Hey,
Mittelalter-Fans aufgepasst! Steigt ein zu einer Reise ins fünfzehnte
Jahrhundert! Der Zug steht schon bereit! Gepäck braucht ihr nicht,
aber – starke Nerven! Und was Gerüche anbetrifft, da solltet ihr nicht zimperlich sein! Hier kommt:
Der
Blaue Turm
oder
Ursula
darf nicht weinen
Erstes
Kapitel: Auf zum Sülfmeisterfest!
1. Kevin kann nicht mehr schlafen und Herr Sarrazin gibt nach.
Schon um Viertel vor sieben ist Kevin hellwach. Nicht wegen Sonnabend und Ferienbeginn oder so – nein, er und seine Leute wollen heute zum Sülfmeisterfest nach Lüneburg. Na, nicht alle Familienmitglieder – der Hund muss zu Oma, denn das Menschengewühl dort ist nichts für den zottigen Faulpelz, und ein Liebhaber vergangener Jahrhunderte ist er vermutlich auch nicht – aber Mama, Papa, Kevin und Taifan schon.
Wiedereinschlafen? Pah! Nicht daran zu denken! Dazu ist Kevin einfach viel zu aufgeregt. Wo er doch so ein begeisterter Mittelalter-Fan ist! Und Mittelalter pur, das weiß er aus dem Fernsehen, das würde heute über alle Plätze und Gassen der alten Salzstadt toben!
Eine Weile noch bleibt er liegen, denn die Vorfreude ist nun mal eine der schönsten Freuden. Außerdem ist Vater noch im Bad. Kevin beobachtet die schwarze Hand, die sich an der Wand seines Zimmers hin und her bewegt und bekommt eine Gänsehaut. Jetzt kommt die Hand auf ihn zu; huuuu... es sieht aus, als wollte sie ihm ins Gesicht greifen, doch dann zieht sie sich blitzschnell wieder zurück. Wie die Knochenhand, die ihm neulich in der Geisterbahn einen Schrecken eingejagt hat, Natürlich ist dies jetzt auch keine wirkliche Hand, geschweige denn eine Knochenhand, so schlau ist er schon lange. Dazu ist sie zu dünn und knorrig, auch besitzt sie nur vier Finger, und was für welche! Es ist eine Schattenhand und gehört dem Baum da draußen, der sich im Winde wiegt und knarrt.
Endlich steht er auf und macht sich leichtfüßig auf den Weg ins Badezimmer. Seine Schwester schläft eine Tür weiter. Wenn sie jemand zu früh weckt, kann sie manchmal ziemlich ungnädig werden. Von unten erklingt fröhliches Geschirrgeklapper; der angenehme Duft von Bohnenkaffee und frisch aufgebackenen Brötchen liegt in der Luft. Gerade kommt der Vater, Herr Sarrazin, sorgfältig rasiert und angenehm parfümiert aus dem Bad.
„Morgen, Kevin“, sagt er gut gelaunt, „auch schon so früh auf den Beinen?“
„Morgen, Paps! Wie du siehst! Ich kann´s kaum erwarten! Und geschlafen hab ich in der Schule genug!“
Der Vater lacht: „Na, na, nun gib mal nicht so an! Deine Zeugnisse sehen nicht gerade danach aus, als würdest du in der Schule schlafen!“
„Die Dummen büffeln, die Schlauen schlafen! Jeder nach seiner Art.“
Nein, auf den Mund gefallen ist Kevin nicht.
Eine Tür geht auf. Taifan steckte den zerzausten Kopf heraus. „Könnt ihr einen nicht mal zuende schlafen lassen?“, nörgelt sie, „wisst ihr, wie früh es ist?“
„Es ist nie zu früh und schnell zu spät“, sagt Kevin, „zum Beispiel um jetzt aufzu –“
„Ach, du kannst mich mal!“ Der Kopf verschwindet, die Tür knallt zu.
Eine halbe Stunde später, am Frühstückstisch. Frau Sarrazin löffelte gerade die Rühreier auf die Toastbrote.
„Wann geht eigentlich unser Zug?“, fragt Taifan leichthin.
Herr Sarrazin blickt sie fragend an. „Welcher Zug?“
„Na der Zug, die Bahn, die uns nach Lüneburg bringen wird.“
„Davon höre ich jetzt das erste Mal“, sagt Kevin und fährt eine gewaltige Portion Rührei ein. „Ich denke, wir fahren mit dem Auto!“
„Kevin, benimm dich bitte“, mahnt Frau Sarrazin, „man unterhält sich nicht mit hundert Gramm Rührei im Mund!“
„´tschuldige.“
„Denken ist Glücksache“, feixt Taifan, „und bei dir besonders! Schon mal was von Klimawandel gehört?“
Herr Sarrazin zieht die Stirn kraus. „Kinder!“, ruft er „fangt jetzt bitte keine Grundsatzdiskussionen an! Wir fahren mit dem Auto, und damit basta!“
Eine Weile sagt niemand etwas; das väterliche Machtwort scheint zu wirken.
Nach einiger Zeit sinniert Frau Sarrazin über ihre Kaffeetasse hinweg: „Paul, wenn ich es mir recht überlege... Weist du noch, dass wir letztes Mal eine halbe Stunde gebraucht haben, um einen freien Platz zu finden? Wir mussten viermal um den Pudding fahren. Und als wir wiederkamen, steckte ein Knöllchen hinterm Scheibenwischer. Du hattest im Parkverbot geparkt.“
„Ach nee! Ich mal wieder! Ihr hättet euch ja auch mal umsehen können“, brummt Herr Sarrazin. Die Stimmung scheint zu kippen.
„Großer Ernährer“, meint Kevin, jetzt mit leerem Mund, „was ist eigentlich daran so fatal, mal mit dem Zug zu fahren? Tausend andere tun´s doch auch!“
„Ich bin aber nicht tausend Andere!“
„Nein Alter, du bist nicht wie tausend Andere!“ Taifan. „Du bist wie eine Million Andere, die noch nix begriffen haben.“
Herr Sarrazin fährt hoch. „Taifan, bitte nicht in diesem Ton!“
„Na ist doch wahr!“
Frau Sarrazin legt ihre Hand begütigend auf die ihres Mannes und streichelt sie. „Paul, ich denke, Taifan hat recht. Warum nicht auch mal mit dem Regionalexpress! Wenn´s auch klimatechnisch nichts bringt, wir ersparen uns diese eklige Parkplatzsuche, und länger brauchen wir auch nicht.“
„Und viel teurer wird´s wahrscheinlich auch nicht, wenn du die Knöllchen hinzurechnest“, ergänzt Taifan. „Wir nehmen eine Gruppen –“
„Recht so, große Schwester!“, ruft Kevin. „Im Mittelalter gab´s auch keine Autos!“
Herr Sarrazin grinst schief. „Aber Eisenbahnen gab´s, du Schlaumeier, wie, oder was?“
„Nee, aber die Schnellpost der Firma Thurn und Taxis!“, kontert Kevin, „und die war fast auf die Minute pünktlich, ob du´s glaubst oder nicht! Mindestens so pünktlich wie der Regionalexpress!“ Nein, in puncto Mittelalter kann ihm keiner so schnell etwas vormachen.
Taifan sieht ihren Bruder bewundernd an. „Woher weißt du denn das nun wieder!“
„Bestimmt nicht aus der Sesamstraße!“
„Ach du... Ich könnte dich...“
„Ruhe jetzt!“ Herr Sarrazin blickt in die Runde. „Wir stimmen ab! Wer ist für –“
Kevins stimmbrüchige Lache knallt in den Raum. „Alter, das ging aber schnell! Wo bleibt denn jetzt dein Basta?“
„Hmm... Nun ja...“ Herr Sarrazin massiert sich das Kinn. „War nicht so ernst gemeint, das Basta. Ich wollte euch nur testen. Wollte wissen, wie ernst es euch mit dem Bahnfahren ist.“
Taifan klatscht sich auf den Oberschenkel. „Alter, das ist ja ´n Onk!“, keucht sie, „testen wolltest du uns! Hätt´ ich beinahe nicht gemerkt!“
2. Ein seltsamer Vogel. Allerhand kuriose Spiele. Ursula erscheint.
Der Zug war pünktlich und das Wetter prächtig. Der junge Oktober zeigte sich vor seiner besten Seite. Über Stadt und Land lag warmer heller Sonnenschein, die Türme und Dächer der Altstadt und die Augen der Besucher glänzten, als bekämen sie es bezahlt.
Vom Bahnhofsvorplatz bewegte sich ein Menschenstrom wie eine vielköpfige bunte Raupe auf die Altstadt zu. „Mannomann!“, rief Kevin erstaunt, „ist das ein Betrieb hier! Wo kommen denn die vielen Leute her?“
„Dumme Frage“, feixte Taifan, „wahrscheinlich aus der Kanalisation!“
„Da kommst du her, du Zicke!“, kontert Kevin ärgerlich. Was sich neckt, das liebt sich...
„Hast du es denn nicht gesehen?“, meinte Frau Sarrazin, „die Züge aus Hamburg, Lübeck und Uelzen standen doch an den Bahnsteigen!“
„Hört mal zu, ihr beiden Zankäpfel“, sagte Herr Sarrazin, „sollten wir uns in dem Gewühl verlieren und aus irgend einem Grund nicht wieder zusammenfinden, unser Zug geht um zehn vor fünf. Ich denke, wir treffen uns dann um halb fünf hier in der Bahnhofshalle. Okay?“
Kevin nahm Haltung und salutierte. „Aye aye Sir, verstanden!“
Hinter der Brücke über den Lösegraben tauchten schon die ersten seltsam gekleideten Leute auf, darunter auch ein seltsam gekleideter Mann, der sich mit tollpatschigen Bewegungen und mit allerlei Verrenkungen unter die Menge mischte. Er trug eine eng anliegende knallrote Hose und eine rot-grün-gelbe Jacke, an der unten dreieckige bunte Stoffstreifen flatterten. An den Füßen hatte er lange gebogene Schnabelschuhe mit goldene Kugeln an den Spitzen. Sein Kopf steckte in einer Kapuze mit langen, eselsohrartigen Zipfeln, aus der ein dichter knallgelber Haarwust hervorquoll. Die ganze bizarre Erscheinung war von oben bis unten mit diesen goldenen Kugeln behängt, die bei jeder Bewegung lustig klimperten. Dazu erzeugte er mit einem schmalen, sackförmigen Musikinstrument, das er sich vor den Bauch hielt, melodisch-kratzende Geräusche.
"Ein seltsamer Vogel!", stellte Frau Sarrazin schmallippig fest.
„Ein Spaßmacher!“, rief Taifan begeistert.
Kevin sah seine 'kleine' Schwester von der Seite an. „Du hast aber auch von nichts ´ne Ahnung“, kodderte er.
Taifen zog einen Flunsch, und ihre Mutter fragte: „Wieso? Was ist denn daran nun wieder falsch?“
„Alles! Das ist kein Spaßmacher, sondern ein Narr mit Narrenkappe, Schellen und Fidel!“
„Und worin besteht da der große Unterschied?“
„Ein Spaßmacher will seine Kundschaft zum Lachen bringen, ein Narr hält ihnen den Spiegel vor.“
„Aha! Den Spiegel“, echote Taifan. „Hätt ich mir auch denken können. Und dazu muss er sich benehmen wie ein Hampelmann.“
„Vielleicht ist er ja nicht mehr ganz nüchtern“, meinte Frau Sarrazin vorsichtig.
Kevin schüttelte energisch den Kopf. „Der Mann da ist wahrscheinlich genau so nüchtern wie du, Mama“, sagte er ernst, „die Verrenkungen gehörten früher zu den Markenzeichen eines Narren. Dieser Mann da kopiert sie, damit er echt wirkt. Die Leute sollten den Narren für nicht mehr ganz zurechnungsfähig halten, deshalb konnte er ihnen Sachen an den Kopf werfen, die anderen denselben gekostet hätten. Ein Narr durfte sogar den König kritisieren, und mancher Narr stieg zuweilen in höchste Staatsämter auf.“
„Wie es aussieht, ist es heute auch nicht viel anders“, murmelte Herr Sarrazin. Doch niemand hörte es, denn von vorn erklang lautes Rufen, Hurra-Gebrüll, das Schnauben von Pferden. Inzwischen hatten sie nämlich einen großen Platz, den 'Sand', erreicht. Dicht gedrängt standen die Menschen zwischen allerlei Kiosken und Buden auf den Bürgersteigen und schaute zu, wie junge Leute allerhand kurioses Spiel trieben: Da versuchte eine Mannschaft, Bälle durch mehrere Plastikrohre von einem Ende des weiten Platzes zum anderen zu schaffen; eine andere Gruppe war eifrig dabei, ein aus Kisten bestehendes Puzzle eines weiß-blau gekleideten Mannes mit platter Mütze zu vervollständigen. Weiter unten, vor einem hohen schwarzen Gebäude, erklang heiteres Gelächter; es sah aber auch zu ulkig aus, was sich da abspielte. Eine Frau mit einem Käscher in der Hand lief immer wieder auf die Mitte des Platzes, sprang wie ein Affe hoch und versuchte kleine dünne Gegenstände einzufangen, den ihr ein Mann von der anderen Straßenseite im hohen Bogen zuwarf.
„Sie versucht, möglichst viele Stinte einzufangen“, sagte Kevin unaufgefordert, nachdem es ihm und Taifan gelungen war, sich bis an das Absperrgitter vorzudrängeln. Die Eltern waren weiter hinten stehengeblieben.
„Stinte... Stinte... was war das doch gleich?“
„Eine kleine Heringsart, aus der Elbe. Salz und Stinte haben diese Stadt im Mittelalter reich gemacht.“
„Und warum tut sie das?“
„Was?“
„Das alberne Rumhopsen.“
„Wer?“
„Mann, stell dich nicht so begriffsstutzig an. Die Frau da.“
„Sie will Sülfmeisterin werden. Dazu muss sie diesen Wettbewerb gewinnen und unter anderem möglichst viele Stinte einfangen.“
„Sülfmeisterin? Was ist das nun wieder.“
„Na was wohl. Die Frau vom Sülfmeister.“
„Kevin, verarsch mich nicht!“
„Weißt du was? Deine Fragerei geht mir langsam auf den Keks. Ich hab jetzt keine gesteigerte Lust, ständig deine Fragen zu beantworten. Ich erklär´s dir in der Bahn oder zuhause oder du schaust selbst im Internet nach.“
Aus einer Seitenstraße erscholl lautes Rumpeln, kurz darauf rollten zwei Männer und eine Frau ein dickes Holzfass auf den Platz. Die Stintfängerin war verschwunden. Anscheinend wollte das Fass nicht so wie die drei hinter ihm, es riss unter dem schadenfrohen Gelächter der Menschenmenge immer wieder aus und rollte ins Abseits, auf die Leute am Straßenrand zu, die übertrieben kreischend zurückwichen. Doch schließlich schafften es die drei, das Fass in das Ziel – einen Strohhaufen – zu bugsieren; die Zuschauer klatschten begeistert in die Hände.
„Es ist das Kope-Fass“, sagte plötzlich eine helle Stimme neben Taifan. „Wenn dein Freund es dir nicht erklären will, tu ich es eben.“ Taifan drehte sich um, Kevin schien nichts gehört zu haben.
„Er ist nicht mein Freund“, sagte sie spitz, „er ist mein Bruder.“
„Ich habe es fast vermutet. Deshalb ist er so maulfaul!“
Forts. folgt