An: S. Holmes Baker Street 221b, London, Vereinigtes Königreich
Von: X. Holmes, Hotel Saint Claire, Blackwater, Vereinigte Staaten
Lieber Sherlock, bedauerlicherweise hat mich Dein letzter Brief erst vor Kurzem erreicht. Die Gefängnisse in der Neuen Welt sind furchtbar schlecht darin, die Post pünktlich oder auch nur halbwegs regelmäßig zuzustellen. Selbstredend hatten meine falsche Angaben zu meiner Person und Herkunft das zusätzlich erschwert. Bevor Du nun in Aktionismus verfällst und unsre Eltern oder gar, Gott behüte, Mycroft informieren willst, beruhige Dich wieder. Mir geht es gut. Die neun Monate Zwangsarbeit haben mir zwar deutliches Untergewicht beschert und selbst Du hättest vermutlich Deine liebe Mühe, in der sehnigen, zähen, leicht verwilderten Frau Deine Schwester zu erkennen, aber tatsächlich wird mir mein neuer Habitus in der nächsten Zeit ein willkommener Verbündeter sein. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass ich natürlich an dem Mord an dem aufstrebenden Geschäftsmann LeClerc ebenso unschuldig bin wie mein Mitverurteilter, ein glückloser Fallensteller, der zu jener Zeit in der Stadt sein letztes Bisschen Verstand mit billigem Fusel vernichtet hatte. LeClercs Partner besaß so viel Einfluss in Blackwater, dass man sich einfach zwei Schuldige gesucht hat, egal wie passend oder unpassend. Auf die heilige Trinität aus Motiv, Mittel und Gelegenheit hat man daher auch gleich verzichtet. Ich hatte am Abend zuvor den falschen Leuten beim Poker zu viel abgenommen und mein Alibi wäre die züchtige Pastorentochter gewesen, aber zum Glück hat diese ihren Mund gehalten und nicht ihren Ruf für dieses abgekartete Spiel riskiert. Warum ich Dir schreibe, dürfte Deinem deduktiven Verstand schon längst klar sein: Ich bin frei, befreit, geflohen, wie auch immer man es sehen mag, sitze in einem Zelt und kleide mich neu ein, bevor mich ein Gentleman mit den Manieren eines Leibdieners, nebenbei auch der Veranlasser der unblutigen Befreiungsaktion, zu meiner noch anonymen Wohltäterin bringen wird. Ich sehe wahrlich verändert aus in diesen abgetragenen Lederhosen, dem Wollhemd, dessen Originalfarbe ich nicht einmal erahnen kann, und dem abgenutzten Waffengurt mit dem schweren Cattleman-Revoler. Besonders gefreut habe ich mich über Deinen letzten Brief, in dem Du mir von Deinem neuen Mitbewohner erzählt hast. Dieser John scheint ein Pfundskerl zu sein. Ostindienveteran und Arzt, und vor allem, er hält es offenbar länger als fünf Minuten mit Dir zusammen im selben Zimmer aus! Benimm Dich ihm gegenüber und gib Dir ja Mühe, großer Bruder. Du weißt, wie anstrengend Du für Menschen im Allgemeinen bist. Fast noch schwieriger bist Du für jene, die Dich - aus welchen Gründen auch immer - lieben. Sobald ich mehr weiß, lasse ich es Dich wissen, zumal ich Deine Fernexpertise durchaus zu schätzen wüsste, denn selbstredend werde ich versuchen, den wahren Schuldigen am Tod von LeClerc und die dazu gehörenden Hintergründe aufklären. Wäre es nicht die Jagd nach einem Schurken, so wäre schon die bloße Existenz des Rätsels Grund genug für mich, dem nachzugehen. Aber wem erzähle ich das? Die gemeinsamen Erbanlagen sind nun einmal unleugbar. Dich liebend, Xinestra |