Dann schauen wir mal
Kolja
W-Wie bitte? Ein Mistkerl sollte er sein? Was hatte er verkehrt gemacht, dass Abigail so über ihn dachte?? Absolut überfordert ließ Kolja die Lawine an Vorwürfen über sich hinwegrollen, unfähig auch nur eine einzige Silbe davon zu begreifen. Wovon redete Abigail denn da bloß?! „Ich verstehe nicht, was du meinst…“, versuchte er dem Trommelfeuer eines Redeschwalls Einhalt zu gebieten; Abigail wurde dadurch jedoch noch wütender auf ihn und schlug einen Tonfall an, den Kolja bis zu diesem Tage niemals zuvor von ihr hören musste.
„Tu nicht so!“ Vor Ärger ballte sie die Hände zu Fäusten. „Hältst du mich für einfältig? Ich weiß, was du für Spielchen mit mir treibst. Dass du absichtlich alles herabspielst und mich auf Abstand hältst, damit ich dir bloß nicht auf die Schliche komme!“ Fassungslos schloss Kolja den Mund. Sie auf Abstand halten? Ihm auf die Schliche kommen?? Halt. Sprach Abigail etwa von seiner Zuneigung für sie? Hegte sie deshalb einen Groll gegen ihn, weil er sich erst jetzt dazu bereit fühlte, seine Empfindungen mit ihr zu teilen? So musste es ein. Alles andere ergab keinen Sinn. Herrje, sie interpretierte seine Zurückhaltung ja völlig falsch! Nie wollte er ihr mit seiner Vorsicht weh tun, im Gegenteil. Kolja griff nach ihrer Hand. „Abigail, ich-… .“
„Lass das!“ Mit einer rigorosen Handbewegung schleuderte sie seinen Annäherungsversuch von sich. Die Härte ihrer Geste traf Kolja schlimmer, denn eine zusammenstürzende Backsteinmauer. Gleich den fallenden Ziegeln, hagelten Abigails Anschuldigungen Wort um Wort auf ihn herab und drohten, Kolja unter ihrem Gewicht zu begraben. „Wie lange dachtest du, dieses Theater weiterzuführen?“, verlangte Abigail zu erfahren „Bis ich irgendwann die Hoffnung auf eine Antwort verliere und aufgebe?“ Eine Antwort? Worauf? Auf ihr Liebesgeständnis? Um Himmels willen, nein! Das hieß... doch, ja. Sein ursprünglicher Plan sah eben das vor, aber-... . Die Umstände hatten sich geändert. Kolja verstand Abigails Frustration darüber, so lange von ihm hingehalten worden zu sein. Blödsinn, er konnte sie ihr zu einhundert Prozent nachfühlen! In der Hoffnung, Aufrichtigkeit würde Abigails aufgebrachtes Gemüt besänftigen, gestand Kolja ihr: „Am Anfang dachte ich, das wäre das vernünftigste. Aber so funktioniert das nicht, das ist mir klargeworden.“
Erschütterung eroberte Abigails Züge. „Dir... dir kommt das einfach so über die Lippen? Ohne einen Funken Reue?“
„Versteh' das bitte, Abigail“, appellierte Kolja an ihr verständnisvolles Wesen, für das er sie lieben gelernt hatte. „Ich musste annehmen, du würdest das Interesse verlieren. Zwischenzeitlich sah es für mich danach aus und ich wollte uns beiden eine unangenehme Situation ersparen.“ Eindringlich suchte er den Blickkontakt zu ihr und versicherte Abigail in aller denkbaren Ehrlichkeit: „Dich anzulügen oder zu verletzen, lag nie in meiner Absicht.“
Im Gegenzug für sein Bekenntnis wurde er angezischt: „Mich nicht verletzen? Und was ist mit Scott?“
Mit...mit Scott? Plötzlich kam sich Kolja vor, als hätte Abigail ihm eine saftige Ohrfeige verpasst. Konsterniert entgegnete er der Wölfin Schweigen.
„Er ist dein Freund!“, ermahnte sie ihn bestürzt. „Er verlässt sich auf dich und du trittst sein Vertrauen mit Füßen.“
Was? Nein! Wie konnte Abigail nur solche Behauptungen aufstellen? Würde ihm nicht so extrem viel an seiner Freundschaft zu Scott liegen, dann hätte Kolja sich doch schon längst schamlos an Abigail herangemacht. Seine Beziehung zu Scott gehörte zu den Hauptgründen, aus denen er genau das unterließ. Черт возьми; verdammt noch mal! „Seinetwegen habe ich das doch alles getan.“
In einer für Kolja qualvoll langsamen Bewegung schüttelte Abigail ungläubig ihren Kopf. „Ich habe dich völlig falsch eingeschätzt. Nicht nur, dass du mich angelogen hast, du hast auch noch Scott hintergangen! Und was ist mit Mister Hayes?!“
Hayes? Jetzt verlor Kolja den Anschluss. Inwiefern bestand denn zwischen dem Kobold und Koljas Gefühlsleben ein Zusammenhang? Kolja blinzelte einige Mal stutzig und runzelte die Stirn, derweil Abigail ihn fortwährend beschuldigte: „Du hast ihm das Bein gebrochen! Seinen Geräteschuppen zu demolieren ist schlimm genug, aber ihn die Treppe hinabzustoßen - wie skrupellos kann ein Mann sein?!“
…Moment, Kolja sollte Hayes die Treppe hinabgestoßen haben? Schlagartig dämmerte es ihm. Abigail redete gar nicht von ihnen beiden. „Du redest von Scotts Mannschaft?“
„Selbstverständlich rede ich von Scotts Mannschaft!“, stieß sie aus. Anschließend packte sie Kolja am Handgelenk und drückte ihm unnötig forsch einen Gegenstand in die Hand. Endgültig verwirrt betrachtete Kolja das Objekt. Ein Fläschchen Feenstaub? „Da hast du es.“ Abigail deutete auf den Flakon, als würde er irgendetwas von dem erklären, was sie Kolja anlastete. „Das ist der Feenstaub aus Mister Hayes' Büro. Der Flasche fehlte der Deckel, erinnerst du dich? Und weißt du, wo ich ihn gefunden habe?“ Sie legte eine theatralische Pause ein. „In deinem Rucksack, Kolja! Das ist deine Flasche Feenstaub. Du hast die Stufen im Büro präpariert. Genauso wie du mit deiner Bärenkraft das Gerätelager aufgebrochen hast!“
„Du hast in meinen Sachen herumgekramt?“, konfrontierte Kolja Abigail und hob den Blick vom Feenstaub. Was dachte sie sich eigentlich? Auf einmal rumpelte es im Obergeschoss; gleich darauf ertönte Kierans Stimme, „Nichts passiert! War bloß mein Staubsaug-Roboter!“ gefolgt von einem etwas leiseren „Schon wieder die falsche Frequenz.“ Staubsaug-Roboter? Wieso wunderte es Kolja kein bisschen, dass Abigails Bruder die Hausarbeit einer künstlichen Intelligenz überließ?
Die Ablenkung wirkte nur kurz. Abigail fühlte sich im Recht, unerlaubt Koljas Eigentum zu durchwühlen und verschränkte die Arme. „Habe ich. Und es war absolut berechtigt, wie sich bewiesen hat. Du hast Scotts Mannschaft sabotiert!“
Das durfte doch alles unmöglich wahr sein. Steckte Kolja in einer schlechten Telenovela fest, oder was lief hier gerade ab? Welcher Teufel hatte Abigail bloß geritten, so einen Unfug zusammenzuspinnen?! Entnervt rieb sich Kolja den Nasenrücken und kämpfte um seine Fassung, während er ihr möglichst nüchtern klarmachte: „Das ist nicht mein Feenstaub. Den Deckel habe ich heute Vormittag im Büro gefunden. Ich wollte ihn Hayes geben, weil ich annahm, er hätte ihn schon vermisst. Aber er wusste nichts von der Flasche, die ich dich eigentlich gebeten hatte, für ihn auf seinem Schreibtisch abzustellen.“ Ertappt verzog Abigail die Lippen. „Also habe ich ihn dir mitgebracht, damit du die Flasche wenigstens anständig verschließen kannst, wenn du schon meine Anweisungen ignorierst.“ Er warf Abigail den Flakon zu und ergänzte: „Du hast dich ja bereits bedient.“
Anhand ihrer Mimik erkannte Kolja, dass Abigail ihm Glauben schenken wollte. Dennoch beharrte sie auf ihrer haarsträubenden Theorie, Kolja wäre der Übeltäter hinter einer non-existenten Verschwörung. „Trotzdem hast du den Mannschaftsschuppen demoliert. Streite es nicht ab! Außer dir ist niemand in der Lage, die schweren Türen aus den Angeln zu reißen.“
„Richtig“, bestätigte er ihr trocken. „Ich habe das Lager aufgebrochen.“ Kolja hörte, wie Abigail nach Luft schnappte, doch bevor sich ihr die Gelegenheit bot, ihm mit weiteren Vorwürfen zu belegen, nahm er ihr den Wind aus den Segeln: „Weil Scott mich darum gebeten hat.“
„Scott hat di-…“
Unversehens schaltete sich der Fernseher ein und eine Nachrichtensprecherin quasselte übermütig drauf los. Offenbar spielte Kieran in seinem Zimmer mit seiner App herum und entgegen seiner Hoffnung funktionierte sie im Obergeschoss keineswegs besser, denn hier unten. Abigail fackelte nicht herum; sie fasste nach der Fernbedienung, die sich noch von vorhin in ihrer greifbaren Nähe befand, und schaltete das Gerät kurzerhand ab. Doch sie wurde erneut unterbrochen, da sich der Fernseher abermals verselbstständigte und dieses Mal kreischten ein paar halbnackte Sängerinnen ihr künstlich klingendes Gequieke in die Kamera. Mit dem bekannten Befehl via Fernbedienung brachte Abigail sie zur Ruhe. „Das ist die falsche Frequenz, Kieran!“ rief sie ihrem Bruder eine Etage höher zu. Kolja bezweifelte, der Teenager würde ihren Hinweis verstehen, allerdings ertönte sein gedämpfter Respons „Entschuldigung!“ und Abigail vollendete ihren Satz. „Scott hat dich darum gebeten?“
Also klärte Kolja sie auf: „Bei dem Einbruch wurde die Tür des Lagers so sehr in Mitleidenschaft gezogen, dass sich die Flügel nicht mehr richtig öffnen ließen. Niemand ist mehr in den Schuppen hineingekommen, deshalb sollte ich die ganze Tür ausreißen, damit die Männer wenigstens ihre Ausrüstung rausholen konnten.“
Zögerlich schaute Abigail aus großen Augen zu ihm hinauf, was Kolja unter anderen Bedingungen unfassbar niedlich gefunden hätte, und wollte wissen: „Ist das wahr?“
„Moira hat Fotos davon geschossen. Und was sollte überhaupt mein Motiv sein?“
Auf diese Frage hin rückte Abigail leicht verunsichert mit einer absurden Vermutung heraus, die Kolja niemals in den Sinn gekommen wäre: „...dass du unbedingt in die Mannschaft willst. Scotts Team sucht neue Spieler, aber du wurdest völlig übergangen, obwohl deine Rekrutierung die offensichtlichste Lösung ihres Problems bedeuten würde.“
Herrschaftszeiten... „Abigail, ich will nicht in die Mannschaft. Ich interessiere mich überhaupt nicht für Fußball. Davon abgesehen wurde ich deshalb nicht gefragt, ob ich beitreten will, weil ich vor ein paar Jahren schon mal ein Probetraining absolviert habe. Was, wie ich dir vielleicht nicht erzählen brauche, ziemlich erfolglos für beide Parteien verlaufen ist. Hast du dir mal angesehen, wie Scotts Männer spielen? Wie ein Rudel hyperaktiver Pit Bulls auf Steroide. Mir würde einiges fehlen, solche unbeherrschten Aggressionen freiwillig auf regulärer Basis über mich ergehen zu lassen.“
Daraufhin herrschte Stille.
Dann löste Abigail unverhofft ihre verschlossene Körperhaltung und warf sich an Koljas Brust. „Ooh, Kolja! Verzeih mir bitte“, flehte sie gegen den Kragen seines Hemdes. „Bitte, bitte, bitte! Ich habe es nicht so gemeint, ehrlich! Es war falsch, dir das alles vorzuwerfen. Bestimmt hasst du mich jetzt! Bitte hass' mich nicht! Es tut mir wirklich leid!“
Trotz seiner Überraschung über Abigails sprunghaften Sinneswandel, schloss Kolja sie intuitiv in seine Arme. Er versicherte ihr: „Ich hasse dich nicht.“
„Sicher?“
„Ja.“
„Wirklich?“
„Ja.“
„Also bist du mir nicht böse?“
Wie sollte er, wo Abigails Bitte nach Vergebung ihm doch so liebevoll die Halsbeuge kitzelte? Für ihn zählte nur eine Sache: Sie vergaß diese alberne Idee, irgendjemand – vor allem Kolja – trieb seinen Unfug mit der Mannschaft. „Nein.“ Sogleich spürte Kolja, wie sich Abigail etwas inniger an ihn presste. Blieb dennoch eine Frage. „Hast du ernsthaft angenommen, ich wäre zu all dem fähig?“
Abigail blickte ihn an, da dröhnte der Fernseher neuerlich los und zog das Augenmerk der Wölfin auf sich. Dieses Mal war es Kolja, der dem Gerät kurzum das Signal abdrehte und so Abigails Aufmerksamkeit zurück auf seine eigene Person lenkte. Fragend sah er sie an.
„Nein“, gestand sie beschämt. „Das heißt, ich wollte es nicht glauben. Ich konnte es mir nicht vorstellen. Aber dann hat alles so gut zusammengepasst und Gwen meinte, dass… .“ Ihre Erklärung blieb unvollendet; stattdessen weitete sie schockiert ihre Augen und fragte: „Denkst du, Gwen hat-…“
„Nein“, schnitt Kolja ihr umgehend das Wort ab. Gar nichts hatte Gwen. „Gwen ist eine Klatschbase. Du darfst dich nicht von jeder ihrer Mutmaßungen mitreißen lassen, hörst du? Du hast eben erlebt, wohin das führt.“ Hoffentlich lernte Abigail etwas daraus und schenkte künftig keinen Verschwörungstheorien mehr ihren Glauben.
Wie wundervoll es sich anfühlte, sie in seinen Armen zu halten. Kolja genoss Abigails Wärme sowie den sanften Druck ihrer Handflächen auf seinem Oberkörper. „Und du nimmst mir nicht übel, dass ich dich verdächtigt habe, ja?“, vergewisserte sie sich nochmalig, worauf Kolja ihr gern bestätigte:
„Nehme ich nicht.“
Seine Antwort zauberte ein Lächeln auf ihre Züge. „Gut! Kolja, ich bin so froh, dass jetzt wieder alles in Ordnung ist. Die Vorstellung, du könntest ein fieser Schurke sein, hat mich fix und fertig gemacht. Trotzdem habe ich eine Sache noch nicht verstanden. Wenn du vorhin nicht über Scotts Mannschaft geredet hast…“ Interessiert neigte Abigail den Kopf zur Seite, „worüber denn dann?“