Wolf, mit steil aufgestellten Lauschern, stieß einen langgezogenen Heuler aus.

    „Was ist denn nun schon wieder!“, entfuhr es dem Physiklehrer.

    „Ich denke, Fenris korrespondiert gerade mit den Göttern“, sagte der Wolfsfreund, „Sehen sie den roten Streifen dahinten? Ich würde mich sehr täuschen, wenn er nicht gerade mit Loki, dem Gott des Feuers spricht. Und wo Loki ist, ist Tyr nicht weit.“

    Auf einmal flammte der Himmel glutrot auf, und Donnergrollen erfüllte die Luft.

    „Hören Sie das Donnern? Der Gott des Krieges und der Gerechtigkeit spricht. Entweder gibt es jetzt eine Lösung, oder unser Ende ist nah.“

    Forts. folgt

  • Heyho McFee ,

    das war mal wieder eine schicke Fortsetzung!:D

    Irgendwie bekommst Du es hin, daß die Geschichte immer Druck hat - keine langen Erklärungen, die die Spannung rausnehmen würden oder sowas...bewundernswert.

    Und die Idee mit dem AM Schild, dessen Wirkung sich gerade in's Gegenteil zu verkehren scheint ist auch nicht von schlechten Eltern...:thumbup:

    Bitte mehr!

    P.S: Da sind mir noch drei Kleinigkeiten im Post #37 aufgefallen. Darf ich?;)

    ...goldglänzenden und blau bestirnten Gewändern...

    Meinst Du da "mit blauen Sternen bestickt" ?

    Fenris an Huginn und Muninn! Bei Odin! Ihr gelbschnäbeligen Quatschköpfe,

    Raben haben keine gelben Schnäbel...:):):)

    Und - da hab' ich extra meinen Petiscus von 1863 rausgekramt: Die beiden Raben werden auch da mit nur einem "n" geschrieben.

    Huginn an Fenris: Kann man denn mit Gedanken kämpfen?

    Fenris an Huginn: Ha, nicht nur das! Gedanken können die Welt verändern!

    Fett Philosophisches lässig eingeschoben...ich mag das! :thumbsup:

    Bis demnächst,

    Der Wanderer

  • Unterdessen hatten die Kanetéper den Schutzschirm umringt und bombardierten ihn nun von allen Seiten. Einige schwankten jedoch wie betrunken und schienen dem Zusammenbruch nahe, andere lagen bewegungslos auf der Erde.

    Toysch schäumte. Der Commander, der nicht mit einem Zwei-Fronten-Kampf gerechnet hatte, erlaubte keine Verschnaufpause. Er erschien im Tor seines Raum-Eis und tobte dort wie ein wild gewordener Troll herum. Troysch vernahm deutlich sein mentales Gebrüll.

    Schande über euch! Ihr seid nicht länger Kinder unseres Gottes KA! Erst wenn der Kampf entschieden und der Kopf entweder in unserem Besitz oder zerstört ist, werde ich euch Ruhe gönnen! He, du da, warum wirfst du nicht...

    Trotzdem ließen die Angriffe auf den Zylinder allmählich nach; der Kampf der Mannschaften bei den Kampfhirnen hingegen tobte in völliger Geräuschlosigkeit und in unverminderter Stärke weiter.

    *

    Commander Troysch beobachtete das Schrumpfen des Schutzschirms mit zunehmender Sorge, Toysch hingegen mit zunehmender Schadenfreude. Er nutzte die Gelegenheit, um seinen Rivalen mit triefendem Hohn zu überschütten.

    Commander Toysch an Commander Troysch: Ha, Sie Maulheld! Schauen Sie sich mal Ihren komischen Schutzschirm an! Merken Sie was? Er schrumpft, schrumpft und schrumpft! Wenn ich den Kopf nicht kriege, Sie kriegen ihn erst recht nicht! Noch ein paar Steinwürfe – es wird einen gewaltigen Blitz geben, und dann haben sich die Herrschaften mitsamt dem kostbaren Kopf in Nichts aufgelöst, hahaha! und Euer Merkwürden können ohne Kopf und Mannschaft nach Ha-Ha-Hasetépe zurückkehren und dort das bittere Brot von Schimpf und Schande kosten! Toyschs barbarisches Gelächter überflutete Troyschs Gehirn.

    Der Commander in Chief biss sich auf die Lippen und starrte wie hypnotisiert auf die beiden Kampfhirne, die wie grüne Quallen heftig pulsierten. Wie lange noch würde das Gehirn des Ersten Wissensbewahrers dem Ansturm zersetzender Gedanken gewachsen sein? Das Gehirn war gut, es war sogar sehr gut, aber bei weitem nicht so erfindungsreich wie das des KÖNIGS. Sollte dieser verdammte Himmelhund Toysch tatsächlich Recht behalten und die Denk-Schlacht gewinnen?

    Allerdings waren jetzt auch etliche Kanetéper von der Bildfläche verschwunden, gegenwärtig lagen sechs Hasetéper und vier ihrer Gegner kampfunfähig auf der Walstatt, die Verluste vor dem Schutzzylinder nicht gerechnet. Es schien, als reiche schon die bloße Anwesenheit von Hasetépetés Gehirn aus, um das Kriegsglück zu wenden.

    Doch die Gefahr einer vollständigen Vernichtung der Freunde rückte immer näher. Die Kanetéper schleppten unermüdlich Steine heran und warfen sie auf den Schutzschirm. Zu ihrer Freude hatten sie ganz in der Nähe mehrere Haufen Steine entdeckt und stürzten sich begierig darauf.

    Commander Troysch an Commander Toysch: Glaubern Sie wirklich, Sie Flegel, Sie könnten mir durch dieses elende Geschwätz imponieren? Ich heiße doch nicht Toysch! Halten Sie gefälligst den Mund und warten Sie ab!

    Commander Toysch an Commander Troysch: Wie, Sie humanoide Vogelscheuche, Sie wagen es, mir den Mund zu verbieten? Was bilden Sie sich eigentlich ein, Sie... Sie... Sie...

    Und so weiter und so fort.

    Troysch nahm sich vor, auf Toyschs Flegeleien nicht mehr zu reagieren.

    Jetzt trat ein Umstand ein, mit dem niemand gerechnet hatte, und der die Lage für die Hasetéper auf einmal nicht mehr ganz so düster erscheinen ließ. Die angeblichen Steinhaufen entpuppten sich nämlich zur großen Überraschung der Kanetéper als Konglomerat aus Ackererde, vertrocknetem Kraut und faulendem wabblig-weichen Zeug, das nur wenig brauchbares Material enthielt; es waren Abfallhaufen, die beim Kartoffelroden abgefallen waren; sie hatten sich durch die Steine, die oben drauf lagen, täuschen lassen. Jetzt begannen sie, mit bloßen Händen das stinkig-faulige Zeug nach Wurfgeschossen durchzuwühlen, wodurch das Bombardement ins Stocken geriet.

    Doch Grund zum Aufatmen gab es für Troysch nicht.

    Er wusste, Hasetépetés Gehirn würde nicht mehr lange durchhalten, denn es benötigte dringend Nährflüssigkeit. Der Zeitpunkt war nah, wo es in einen tanatoiden Starrezustand verfallen würde und dann möglicherweise nicht wieder gut zu machende Schäden erlitt.

    Der Commander blickte in den Himmel und stieß einen Stoßseufzer aus.

    In diesem Moment flammte der Himmel erneut blutrot auf.

    Troysch war in seinem vorherigen Leben kein kirchengläubiger Mensch gewesen. Der GOTT der Kirchen und Priester war ihm immer wie ein wohlfeiler Erklärungsversuch erschienen für Dinge, die man nicht erklären kann. Außerdem war er überzeugt, dass dieser Gott so gut wie tot war. Aber mit der Luft seines Kinderzimmers hatte er den Glauben an die alten Götter eingeatmet, an Götter, die schon lange existierten, bevor der EINZIGE GOTT seinen Siegeszug antrat; er hatte mit großen Augen den Erzählungen des Grißvaters gelauscht, abends, vor dem Kamin, den Geschichten von Fenris, vom Wolf, der mit den Göttern sprach, von Odin und seinen sprechenden Raben, von Tyr, dem Gott des Krieges und der Gerechtigkeit, von Gyge, Freia, Heimdall und von Loki, dem Feuergott. Nur, er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er diese Geschichten gehört hatte. War es in seinem vorherigen Leben, oder war es in einem noch früheren geschehen? Gleichwohl, die Geschichten stimmten, denn die Götter lebten noch, wie der flammende Himmel bewies.

    Deshalb hatte er ja dem Wolfsfreund geraten, sich bei der Suche nach Hasetépetés Kopf von Fenris, dem Götter-Wolf, führen zu lassen. Und jetzt wusste er, dass der Rat gut gewesen war. Denn Loki war bereits zur Stelle, und Fenris, der Wolf, hatte ihn gerufen. Sein Ruf, dieser einzigartige Ur-Gesang, hallte zum zweiten Mal laut und deutlich durch die Luft, zum Zeichen, dass Loki verstanden hatte.

    Troysch entspannte sich.

    *

    Und Loki schlug die Heide mit Feuer.

    Fernab, auf einer hohen Eiche, saß Odin in Gestalt eines weißen Milans und beobachtete das Schauspiel. Ein seltsamer Gesang schwebte an sein Ohr, zart wie das Zirpen verliebter Grillen oder das Säuseln des Südwinds im Mai. Es kam aus dem Munde dar greisen Sängerin Skaldkonur, die einige Äste tiefer auf demselben Baum hockte.

    „O Loki, du wirfst die Fackel!

    Gras und Kraut brennen lichterloh,

    Die heilige Eibe steht in Flammen,

    Feuergarben steigen auf,

    ihr Qualm verfinstert Sols Antlitz!

    Sogar auf Asgard sehen sie den Schein!

    Der mächtige Feuerriese Surtr

    schwingt sein gewaltiges Schwert

    wahllos in alle Richtungen.

    O welch herrlicher Anblick!

    Welche Kraft! Skaldkonur frohlockt!

    Die alten Götter, noch leben sie!

    *

    Winkelmann, Hauschild und der Wolf beobachteten fasziniert das grandiose Schauspiel. Nicht nur der Himmel leuchtete jetzt glutrot, auch der Horizont schien in Flammen zu stehen. Die Birke, auf der eben noch die Raben gesessen hatten, loderte wie eine brennende Fackel. Fontänen aus sprühenden Funken, gekrönt von schwarzen Qualmwolken, stiegen auf. Über dem Knistern brennender Zweige und dem Knattern berstender Stämme lag Wotans, des 'Wütenden', unheimliches Grollen.

    Eine Feuersäule nach der anderen stieg hoch auf, und nun wurde Commander Troysch, der ebenfalls gebannt auf die brennende Heide starrte, klar, welche Strategie der Feuergott verfolgte: Er wollte die Kanetéper mit einem Feuerring einkreisen und dadurch zur Abfahrt zwingen, denn Feuer fürchteten sie mehr als den Mangel an Nahrung.

    6

    „Alarm!“

    Der Heulton der Sirene auf dem Dach des Rathauses dringt bis in das letzte Mauseloch.

    Holger Mertens, Chef der Freiwilligen Feuerwehr in Lübtheen, ist schneller aus dem Sessel hoch, in dem er eingedöst war, als sich der Hund unterm Sofa verkriechen kann.

    Und wieder heult es los, und wieder! Drei Mal! Also ist es ernst und kein Probealarm!

    Sein Pieper meldet sich, Mertens drückt auf Empfang, hört. „Wo? Aha! Hinter Klein Kummerow! Verstanden!“

    Doch Mertens ist bereits unten im Hof und schwingt sich aufs Fahrrad.

    Zum Feuerwehrhaus sind es knapp zweihundert Meter; sein Ehrgeiz befielt im, wie immer der Erste an der Spritze zu sein. Also legt er sich kräftig ins Zeug, sodass die Kette knirscht.

    Tatsächlich: Über Rathaus und Kirche ein rötlicher Schein!

    Er schließt auf, und in Nullkommanichts ist er in Stiefeln, Schutzkleidung, Helm. Jetzt kommt auch Heike Drömfeld herein, dann Sebastian Stein, wenige Sekunden danach Thorsten Unverhaun, Manfred Olzewski, Gregor Otto – die Staffel ist vollzählig!

    Ein Blick zur Uhr. Elf Uhr dreiundvierzig. Also sind seit dem ersten Alarmton keine zehn Minuten vergangen. Mertens grinst zufrieden. Er denkt: War auch nicht anders zu erwarten.

    Thorsten Unverhaun fährt das Rolltor hoch, springt in das Löschfahrzeug und lässt den Motor an. Als alle auf ihren Plätzen sitzen, legt er den Gang ein – und los geht´s, mit blauem Blitz und starkem Horn!

    Der Wagen verlässt die Landstraße und biegt in die holperige Kreisstraße Richtung Klein Kummerow ein. Der Feuerschein ist kräftiger geworden, Flammen lodern auf, Funken sprühen.

    „Mein Gott!“, ruft Heike Drömfeld, „das sieht ja aus wie neulich in Kalifornien! Hoffentlich bleibt das Dorf heil.“

    „Es musste ja mal so kommen“, sagt Thorsten Unverhaun, „bei der anhaltenden Trockenheit in diesem Sommer! Da reicht schon eine achtlos weggeworfene Kippe, und die Heide brennt.“

    Klein Kummerow ist bald erreicht, doch dem Brandherd sind sie anscheinend noch keinen Meter näher gekommen. Immer noch lodern die Flammen in weiter Ferne.

    „Wie kommst du denn auf Klein Kummerow, Holger?, will Heike wissen, „der Brandherd liegt doch viel weiter weg, wahrscheinlich hinter Kaarßen!“

    „Wurde mir am Pieper so gesagt.“

    Doch seltsam – auch hinter Kaarßen liegt er nicht. Es hat den Anschein, als wiche er immer weiter zurück, je mehr sie sich ihm nähern.

    Mertens hält den Wagen an, stellt den Motor ab, lässt die Scheibe herunter. „Seid mal eben ruhig“, sagt er, steckt den Kopf zum Fenster hinaus und lauscht. „Versteh ich nicht“, murmelt er und zieht den Kopf wieder zurück, „absolut ruhig! Normalerweise knallt und faucht das doch bei solch einem Brand! Und wir scheinen der einzige Trupp zu sein, der unterwegs ist. Nirgendwo Blaulicht oder Signale. Sehr seltsam!“

    Otto: „Wer hat dich denn überhaupt informiert?“

    „Jemand von der Einsatzleitung. Unbekannte Stimme.“

    „Hmmm...“

    „Aber es brennt doch, oder?“, meint Heike. „Also los!“

    Inzwischen haben sich die Flammen anscheinend weiter nach links ausgebreitet, und er einzige direkte Weg dorthin führt über einen breiten, aber unbefestigten Waldweg.

    „Meinst du, wir kommen da durch?“, fragt Heike.

    „Ich kenne den Weg. Er ist erst vor ein paar Wochen planiert worden, in zwei Kilometern beginnt wieder Asphalt. Und wir haben Allradantrieb.“

    Der Weg zieht sich hin, und allmählich steigt das Gelände an. Mittlerweile steht der gesamte Himmel in Flammen.

    „Bist du sicher, dass dies dein Weg ist?“, fragt Holger besorgt, „zwei Kilometer sind lange um, und wo kommt plötzlich dieser Hügel her?“

    Mertens, mit verklemmter Miene, schweigt verdrossen und gibt Gas; die Scheinwerfer fressen sich gierig weiter in den schnurgeraden Waldweg hinein. Bald wird der Wald dünner, die Bäume krüppeliger, schließlich hört der Baumwuchs bis auf ein paar kümmerliche Zwergkiefern ganz auf.

    „Wo sind wir denn hier?“, fragt Thorsten erstaunt, „das sieht ja aus wie auf dem Kah– “

    Ein heftiger Ruck schlägt ihm das Wort aus dem Mund; fast wäre er mit dem Kopf unsanft gegen die Frontscheibe gestoßen. Der Wagen ist ungebremst in eine Sandbarre hineingedonnert und zum Stehen gekommen.

    „Mensch Holger!“, schreit Heike aufgebracht, „was ist eigentlich heute mit dir los? Bist du blind? Der Haufen war doch deutlich zu erkennen!“

    Mertens, über das Lenkrad gebeugt, starrt angestrengt nach draußen. „Seht ihr das auch, was ich jetzt sehe?“, murmelt er tonlos.

    Gregor Otto, ungehalten: „Ja was sollen wir –“

    Aber auch Gregor bringt seinen Satz nicht zuende. Obwohl der gesamte Himmel in Flammen steht, ist das Tal vor ihnen, in das sie jetzt hinunterschauen, völlig dunkel, und auch auf der Heide dahinter zeigt sich nicht das kleinste Flämmchen.

    Als erste findet Heike die Sprache wieder. „Das ist ja ´n Onk! Wisst ihr, wo wir hier sind? Das da vorne ist der Totengrund! Dort, die Rabeneiche!“ Sie sieht Mertens, der immer noch entgeistert nach vorne starrt, belustigt an und sagt: „Was ist mit dir, Holger, alles klar?“

    „Überhaupt nichts ist klar!“, donnert der, „höchstens, dass mir dein Gequatsche allmählich auf den Sack geht!“ Dann, ruhiger: „Entschuldige, war nicht so gemeint! Ich geb dir demnächst ne Bratwurst und n Bier aus.“ Noch ruhiger: „Hat jemand eine Ahnung, was das alles bedeutet?“

    „Wir? Warum fragst du uns? Du bist der Boss“, frotzelt Olzewski.

    „Ich könnte beschwören, dass es der richtige Weg war. Der Totengrund liegt doch ganz woanders.“

    „Liegt er wohl doch nicht!“

    „Und zu löschen gibt es anscheinend auch nichts.“

    „Zumindest nicht auf der Erde!“

    Alle schauen verdutzt auf Sebastian Stein, den großen Schweiger. Da muss schon einiges passieren, eh der mal den Mund aufmacht.

    „Wie meinst du das?“

    „Ach, war nur so ´ne Idee.“

    Ratloses Schweigen.

    „Hört mal, ihr Herren der Schöpfung!“ Heike. „Was haltet ihr davon, wenn wir jetzt die Spaten herausholen und die teure Kiste wieder freischaufeln. Ich will hier nicht meinen Lebensabend verbringen.“

    „Stopp!“ Mertens hebt die Hand. „Ihr habt mir noch nicht gesagt, ob ihr das auch seht, was ich sehe.“

    „Dann sag uns mal, was du siehst.“

    „Ich sehe den Himmel brennen und auf der Heide keine einzige Flamme.“

    „Genau das sehen wir auch“, sagt Heike stellvertretend für alle. Oder fast alle.

    „Asgard brennt“, murmelt Sebastian Stein.

    „Was brennt?“

    „Asgard, der Garten der Götter! Ragnarök, der Große Weltbrand, ist nahe!“

    „Quatsch!“ Mertens sieht Stein amüsiert an. „Wo hast du denn das denn her?“ Bei sich denkt er – und da ist er jetzt nicht der einzige –: Wenn der den Mund aufmacht, kommt nur Unsinn raus.

    „Also los! An die Spaten!“

    Es dauert eine Weile, bis die Räder frei geschaufelt sind, das schwere Fahrzeug hat sich tief in den Sandwall hineingeschoben. Zwischendurch muss Gregor Otto mal austreten. Plötzlich ruft er: „Hey, ihr glaubt nicht, was hier steht!“

    „Was steht denn da?“, schallt es zurück.

    „Zum Totengrund sechs Kilometer!“

    „Verarsch uns nicht!“, ruft Heike.

    „Dann komm doch her und sieh selbst!“

    „Gerne! Aber mach erst die Hose zu!“

    Tatsächlich, auf dem ehemals weißen Stein steht stark angewittert, aber noch deutlich erkennbar und mit Richtungspfeil versehen:

    Zum Totengrund 6 Km

    Inzwischen sind auch die anderen herangekommen und blicken verdutzt auf den Schriftzug. Holger Mertens hat den Helm abgenommen und kratzt sich am Kopf. „Ich könnte schwören –“

    „Nicht schon wieder!“, fällt ihm Gregor Otto ins Wort, „du siehst doch, wohin die ganze Schwörerei führt!“

    „Ich versuche jetzt zu wenden“, sagt Mertens, sichtlich um Fassung bemüht, „und dann fahren wir zurück.“

    Der Himmel ist jetzt feuerrot. Über ihnen kracht und tobt es, als zöge eine Kriegsmaschinerie über sie hinweg. Doch am Platze regt sich kein Lüftchen.

    Auf einmal, aus weiter Ferne, ein langgezogener Heulton: Wolfsgeheul.

    „Seit wann sind denn in unserer Gegend Wölfe?“, fragt Heike verblüfft.

    „Na dann mal nichts wie weg“, frotzelt Gregor, „sonst frisst dich noch einer!“

    „Die? Die ist viel zu zäh!“

    „Ha – Ha – !“

    Eigenartig allerdings ist Sebastians Verhalten. Er ist stehen geblieben und starrt geradezu verzückt nach oben, in den immer feuriger werdenden Himmel. Jetzt öffnet er den Mund, als wolle er etwas sagen. Doch dann machte er eine abschlägige Handbewegung und schließt ihn wieder.

    Mertens´ Handy meldet sich. „Wo stecken Sie denn?“, brüllt die Stimme so laut, dass die alte Eule, die das seltsame Fahrzeug schon seit einiger Zeit beobachtet, verschreckt davon fliegt. „Und wo ist das Löschfahrzeug?“

    „Wir sind auf Löschfahrt, Brandmeister, vor einer halben Stunde wurde mir ein Brand hinter Klein Kummerow gemeldet.“

    „Wer hat den gemeldet?“

    „Jemand von der Einsatzleitung.“

    Kurze Stille, dann brüllt die Stimme am anderen Ende der Android-Leitung los. „Mertens, sind Sie besoffen? Hinter Koorßen brennt´s! Das wird noch ein Nachspiel heben!“ Knacks, Schluss, aus.

    Mertens klemmt sich hinters Lenkrad und lässt Motor an.

    „He, Sebi!“, ruft Heike, „willst du mitfahren? Dann steig ein und halt keine Maulaffen feil!“

    Als sie wieder bergab rollen, ist der Himmel grau in grau, und es beginnt zu nieseln.

    „Was war das?“, murmelt Thorsten Unverhaun bedrückt.

    „Tja...“

    „Aber Holger, die Zentrale hat dich doch angerufen und Klein Kummerow genannt!“, fragt Heike, „oder etwa doch nicht? Und woher kam dann dieser Feuerschein?“ Es klingt fast beschwörend.

    Wieder sieht es so aus, als wolle Sebastian Stein etwas sagen, doch wieder bliebt er stumm. Dabei macht er ein Gesicht, als habe er etwas unendlich Tröstliches erfahren.

    Mertens schüttelt verständnislos den Kopf. „Ich könnte schwö –“

    „Tu es nicht!“, bricht es aus Heike heraus, „tu es um Gotteswillen nicht, oder ich beiß dir vor allen Leuten die Eier ab! Und du, Sebastian, hör bitte auf, so scheinheilig zu grinsen, sonst bist du der nächste, den ich in den Sopran befördere!“

    „Wenn ihr nicht dabei gewesen wäret“, sagt Thorsten, „würde ich annehmen, es war alles nur ein Traum!“

    Mittlerweile gießt es in Strömen.

    Forts. folgt