Hier meine ersten Auszüge von "Das Fenster nach Weraltéra" mit Prolog und den ersten Kapiteln. Ich hoffe, es ist hierfür nicht zu viel, aber das ganze Werk würde wirklich den Rahmen sprengen
Prolog
„Wir haben es geschafft“, keuchte die alte Frau.
Sie kauerte schwer atmend und mit schmerzverzerrtem Gesicht auf allen Vieren. Regen, der auf die Lichtung im Wald auf sie hernieder prasselte, vermischte sich mit einem Rinnsal aus Blut, das ihr aus einer klaffenden Wunde auf der Stirn lief. Es sah fast so aus, als würde sie Blut weinen. Ihr schwarzer Umhang war mit Schlammspritzern übersät und ihre mausgrauen Haare klebten zerzaust auf ihrem Kopf. Doch das merkwürdigste an ihr waren ihre Augen. Sie leuchteten unnatürlich grün.
„Bist du dir sicher?“, fragte ein dicklicher Mann mit Vollbart und ergrautem Haarkranz, der einige Meter von ihr entfernt aufzustehen versuchte. Seine Stimme war zittrig. Er hatte einen mit Gold verzierten moosgrünen Reisemantel an, der an mehreren Stellen halb zerfetzt und blutfleckig war. Auch er hatte diese grün leuchtenden Augen. Langsam und stöhnend humpelte er in Richtung der alten Frau.
„Bist du dir sicher?“, rief der alte Mann noch einmal, dieses Mal ungeduldiger und lauter.
„Ja doch!“, sagte die kauernde Frau nun ebenso laut, richtete sich wie in Zeitlupe auf und wandte sich dem Mann zu. „Vandol ist endlich aus dieser Welt geschieden, um nie wieder zurückkehren zu können!“
Ein Seufzer der Erleichterung war von dem alten Mann zu vernehmen, dann humpelte er weiter zu der Frau und stützte sie. Die beiden schauten sich auf der schlammigen Lichtung im Wald um, als würden sie nach etwas suchen.
„Da vorne ist er“, sagte die Frau und ihre Stimme klang auf einmal, ganz als hätte sie nun eine furchtbare Gewissheit. Sie ging langsamen Schrittes auf eine junge Erle am Rande der Lichtung zu, während der alte Mann humpelnd hinter ihr herlief. Dort, hinter dem kleinen Baum im Schlamm, lag ein Mann, die Arme und Beine von sich gestreckt. Seine grünen Augen leuchteten nicht mehr. Er hatte hellblonde, schon mittlerweile ins graue übergehende Haare mit einem gleichfarbigen Vollbart. Blut floss aus vielen auf seinem Körper verteilten Wunden. In seinen Gesichtszügen stand selbst in seinem Tod noch ein schmerzverzerrter Ausdruck. Er musste stark gelitten haben.
„Ohne ihn hätten wir es nicht geschafft“, sagte die alte Frau nun mit erstickter Stimme. Durch den Regen konnte man nicht erkennen, ob sie weinte oder ob es nur das vom Himmel herabfallende Wasser war. „Er wusste, dass er den Angriff gegen Vandol nicht überleben würde. Er wusste es! Und trotzdem hat er es getan. Nur um uns die Chance zu geben, unsere Kräfte zu vereinen und gegen dieses Monster einzusetzen.“
„Sein Tod war nicht umsonst!“, sagte der alte Mann. „So konnte es uns immerhin gelingen, Großmeister Vandol zu vernichten!“
„Sag nicht Großmeister!“
Die alte Frau richtete sich jetzt zu voller Größe auf. Ihre Augen flackerten bedrohlich.
„Großmeister verpflichten sich dazu, ihre außerordentlichen Fähigkeiten nur für das Gute und das Wohl Weraltéras einzusetzen!“
Sie seufzte und sackte wieder in sich zusammen.
„Nein, Vandol war schon lange kein Großmeister mehr.“
Sie blickte traurig auf den toten Mann herab, beugte sich herunter, schloss ihm sanft die Augen und legte ihm ihre Hand auf die Stirn. So kniete sie stumm eine Weile, ihre eigenen Augen ebenfalls geschlossen. Der alte Mann stand bedrückt und mit gesenktem Haupt daneben. Dann richtete sich die Frau mit einem Mal auf und wandte sich dem älteren Mann zu, der nun ebenfalls seinen Kopf wieder hob.
„Was das andere betrifft, so solltest du wissen, dass wir Vandol nicht vernichtet, sondern der Kräfte beraubt verbannt haben!“
„Pah“, antwortete der Mann und sein Bart erzitterte als er sprach. „Wo besteht da schon der Unterschied? Vandol wird niemals zurückkehren können. Es ist schlicht unmöglich.“
Die Frau zögerte einen Moment, bevor sie wieder etwas sagte. Sie wirkte sehr nachdenklich.
„Vermutlich hast du Recht.Und dennoch, wie konnte Vandol überhaupt so mächtig werden?“
„Die Frage ist jetzt nicht mehr wichtig“, antwortete der alte Mann und machte eine wegwerfende Geste. Dabei verlor er das Gleichgewicht, so dass er fast umfiel und sich grade noch an einem kräftigen Ast der Erle festhalten konnte.
„Wichtig ist doch nur“, keuchte er, als seine Beine ihn wieder sicher trugen. „Dass das Monster nun ohne Kräfte aus unserer Welt verbannt ist.“
Die Frau blickte ihn lange und durchdringend an, schnaubte verächtlich und setzte grade an, eine Antwort zu geben. Doch da zögerte sie auf einmal, legte einen Finger auf den Mund und lauschte konzentriert. Der Mann tat es ihr gleich und legte den Kopf leicht schief. So standen sie einige Sekunden ganz ruhig.
„Wir kriegen Besuch. Es scheint unsere Seite zu sein“, sagte die Frau schließlich und der Mann nickte. Sie gingen langsam ein Stückchen von der Lichtung fort in eine dunklere Ecke des Waldes, in der sie kaum zu sehen waren und warteten ab. Wenige Minuten später kündigte lauter werdendes Hufgetrappel die Ankunft von mehreren Reitern an. Mit einem Mal preschten gut zwanzig Reiter wie aus dem Nichts mit ihren schnaubenden Pferden auf die Lichtung und stoppten abrupt.
„Wo geht es weiter?“, rief einer der Reiter. Er trug wie alle anderen eine schwarzgrüne, aus Leder und Eisen angefertigte Rüstung. Auf seiner Brust prangte ein weißes Abzeichen in Form eines Schildes, auf dem ein rotes Auge zu sehen war.
„Ich kann sie nicht mehr spüren. Das ist doch unmöglich“, sagte ein anderer. Er hatte ebenfalls ein Abzeichen auf der Brust. Allerdings war bei ihm kein Auge, sondern eine Hand abgebildet. Außerdem glitzerten über seinem Abzeichen fünf goldene Sterne.
„O nein… Ihr glaubt doch nicht, dass sie…“, sprach ein weiterer Reiter, dessen Rüstung so dreckverkrustet war, dass sein Abzeichen gar nicht mehr zu erkennen war.
„Nein, wir sind nicht tot, falls ihr das denkt“, rief auf einmal eine Stimme und alle blickten sich erstaunt um. Der alte Mann und die dünne, alte Frau waren unbemerkt aus ihrem Versteck getreten.
„Großmeister Aegir, Großmeister Ylvi!“, rief der Mann mit den fünf Sternen über seinem Abzeichen. „Ihr lebt. Welch eine Erleichterung!“
Je weiter die beiden in das Licht humpelten, desto mehr war zu erkennen, wie übel sie zugerichtet waren. Die Körper mit Wunden übersät, die Kleidung zerfetzt und durch den Regen triefnass. Trotzdem strahlten die beiden eine unerklärliche Größe und Macht aus.
„Ihr seid verletzt!“, rief erneut der Reiter mit den fünf Sternen. „Rangar! Frida! Versorgt die Wunden der Großmeister.“ Zwei der Reiter sprangen sofort von ihren Pferden und kramten Wasser und Tücher aus den Satteltaschen.
„Wir fürchteten schon, Ihr wäret auf Vandol getroffen“, flüsterte der Mann nun, während Rangar und Frida die Wunde auf der Stirn der Frau abtupften, die offensichtlich Großmeister Ylvi hieß.
„Das sind wir auch, Meister Haakon, das sind wir auch“, sagte der alte Mann, der Großmeister Aegir hieß.
Meister Haakon wurde blass und seine Augen groß. Rangar und Frida hörten sofort mit dem Tupfen auf und hielten den Atem an.
„Ihr seid auf Vandol getroffen? Wie konntet Ihr entkommen?“
„Wir konnten nicht entkommen“, sagte Großmeister Ylvi. Sie nahm Frida das Tuch ab und tupfte selbst weiter. „Daher mussten wir kämpfen.“
„Ein offener Kampf gegen Vandol? Aber das ist doch Irrsinn!“
„Vergesst nicht, dass wir Großmeister sind, Haakon!“, sagte Großmeister Aegir und es klang gezügelter Zorn mit. „Auch wir haben Kräfte, die sich mit denen Vandols messen können“
Meister Haakon neigte sein Haupt ein wenig, nur um es dann umso schneller wieder zu heben.
„Verzeiht, Großmeister Aegir, so war das nicht gemeint.“
„Wir wissen, wie ihr es gemeint habt und ihr habt Recht“, griff Großmeister Ylvi nun ein. „Wir wurden in eine Falle gelockt und standen mit einem Mal Vandol gegenüber. Wir verteidigten uns so gut wir konnten, hatten aber keine Chance, einen Angriff zu starten. Meister Are kam uns überraschend zu Hilfe und…“
Sie stockte einen Augenblick, während die Reiter gebannt zu ihr blickten. Alles war still. Selbst die Pferde schienen den Atem anzuhalten.
„Sein Verlust reichte zu unserem Sieg. Meister Ares kühner Angriff gegen Vandol wurde mit dem Tod bestraft, aber es reichte aus, dass wir das Monster vereint besiegen konnten.“
„Soll das heißen…“, flüsterte Meister Haakon kaum hörbar.
„Das soll heißen“, sagte Großmeister Aegir jetzt wieder mit lauter Stimme. „Freuet euch, denn der Großmeister des Bösen, Vandol, ist endlich vernichtet und von dieser Welt gegangen! Aber trauert, denn Meister Are wird niemals mehr von den Toten zurückkehren!“
Einige der Reiter wirkten betrübt und bestürzt, andere konnten ihre Freude nicht verbergen und riefen sie laut heraus. Meister Haakon, dessen Gesichtszüge für einen Augenblick vollkommen ausdruckslos waren, hatte nun den leblosen Körper Meister Ares erblickt und rief seine Leute zur Ruhe.
„Bahrt Meister Are auf und bringt ihn mit den größten Ehren zurück nach Lysá. Verbreitet dort die Kunde, wie er mit größter Tapferkeit den Tod fand und zusammen mit den Großmeistern Vandol die Stirn bot. Das Böse ist endlich von unserer Welt gewichen! Ein Hussa auf Meister Are, ein Hussa auf Großmeister Aegir und ein Hussa auf Großmeister Ylvi!“
„Hussa! Hussa! Hussa!“ riefen die Männer und Frauen und reckten ihre Fäuste bei jedem Ruf gen Himmel. Vielen liefen dabei Tränen die Wangen herab. Dann saßen sie ab und einige gingen zu dem gefallenen Meister Are, bedeckten ihn liebevoll mit trockenen Tüchern und legten ihn auf eines der Pferde. Es sah so aus, als würden sie ihn nicht tragen, sondern als würde er von alleine schweben. Dann wies Meister Haakon einige seiner Reiter an, sich zu zweit auf ein Tier zu setzen, und brachte die beiden übrigen Pferde zu Großmeister Ylvi und Aegir. Ohne Probleme und innerhalb eines Augenzwinkerns waren Aegir und Ylvi auf ihre Pferde schon aufgesessen und warteten auf den Rest des Trupps. Als endlich alle in ihren Satteln saßen, blies einer der Reiter in ein Horn und sie ritten los. Meister Haakon mit Großmeister Aegir ganz vorne, Großmeister Ylvi dagegen ganz hinten. Als alle schon los geritten waren, drehte sie ihr Pferd noch einmal zur Lichtung um und blickte gen Himmel. Der Regen fiel sanft auf ihr faltiges Gesicht. Das Blut wurde dabei nicht weggespült. Dann sagte sie, so dass nur sie es hören konnte:
„Vermutlich hast du Recht.“
Dann machte ihr Pferd auf dem Absatz kehrt und trabte den anderen Hufe klappernd hinterher. Einige Sekunden später war die Lichtung wieder vollkommen leer und es gab nichts mehr zu hören außer dem stetigen Klopfen des Regens auf dem Boden.
Kapitel 1
Heute war ein besonderer Tag. Es war kalt und der Regen trommelte kräftig gegen die Fensterscheiben, die Bäume ächzten und bogen sich im Wind und niemand dachte auch nur im Entferntesten daran, bei diesem Wetter einen Fuß vor die Tür zu setzen. Alle Fenster in der Karl-der-Große-Straße waren hell erleuchtet, an einigen Scheiben waren sogar schon kleine Sterne in bunten Farben geklebt, daneben Schneemänner mit roten Schals und einem Zylinder auf dem Kopf, Lichterketten, die hell und einladend leuchteten. In einem Haus stand sogar schon ein geschmückter Weihnachtsbaum. Auch wenn Weihnachten erst in vier Wochen war, es hatten sich schon viele Bewohner der Straße auf das nahende Fest vorbereitet. Nur in der Nummer 42 nicht.
Nein, hier dachte man nicht mal im Traum daran, die schöne Weihnachtsdekoration aufzuhängen, geschweige denn Plätzchen zu backen oder Weihnachtslieder im Radio zu hören. Hier rannte Heinrich Reka, ein blasser, schlaksiger Mann mit leicht schütteren rotblonden Haaren aufgeregt im Haus auf und ab. Erst nach oben, die Reisetasche holen, dann nach unten, noch eine Flasche Wasser holen, dann schnell wieder nach oben ins Schlafzimmer, weil noch die Unterwäsche zum Wechseln fehlte, dann Sturmlauf ins Wohnzimmer zu seiner Frau Sandra, die schwer atmend auf der Wohnzimmercouch lag.
„Wir haben noch gar keine Windeln!“, sagte Heinrich, der seinen grünroten Rentierpulli nahezu vollkommen durchgeschwitzt hatte. So viel Bewegung auf einmal war er gar nicht gewohnt.
„Wer konnte auch damit rechnen, dass es jetzt schon so weit sein würde?“
Sandra gab als Antwort nur einen grunzenden Keuchlaut wieder, was Heinrich wohl als Bestätigung ansah.
„Wozu geben einem die Ärzte eigentlich Geburtstermine, wenn dann doch alles anders kommt? Wenn du mich fragst werden Ärzte überbewertet.“
Diesmal rollte Sandra sich zur Antwort ein wenig auf die Seite, griff neben das Sofa zu einem mit Wasser gefülltem Eimer, holte einen darin schwimmenden Lappen heraus, legte ihn sich auf die schweißnasse Stirn und drehte sich wieder auf den Rücken. Das Wasser lief in kleinen Rinnsalen ihre Schläfen entlang und bildete auf der Stoffcouch dunkle Flecken, die immer größer wurden, während das Sofapolster im Rhythmus von Sandras Atmung langsam mitfederte. Sandra, die selbst während der Schwangerschaft noch dünn wirkte - die Leute sagten sogar, dass man von hinten betrachtet gar nicht sehen könnte, dass sie schwanger war – hatte ihr sonst zu einem Zopf gebundenes kastanienbraunes Haar offen, einige Strähnen hingen vor Feuchtigkeit triefend in ihren Augen, und das angestrengte Gesicht zeigte nur im Ansatz ihre braunen Augen. Sie richtete sich mit viel Mühe, nahezu in Zeitlupe, auf.
„Könnten wir dann jetzt vielleicht los? Nicht, dass ich drängeln wollte, aber ich hab das Gefühl, da will jemand raus.“
Aus seinen Gedanken über Ärzte und falsch errechnete Geburtstermine gerissen, sprang Heinrich sofort wieder auf, wobei er sich den Kopf an der kitschigen grüngelben Hängelampe heftig anstieß.
„Natürlich!“, würgte er hervor, während er sich eine Hand an die angeschlagene Seite vom Kopf hielt. „Gehen wir los, ich hol den Wagen!“
Als er die Haustür öffnete und hinausging, packten ihn sofort Wind und Regen, dass er binnen Sekunden klatschnass war. Immerhin waren dadurch die Schweißflecken nicht mehr zu sehen. Rumpelnd parkte er den Wagen so, dass die Beifahrertür direkt zur Eingangstür des Hauses mit der Nummer 42 zeigte. Bevor er aus dem Auto kletterte, vergewisserte er sich noch, dass der Beifahrersitz nicht noch weiter nach hinten geschoben werden konnte. Tropfend stapfte er wieder ins Haus, achtete dabei nicht darauf, dass er schlammignasse Fußstapfen im Flur und Wohnzimmer hinterließ, half der schwer pustenden Sandra auf und führte sie vorsichtig zum Auto. Beim hektischen Ums-Auto-Laufen wäre er noch beinahe auf dem glitschigen Rasenstück ausgerutscht, aber er konnte sich noch wild mit den Armen rudernd und auf einem Bein tanzend abfangen. Kurz fragte er sich, ob wohl jemand von den Nachbarn seine artistische Darbietung gesehen hatte und sich nun vor Lachen kugelte. Dann schob er den Gedanken beiseite – wer schaut schon bei dem Wetter aus dem Fenster, alle anständigen Leute sitzen vorm warmen Kamin – setzte sich ins Auto und drückte das Gaspedal durch. Nach nur wenigen Sekunden waren die roten Rücklichter im Regen und der Nacht verschwunden.
Neun Stunden später öffnete ein kleiner Junge zum ersten Mal in seinem Leben seine Augen, hörte die Stimmen des Arztes, der Hebamme und seiner Mutter, fühlte die Kühle des Zimmers und fing vor Schreck auf die ganzen Eindrücke, die auf ihn einprasselten, heftig an zu schreien. Es dauerte sehr lange, bis er sich beruhigte und irgendwann auch einschlief. Auf einem blassblauen Armband um sein Handgelenk stand in schlecht leserlicher Handschrift: Mark Reka
Kapitel 2
In der Karl-der-Große-Straße 42 ging es heute drunter und drüber. Mama Sandra war gleichzeitig damit beschäftigt, Marmeladenbrote zu schmieren und Mark die Haare zu kämmen, während Papa Heinrich am Küchentisch saß, die Zeitung las und hier und da Kommentare fallen ließ wie „Und, schon aufgeregt, mein Junge?“ oder „Dass du so schnell schon so groß geworden bist, unglaublich.“ Dabei ließ er seine Zeitung immer leicht sinken, um seinen Sohn genau zu betrachten. Mark war mittlerweile sieben Jahre alt, er hatte ähnlich dunkle Haare wie seine Mutter, aber die leichte Blässe von seinem Vater. Vielleicht war er ein wenig schmächtig für sein Alter, aber Sandra pflegte immer zu sagen, dass er ja auch noch genug Zeit habe, um noch ein wenig zu wachsen und wenn es nach ihr ginge, dürfte er gerne auch in dem Alter bleiben und gar nicht größer werden. Mark griff nach einem Paar braunen Ohrenschützern und setzte sie sich auf. Diese Handlung, die jeden Morgen stattfand, sorgte immer wieder für einen nervösen Blickwechsel von Mama Sandra und Papa Heinrich. So auch dieses Mal. Über den Rand seiner Zeitung legte Heinrich die Stirn leicht in Falten, während Sandra versehentlich den Kamm mit Marmelade bestrich. Sie biss sich auf die Lippen und sah abwechselnd Marks Ohrenschützer und Heinrich an. Diese vermaledeiten Ohrenschützer... Angefangen hatte das alles noch vor dem Kindergarten. Mark hatte manchmal auf irgendwelche vermeintlichen Geräusche reagiert, ohne dass es einen Grund dafür gegeben hätte. Schon mit drei Jahren war er häufig träumerisch von seinen Spielen oder vom Sofa aufgestanden und lief scheinbar ziellos umher, auf der Suche nach der Quelle von etwas, was gar nicht existierte. Nachts wurde er einige Male wach und erzählte seinen Eltern von merkwürdigen Geräuschen, die ihm Angst machen würden, obwohl es im ganzen Haus mucksmäuschenstill war. Anfangs kamen Sandra und Heinrich noch darin überein, dass Kinder nun mal eine große Fantasie haben und dass Mark diese Phase schon hinter sich lassen würde, wenn er erst einmal größer wäre. Es wurde aber nicht besser. Der erste Tag im Kindergarten war eine reine Katastrophe: Mark hatte einen dicklichen kleinen Jungen, der Thomas hieß, gefragt, ob er auch das merkwürdige Flüstern hinter ihm hören könne. Thomas blickte sich verwirrt und unsicher um während er lauschte, konnte aber natürlich nicht das Geringste hören, was einem Flüstern ähneln sollte.
„Von dort, direkt hinter dir!“, setzte Mark wieder an. „Wo kommt das her? Als ob jemand reden würde... aber wer? Vielleicht gibt es hier Geister?“
Langsam wurde die Sache Thomas immer weniger geheuer. Als Mark immer noch nicht aufhören konnte, von den merkwürdigen Stimmen zu sprechen, hielt Thomas es nicht mehr aus: er brach mit einem Mal in Tränen aus und lief laut schreiend zur Kindergärtnerin Dorothee. Dorothee war eine sehr grob aussehende Frau, die sehr viel Ähnlichkeit mit einer aufrecht stehenden Robbe hatte. Nachdem Thomas ihr alles erzählt hatte, unterbrochen durch vereinzeltes Hicksen vom vielen Schluchzen, hielt sie Mark eine saftige Standpauke, dass man nicht so frech lügen und anderen Angst machen sollte. Mark gab irritiert und verunsichert zurück, dass er doch gar nicht lügen würde, hinter Thomas war doch lautes Geflüster zu hören, auch wenn es nicht leicht zu verstehen war. Dafür bekam er zwei Ohrfeigen und er musste von der erschütterten Sandra abgeholt werden.
„Kinder wie ihr Sohn haben hier nichts verloren!“, meckerte Dorothee Sandra an, wobei ihr Kinn ordentlich wabbelte. „Der Junge wird doch niemals eine Zukunft haben, wenn sie ihm nicht die Flausen aus dem Kopf treiben! Was der für absurde Geschichten erzählt. Und allen macht er Angst“, sie erhob den gewaltigen Zeigefinger. „Wenn so etwas nochmal vorkommt, dann können Sie sich einen anderen Kindergarten suchen!“
Im Auto nach Hause erklärte Mark Sandra schluchzend, er habe doch schließlich die Wahrheit gesagt, dafür könnte man ihn doch nicht bestrafen.
Sandra war sehr interessiert an seinen Erzählungen von den Flüsterstimmen und fragte viel nach. Nach seinen Erklärungen wirkte sie sehr nachdenklich, fand Mark. Wahrscheinlich macht sie sich Sorgen, dachte er.
Vorfälle dieser Art kamen immer wieder vor. Bei Besuchen bei den Großeltern, beim Einkaufen im Supermarkt oder beim Spazierengehen durch den Park. Mark machte vielen Kindern und auch Erwachsenen mit seinen Aussagen Angst, die dann auch schnell in Wut und Aggression umschlagen konnte.
„Können Sie ihren verrückten Sohn vielleicht mal zurückhalten? Der gehört doch in die Klapsmühle!“, fuhr ein erboster älterer Mann, der grade mit seinem Handy telefoniert hatte, Heinrich und Sandra an, als sie auf dem Nach-Hause-Weg vom Zoobesuch waren. Mark hatte bei einer weiteren Suche nach den merkwürdigen Stimmen dem Mann das Handy aus der Hand genommen, nur um eben sicher zu sein, dass dieses Mal die Stimmen nicht aus dem Lautsprecher kamen.
Irgendwann waren Heinrich und vor allem Sandra so verzweifelt, dass sie einen Arzt aufsuchten. Der konnte aber körperlich nichts bei Mark entdecken, er war kerngesund. Nur wenig später suchten sie einen Psychologen auf, der herauskriegen sollte, ob denn mit Marks Innerem alles in Ordnung wäre. Er riet Heinrich und Sandra, nicht mehr auf Marks merkwürdige Anwandlungen einzugehen und ihn, wenn das nichts nütze, für weitere Lügen dieser Art zu bestrafen.
„Nun, der Junge zeigt klare Anzeichen dafür, dass er verzweifelt nach ihrer Aufmerksamkeit sucht und nur dann zufrieden ist, wenn er mehr davon bekommt als ihm gut tut“, erklärte Dr. Zerra-Faber, der Arzt für die Psychologie, während Mark schweigend daneben saß.
„Ich würde sagen, dass muss schnellstens unterbunden werden! Stellen Sie sich vor, Sie erlauben ihm“, dabei zeigte er mit einer herablassenden Geste auf Mark.
„Diese Tagträumereien und Lügenmärchen immer weiter und bestärken ihn sogar noch darin. Dann wird er später ein absolut hoffnungsloser Fall, der nicht mal in der Lage sein wird, selbstständig einkaufen zu gehen. Er würde nie ein echtes und nützliches Mitglied unserer Gesellschaft werden. Sie müssen ihm klar machen, dass Sie das Sagen haben und dass jetzt ein für allemal Schluss mit dem Quatsch ist!“ Dr. Zerra-Faber hielt seinen Vortrag noch eine Viertelstunde in dieser Art weiter, ohne dabei Mark direkt anzusprechen oder überhaupt sichtbar seine Anwesenheit anzuerkennen. Mark verstand nicht alles von dem, was der „Psükologe“ – ein wirklich schwieriges Wort für Mark – so erzählte, aber er begriff, dass irgendetwas nicht mit ihm stimmte. Er war anscheinend wirklich verrückt, er hörte Dinge, die es eigentlich nicht gab. Und das war aus irgendeinem Grund wohl nicht gut, bemerkte er, denn sonst würde seine Mama nicht sehr nachdenklich wirken und Mark immer mal wieder etwas merkwürdig angucken und Papa würde nicht die Stirn in die Sorgenfalten legen, während der Doktor immer weiter redete.
„Wenn das so schlimm ist, was ich höre, und Mama zum Weinen bringt, dann will ich es nicht mehr hören“, dachte Mark für sich. „Ab jetzt werde ich das nicht mehr tun und dann bin ich auch nicht mehr verrückt, sondern kann normal werden und Mama und Papa müssen sich keine Sorgen mehr machen.“
So leicht war es aber nicht. Ab und zu hörte er Geräusche, Melodien und leises Getuschel und das an den verschiedensten Orten. Er konnte nichts dagegen machen, denn wie sollte man denn bitte seine Ohren verschließen? Er konnte sie sich ja schließlich nicht immer zuhalten. Aber dann kam ihm die geniale Idee mit den Ohrenschützern! Heinrich hatte immer welche gehabt. Ein dickes, leuchtend rotes Paar Ohrenschützer, die er im Winter zu seinen Spaziergängen anzog, bis Sandra ihm es verbot, weil er damit „Unmöglich aussah“, wie sie es formulierte. An einem Abend saß Mark leise und unruhig in seinem Zimmer und drückte seine Handflächen gegen die Ohren. Jedes Mal, wenn er die Hände von den Ohren nahm, hörte er etwas wie Stimmengewisper und es wollte nicht aufhören. Sandra und Heinrich schliefen schon lange. Sie hörten ja auch nichts, was sie wach hielt. Verzweifelt ging er im Haus umher.
„Ich will nicht verrückt sein, die Stimmen gibt es nicht, ich will nicht verrückt sein...“
Da sah er die Ohrenschützer, wie sie leuchtend aus der halb geöffneten Schublade im Garderobenschrank hervorlugten. Sie waren so groß, dass Mark lange brauchte, bis sie richtig eingestellt waren und endlich passten. Und tatsächlich, mit den Ohrenschützern hörte er nichts mehr, es war eine geradezu himmlische Ruhe. Von dort an trug Mark die Ohrenschützer immer mit sich herum. Zu Anfang mussten Mama und Papa immer beim Tragen helfen, wenn sie alle einen Ausflug machten oder sie aus anderen Gründen das Haus verließen. Irgendwann wurde es den beiden aber zu bunt und sie kauften Mark einen kleinen Rucksack, damit er seine Ohrenschützer selbst mitnehmen konnte. Jedes Mal, wenn er nun etwas hörte, wovon er sicher war, dass Sandra und Heinrich es nicht hörten, setzte er sich seine Ohrenschützer auf. Das barg natürlich das Problem, dass er alles andere auch nicht mehr vernünftig hören konnte und daher seine Eltern, wenn sie ihm etwas sagen wollten, ihm immer erst die Ohrenschützer abnehmen mussten.
So auch dieses Mal.
„Mark, mein Schatz, wir müssen los“, hörte Mark durch sein rechtes Ohr, von dem seine Mutter den Ohrenschützer wegzog.
Auf dem Weg zur Schule gingen Mark viele Dinge durch den Kopf. Die Kindergärten hatten ihm eigentlich immer ganz gut gefallen, nur war er es, der den anderen eben nicht gefiel. Er wünschte es sich so sehr, dass es in der Schule alles besser werden würde. Er hatte jetzt seine „Verrücktheit“, wie sie so oft genannt wurde, besser im Griff und wenn er sich besonders anstrengen würde, dann würde es niemandem auffallen und er könnte, mit ganz viel Glück, zum ersten Mal im Leben vielleicht sogar Freunde haben. Bisher hatte er noch nie welche gehabt, denn nachdem er damals Thomas so verschreckt hatte, hatte es sich dieser zur Aufgabe gemacht, dafür zu sorgen, dass niemand etwas mit Mark zu tun haben wollte. Er hatte sogar anderen Kindern Prügel angedroht, wenn sie mit Mark spielen würden und er erzählte ihnen verrückte Geschichten über Mark, dass am Ende auch alle Abstand von ihm hielten. Die Kindergärtnerin Dorothee trug ebenfalls einiges dazu bei, indem sie zu Mark besonders streng war und dann meistens auch sehr zufrieden wirkte, wenn sie ihn zu Recht gewiesen hatte.
Nicht mal zu seinen Geburtstagen war jemand erschienen, obwohl er einige Kinder eingeladen hatte. Heinrich und Sandra sagten dann immer, dass es mit der Familie doch eh am schönsten wäre. Jetzt, als er im Auto zur Schule saß, machte ihn allein der Gedanke daran schon ganz kribbelig.
Freunde.
Naja, ein Freund würde ja auch schon reichen.
Kapitel 3
Das erste, was Mark bemerkte, war, dass die Schule viel größer als ein Kindergarten war. Allein der Pausenhof war schon riesig: komplett mit Sandgruben, Schaukeln, einer Rutsche und einem Klettergerüst, daneben stand sogar ein kleiner Fußballplatz mit alten Toren aus verrostetem Gestänge. Und überall waren Kinder. Manche spielten schon auf dem Pausenhof, einige blieben aber noch versteckt in der Nähe ihrer Eltern, die Schultüten fest an sich geklammert. Mark war begeistert. Nachdem er sich die Erlaubnis von seiner Mutter geholt hatte, stürmte er sofort los. Er wollte als aller erstes auf das Klettergerüst, um von dort aus über die Holzbrücke zur Rutsche zu gelangen. Es machte unglaublich viel Spaß und von oben hatte man sogar eine noch bessere Aussicht auf das Schulgebäude. Die Eingangstür des Hauptgebäudes war sehr groß und in einem knalligen rot gestrichen. Links und rechts standen noch zwei Nebengebäude, die durch einen überdachten Weg mit dem Hauptgebäude verbunden waren. Was man hier alles entdecken konnte. Er ließ den Blick weiterschweifen und sah unten in der Sandgrube, gar nicht weit von ihm, einen Jungen, der mit dem Finger auf ihn deutete. Mark sah sich um. Vielleicht meinte der Junge ja gar nicht ihn, sondern irgendwen oder irgendwas anderes. Aber nun bemerkte er, dass mehrere Kinder zum ihm hoch schauten oder mit dem Finger auf ihn zeigten. Voller Unbehagen nahm er ganz langsam die Ohrenschützer ab, um zu hören, was gesagt wurde. „...den kenn ich schon aus dem Kindergarten. Der ist der totale Spinner. Guck doch, allein die Ohrenschützer“.
Es war Thomas aus seinem alten Kindergarten. Es hatte sich schon eine kleine Traube an Kindern um ihn versammelt. Er genoss es anscheinend, im Mittelpunkt zu stehen und den Erzähler zu geben.
„Der ist dann fast rausgeflogen, weil er so ein Spinner war. Unsere Kindergärtnerin hat immer gesagt, dass ihr nie ein verrückteres Kind untergekommen sei. Naja, und so...“
Mehr konnte Mark nicht hören, mehr wollte er nicht hören. Er klemmte sich wieder die Ohrenschützer über beide Ohren und machte sich an den Abstieg. Er würdigte Thomas und die anderen keines Blickes als er an der Sandgrube vorbeilief und tat so, als würde er nicht mitbekommen, wie ihn alle anstarrten. Wie konnte er so ein Pech haben? Er hatte so sehr auf einen neuen, guten Start gehofft und jetzt war gleich alles mit einem Schlag zerstört. Aber wie konnte er auch so dumm sein, seine Ohrenschützer aufzulassen? Es war schließlich Ende August und es war sonnig und heiß. Wer, wenn nicht ein Verrückter, würde sich bei einem solchen Wetter Ohrenschützer aufsetzen. Was konnte er anderes erwarten, als das Gespött der anderen zu sein?
In der ersten Unterrichtsstunde durften die Eltern noch mit dabei sein und bei ihren Kindern sitzen. Mark fiel auf, dass sogar die Erwachsenen tuschelten und auch wenn sie nicht mit dem Finger auf ihn zeigten, so war ihm doch klar, dass er das Thema von den meisten hier im Raum war. Er war nicht so töricht, seine Ohrenschützer im Klassenraum aufzulassen. Wie hätte er denn dann auch allein schon seiner Lehrerin zuhören können, Frau Bachenstein. Frau Bachenstein war eine ältere Frau, aber trotzdem wirkte sie durch ihre Schlankheit sehr agil. Die ergrauten Haare trug sie offen, so dass sie einen Rahmen für ihr Gesicht bildeten. Sie begrüßte die Klasse und erklärte allen, wie es nun in den nächsten Jahren weitergehen würde und was sie denn alles Tolles erwarten würde. Dann wurden Namensschilder mithilfe der Eltern gebastelt und aufgestellt. Nachdem die Eltern dann den Raum verlassen hatten, es sollten jetzt nur noch die Kinder anwesend sein, wurde eine erste Sitzordnung festgelegt. Dazu sollten sich erst einmal Kinder zusammenfinden, die sich schon kennen, vom Kindergarten aus oder vielleicht aus der Freizeit oder weil man Nachbar war.
Der Einzige, den Mark kannte, war Thomas. Und der machte deutliche Zeichen, dass er Mark nicht bei sich haben wollte. Selbst ohne diese Zeichen wäre es Mark nicht in den Sinn gekommen, zu Thomas zu gehen, da blieb er lieber alleine stehen.
Am Ende war er der Letzte, der noch keinen Sitzplatz hatte.
„Nun, Mark, dann wollen wir mal sehen“, sagte Frau Bachenstein. „Du kennst hier noch keinen, nicht wahr?“
Thomas schnitt hinter dem Rücken von Frau Bachenstein eine Grimasse.
„Dann würde ich sagen...“, sie blickte sich im Klassenzimmer um „..., dass du, ja, hier, neben Linda Platz nimmst. Du hast ja nichts dagegen, Linda, nicht wahr?“, sagte Frau Bachenstein, während sie Mark mit sanfter Gewalt in Richtung des freien Platzes neben dem Mädchen mit den schulterlange, dunklen Haaren, die zu zwei Zöpfen geflochten waren, bugsierte. Mark merkte, dass das Mädchen mit dieser Entscheidung genauso unglücklich war wie er selbst. Ausgerechnet neben einem Mädchen sitzen war nicht grade sein Wunschtraum. Linda rückte mit ihrem Stuhl etwas weiter auf ihre Seite als Mark Platz nahm, ganz so, als hätte er eine ansteckende Krankheit.
„Wieso hattest du heute früh Ohrenschützer auf?“, flüsterte Linda ihm in einem ruhigen Moment zu, als Frau Bachenstein grade eine Geschichte vorlas und in eine andere Richtung schaute. „Hast du irgendeine Krankheit? Oder werden deine Ohren nur schnell kalt?“
„Manchmal helfen mir die Ohrenschützer einfach...“ gab Mark leise zurück. Er würde sicher nicht einfach damit herausrücken, dass er ab und zu etwas hören konnte, was eben sonst keiner hören konnte. Im Kindergarten hatte er gelernt, dass man so etwas besser für sich behält, wenn man nicht ein kompletter Außenseiter sein wollte.
„Aber jetzt brauche ich die nicht mehr!“, sagte er etwas bestimmter und leider auch so laut, dass er zum ersten Mal von Frau Bachenstein ermahnt wurde, leise zu sein. Die anderen Kinder kicherten und Thomas schnitt ihm wieder eine Grimasse.
Die ersten Wochen vergingen und Marks Hoffnungen, dass es in der Schule schöner sein würde als im Kindergarten, wurden recht schnell zerstört. Zwar war Frau Bachenstein, die sie in jedem Fach unterrichtete – außer Sport, dort war es die Schulleiterin Mönch persönlich, die sie unterrichtete – eine deutlich fairere Lehrerin, aber sie war auch sehr streng. Wer sich nicht an die Regeln hielt, bekam schnell Strafarbeiten. Einmal hatte Mark trotz einer ersten Warnung auch ein zweites Mal mit dem Stuhl gekippelt und verträumt aus dem Fenster geschaut, da musste er schon als Strafe zum Stundenende die Tafel zehn Minuten lang putzen. Andere Kinder bekamen aber deutlich schlimmere Strafen, weil sie sich geprügelt hatten oder die Mädchen an den Haaren gezogen hatten. Das Schlimmste war aber, dass Mark, obwohl er nie wieder seine Ohrenschützer mit in die Schule brachte, wieder einmal ein Außenseiter war und in den Pausen meist allein irgendwo spielte, immer darauf bedacht, dass er niemandem in die Quere kam. Besonders nicht Thomas, der mittlerweile eine Art Anführer einer kleinen Gruppe Jungs geworden war. Jeder Witz von Thomas war anscheinend immer unglaublich lustig, denn die Jungs kugelten sich vor Lachen und wenn er jemanden oder etwas „Scheiße“ nannte, dann sah das seine Gruppe genauso. Mark wäre schon mehrere Male Opfer von Thomas Gang geworden, wenn er nicht so schnell rennen könnte und manchmal auch eine Art Gespür dafür hatte, dass es gleich vielleicht Ärger geben könnte.
An diesem Tag im späten September war der Herbst endgültig angekommen, der Wind verbog die Büsche und Bäume, so dass diese ganz neue Formen annahmen und ein paar Sekunden später wieder aufgaben. Dabei prasselte ein Regenschauer mit leichter Schräglage herunter und klatschte gegen die Fenster des Klassenzimmers. Das monotone Geräusch des Regens klang angenehm in Marks Ohren und er nahm Frau Bachensteins Erzählungen über die römischen Legionen, die hier einst eine Stadt gegründet haben sollten, kaum noch wahr. Müde stützte er den Kopf seitlich auf seine Hände, damit er den Blick auf das Unwetter draußen genießen konnte. Wie er so da saß und hinausschaute, bemerkte er, dass mit dem Regen irgendetwas nicht stimmte. Einige der stetig gegen das Fenster prasselnden Tropfen färbten sich für einen Augenblick rötlich. War das möglich? Er schaute genauer hin, den Blick nun nicht mehr müde, sondern hellwach nach draußen gerichtet.
Ja! Je mehr er darauf achtete, desto sicherer war er: Viele der Tropfen schimmerten eindeutig rot, wenn sie auf das Fenster klatschten. Merkwürdigerweise aber nicht alle.
Er merkte, wie ihm der Mund halb offen stand und schloss ihn. Was konnte den Regen rot färben? Im Religionsunterricht hatte er gelernt, dass es in Ägypten schon einmal Blut geregnet haben sollte oder war es doch ein Fluss voll Blut gewesen? Auf jeden Fall war das Wasser dort auch rot gewesen.
Aber dieses rot, was er dort sehen konnte, sah nicht nach Blut aus. Es war heller und leuchtete irgendwie von innen heraus. Es sah fast so aus, als wäre die Farbe zuerst im Regentropfen versteckt und offenbarte sich erst beim Aufprall auf die Scheibe. Ein bisschen wie eine Silvester-Rakete. Da drin versteckten sich auch immer die schönsten Farben, die aber erst in der Luft sichtbar wurden, wenn sie explodierten.
Eine Minute lang starrte Mark fasziniert auf das Schauspiel, das sich vor seinen Augen abzeichnete. Dann bemerkte er etwas. Es waren gar nicht die Regentropfen, die rötlich beim Aufprall schimmerten. Es war etwas ganz anderes… Die Erkenntnis ließ sein Herz viel schneller schlagen und einmal so laut nach Luft schnappen, dass Frau Bachenstein ihre Erzählung kurz unterbrach und ihn mahnend anblickte.
„Tschuldigung“, stammelte er. Erst als Frau Bachenstein mit der Erzählung fortfuhr, traute er sich, langsam noch einmal zum Fenster zu schauen. Es war unglaublich, was er sah. Nein, nicht das, was er sah, ermahnte er sich selbst. Die rote Färbung kam nämlich nicht durch die Tropfen selbst, sie waren nicht rot, sondern tatsächlich durchsichtig, wie es Wasser eben war.
Es war das dumpfe Geräusch, was sie auf der Fensterscheibe machten, wenn sie darauf prallten. Es war das Geräusch, das rot war. Es war, als wenn man einen Stein in ein stilles Gewässer schmeißt, dachte er. Zuerst entsteht durch den Einschlag in die Wasseroberfläche ein Wellenring, der sehr gut zu sehen ist, sich dann aber Sekunde um Sekunde ausbreitet und dabei immer flacher wird, bis man ihn kaum mehr wahrnehmen kann. Genauso entstanden und verschwanden die Farben vor Marks Augen. Mit einem Mal stark und kräftig vorhanden, ein Augenzwinkern später noch im Hauch zu erkennen, nur um dann komplett zu verschwinden.
Wie zum Teufel war es möglich, dass ein Geräusch eine Farbe haben kann, dachte Mark. Das war doch unmöglich... oder etwa nicht?
In diesem Augenblick prasselte ein besonders starker Schauer gegen das Fenster und ersetzte das rot immer mehr durch eine Art violett. Dann, als ob jemand einen Schalter betätigt hatte, waren mit einem Mal alle Farben verschwunden, obwohl der Regen weiter gegen die Scheibe trommelte. Es verschwand so abrupt, dass Mark sich fast ein wenig erschreckte. Er schaute noch einige Minuten immer wieder zum Fenster, aber die Farben wollten nicht mehr wiederkommen. Das war doch alles sehr merkwürdig…
Vielleicht hatte er sich doch alles nur eingebildet? Er war schon recht müde und wenn man müde ist, kann man ja auch ein wenig zu träumen anfangen. Am Ende der Geschichtsstunde war er sich fast ganz sicher, dass er sich die Farben nur eingebildet hatte und in der ersten großen Pause, die an diesem Tag wegen des schlechten Wetters eine Regenpause war, hatte er die roten und violetten Geräusche schon fast wieder vergessen.
Wie immer aß er sein belegtes Brot alleine. Er hatte sich schon daran gewöhnt, dass keines der anderen Kinder mit ihm spielen wollte, aber die Regenpause machte es noch unangenehmer. Normalerweise konnte er draußen durch die Gegend schlendern, wobei er in der Masse nicht besonders auffiel. Heute, als alle Kinder sich gleichzeitig in der Pausenhalle aufhielten, war es nicht zu leugnen, dass jeder trotz des Gedränges einen weiten Bogen um ihn machte, ganz als hätte er eine ansteckende Krankheit.
„Mir ist langweilig“, hörte Mark eine unangenehm bekannte Stimme durch das allgemeine Gemurmel in der Pausenhalle sagen. „Dieser blöde Regen! Ich hatte mich schon so darauf gefreut, das Baumhaus von den Mädchen platt zu machen.“
Mark hörte einige Kinder lachen, dann sprach eine andere Stimme.
„Mach dir nichts draus. Jetzt wird es immer schon eingeweicht, dann kriegen wir es morgen noch viel leichter klein.“
„Mh…“, grunzte die Stimme von Thomas. „Trotzdem ist mir langweilig. Das ist nervig.“
„Guck mal! Da drüben“, sagte eine dritte Stimme, die wie er wusste, zu Florian gehörte, dem besten Freund und Gefolgsmann von Thomas. Florians Stimme klang immer wie die einer Zeichentrickmaus. Mark hatte das ungute Gefühl, dass sie ihn entdeckt hatten und wünschte sich ebenfalls das Ende der Regenpause, aber nur, damit er wieder in der Anonymität der Masse untertauchen konnte.
„Hey Spinner, wo sind denn deine Ohrenschützer?“, sagte Thomas. Sein Tonfall klang bedrohlich und es war ganz deutlich, dass er genau die Lautstärke gewählt hatte, dass nur seine Freunde und Mark ihn gut hören konnten und nicht die aufsichtführende Schulleiterin Frau Mönch, die ihre Runde durch die Pausenhalle drehte. Mark stand auf, um wegzugehen, aber schon beim ersten Schritt merkte er, dass er seinen Platz so ungünstig gewählt hatte, dass er an Thomas und seinen Spießgesellen nicht vorbei kommen würde. Leise fluchte er in sich hinein. Das war dumm von ihm gewesen.
„Was haste denn da?“, sagte Florian und grapschte mit seinen dreckverschmierten Händen nach Marks Brotdose. Mark, der damit gerechnet hatte, klappte den Deckel der Brotdose mit der einen Hand zu und versteckte sie in einem Rutsch hinter seinem Rücken.
„Was sagt man dazu?“, zischte Thomas seinen Freunden zu, die schadenfroh zu Grinsen begannen. „Der will sein Essen anscheinend nicht mit seinen Freunden teilen. Ganz schön unhöflich!“
„Fahr doch zur Hölle“, rief Mark und er klang deutlich mutiger als er sich fühlte. Ein Mädchen drehte sich kurz zu ihm rum, anscheinend hatte sie ihn fluchen gehört, drehte sich dann aber wieder weg.
„Oho, ganz schön frech… Ich habe das Gefühl, mit dem will ich mein Essen gar nicht teilen. Zuerst will ich mal sehen, was du da überhaupt hast. Mach´ die Dose auf, Spinner.“
In Mark kochte innerlich vor Zorn. Er wusste, dass er chancenlos gegen die Gruppe war. Thomas alleine wäre vielleicht noch möglich gewesen, denn obwohl er deutlich größer und dicker als Mark war, war er im Grunde nicht sehr stark, besonders wenn man ihm unerwartet Paroli bot.
Wenn er einfach laut schreien würde, dann stünde innerhalb von Sekunden Frau Mönch neben ihm und er wäre aus seiner schlimmen Lage befreit. Doch zu welchem Preis? Alle würden ihn noch mehr für einen Verrückten halten und damit hätte Thomas genau das erreicht, was er wollte: ihn wieder mal wie einen Verrückten aussehen zu lassen. Diesen Erfolg würde er ihm nicht geben. Ihm blieb also nur eine Wahl übrig. Langsam holte er seine Brotdose, in der sich sein erst einmal angebissenes Vollkornbrötchen befand, belegt mit Käse und Schinken und kleinen Gurkenscheiben. Sein Vater hatte ihm wie jeden Morgen sein Brötchen für die Pause geschmiert. Nun musste er die Dose seinem größten Feind unter die Nase halten und sie öffnen. Thomas beäugte den Inhalt und verzog dann angewidert das Gesicht, als würde er etwas besonders Ekelhaftes betrachten müssen.
„Igitt, so etwas isst du?“, sagte Thomas und warf einen vielsagenden Blick in die Runde. „Das erklärt doch einiges! Schaut mal, das sieht ja so aus, als hätte da jemanden drauf gespuckt.“
Mark ahnte, was als nächstes passieren würde, trotzdem reagierte er zu langsam. Wie in Zeitlupe flog die Spucke aus Thomas Mund auf das Brötchen und landete genau in der Mitte auf ein paar festgebackenen Kürbiskernen. Ein schaumiges Rinnsal floss langsam die Stelle hinab, an der Mark einmal abgebissen hatte. Florian und die anderen beiden Jungs, deren Namen Mark nicht kannte, konnten sich kaum mehr auf den Beinen halten vor Lachen. Thomas selbst grinste Mark mit einem besonders dummen Gesichtsausdruck an und wirkte äußerst zufrieden mit sich selbst.
„Du kannst dein Essen zurückhaben. Wir bleiben sogar bei dir, während du es isst. Gut, oder?“
Mark konnte sich im Nachhinein gar nicht mehr richtig erinnern, was als nächstes genau passiert war. Er wusste noch, dass er vor Wut gezittert hatte und alles mit einem Mal rauslassen musste. Als er wieder klar denken konnte, saß Thomas vor ihm auf seinem Hintern, das Gesicht bedeckt mit einer Mischung aus einer Brötchenhälfte, fettiger Butter, einem halb abgerissenem Schinkenstück, einer einsamen Gürkchenscheibe und etwas, das bei genauerem Hinsehen seine eigene Spucke sein musste. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Thomas in die Runde. Er hatte wohl mit vielem gerechnet, aber damit anscheinend nicht. Das Lachen seiner Gang war längst verklungen und ohne klare Anweisung ihres Anführers wussten sie merklich nicht, was sie tun sollten.
„Du mieser, kleiner…“ setzte Thomas an, ohne allerdings den Satz zu beenden, da er sichtlich damit zu kämpfen hatte, nicht in Tränen auszubrechen.
Ein kurzes, zuckendes Lachen mit einem aufkeimenden Glücksgefühl durchströmte Mark. Das saß also der große Anführer Thomas, der so gerne andere Kinder schikanierte, wie ein Baby auf seinem dicken Hintern. Das war doch mal wirklich lustig.
„Packt ihn!“, rief Thomas jetzt und zeigte demonstrativ mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf Mark, während er unauffällig mit der anderen eine Träne, die er nicht hatte aufhalten können, von seiner Wange wischte. Dieses Mal war Mark allerdings vorbereitet. Noch bevor ihn einer der Jungs erwischen konnte, hatte er sich schon an Florian vorbeigerempelt und ihn bei der Gelegenheit gleich mit umgeschubst. Ein paar Sekunden später konnte er in der Menge der anderen Schüler in der Pausenhalle verschwinden. Einmal musste er sich noch ganz schnell hinter einem Mädchen wegducken, weil ein Späher aus Thomas Gruppe nur ein paar Meter entfernt an ihm vorbeilief.
„Was wird das, wenn es fertig ist?“, fragte das Mädchen, hinter dem er sich versteckt hatte. Erst jetzt bemerkte er, dass es Linda war. Auch sie hatte alleine rumgestanden und jetzt setzte sie ihren äußerst skeptisch wirkenden Blick auf. Mark duckte sich noch einmal weg, weil der Späher erneut in seine Richtung schaute. Linda musste ihn für einen totalen Freak halten – wie der Rest der Schule -, aber das konnte er jetzt nicht ändern.
„Sag mal, verfolgen dich die Jungs?“, flüsterte sie ihm zu, nachdem sie sich in die Richtung gedreht hatte, vor der sich Mark versteckte und sofort den Späher erblickte.
„Was gibt’s da zu glotzen, Jonathan?“, rief sie, als sich ihre Blicke trafen. „Falls du dein Gehirn suchst, dann wirst du es sicher nicht schnell wieder finden. Es ist ziemlich klein.“
Der Späher Jonathan warf Linda einen gehässigen Blick zu und für einen Moment sah es so aus, als würde er irgendetwas machen. Er kam ihr gefährlich nah und damit auch Mark. Sie stemmte ihre Hände in die Hüfte und reckte das Kinn. So standen sie sich länger gegenüber, als Mark es ertragen konnte, aber schließlich schnaubte Jonathan und zog dann endlich ab. Mark atmete auf, als er ihn in der Menge verschwinden sah. Vorerst war die Gefahr vorüber, aber er würde eine Weile sehr vorsichtig sein müssen.
„Hast du denen irgendetwas getan?“, fragte sie einen Augenblick später und Mark hatte den Eindruck in ihrer Stimme klang echtes Interesse, vielleicht sogar Mitgefühl mit.
„Ich existiere“, antwortete er knapp und zuckte mit den Schultern. Dann nahm er die Beine in die Hand und lief davon. Er wusste, wo er jetzt am besten hin konnte und wo er sicher sein würde: die Dachkammer! Die Dachkammer war sein absolutes Lieblingsversteck, weil niemand sonst wusste, dass die Tür dorthin nie richtig verschlossen war. An einem seiner ersten Tage hatte er unfreiwillig ein Gespräch vom Hausmeister und der Schulleiterin Frau Mönch belauscht – die Schule war in der Pause schon damals ein Ort der Flucht für ihn – und dabei hatte er mitgehört, dass die Tür zur Dachkammer nicht mehr richtig verschlossen werden kann. Damit aber keine Kinder auf die Idee kamen, dort hochzusteigen, hatte der Hausmeister einen kleinen Gummikeil unten an die Tür geschoben. Wenn man es nicht wusste, war der Keil so gut wie nicht zu sehen und jeder Versuch, die Tür aufzumachen, scheiterte natürlich. Wenn man den Keil aber geschickt wegkickte, dann war der Weg nach oben frei. Es war nicht der lauschigste Ort der Welt mit all den alten, eingestaubten Stühlen und Regalen und das Licht fiel auch nur dämmrig durch das schmutzige Dachfenster. Aber immerhin war man hier allein und sicher.
Er schlängelte sich an einigen Kindern vorbei, schaute sich ein paar Mal um, ob ihn keiner beachtete, dann flitzte er zur Treppe, die auf den Flur führte mit der Tür zur Dachkammer. Routiniert kickte er den Keil weg und öffnete die Tür. Sie quietschte kläglich und so laut, dass man den Eindruck haben konnte, sie wollte nicht geöffnet werden. Mit vier großen Sprüngen überwand er die schmale Treppe nach oben. Erschöpft ließ er sich in seinen Lieblingsstuhl sinken, den er sich so arrangiert hatte, dass er seine Füße auf ein niedriges Regal legen konnte. Er atmete tief durch und schaute durch das verdreckte Dachfenster zum Himmel. Der Regen, der darauf trommelte, machte es auch nicht sauberer, aber das störte ihn nicht weiter. Es sollte alles lieber schön dreckig bleiben, denn dann war klar, dass hier nie jemand hochkam und sein Versteck auch wirklich eins blieb. Er lehnte sich gerade ein wenig kippelnd zurück und dachte darüber nach, wann er sich am besten wieder nach unten trauen könnte, als er etwas hörte, das ihn versteinern ließ.
„Ich hab es genau gesehen. Er ist hier hoch. Hat so ´ne Sperre weggetreten und ist dann nach oben“, hörte er jemanden sagen.
„Dann sitzt er in der Falle, der kleine Spinner“, sagte jemand anders. Das war Thomas, da war Mark sich ganz sicher. Und das Schlimmste war, dass er recht hatte: Er saß in der Falle. Aus der Dachkammer gab es nur einen Ausgang und vor dem standen in ein paar Sekunden Thomas und seine Spießgesellen. Blitzschnell richtete er sich auf und ohne groß darüber nachzudenken, griff er sich seinen Stuhl und stellte ihn an den oberen Rand der Treppe. Schnell griff er sich noch zwei weitere in seiner Reichweite und wirbelte damit so viel Staub auf, dass er ein Husten nicht unterdrücken konnte. Gerade, als er alle Stühle in Position gebracht hatte, öffnete sich die Tür und Thomas Gesicht, das mit einem selbstgefälligen Grinsen behaftet war, zeigte sich im Türrahmen. Nur eine Zehntelsekunde später weiteten sich seine Augen vor Schreck und sein Mund formte einen tonlosen Schrei, als Mark ihm einen Stuhl die Treppe hinunter schickte. Er schaffte es noch gerade rechtzeitig, die Tür wieder zu schließen als der Stuhl unglaublich laut mit dem splitternden Geräusch von Holz auf Metall sein Ziel erreichte.
„Du verdammter... scheiß Freak!“, hörte Mark ihn gedämpft durch die Tür schreien.
Die Tür ging erneut auf, dieses Mal nur einen Spalt breit. Sofort warf Mark den nächsten Stuhl nach unten, der herunterpolterte und knirschend auf dem anderen landete. Dabei verlor er das linke Bein.
„Wo die herkommen, da gibt’s noch einige mehr! Versucht´s ruhig noch einmal!“, rief Mark hinunter. Das entsprach nicht ganz den Tatsachen, denn außer dem einen Stuhl, den er noch neben sich stehen hatte, gab es vielleicht noch zwei bis drei andere und die standen in der hintersten Ecke des Dachbodens. Wenn die Jungs unten den richtigen Moment abpassten, konnten sie locker die Treppe bis nach oben gelangen, bevor Mark ein weiteres Geschoss hätte in Position bringen können. Kurz überlegte er, ob er eine der Kommoden oder Regale runterschieben konnte, aber diese waren eindeutig viel zu schwer, als dass er sie alleine hätte bewegen können. Er musste bluffen.
Dieses Mal dauerte es deutlich länger, bis sich die Tür wieder einen spaltbreit öffnete und die zwei Stühle, die den Zugang leicht blockierten, ein wenig mehr Raum bot. Mark hatte keine Wahl, er musste sofort den nächsten Stuhl herunterwerfen, wenn sie ihm seinen Bluff abkaufen sollten. Krachend landete er auf den anderen zwei, ohne kaputt zu gehen. Für einen Augenblick schaute Mark fasziniert nach unten. Der Aufprall war gelb gewesen. So gelb wie Butterblumen. Und dann war es sofort wieder verschwunden.
Dann hörte er einen farblosen Tritt von außen gegen die Tür.
„Dieser miese…“, war von unten dumpf zu hören.
„Beruhig dich“, sagte die gedämpfte Mäusestimme von Florian. „Ich habe eine viel bessere Idee. Schau mal, da!“
Was als nächstes passierte und was genau diese bessere Idee war, bekam Mark nicht mit, denn die Jungs hatten anscheinend zu flüstern begonnen. Einen Moment lang war Ruhe. Was konnten die da unten wohl als nächstes vorhaben? Leise flitzte Mark zu einer Ecke, in der noch ein verstaubter Stuhl herumstand, von dessen Sitzfläche nur noch der Rahmen übrig war und der dadurch besonders traurig wirkte. Als er gerade zurückschlich, den kaputten Stuhl in beiden Händen, hörte er, wie sich jemand unten an der Tür zu schaffen machte. Allerdings war nicht das vertraute Quietschen zu hören, wie wenn die Tür geöffnet wurde.
Es klang viel mehr, als würde… O nein…
Mark Hände fuhren automatisch zu seinen Hosentaschen und suchten verzweifelt nach etwas, das er normalerweise immer dort rein steckte, wenn er zu seinem Versteck nach oben ging. Aber seine Hände tasteten ins Leere. Er klopfte noch einmal mit den Händen seinen Körper ab, ohne aber noch wirklich Hoffnung zu haben, das zu finden, was er hoffte. Er hatte den Keil unten vor der Tür liegen lassen. Er musste ihn in der Hektik und Aufregung einfach vergessen haben.
„Und?“ piepste die Stimme von Florian
Unten wurde die Klinke herabgedrückt und den Geräuschen nach zu urteilen, wurde erst sanft und dann immer kräftiger daran gezogen. Dann kam noch ein weiterer Ruck.
„Bewegt sich keinen Millimeter“, sagte eine andere Stimme, die wahrscheinlich zu Jonathan gehörte.
Einen Moment lang lachten alle Jungs unten dreckig, dann gab es einen Tritt gegen die Tür.
„Hey Freak“, sagte eine Stimme unmittelbar danach, die eindeutig zu Thomas gehörte. „Wenn wir nicht zu dir hoch dürfen, dann darfst du auch nicht mehr zu uns runter. Viel Spaß beim Verrotten da oben. Wir gehen jetzt in den Unterricht.“
Wieder lachten alle, aber es entfernte sich von Sekunde zu Sekunde. Anscheinend gingen sie tatsächlich. Erst, als sich Mark komplett sicher war, dass das alles nicht doch ein Trick gewesen war, legte er den Stuhl ohne Sitzfläche ab und traute sich wieder, etwas lauter zu atmen. Die Lage, in die er sich das gebracht hatte, war nicht gerade die Beste. Klar, es hätte schlimmer kommen können. Immerhin hatte er die Jungs abgewehrt und verhindert, dass sie ihn hier oben stellten. Was sie mit ihm angestellt hätten, das mochte er sich gar nicht vorstellen. Andererseits saß er hier nun fest. Die Jungs hatten sicher ordentliche Arbeit geleistet. Vorsichtig ging Mark die Treppe herunter und nachdem er einen Augenblick gelauscht hatte, räumte er einen Stuhl nach dem anderen (oder eben das, was noch davon übrig war) wieder nach oben. Dann drückte er die Klinke der Tür nach unten und drückte sich mit aller Kraft gegen die Tür. Sie bewegte sich nicht. Er versuchte es noch ein paar Mal und stützte sich dabei an den Stufen ab, aber die Tür weigerte sich, sich auch nur einen Hauch zu bewegen. Er spürte, wie sich sein Bauch immer hohler anfühlte und ihm leicht übel wurde. Wie sollte er hier nur je wieder rauskommen? Irgendwann würde man nach ihm suchen, natürlich. Aber wenn die Jungs dicht hielten, dann würde keiner so schnell auf die Dachkammer kommen. In einer Stunde war der Unterricht außerdem vorbei und dann würde den restlichen Tag wahrscheinlich niemand mehr im Schulgebäude sein. Und jetzt fiel ihm auch noch ein, dass es Freitag war! Das gesamte Wochenende würde niemand mehr hier sein. Er hätte sich doch lieber verprügeln lassen sollen, dachte er. Verzweifelt war er sich noch ein paar Mal gegen die Tür.
„Hilfe, Hilfe!“, schrie er und hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür. Seine Stimme überschlug sich halb. Die nackte Panik hatte ihn nun vollständig erfasst und Tränen liefen ihm die Wangen herunter. Irgendjemand musste ihn hier rausholen, bevor es zu spät war.
„Hilfe!“, rief er erneut und trat jetzt mehrmals gegen die Tür. „Holt mich hier raus!“
„Ganz ruhig, ich bin ja da!“, sagte plötzlich eine sanfte Stimme, die so nah klang, dass Mark nach hinten schreckte, gegen die Treppe stolperte und mit dem Hintern unsanft auf einer der Stufen landete. Sofort stand er wieder auf und legte ein Ohr an die Tür.
„Wer ist da?“, rief er und die Angst wollte immer noch nicht verschwinden.
Aber anstelle einer Antwort hörte er, wie sich jemand vor Anstrengung stöhnend an der Tür zu schaffen machte.
„Mann… die haben das aber ganz schön fest gedrückt“, sagte die Stimme schwer atmend.
„Du musst den Keil mit dem Fuß wegtreten, das geht am besten!“, rief Mark durch die Tür und versuchte, seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen. Er hörte, wie draußen halb gegen die Tür, halb gegen den Keil getreten wurde.
„Na… willst du wohl…. Na endlich!“
Die Klinke wurde herunter gedrückt und das erlösende Quietschen ertönte.
Das sommersprossige Gesicht von Linda war nicht wie sonst zu einem skeptischen Blick verzogen, sondern zeigte eine Mischung aus Unglauben und Mitgefühl.
„Alles okay?“, fragte sie.
„Ich denke schon“, antwortete Mark, während ihm bewusst wurde, dass seine Stimme schrill klang und er vollkommen verheult aussehen musste. Er drehte den Kopf weg und wischte sich die Tränen mit seinem Handrücken aus den Augen und von den Wangen.
„Ist schon in Ordnung. Du brauchst dich nicht dafür zu schämen, dass du Angst hattest.“
„Ich hatte keine Angst“, sagte Mark trotzig und merkte sofort, dass das vollkommen absurd klingen musste. Trotzdem ließ sich Linda nichts anmerken.
„Das sind echt Schweine!“, sagte sie stattdessen und Mark grunzte zustimmend. „Du kannst von Glück sagen, dass ich bemerkt habe, wie die hier nach oben geschlichen sind. Ich hatte schon im Gefühl, dass die nichts Gutes im Schilde führten. Tja, da habe ich wohl Recht gehabt, was?“ Sie schaute ihn erwartungsfroh an. Vielleicht lag es an der vorherigen Panik, vielleicht aber auch daran, dass Linda auf einmal so viel mit ihm redete, aber er hatte das Gefühl, in diesem Augenblick kaum einen geraden Satz herausbringen zu können. Ihm war immer noch leicht übel. Schließlich nickte er einfach. Linda schien das zu reichen.
„Hör mal“, fuhr sie fort. „Du siehst ein bisschen fertig aus, wenn ich ehrlich bin. Wie wäre es, wenn ich Frau Bachenstein sage, dass du nach Hause musstest, weil irgendetwas passiert ist? Dann brauchst du heute diese Idioten nicht mehr sehen. Und am Montag überlegen wir uns etwas, wie wir es ihnen heimzahlen können, okay?“
Mark hätte Linda am liebsten umarmt, aber er hatte immer noch genug damit zu tun, jetzt nicht loszuheulen. Das war alles einfach zu viel. Und vor einem Mädchen durfte kein Junge heulen, so viel war klar. Also nickte er noch einmal.
Linda lächelte zufrieden. „Wunderbar! Dann geh ich jetzt schnell los, damit ich nicht allzu spät in den Unterricht komme. Du solltest jetzt auch schnell los.“
Irgendwie schien es ihm unwürdig, jetzt einfach so loszugehen, ohne Linda vernünftig danke zu sagen, aber er war zu nichts anderem in der Lage. Er ging den Korridor entlang, die Treppe hinunter in die Pausenhalle und dann schnell über den Pausenhof zu den Fahrrädern. Ohne zurückzuschauen fuhr er nach Hause. Mit jedem Meter, den er zwischen sich und die Schule brachte, fühlte er sich besser. Der Kloß im Hals verschwand und er konnte wieder freier atmen. Er hatte wirklich Glück gehabt, dachte er. Ohne Linda hätte das alles böse enden können. Was aber noch viel schöner war, war die Tatsache, dass sie ihn nicht wie einen Freak behandelt hat, sondern ganz normal. Sie wollte sogar am Montag wieder etwas mit ihm zu tun haben. Bei dem Gedanken daran machte sein Herz einen kleinen Hüpfer und er fuhr den Weg besonders rasant entlang. Die Autos und die Straßenbahnen, die an ihm vorbeirumpelten, nahm er kaum wahr. Eigentlich war heute doch kein so schlechter Tag. Als die Sonne sogar die letzten Regentropfen ablöste, war er sich sogar sicher, dass dies sogar ein besonders guter Tag war. Zu Hause angekommen öffnete er die schwere, grüne Tür des Mehrfamilienhauses und flitzte die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Als er die Haustüre öffnete, wollte er seiner Mutter sofort davon erzählen, dass heute ein richtig schöner Tag war. Sie saß mit dem Rücken zu ihm am Küchentisch und rührte mit dem Löffel in einem Kaffee herum, der so aussah, als wäre er drei Tage alt. Sie drehte sich um als die ihn bemerkte und Mark sah ihr sofort an, dass etwas nicht stimmte.
„Mark“, sagte sie und ihre Stimme klang vollkommen tonlos.
„Es ist etwas Furchtbares passiert“.