Des Wanderers Nachtgedanken

Es gibt 55 Antworten in diesem Thema, welches 8.200 mal aufgerufen wurde. Der letzte Beitrag (27. Februar 2024 um 23:24) ist von Der Wanderer.

  • Zum Geleit

    Man sagt, Melancholie bezeichne grosse Niedergeschlagenheit, Schwermut, sogar Depression. Kann sein. Für mich nicht. Melancholie ist für mich ein Zustand, in dem ich ganz sicher nicht fröhlich bin. aber auch nicht traurig oder gar depri. Eher wehmütig. Weil ich mich an etwas erinnere, das vergangen ist und ich es gerne wieder hätte. Aber so geht das Leben eben nicht. Glücklicherweise bin ich nicht oft melancholisch. Aber wenn ich es war oder bin, dann immer in der Zeit zwischen Dämmerung und Nacht.

    Mein Leben

    Wenn die Kälte mich greift

    und die Wärme mich flieht

    wenn die Angst in mir wächst

    daß das Gute nicht siegt.

    Wenn im Dunkel der Nacht

    meine Seele verzagt

    und im Tagesdämmer

    der Zweifel an mir nagt.

    Wenn der Blick aus dem Fenster

    mir nur Finsternis zeigt,

    ist die Nacht fortgeschritten

    doch das Licht noch so weit.

    Verloren bin ich in der Stille

    des Schlafes, der mich leis umfängt

    verlor'n in meines Traumes Tiefen

    aus dem mein Ich nach oben drängt.

    Erwache ich, bin ich lebendig?

    Eratme ich den neuen Tag?

    Mein Leben, ist's auch unbeständig

    Freut sich auf das, was kommen mag.

    Und sollt' im Dunkeln ich erwachen

    und Finsternis mein Auge seh'n

    so könnt ich trotzdem drüber lachen.

    Denn mein Leben, es war schön.

    (Der Wanderer, 20.12.21)

  • Traumflug

    Tauch in die Nacht und lass Dich treiben

    im Dunkel, glänzend wie das Meer

    schweb mit auf mondbeschien'en Wolken

    leicht weht der Wind rings um Dich her.

    Senk Deinen Blick hinab aufs Land

    das unter Dir im Schlafe liegt

    still ist die Welt in dieser Stunde

    von Morpheus in den Traum gewiegt.

    Ein leichter Hauch durchstreift die Wälder

    Hörst Du die Blätter wispern?

    Nur beinah' kannst Du sie versteh'n

    zu leise ist ihr Flüstern.

    In tiefem Schlummer liegt das Land

    wohin Dein Blick sich wenden mag

    wohl eingehüllt in stillem Frieden

    erwartend einen neuen Tag.

    Steig nun hinauf zum Firmament

    die klare Luft auf deiner Haut.

    Blick weit hinaus zum Horizont.

    Wo jetzt, in diesem Augenblick

    ein neuer Morgen graut.

    Ein schwacher Schein, ein sanfter Schimmer

    unmerklich wird er stärker

    erhebt sich, wandelt Nacht in Dämmer

    trägt Licht in Traumes dunklen Kerker.

    Bald steigt in Wiesen Nebel auf

    Tau glitzert hell im Sonnenschein

    ein erster Hahnenschrei erklingt

    flieg nun zurück und kehre heim.

    Erwachst Du nun im Licht des Tages

    erinn're Dich, was Du geseh'n,

    Nicht nur des Helios' Sonnenwagen

    nein, auch Selenes Licht ist schön.

    Carpe diem et noctem!

    Der Wanderer, 12.06.2022

  • Nie allein

    Ich wüßte gern mehr über das, was wir Freude nennen.

    Dann wäre es mir vielleicht nicht so schwer, dem zu begegnen,

    was Trauer heißt.

    Denn wenn die guten Zeiten,

    die wir genießen, weil sie gut sind,

    denen weichen, die man die schlechten nennt,

    könnte mir die Freude hilfreich sein.

    Und das ist sie auch, natürlich ist sie das.

    Das lachende Gesicht, dem ich einst begegnete

    ist dem sorgenvollen gewichen.

    Die gerade noch weichen Züge verwandelt
    in harte Konturen.

    Sich stellend.

    Einer Realität, die wenig Spiel läßt für Hoffnung
    Aber doch...

    Mich der Verzweiflung hinzugeben

    ehe das Licht des Lebens tatsächlich erloschen ist

    hieße die Dunkelheit in mein Herz zu lassen,

    hieße aufgeben.

    Aber aufgeben ist niemals eine Option.

    Also bleibe ich standhaft im Kampf,

    Hoffnung ist mein Banner

    wehend im Wind des Lebens.

    Diese Fahne trage ich, diese Fahne halte ich hoch

    sie schwebt über uns, mein Freund.

    Wir zwei beide - Du und ich

    Die Freude der vergangenen Tage wird uns tragen durch diese Zeit

    in der wir uns gemeinsam der Finsternis stellen,

    sie durchwandern.

    Daß sich unser Pfad einst teilen wird, ist mir gewiß.

    Aber wie heute ist morgen noch zu früh dafür.

    Der Wunsch nach Ewigkeit jedoch gleichfalls unerfüllbar.

    Gehen wir also, gemeinsam.

    Mit einem lächelnden Gesicht - in den guten wie auch in den schlechten Zeiten.

    (Der Wanderer, 11.08.22)

  • Moin Wanderer! Ich habe mal den Thread überflogen und mich am Gedicht Mein Leben festgelesen :)

    Ich mache bei Gedichten auch immer eine mündliche Prüfung, indem ich sie laut lese. Das fließt sehr schön und einzelne Strophen haben einen deutlichen Rhythmus. Keine Ahnung, wie bewusst du das machst, aber es funktioniert gut. :thumbup:

    Inhaltlich ist es ja sehr gegenständlich, nicht abstrakt. Da lese ich neben der Tag- und Nachtbeschreibung einen geschlossenen Frieden mit der eigenen Sterblichkeit heraus, aber ohne Lebensmüdigkeit, sondern auf eine positive Weise.

    Ein kurzer Vorschlag, der einzige, der mir einfallen wollte:

    Wenn im Dunkel der Nacht

    meine Seele verzagt

    und in des Tages Dämmer (Vorschlag: "und im Tagesdämmer", passt besser zu Vers 1 der Strophe mMn)

    der Zweifel an mir nagt.

    Das würde die Strophe mMn aufwerten :D

    Häupter auf meine Asche!

  • Heyho kalkwiese

    Wo Du recht hast, hast Du recht.

    und in des Tages Dämmer

    "und im Tagesdämmer"

    Danke für den Hinweis, seinen eigenen Kram mal laut zu lesen. Dein Vorschlag ist in der Tat "weicher".

    Habe ich gerade übernommen und danke Dir dafür.

  • Zum Geleit

    Man sagt, Melancholie bezeichne grosse Niedergeschlagenheit, Schwermut, sogar Depression. Kann sein. Für mich nicht. Melancholie ist für mich ein Zustand, in dem ich ganz sicher nicht fröhlich bin. aber auch nicht traurig oder gar depri. Eher wehmütig. Weil ich mich an etwas erinnere, das vergangen ist und ich es gerne wieder hätte. Aber so geht das Leben eben nicht. Glücklicherweise bin ich nicht oft melancholisch. Aber wenn ich es war oder bin, dann immer in der Zeit zwischen Dämmerung und Nacht.


    Herbst

    Der Sonne Schein, vor kurzem noch so gnadenlos,

    fast schmerzhaft brennend

    fällt durch mein Fenster schräg herein.

    Doch wenig Wärme ist darin, stattdessen

    kühler Abendschein.

    Das Abendlied der Amsel auf dem Dach:

    Ich hör es jeden Tag ein kleines bißchen früher.

    Wenn's dann verstummt und die Dämmerung fällt

    erschallt einsam der Ruf der Krähe.

    Einmal, zweimal – dann Stille und Nacht.

    Und der Kastanie Frucht, sag: Hab ich's verträumt?

    Sie hing doch gestern noch im Baum

    in grüner Stacheligkeit sich wiegend im Wind.

    Nun liegt sie vor mir auf dem Weg,

    geplatzte Schalen, glänzende Frucht.

    Und die Kinder sammeln sie in ihre Taschen, so wie ich's früher tat.

    Es war doch gestern erst,

    als sanft der Wind durch grüne Blätter strich

    und wispernd dann die Bäume sich unterhielten.

    Ist es nicht seltsam?

    Nun erzwingt der Wind der Bäume Schweigen.

    Mit jedem Blatt, das braun und müde geworden

    vom Ast sich lösend zu Boden taumelt, verblassen die Worte

    verstummen die Stimmen der Äste mehr und mehr

    die vor kurzem noch so vieles leise besprachen.

    Nur kurz noch, dann recken sich kahle Zweige

    schweigend dem trüben Grau der Wolken entgegen,

    die, von kaltem Wind getrieben

    einen jeden Tag verkürzen.

    Dunkel der Morgen, fahl das Licht des Tages

    und schnelle Nacht zu früher Stunde.

    Dies ist die Zeit, in der die Wanzen träumen.

    (Der Wanderer, 19.09.22)

  • Aww, das gefällt mir, Der Wanderer . Und es trifft so ziemlich genau meine Gedanken. Es ging zu schnell. Gestern noch heißer Sommer mit Waldbränden, heute schon 7°C als ich halb sechs aus dem Haus ging. Wo ist der Altweibersommer?

    Du hast schöne Bilder verwendet und schöne Eindrücke eingefangen und in Verse gereiht. Nochmal: Gefällt mir richtig gut! :thumbup:

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • Zum Geleit

    Man sagt, Melancholie bezeichne grosse Niedergeschlagenheit, Schwermut, sogar Depression. Kann sein. Für mich nicht. Melancholie ist für mich ein Zustand, in dem ich ganz sicher nicht fröhlich bin. aber auch nicht traurig oder gar depri. Eher wehmütig. Weil ich mich an etwas erinnere, das vergangen ist und ich es gerne wieder hätte. Aber so geht das Leben eben nicht. Glücklicherweise bin ich nicht oft melancholisch. Aber wenn ich es war oder bin, dann immer in der Zeit zwischen Dämmerung und Nacht.


    Die Lügner

    Hüte dich vor denen, die weisse Gewänder tragen

    als Zeichen ihrer vermeintlichen Unschuld.

    Denn in einem anderen Land ist Weiss die Farbe des Todes.

    Hüte dich vor denen, die dich und deine Waffen segnen,

    denn wer Waffen segnet, will den Frieden nicht.

    Er nimmt deinen Tod in Kauf, um sich zu bereichern.

    Hüte dich vor denen, deren Stimmen am lautesten erschallen.

    Es sind zumeist die, welche nichts zu sagen haben.

    Zu schreien heißt nur, sich nicht sicher zu sein.

    Hüte dich vor der Furcht, du könntest einen Fehler machen.

    Aus Fehlern lernt man, dafür sind sie da.

    Wer keinen begeht, wird die Welt nicht begreifen.

    Nur: Sie zu wiederholen

    wie es so viele immer wieder tun, bedeutet:

    den Lügnern recht zu geben.

    So schwer es auch ist, den falschen Weg zu meiden,

    so ist es doch nicht unmöglich.

    In dir liegt die Kraft dazu.

    Lass dich nicht blenden - dich nicht verwenden.

    Zuviele liegen schon in dunklen Gräbern.

    Die noch vor einer Sekunde eine Zukunft hatten.

    Fortis Esse!


    (Der Wanderer, 26.09.22)

  • Zum Geleit

    Man sagt, Melancholie bezeichne grosse Niedergeschlagenheit, Schwermut, sogar Depression. Kann sein. Für mich nicht. Melancholie ist für mich ein Zustand, in dem ich ganz sicher nicht fröhlich bin. aber auch nicht traurig oder gar depri. Eher wehmütig. Weil ich mich an etwas erinnere, das vergangen ist und ich es gerne wieder hätte. Aber so geht das Leben eben nicht. Glücklicherweise bin ich nicht oft melancholisch. Aber wenn ich es war oder bin, dann immer in der Zeit zwischen Dämmerung und Nacht.

    SPLITTER

    Ich erinnere mich...

    Ich war drei Jahre alt, als ich mir den Schädel an der Bettkante dermaßen einschlug, daß das ganze Laken blutrot war – und ich war noch keine vier Jahre, als mir meine Schwester das Radfahren beigebracht hat: Aus unserem Wohnzimmer bis vor die Tür der Nachbarswohnung und wieder zurück, alles im vierten Stock eines Mietshauses ohne Kindersicherung an der Treppe und meine Mutter fiel beinahe die Treppe runter mit ihren Einkaufstüten, als sie mich da fahren sah.

    Ich erinnere mich...

    Ich stand auf dem Anker eines Segelschiffs bei Windstärke acht, auf gleicher Höhe mit dem Wasser und versuchte, ein verheddertes Seil vom Anker loszuschneiden, das uns hinderte, das Schiff zu wenden und ich hatte selbst ein anderes Seil um die Brust, damit mich die vier Leute oben an Deck wieder raufziehen konnten, falls ich reinfallen sollte und ich war so nass, wie's nur möglich war, jede Welle eine Dusche aber trotzdem war das ein unglaublich gutes Gefühl auf diesem Anker herumzubalancieren und den Wind zu riechen und das Wasser spritzt einem in's Gesicht, salzig und kalt und gegen dich und genau darum spürst du, was es bedeutet lebendig zu sein.

    Ich erinnere mich...

    Ich ritt auf Ponies auf einem Bauernhof in Steinbach an der Mosel als kleiner Junge und durfte dort auch auf dem Schoß des Bauern einen Traktor zum Feld und wieder zurück fahren. Was für ein großer Moment für so einen kleinen Kerl wie mich – so ein Riesending mit Rädern, die doppelt so groß waren wie ich damals mit meinen fünf Jahren!

    Dort in Steinbach sah ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Tausendmarkschein, den grossen braunen mit Adam Riese vorne drauf, lässig in der Hand gehalten von einem Mann in einer Kneipe, deren Namen ich vergessen habe und in der ich mit meinem Vater saß, er ein Bier vor sich und ich ein Malz.

    Ich erinnere mich...

    Ich habe Musik gespielt in Deutschland, Frankreich und England mit meinem Orchester, war dort zu Gast bei fremden Menschen, die mich freundlich bei sich aufnahmen und sich auch nach zwei Jahren noch an mich erinnerten, wenn wir uns wiedersahen. Manche sah ich nur einmal und danach nie wieder und denke trotzdem noch heute ab und zu an sie und frage mich, ob sie wohl noch leben und wenn, was sie gerade tun und wie es ihnen geht. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte sie wiedersehen, obwohl ich inzwischen von manchen weiß, daß sie gestorben sind, gegangen vor mir und dann frage ich mich, wann wohl meine Zeit zu gehen kommt.

    Ich erinnere mich...

    Ich habe mir den schlimmsten Sonnenbrand meines Lebens auf einem spanischen Berg geholt, auf dessen Spitze ein glatter Felsen ruhte, wie ein bequemer Liegestuhl, so daß ich dort den ganzen Nachmittag dummerweise in der prallen Sonne lesend verbrachte... und ich habe den höchsten Berg der äusseren Hebriden, den Mount Clisham, zusammen mit den anderen Teilnehmern der „Anglo-German Expedition 1988“ bestiegen.

    Sechs Briten und fünf Deutsche und oben angekommen mußten wir dann feststellen, daß wir alles für's Picknick mitgeschleppt hatten – nur an Wasser für den Tee hatte keiner gedacht...


    Ich erinnere mich...

    Mein erster Schultag war für mich ein Graus, denn ich hatte Bauchschmerzen wie eine hochschwangere Frau sie haben muß und davon gibt es sogar noch ein Photo, das meine Mutter früher gerne mal hergezeigt hat, sie mit mir an der Hand in die Kamera lächelnd und ich daneben zusammengekrümmt in der Hocke und weinend unter'm Vordach meiner zukünftigen Schule.

    Und wenn man weiß, das diesem Vordach genau gegenüber auch heute noch die Turnhalle liegt, vor deren Aussenmauer wir als Viertklässler dann Jahre später unser Abschlussklassenphoto aufnahmen bevor wir hinauszogen in die ach so weite Welt, dann hat man schon fast ein komplettes Bild unserer kleinen Schule.

    Die Schule gibt es heute noch, aber den damaligen Rektor gibt es heute nicht mehr – Julius S. hieß er und hatte meinen Respekt.

    Den verlor er Jahre später für immer, als ich ihn auf einem Begräbnis wiedertraf und er mich glücklicherweise nicht wiedererkannte in seiner Funktion als Vorstand einer sehr religiösen Gemeinde, in deren Vertretung er die Trauerrede hielt.

    Denn hätte er mich wiedererkannt und angesprochen an jenem Tag am Grab dieser Frau, die ich im Zivildienst pflegte mit aller Kraft und die ich trotzdem verlor, eine Frau, die seiner Gemeinde angehörte ihr Leben lang und immer für eben diese Gemeinde da war, als es ihr noch gut ging und die von genau dieser „Gemeinde“ so abgrundtief im Stich gelassen wurde, als es ihr schlecht ging – hätte mich mein ehemaliger Rektor wiedererkannt und angesprochen, hätte ich ihm wahrscheinlich die Zähne in den Hals geschlagen.

    Nicht etwa, weil er ein schlechter Lehrer gewesen wäre – denn das ist er in meiner Erinnerung nicht. Wer bereit war, etwas zu lernen, dem hat er auch was beigebracht. Aber ein mieser Heuchler war er ebenfalls...

    Ich erinnere mich...

    An den Tag, an dem ich in meiner Zividienstbude eine halbe Flasche Wodka auf Ex leerte, die weiß ich woher noch im Eisfach meines Kühlschrankes lag, weil ich keine halbe Stunde zuvor zum ersten Mal dabei war, als ein Mensch starb und ich dabei seine Hand hielt und genauso erinnere ich mich an die Hilflosigkeit in diesem Augenblick, mit der die herbeigerufene Pflegerin den Psalm Davids herunterleierte, weil ihr auch nichts anderes einfiel. Wobei: Was hätte ihr denn einfallen sollen?

    Ich erinnere mich...

    An den Augenblick, als mein Vater im Hause meines Onkels die Nachricht bekam, daß meine Tante gestorben war: Er schaut aus dem Fenster der kleinen Nische, wo bei meinem Onkel immer das Telephon stand und heute noch steht. Und, ganz Polizeibeamter, der mein Vater war wird er ganz steif und offiziell:

    „Ja...ich verstehe... Frau S. Ist gerade verstorben...ja...ich werde das weitergeben...Danke.“

    Und ich weiß bis heute nicht, ob mein Vater der arme Kerl war, der meinem Onkel diese Nachricht überbringen mußte. Wahrscheinlich ist es schon.

    Ich weiß genau, daß dieser Tag ein Samstag war.

    Denn immer Samstags hatte ich Orchesterprobe – und an diesem einen Samstag rief ich den Dirigenten meines Orchesters an und sagte ihm zum einzigen Mal in all den zwölf Jahren, in denen ich Schlagzeuger dieses Orchesters war, daß ich nicht zur Probe käme und legte dann wieder auf.

    Und danach ging ich zum Friedhof keine dreihundert Meter weit weg, auf dem meine Tante später beerdigt wurde und saß lange unter einem Baum und heulte, weil ich nicht wußte, wie mein Leben ohne sie jetzt weitergehen sollte.

    Ich erinnere mich...

    An die bitteren Stunden, als ich meine kleine „Schwester“ Japke Niza T. zum letzten Mal lebend sah an ihrem achtzehnten Geburtstag, den sie noch erleben wollte, ehe sie sich nach einem fast dreijährigen Kampf gegen eine Krankheit, für die sie nichts konnte und die sie trotzdem erwischt und hinweggefegt hat und ihr gerade mal ein achtzehn Jahre langes Leben gegönnt hat, von ihr gelebt und genossen und geliebt; Und noch heute hat sie meine Hochachtung und Bewunderung für ihre Kraft, selbst den Zeitpunkt zu wählen, an dem sie diese Welt verlassen würde.

    Ich erinnere mich an ihre Frage an mich: „Sehen wir uns wieder?“

    Und ich glaube, mich daran zu erinnern gesagt zu haben: „Ja. Wenn Du es willst, sehen wir uns wieder“.

    Aber genau weiß ich es nicht mehr.

    Und ich würde gerne den Gott verfluchen, der in seiner „Allbarmherzigkeit“ zugelassen hat, daß das geschehen ist. Aber dafür müßte es ihn ja erst einmal geben...

    Ich erinnere mich...

    An den Tag in Frankreich, an dem ich auf einem sechzig Meter hohen Turm saß und die Beine von der Kante baumeln ließ und die Landschaft unter mir sah aus wie eine Märklineisenbahn aus dieser Höhe, alles so klein und künstlich und wie ich von diesem Turm spuckte und ich die Spucke immer kleiner werden sah auf ihrem Weg nach unten, bis ich sie schließlich nicht mehr sehen konnte, weil sich das Weisse meiner Spucke auflöste in den 21.000 weissen Flecken sechzig Meter unter mir, die, wenn man wieder vom Turm herabgeklettert war, zu 21.000 weissen Kreuzen wurden. Jedes für einen Menschen stehend, der dort, in der Gegend um Verdun herum im ersten Weltkrieg gestorben war. Ich stand vor diesem Meer aus Kreuzen und verstand zum ersten Mal wirklich, was das Wort „Krieg“ bedeutet.

    Und gleichzeitig konnte ich nicht begreifen, wie so ein Wahnsinn möglich war, auch wenn in dieser Zeit „Gott, Ehre und Vaterland“ die höchsten Gefühle waren.

    Gott, Ehre und Vaterland.

    Was für ein schlechter Witz ist das ???

    Sie sind damals alle darauf hereingefallen und tun es heute noch. Tausende und Tausende und Abertausende noch dazu und meine beiden Großväter ebenfalls, so daß ich sie niemals kennenlernen konnte.

    Es hing einmal eine Photographie meines Großvaters väterlicherseits rechts an der Wand neben dem Fenster im Wohnzimmer meiner Großmutter. Darauf er als stolzer Matrose.

    Im unseligen Dienste eines schlechten Kunstmalers.

    Ich erinnere mich...

    Der Weihnachtsbaum im Haus meines Onkels. Ein Baum bis unter die Decke und wir alle stehen da und mein Onkel steht da und hat ein Geschenk für meine Tante in der Hand, Schuhkartongroß und er hält es fest und sie muß es aufmachen, während er es festhält und als es endlich auf ist schlägt er von unten dagegen und eine fette Ratte springt raus und meine Tante kreischt und schreit und wir anderen ebenfalls. Aber es ist nur eine lebensgrosse Ratte aus Gummi und mein Onkel lacht sich weg und wir auch, als wir es merken.

    Jetzt steht die Gummiratte bei mir in meinem Regal und ist nur noch Erinnerung an das, worüber wir einmal lachten.

    Die Weihnachtsbäume bis unter die Decke sind Vergangenheit, das Lachen damals und meine Tante sind Vergangenheit. Es wird niemals wieder so werden, wie ich es einmal erleben durfte, weil alles nur einmal geschieht.

    Weil alles einmalig ist.

    Wie wir wurden was wir sind...

    Warum werden wir manchmal morgens wach und haben ein Zitat im Kopf, an das wir seit Jahren nicht mehr gedacht haben?

    Was ist der Grund dafür, daß wir auf einmal die Melodie einer Werbesendung zu pfeifen beginnen, die wir vor Jahren gesehen haben und an die wir in den Jahren dazwischen keinen Gedanken mehr verschwendet haben?

    Ich weiß keine Antwort darauf und ebensowenig, ob es jedem so geht oder vielleicht nur mir. Aber da es mir so geht, habe ich mich entschlossen, meine Erinnerungen aufzuschreiben, wie sie mir in den Sinn kommen.

    Erinnerungen sind wie kleine Filme: Manche dauern nur Sekunden, andere entwickeln sich mit dem leisen Erinnern wieder zu langen Sequenzen – das Erinnern ruft einem das scheinbar Vergessene zurück ins Bewusstsein. Welche Dinge mich wann warum berührt haben auf irgend eine seltsame Weise, daß sie für mich zu Erinnerungen werden konnten, kann ich nicht sagen. Denn ich erinnere mich ja nicht nur an die schönen Momente in meinem Leben sondern auch an vieles, von dem ich wünschte, ich hätte es lange schon vergessen.

    Wenn es aber so ist, daß meine Erinnerungen, jede für sich - klein als auch scheinbar groß - in irgend einer Weise dazu beigetragen haben , mich zu dem zu machen, der ich heute bin, dann stimme ich zu.

    Ich glaube fest daran, daß jede noch so kleine Begebenheit, jedes Gespräch, das ich jemals geführt habe, jedes Lied, das ich einmal hörte, jedes gelesene Buch...einfach alles, was ich je getan oder nicht getan habe Einfluss darauf genommen hat, was und wer ich heute bin.

    Es ist es gar nicht wichtig, sich an alles zu erinnern. Zum einen kann man es nicht, selbst wenn man das wollte – man müßte ja sein gesamtes Leben in jedem Detail noch einmal erleben.

    Zum anderen läßt sich eine Sanduhr zwar herumdrehen, aber deshalb läuft sie ganz sicher nicht rückwärts. Das Leben verläuft ja linear: An einem ganz bestimmten Punkt beginnt es.

    Und an einem anderen, ebenfalls ganz bestimmten Punkt endet es wieder.

    Und dazwischen liegen all jene Momente, die ein Mensch erleben kann und aus denen im Augenblick des Erlebens Erinnerungen werden. Glücklich diejenigen, die bereit sind, sich an alles zu erinnern, denn auch die traurigen Erinnerungen sind eine Quelle der Kraft – denn was geschieht in jenen Momenten mit uns?

    Wir trauern in der einen Sekunde des Erinnerns vielleicht um jemanden, den wir verloren haben. Und erinnern uns in der nächsten Sekunde an viele der schönen und fröhlichen Erlebnisse, die wir gemeinsam gehabt haben.

    Und dann sitzen wir da mit einem Kloß im Hals und Tränen in den Augen, während wir gleichzeitig lachen müssen – weil wir uns erinnern.

    Das ist Leben ... und ich liebe es genau so.


  • Hey Der Wanderer ,

    deine Erinnerungs-Splitter zu lesen hat mich sehr berührt. Die Melancholie ist förmlich greifbar und trotz der teilweise düsteren Stimmung schwingt da etwas mit, das man in seiner unverfälschten und unbeschönigten Form als „Leben“ bezeichnen kann.

    Vielen Dank für diese sehr persönlichen Einblicke in deine Vergangenheit :danke:... hast du vor, das fortzusetzen, oder ist es damit abgeschlossen?

  • Heyho Rainbow

    ... hast du vor, das fortzusetzen, oder ist es damit abgeschlossen?

    Gegenfrage: Soll ich es fortsetzen?

    Nichts wäre einfacher.

  • Spoiler anzeigen

    Eigentlich steht hier immer, das ich, obgleich melancholisch, die Dinge trotzdem positiv sehe.

    Heute ist das etwas anders. Ich muß mich in dieser Welt von meinem besten Freund verabschieden. Es tut weh.

    FOR ALL WE'VE LOST


    What God is this to let me see my friends in pain and misery?

    For what reason he decides life and death under his eyes?

    Where is justice, wisdom, where...

    I thought he was a God of care.

    For his people, for mankind.

    Seems now to me this God is blind.

    Cloudy days of hope and fears shared your laughter and your tears

    but you held on, never gave in - you tried a deadly game to win.

    I held your picture in my hand - and still I can not understand

    why it was you who had to go

    was there a reason?

    I will know!!!

    You striked brave my friend - until the bitter end

    the battle's lost, the fight is won.

    And all those painful tears, and all those frightened years

    they shall be buried now you're gone.

    Was there a chance?

    I can't recall.

    All for one and one for all.

    Maybe some time we'll meet again...

    Luke

    LUKAS HANEMANN
    27.11.1980 - 08.12.2022

    "Alles geben die Götter, die Unsterblichen

    ihren Lieblingen ganz.

    Die Freuden, die unendlichen

    die Schmerzen, die unendlichen,

    ganz.

    (J.W.Goethe)

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    Ich bin gerade sowas von fertig...

  • Zum Geleit

    Man sagt, Melancholie bezeichne grosse Niedergeschlagenheit, Schwermut, sogar Depression. Kann sein. Für mich nicht. Melancholie ist für mich ein Zustand, in dem ich ganz sicher nicht fröhlich bin. aber auch nicht traurig oder gar depri. Eher wehmütig. Weil ich mich an etwas erinnere, das vergangen ist und ich es gerne wieder hätte. Aber so geht das Leben eben nicht. Glücklicherweise bin ich nicht oft melancholisch. Aber wenn ich es war oder bin, dann immer in der Zeit zwischen Dämmerung und Nacht.

    Der Frühling

    Ich kann ihn schmecken im Duft des Regens

    spüren im kalten Strahl der Sonne, die der Wärme gewinnt mit jedem Tag,

    ich sehe ihn am Wegesrand - das frische Grün der Osterglocken

    durch das Gras des Vorjahres brechend.

    Der Frühling kommt.

    Die Vögel singen, obwohl es dunkel ist, warum?

    Sie wissen es nur zu gut.

    Was wir noch nicht sehen erfühlen sie,

    hört auf ihr Lied.

    Der Frühling kommt.

    Das Laub des letzten Herbstes

    liegt vereinzelt noch hier und da.

    Doch wer wendet den Blick hinab auf das Vergangene,

    wenn an den Ästen der Bäume die ersten Knospen farbenfroh erscheinen?

    Der Frühling kommt.

    Die schweren Gedanken des Winters weichen

    und mit ihnen weicht die Dunkelheit.

    Nur Minuten jeden Tag,

    doch stetig, immer stetig mehr.

    Der Frühling kommt.

    Ich kann ihn riechen im Geschmack des Regens.

    Ich fühl ihn im Wind, der über meine Haut streicht.

    Ich seh ihn in den Wolken, die über mich hin wehen.

    Und es macht mich glücklich.

    Der Frühling kommt.

    (Der Wanderer, 20.03.23)

  • Heyho.

    Notwendige Vorbemerkung zum nachfolgenden Text.

    Tenger stellte die Frage, ob jemand hier Geträumtes dazu nutzen würde, daraus eine Geschichte zu machen. Und Cory Thain hat das klar mit "JA" beantwortet aber auch angemerkt, daß meist die Zeit nicht reicht, in der ein Traum einem im Gedächtnis bleibt dazu zu nutzen, ihn in eine Geschichte zu verwandeln.

    Mir ist es passiert, daß ich mal einen Traum hatte, der so intensiv war, daß ich noch nach fünf Tagen jedes Detail im Kopf hatte. Das kam mir damals so ungewöhnlich vor, daß ich ihn aufgeschrieben habe, am Freitag, dem 22.11.1991 .

    Geträumt habe ich ihn also am Sonntag, den 17.11.1991

    Daß ich seinen Inhalt nicht vergessen konnte, wie bei anderen Träumen üblich, hat mich jahrelang beschäftigt, genau wie die Frage nach dem Warum.

    Ewigkeiten danach (2008) habe ich eine Abschrift an die Traumforscherin Ortrud Groen geschickt und von ihr auch eine Antwort erhalten.

    Die findest Du am Ende dieses Posts.

    Der Traum hatte für mich nie etwas Alptraumhaftes, weder zum damaligen Zeitpunkt noch heute. Ich empfinde ihn eher als etwas sehr Seltenes und Seltsames, weil er mir auch heute noch bisweilen in den Kopf kommt.


    Ich stehe auf einem Holzsteg. Um mich herum herrscht Dunkelheit, aber ich kann alles, was ich betrachte so klar und deutlich vor mir sehen, als wäre es heller Tag.

    Der Steg ist alt. Vielleicht ist es auch kein Steg. Auf drei nebeneinanderliegenden Balken liegen Holzbohlen. Manche sind zerbrochen und scheinen morsch. Durch die Lücken zwischen ihnen kann ich Wasser glitzern sehen. Jetzt erkenne ich auch, daß ich mich inmitten einer Wasserfläche befinde. Etwas links von mir sehe ich einen zweiten Steg, der gemau so alt und morsch aussieht wie der, auf dem ich stehe. Er ruht auf Holzpfählen, die im dunklen Wasser verschwinden. Ich sehe Licht, das von der Wasseroberfläche zurückgeworfen wird. Es schimmert weisslich auf dem Wasser. Sonst kann ich nichts erkennen. Nur das Wasser und die Stege.

    Ich tue einen Schritt nach vorne, aber vielleicht laufe ich auch bereits die ganze Zeit.

    Ich habe, das kann ich jetzt erkennen, Gummistiefel an. Und in dem Moment, da ich den Fuß aufsetze, zerbricht die Bohle unter mir. Ich schaffe es irgendwie, den Fuß an einer anderen Stelle aufzusetzen. aber auch dort bricht das Holz unter mir und fällt ins Wasser. Ich sehe die Tropfen hochspritzen und hell aufblitzen, wenn die Balken auf dem Wasser aufschlagen.

    Ich versuche, den anderen Steg springend zu erreichen, aber auch dessen Holz bricht unter mir und ich weiß, daß ich ins Wasser fallen werde.

    Mit einem Mal ist unter mir ein schmaler Kahn, den ich vorher nicht gesehen habe. Er ist nicht bretier als ein Meter und läuft zu den Enden hin schmal zu. Sein Holz ist schwarz und in ihm glitzert Wasser. Es ist mir, als sähe ich nur seinen Schatten. Mit dem linken Bein zuerst lande ich genau in der Mitte des Kahns. Er gibt, wie zuvor die Bohlen der Stege unter mir nach, aber er zerbricht nicht. Eher habe ich den Eindruck, in einem halben Faß zu stehen, denn jetzt erkenne ich, daß der Kahn aus lauter vierkantenen Hölzern gebaut ist, die durch Metallstreifen zusammengehalten worden sind.

    Die Hölzer lösen sich nun vom Metall und kollern von beiden Seiten auf meinen Fuß zu.

    Ich rudere mit den Armen, um mein Gleichgewicht in dem sich auflösenden Kahn zu behalten, aber gleichzeitig weiß ich, daß auch dies nicht mehr helfen kann...

    Ich bin unter Wasser. Ich kann duerch das Wasser hindurchblicken, als wäre es Glas. Auf einmal stehe ich direkt vor einer Mauer. Sie hat eine rostbraune Färbung. Ich kann den Schlamm in Schleiern aufwirbeln sehen, in dem ich gelandet bin.

    Ich versuche, mich nach oben hin abzustoßen, denn ich weiß, daß die Wasseroberfläche keinen Meter über mir sein muß. Irgendwie weiß ich aber auch, daß ich es nicht schaffen werde, wieder nach oben zu kommen.

    Ich kann das Wasser fühlen und auf seltsame Weise auch sehen, wie es mir in die Stiefel läuft und meine Kleidung durchdringt und mich zu schwer werden läßt dazu.

    Ich bin dick angezogen. Ich kann jetzt das Wasser auf meiner Haut fühlen, ohne sagen zu können, ob es warm oder kalt ist. Ich weiß nun sicher, daß ich nicht mehr nach oben kommen werde, aber ich stelle das lediglich fest, ohne Gefühl.

    Die Bewegungen meiner Arme kann ich nucr als leicht und entspannt bezeichnen.

    Irgendwie treibt mich nichts.

    Ich bin in einem dunklen Raum. Das einzige Licht kommt von einem Türdurchgang vor mir. Die Konturen sind sehr scharf. An die linke Seite des Durchgangs gelehnt steht die Gestalt eines Mannes, dessen Gesicht ich nicht erkennen kann. Ich kann nur sein Profil als Silhouette gegen das Licht sehen. Und ich kann sehen, wie er atmet. Also muß es kalt sein, aber ich fühle keine Kälte. Er steht regungslos im Durchgang und atmet gleichmäßig. Ich höre ihn sprechen.

    Er sagt: "Hilf mir mal."

    Jetzt müssen wir in dem Raum sein, der hinter dem Durchgang liegt, denn der Mann lehnt nun an der rechten Seite und hinter ihm ist Dunkelheit.

    Ich stehe vor einer quadratischen, rostigen Stahlplatte, die auf dem Boden liegt. Der Mann hat eine Stange in den Händen und benutzt sie, um die Platte vom Boden hochzustemmen. Die Platte verdeckt ein ebenfalls wuadratisches Loch im Boden.

    In diesem Loch sehe ich eine trübe und dicke Flüssigkeit, die wie altes Öl glänzt.

    Im Augenblick, da sich die Platte bis in die Senkrechte hebt, geschehen mehrere Dinge gleichzeitig.

    Der Mann sagt zu mir:

    "Wenn du etwas auftauchen siehst, zieh es heraus."

    Noch während er das sagt beginnt die Flüssigkeit, sich zu bewegen als hätte das Öffnen der Platte einen Sog ausgelöst oder als käme eine Luftblase an die Oberfläche.

    Die Flüssigkeit bewegt sich etwas nach oben und als sie wieder zurücksinkt, kann ich in ihr einen rot und schwarz karierten Stoff erkennen.

    Im Augenblick, da ich ihn sehe, WEIß ich, daß das Hemd, das ich trage ebenfalls rot und schwarz kariert ist.

    Ich greife in die Flüssigkeit und zihe das, was meine Finger zu fassen bekommen aus dem Loch heraus.

    Im Augenblick des Zufassens weiß ich wiederum, daß ich einen Arm festhalte. Und einen Augenblick später kann ich mein Gesicht sehen, die Augen geschlossen und die Haut blass. Meine Haare kleben nass und dunkel an meiner Haut.

    Ich ziehe mich selbst aus dem Loch.

    Ein anderer Raum.

    Ich glaube direkt hinter mir ist eine Mauer. Etwas links hinter mor steht der Mann, der die Platte hochgestemmt hat. Er hat die Stange noch stes in Händen und stützt sich auf sie. Einige Meter vor mir ist ein anderer Mann. Etwa in Kopfhöhe und ungefähr zwei Meter auseinander befinden sich zwei länglich Fenster, hellerleuchtet, doch kann ich die Lichtquelle nicht ausmachen.

    Ich schaue durch das rechte Fenster und sehe den Körper eines jungen Mannes. Außer einem weissen Stück Stoff um die Hüften trägt er keine Kleidung. Seine Arme sind leicht ausgebreitet, das Gesicht etwas nach oben gewandt.

    Im ersten Augenblick des Betrachtens habe ich zwei Eindrücke:

    Zum ersten, daß ich mich erneut sehe so wie ich mich selbst gesehen habe, als ich mich aus dem Loch zog. Zweitens habe ich den Eindruck, daß der Körper in einem Gefäß, gefüllt mit einer Flüssigkeit zu schwimmen scheint.

    Im nächsten Moment weiß ich jedoch, daß beides falsch ist.

    Zwar hat der Junge lange Haare, so wie ich auch, aber es ist von einem hellen Blond. Und er schwimmt auch nicht in etwas, sondern schwebt vielmehr frei über einem Podest unter ihm. DasPodest ist rund und schwarz, die obere Kante hat jedoc eine graue Färbung.

    Dann schaue ich durch das linke Fenster.

    Ich sehe einen Mann mit schulterlangem, lockigem blonden Haar und einem Schnurrbart, der von mir aus gesehen links vor einem Tisch steht. Dieser Tisch ist schwarz und wuchtig, aus dickem Holz und auf ihm liegt ein anderer Körper.

    Ohne das Gesicht sehen zu können weiß ich sicher, daß es mein Körper ist, der dort liegt.

    Wie der blonde Junge im rechten Fenster habe ich ein weisses Tuch um die Hüften geschlungen.

    Was der Mann anhat, weiß ich nicht, aber er beugt sich über mich und betastet mich. Dann nimmt er meinen Arm und bewegt ihn hin und her, knickt ihn im Gelenk ein als prüfe er ihn auf etwas. Der Mann mit der Stange steht noch immer hinter mir.

    Ich sage zu ihm gewandt: "Hoffentlich schafft er es. Er ist der einzige, der dazu fähig ist."

    Der Mann hinter mir sagt: "Warum machst du dir darüber Sorgen? Du brauchst dich nicht aufzuregen. Du bist tot."

    Ich sage: "Ich muß doch zurück. Ich habe noch etwas zu tun."

    Traumdeutung von Ortrud Groen (20.06.2008)

    Sehr
    geehrter Herr Kreuz,

    Ihr Traum von 1991 zeigt mir, dass Sie
    damals in einer Schattenzeit IhresLebens waren. Da war keine Erkenntnis,
    von der sie wirklich getragen wurden. Das sind die vielen Einbrüche auf
    den Stegen aus Holz (Holz sind Erkenntnisprozesse, das können sie in
    meinem Buch nachlesen). Sie konnten damals ihre Lebensbedingungen nicht
    selbst verbessern, widersprüchliche Gefühle nicht klären und ihre
    Wünsche nicht leben. Stimmt das so?

    Auch, als Sie sich Ihren
    eigenen Gefühlen anvertrauen wollten (Wasser) und daran glaubten, dass
    Ihre Erkenntnis Sie tragen würde (Kahn aus Holz), brach in Ihnen der
    Befreiungsversuch wieder zusammen.

    Dann fanden Sie sich eine
    Zeitlang damit ab, dass Sie Ihren Zustand nicht ändern können . Sie
    gaben auf (mich treibt nichts mehr).


    2. Teil des Traumes



    t

    Dieser zweite
    Teil beginnt bei "Ich in in einem dunklen Raum". Er ist
    vermutlich eine Aufforderung an Sie gewesen.

    Danach begegnen Sie
    erneut Ihrer Tatkraft, die um Bewusstheit ringt (Gestalt eines Mannes,
    der in der Kälte atmet). Sie baten Ihre eigene Tatkraft: "Komm,
    hilf mir und handle".

    Dadurch beginnen Sie tiefer zu
    forschen. Auf dieser Suche finden Sie im Unbewussten ihres
    Selbstgestaltungswillens (Erdloch) altes Öl - das heißt, die
    Lebensenergie aus ihrer Kindheit.

    Das rot-schwarz-karierte
    Hemd ist ein Bild für diese Art Energie, die Sie sich damals erworben
    haben. Konnten Sie Ihre Lebensfreude als Kind (rot) nicht entwickeln
    (schwarz) und warum nicht?

    Sie versuchen, zwischen den Mauern
    Ihrer KIndheit

    Licht im Unbewussten zu
    gewinnen (Fenster) und nehmen wahr, dass es darum geht, die Gefühle
    wiederzufinden, die Ihr Bedürfnis nach ersehnter Lebendigkeit erfüllen
    (Körper in Flüssigkeit).

    Die blonden Haare des nächsten
    Mannes zeigen, dass Sie Ihr emotionales Verhalten dazu in ein ganz
    bewusstes neues Verhalten nach außen verändern sollten.

    Das
    weiße Tuch zeigt, dass Sie sich diese Kraft aus der Bedeutung aller
    Grundfarben rot, blau und gelb selbst weben müssen, indem Sie zwischen
    Ihren Gefühlen (rot) und Gedanken (blau) den Weg finden, der Ihnen
    Harmonie im Innern schenkt (gelb). Das verlangt immer wieder
    Widersprüche in sich auflösen zu müssen zwischen lebensbejahenden und
    lebensverneinden Gefühlen aus resignativen Sicherheitsgedanken.

    Der Mann mit der Stange macht Ihnen bewusst, dass Sie diesen Weg
    nur finden können, wenn Sie Ihre Bedürfnisse immer mit Ihrem Bewusstsein
    verbinden und entsprechend handeln. Das bringt uns die Stabilität. Die
    Stange ist ein Gleichnis der Verbindung von Kreativität (Erde) und
    Freiheit (Luftraum).

    Sie sollen selbst dieser Mann mit den
    schulterlangen Locken und dem Schnurrbart werden. Das heißt, bewusst
    emotionale Gefühle zum Ausdruck bringen.

    Der Mann, der den
    Arm prüft und der Sie für tot erklärt, bringt zum Ausdruck, dass es
    Ihnen an der entsprechenden Handlungskraft fehlte und so Ihre Gefühle
    und Gedanken für sich selbst nicht in die Tat umsetzen.

    Sehr
    geehrter Herr Kreuz,

    wie ist damals Ihre Umwelt damit umgegangen,
    dass Sie als Kind fast ertrunken sind? Erinnern Sie noch die Gefühle,
    die Sie damals hatten?

    Was sind für Sie die Mauern gewesen,
    die Sie sich laut Notiz erklären können? Das wäre noch wichtig.
    Vielleicht haben Sie nach dieser Trauminterpretation noch andere
    Einfälle, die Sie mir mitteilen können.

    Mit freundlichem
    Gruß

    Ortrud Grön

    PS: Viele der hier erwähnten
    Gleichnisbedeutungen verstehen Sie tiefer, wenn Sie sich darüber in
    meinem Buch "Pflück Dir den Traum vom Baum der Erkenntnis - Träume
    im Spiegel der Naturgesetze" nachlesen. Ich kann die ausführlichen
    Begründungen hier nicht immer angeben, das wäre zu umfangreich, im Buch
    sind sie durch ein ausführliches Stichwortverzeichnis leicht zu finden..
    (EHP Verlag, Köln)

  • Woah was für ein Gänsehaut Moment. Hört sich ja fast schon wie eine Nahtoderfahrung an. Wie hast du dich damals nach dem Aufwachen gefühlt? Mulmig/Ängstlich oder eher fasziniert?Konntest du die Erklärung der Traumdeuterin nachvollziehen? Meistens entpuppen sich ja solche Leute eher als Scharlatane die einem nur etwas andrehen wollen (wobei ich sagen muss, dass ich bei ihr mit ihrer Werbung für ihr Buch kurz auch den Eindruck hatte :D)

  • Hallo Der Wanderer

    DEIN Text hat mir sehr gut gefallen. Sehr eindringlich und ausdrucksstark geschrieben, mit gelungenen Bildern. Und der Inhalt? Muss eine echt beklemmende Erfahrung gewesen sein. Das sind die Träume, bei denen man sich wohl wünscht aufzuwachen ... X/

    "Er wird wiederkommen. Die Berge sind wie ein Virus. Man infiziert sich mit der Liebe zu ihnen
    und es gibt kein Gegenmittel. Sie führen in eine Sucht, man kommt nicht mehr von ihnen los.
    Je länger man sich woanders aufhält, desto größer wird das Verlangen, sie wiederzusehen."

    Chad, der Holzfäller
    aus "Der Wolf vom Elk Mountain"

    ___________________

  • Das ist wahrlich ein sehr eindrücklicher Traum Der Wanderer . Meine Traum-Geschichten handeln eher selten von mir. Ich sehe quasi "anderen Leuten" zu in meinen Träumen. Auch hab ich etwas mehr Linie in meinen Träumen, ich bin nicht "auf einmal" irgendwo anders, und wenn, dann weiß ich (zumindest im Traum) immer, wie ich dahin gekommen bin. Quasi ein logisch erklärbarer "Szenenwechsel".

    Darf ich Dich fragen, weshalb du deinen Traum hast deuten lassen? Und auch, ob du dich "wiedergefunden" hast in den Interpretationen der Deuterin? Hast du daraus irgendetwas für dich mitnehmen können...?

    - > du musst natürlich nicht auf diese Fragen antworten, aber mich faszinieren diese unterbewußten Reaktionen des Hirns schon sehr. (Manchmal frage ich mich, ob meine "Geschichten" mir nicht auch irgend etwas erzählen wollen und ich schnalls bloß nicht...)

    Der Unterschied zwischen dem, was Du bist und dem, was Du sein möchtest, liegt in dem, was Du tust.
    -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
    Was würdest Du tun, wenn Du keine Angst hättest?

  • Heyho Tenger & Tariq & Cory Thain

    Sorry, daß ich auf Eure Fragen erst jetzt antworte...

    Wie hast du dich damals nach dem Aufwachen gefühlt? Mulmig/Ängstlich oder eher fasziniert?Konntest du die Erklärung der Traumdeuterin nachvollziehen?

    Und der Inhalt? Muss eine echt beklemmende Erfahrung gewesen sein.

    Darf ich Dich fragen, weshalb du deinen Traum hast deuten lassen? Und auch, ob du dich "wiedergefunden" hast in den Interpretationen der Deuterin? Hast du daraus irgendetwas für dich mitnehmen können...?

    Tenger & Tariq

    Auch wenn es den Anschein hat: Ich hatte während des Träumens in keinem Augenblick ein Gefühl von Angst oder Furcht. In keiner Sekunde. Es war eher so, als würde ich mir einen Film ansehen, in dem ich selbst die Hauptrolle spielte. Selbst, als ich mich "unter Wasser" befand, gab es keinen Augenblick, in dem ich nicht hätte atmen können.

    Und auch, wenn die Beschreibungen sehr düster daherkommen: Das war niemals ein Alptraum, nie.

    (Alpträume hatte ich als Kind und die waren immer gleich: Ich renne vor einer sich himmelhochauftürmenden schwarzen Wand davon, die schneller ist als ich und mich letztlich überrollt und zu zerquetschen droht - und in dem Moment bin ich immer schreiend aufgewacht.)

    Tenger & Cory Thain

    Was Frau Groens Deutung meines Traumes betrifft:

    Ich denke, sie hat ihn als etwas mich belastendes ausgelegt und entsprechend interpretiert, weil, wie ich glaube, die meisten Menschen eine Erklärung für die Träume haben wollen, die ihnen Unbehagen verursachen.

    Ging ja auch nicht anders. Sie hatte meinerseits ja nicht die geringste Info darüber, unter welchen Umständen ich diesen Traum hatte.

    Die Deutung geht für mich in Ordnung - mal ehrlich: Wenn mir oder Euch jemand sowas zuschicken würde ohne jeden Kontext. Könntet ihr dann darin was anderes sehen als etwas Düsteres?